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Burkhard Müller Sozialpädagogisches Können Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit

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Burkhard Müller

Sozialpädagogisches Können

Ein Lehrbuchzur multiperspektivischen Fallarbeit

Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der DeutschenBibliothek erhältlich.

7., überarbeitete und erweiterte Auflage 2012Alle Rechte vorbehalten© 2012, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgauwww.lambertus.deUmschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, BollschweilHerstellung: Franz X. Stückle, Druck und Verlag, EttenheimISBN 978-3-7841-2117-8

Inhalt

Vorwort zur siebten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Einleitung für Lehrende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1 Aus Geschichten lernen – oder:Wie wird der Fall zum Fall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

1.1 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.2 Interpretation einer Geschichte, die mit

Sozialpädagogik zu tun hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.3 „Hinterkopf-Wissen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271.4 Was ist ein sozialpädagogischer Fall?

Arbeitsfragen zu Kapitel 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

2 Dimensionen sozialpädagogischer Fälle:Fall von, Fall für, Fall mit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

2.1 Interpretation der Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.2 Fall von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432.3 Fall für . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502.4 Fall mit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Arbeitsfragen zu Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

3 Der Prozess professioneller Fallarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

3.1 Vorbemerkungen und eine Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 653.2 Begriffserklärungen: Anamnese, Diagnose,

Intervention, Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683.3 Gemeinsamkeiten und fachliche Unterschiede von

Prozessen professioneller Fallarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70Arbeitsaufgaben zu Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Inhalt

4 Das Beispiel „Hilfeplanung“ im Kinder- undJugendhilfegesetz (SGB VIII ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

4.1 Der „Hilfeplan“ als gesetzliche Pflicht zur Fachlichkeit . . . . 784. 2 Hilfeplanung als doppelter Beratungs- und

Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804.3 Die Klärung des „erzieherischen Bedarfs“:

Sozialpädagogische Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864.4 Die „zu gewährende Art der Hilfe“:

Sozialpädagogische Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874.5 Die „notwendigen Leistungen“: Sozialpädagogische

Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914.6 Das „Regelmäßig-Prüfen“: Sozialpädagogische

Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954.7 Ein Schema zur Hilfeplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Arbeitsfragen und Aufgaben zu Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . 99

5 Aufmerksamer Umgang mit Nichtwissen(Sozialpädagogische Anamnese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

5.1 Grenzen des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005.2 Anamnese und Fall-Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1055.3 Arbeitsregeln für die sozialpädagogische Anamnese . . . . . . 109

Arbeitsaufgaben zu Kapitel 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

6 Wer hat welches Problem?(Sozialpädagogische Diagnose) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6.1 „Was IST das Problem?“ oder:„Wer HAT welches Problem?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6.2 Soziale Diagnose als Problem des Zugangs:Der Unterschied zur Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

6.3 Soziale Diagnose als Beziehungs- undVertrauensproblem (Fall mit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

6.4 Wer hat welches Mandat? Diagnose im ModusFall von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

6.5 Klientenmandat, gesetzlicher Auftrag und Fachlichkeit . . . . 1296.6 Wer hat welche Ressourcen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Inhalt

6.7 Fall für wen? Was kann ich tun?Was müssen andere tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Arbeitsaufgaben zu Kapitel 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

7 Was tun? (Sozialpädagogische Intervention) . . . . . . . . . . . . 140

7.1 Eingriff, Angebot, gemeinsames Handeln . . . . . . . . . . . . . . 1417.2 Bedingungen für Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437.3 Sozialpädagogische Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1487.4 Aushandeln von Angeboten zu gemeinsamem Handeln . . . . 155

Arbeitsaufgaben zu Kapitel 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

8 Was hat’s gebracht? (Sozialpädagogische Evaluation) . . . . . 161

8.1 Evaluationsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1628.2 Evaluationskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1708.3 Fremdevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Arbeitsaufgaben zu Kapitel 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

9 Wer ist qualifiziert? Bemerkungen zursozialpädagogischen Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

9.1 Am Anfang war das Interesse für’s Soziale . . . . . . . . . . . . . 1839.2 Drei berufliche Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1859.3 Im Gehen zu lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Verzeichnis der Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Vorwort zur siebten Auflage

Auch ein etabliertes und nach wie vor offenbar nachgefragtes Lehrbuchbraucht ab und zu eine Aktualisierung. Seit den letzten Überarbeitungen(2006 und 2009) sind wieder einige Jahre vergangen. Die Fachdiskussionhat sich gerade in den Methodenfragen Sozialer Arbeit weiterentwickelt.Auch in meiner eigenen Lehr- und Forschungstätigkeit lerne ich immernoch dazu. Das grundlegende Konzept dieses Buches scheint mir den-noch nicht überholt zu sein: Die Annahme, dass sich die Vielfalt SozialerArbeit – vielfältig wie die Lebenswelt der Menschen, denen sie dienensoll – in einem vergleichsweise einfachen Muster oder einer Typologieelementarer Aufgaben ordnen lässt; eine Typologie aber, welche jeneVielfalt nicht verkürzt, sondern auch Anfängern dabei hilft, sie sichimmer besser zu erschließen. Dies Muster nenne ich multiperspekti-vische Fallarbeit.

Schon in der Überarbeitung von 2006 habe ich versucht, dies Konzeptnoch klarer als in der ursprünglichen Fassung darzustellen, vor allem beider Zuordnung der Perspektiven und Prozessmomente des Fallverstehenszueinander: Nämlich wie die Zugänge zum Fallverstehen („Fall von“,„Fall mit“, „Fall für“) sich wechselseitig erschließen und in welchemVerhältnis insbesondere sozialpädagogische Anamnese und Diagnose,aber auch Intervention und Evaluation zueinander stehen. In der jetzigenÜberarbeitung geht es mir vor allem darum, den praktischen Standpunkt,den Fallverstehen voraussetzt, noch deutlicher zu machen. – Es ist einUnterschied, ob ein sozialpädagogisches Methodenlehrbuch Wissen überallgemeine Modelle und Orientierungsregeln für die Bearbeitung sozial-pädagogischer Probleme und Aufgaben zu vermitteln sucht oder ob esdarum geht, das Reflektieren und Überprüfen von Fällen in einer jeweilsgegebenen praktischen Situation einzuüben. Beides vermittelt sich nichtdurch praktische Erfahrung von selbst, gerade auch das zweite nicht,wenn die Distanz fehlt, das eigene Handeln genauer zu beobachten. EinBuch, das auch Studierenden ohne oder mit sehr wenig berufspraktischerErfahrung nützen soll, muss möglichst beides bieten. Ich habe aber inlangjähriger Lehrpraxis erfahren, dass vor allem das zweite oft sehr vielUmdenken erfordert. Die Aufforderung, sich dem zu stellen, muss nochsorgfältiger begründet werden.

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Vorwort zur siebten Auflage

Wie bei der letzten Überarbeitung fragte ich mich, ob ich die studenti-schen Fallgeschichten einer seit langem im Berufsleben stehenden Gene-ration der Ehemaligen durch Geschichten jüngeren Datums ersetzen soll,die ich seitdem in vielen Lehrveranstaltungen gesammelt habe. Ich habemich, abgesehen von Ausnahmen, dagegen entschieden. Vergleiche ichdie Fallgeschichten des Buches mit jüngeren, so scheinen sie mir keines-wegs veraltet, sondern immer noch gut geeignet, die wichtigen Fragensozialpädagogischen Fallverstehens zu erschließen. Notwendig erschienes mir aber, an einigen Stellen meine Interpretation der Fallgeschichtenzu aktualisieren und natürlich auch in die Literatur, auf die ich michbeziehe, den heutigen Diskussionsstand einzubauen.

Wie das inzwischen üblich geworden ist, verwende ich den BegriffSoziale Arbeit, wenn ich das Arbeitsfeld meine, und den Begriff sozial-pädagogisch, wenn von wissenschaftlichen und professionellen Konzep-ten Sozialer Arbeit rede. Der Lesbarkeit halber verwende ich nicht jedesMal die männliche und weibliche Form, wenn beide gemeint sind, son-dern wechsle ab. Ich danke allen Studierenden sowie Kolleginnen undKollegen, die, ohne dass ich das im Einzelnen benennen kann, zu dieserÜberarbeitung beigetragen haben.

Berlin, im Sommer 2012

Burkhard Müller

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Einleitung für Lehrende

Die folgenden Seiten können Studierende, für die das Buch eigentlichgedacht ist, überschlagen – oder zum Schluss lesen. Ich möchte hier nurkurz erläutern, worin die Besonderheit des gewählten Zugangs im Ver-gleich zu anderen „Methoden“-Ansätzen besteht. Ich setze dabei voraus,dass die historischen wie die aktuellen Diskussionen zu den Handlungs-modellen sozialpädagogischer Professionalität, an denen ich mich be-teiligt habe (vgl. zur Übersicht Dewe/Otto 2005; auch Olk 1986, Müller2004, 2004a, 2005, 2005a, 2008, Dörr/Müller 2007 u. 2012, Galuske2011) in etwa bekannt sind (zum aktuellen Diskussionsstand: Becker-Lenz u.a. 2009, 2011). In Bezug auf solche Diskussionen soll dies Bucheingeordnet werden – während für Studienanfängerinnen jedes Fachbuchentweder für sich brauchbar ist, oder eben nicht.

Zunächst ist es vielleicht selbstverständlich, aber doch wichtig, dass„Methode“ im sozialpädagogischen Feld nicht technologische Theorie-anwendung meint, sondern auf einen selbstreflexiven „kasuistischen“Diskurs verweist (Hörster 2003, 2011, Müller 2011), durch welchensozialpädagogisch Handelnde das fallspezifisch notwendige Wissengenerieren und überprüfbar machen. Es geht um eine „Hermeneutik“,eine Kunstlehre des Fallverstehens (Dilthey), nach dem schon vonSchleiermacher formulierten Grundsatz: „Die Dignität der Praxis istunabhängig von der Theorie; die Praxis wird nur mit der Theorie einebewußtere“ (1826: 11). Professionelles Handeln ersetzt also nichtAlltagsverstand. Auch für professionelles Handeln gilt, jedenfalls imsozialpädagogischen Kontext:

Statt dass der Handelnde eine vorgegebene Theorie anwendet, ist er selbstkonstruktiv tätig. Unter den Bedingungen eines spezifischen Feldes entwirfter, indem er handelt, seine Antwort auf die Anforderungen der Situation. Erist wie der Tennisspieler, so sagt Bourdieu, der ans Netz geht, wenn es dieSituation erfordert. (Gebauer/Wulf 1993: 7)

Die Frage, wie man das sozialpädagogische „Tennisspielen“ lehren undlernen kann, außer durch Üben mit Versuch und Irrtum, besteht abergleichwohl. Das zentrale Problem für jeglichen Versuch, in diesem Sinnesozialpädagogische Handlungskompetenz lehrbar zu machen, ist zwei-fellos die hohe Komplexität der damit gestellten Aufgabe.

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Einleitung für Lehrende

· Es soll eine Grundlage für professionelle Kompetenz gelegt werden,die in einer Vielfalt beruflicher Felder einsetzbar ist, ohne die Beson-derheiten der einzelnen Berufsfelder außer Acht zu lassen;

· es sollen innerhalb dieser Felder Fähigkeiten zu den Einzelfällenangemessenen Handlungsweisen entwickelt werden, ohne die über-individuellen Strukturen zu vergessen;

· dies verlangt einen interdisziplinären Zugang im Schnittbereich vonsozialwissenschaftlichen, sozialpolitischen, pädagogischen, psycho-logischen, juristischen, ökonomischen und nicht zuletzt ethischenPerspektiven, ohne sich darin zu verlieren.

Gleichzeitig in diese Komplexität einzuführen und Handlungssicherheitzu vermitteln, erscheint als Quadratur des Kreises. Niemand hat einewirksame Zauberformel dafür. Unvermeidlich fällt deshalb in den Aus-bildungen beides ein Stück weit auseinander: Die Vermittlung von Ein-sichten in die Komplexität des Feldes wird Aufgabe theoretischer Aus-bildung; die von Handlungssicherheit und professionellem Habitus wirdAufgabe praktischer Initiationsprozesse (Hospitationen, Projekte, Prak-tika, Anerkennungsjahre etc.). Inzwischen gibt es Versuche, beideswieder zu verknüpfen, ohne, wie in den klassischen Methodenansätzen,Theorie mit Praxisanleitung gleichzusetzen, sondern sozialpädagogischeTheorie als kritische Instanz gegenüber Modellen der Praxisanleitung zunutzen: so zum Beispiel v. Spiegel 2004, Heiner 2007, 2010, HochuliFreund/Stolz 2011, Braun/Graßhoff/Schweppe 2011, manche davon mitausdrücklicher Anknüpfung an das Konzept multiperspektivischen Fall-verstehens.

Ich stimme nicht in den Chor derjenigen ein, die eine Arbeitsteilung zwi-schen Wissenschaft und Praxis als Spaltung beklagen. Jene ist (jedenfallszu einem bestimmten Grad) der unumgängliche Preis des erreichten Pro-fessionalisierungs-Niveaus Sozialer Arbeit – den übrigens vergleichbareProfessionen ebenfalls zu zahlen haben (Müller 1999). Wer die unmittel-bare Einheit von theoretischer Ausbildung und Praxiseinführung wollte,würde damit faktisch die Rückkehr zu eigentlich überwundenen Stadiensozialpädagogischer Professionalisierung fordern – die allerdings in vie-len Feldern immer noch mehr Regel als Ausnahme sind. Gerade aber dieUnvermeidlichkeit der (relativen) Trennung von wissenschaftlichen undpraktischen Lernprozessen in der Ausbildung erzeugt erst das eigentlicheProblem sozialpädagogischer Methodenlehre. Denn die Studierenden,die dann Praktikerinnen werden, haben den Graben zwischen beidem in

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Einleitung für Lehrende

jedem Falle zu bewältigen. Die Frage ist, ob sie ihn nur durch einen gro-ßen Sprung überwinden, mit dem sie das Ufer der Wissenschaft endgültighinter sich lassen; oder ob sie Fähigkeiten entwickeln, sich in beidenSphären, in der praxisentlasteten Reflexion wie in Handlungs- undEntscheidungsanforderungen, sicher zu bewegen und zwischen diesenSphären zu pendeln. Und die Frage ist auch, ob es dafür Hilfsmittel – imBild gesprochen Brücken und Boote – gibt, die den Übergang über denGraben erleichtern, also zeigen, „wie ein fruchtbares Verhältnis von Wis-senschaft und Praxis möglich ist“ (v. Spiegel 2004, 11). Wenn man diesals allgemeine Aufgabe sozialpädagogischer Methodenlehre betrachtet,dann kann man unter den bisherigen Ansätzen drei theoretische Annah-men über die Art des zu lösenden Problems finden. Sie sind auch alsMischformen denkbar, und überlappen sich in der empirischen Realitätunvermeidlich.

(1) Die Annahme, es gehe darum, das Sachgebiet, auf dem Sozialpäd-agogen Experten sind, möglichst präzis und operational zu beschreiben.Die Annahme unterstellt, dass Sozialpädagoginnen auf ihrem besonde-ren Arbeitsfeld eine exklusive Expertenschaft zu beanspruchen haben,mit spezifschem und von anderen Feldern klar unterscheidbarem theore-tischem Wissen und entsprechendem Können (Müller 2010). Die klassi-schen Professionalisierungsstrategien Sozialer Arbeit folgten diesemModell. Vor allem in der Konkurrenz und Kooperation mit andern helfen-den Professionen blieb das Expertenmodell aber eine umstrittene Option.Dies zeigt sich besonders in der noch unentschiedenen Debatte darüber,ob das neue Interesse an standardisierbaren diagnostischen Verfahrenund an „evidenzbasierter Praxis“ (Hüttemann 2006) in der SozialenArbeit ein Professionalisierungsschub oder eine expertokratische Verir-rung sei (Peters 1999, Widersprüche 2003, Heiner 2004, Müller 2005a,Dewe 2009). Die Stärke der Anlehnung an das Expertenmodell ist sicher,dass es Soziale Arbeit nahe an andere professionelle Tätigkeiten heran-rückt, damit vergleichbar macht und die Überprüfbarkeit jeweiligerErfolge verspricht. Die Schwäche kann man darin sehen, dass das Modellnahelegt, die Wirkungsmöglichkeiten des Experten und seiner standardi-sierbaren Verfahren systematisch zu überschätzen und die Bedeutungnicht standardisierbarer Handlungsmöglichkeiten sowie die Abhängig-keit von der Kooperation der Klienten und von Kontextfaktoren zu unter-schätzen. Auch die neuere Diskussion, für die weniger spezialisertesFachwissen als die Fähigkeit zur Herstellung gelingender Arbeitsbünd-nisse der Angelpunkt professioneller Kompetenz ist (Müller 1991,

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Einleitung für Lehrende

Becker-Lenz 2010, Oevermann 2010), konnte das Problem nie ganzbewältigen, dass Soziale Arbeit, wegen der vielfältigen Bedarfslagenihrer Klientel und der eigenen Eingebundenheit in die Kontrollfunktio-nen sozialstaatlicher Strukturen, nur partiell in der Lage ist, das zu tun,was sie nach ihrem Selbstverständnis gerne tun möchte.

Dies vermittelte bei manchen Beobachtern den Eindruck, Soziale Arbeitsei (ähnlich wie Schulpädagogik) wohl professionalisierungsbedürftig,aber nur eingeschränkt professionalisierungsfähig (Oevermann 2000,2002).

(2) Die Annahme, Soziale Arbeit müsse – gerade in Abgrenzung gegenspezialisierte Expertenkulturen und ihrer Eigenlogik – die Frage nachder Lebenswelt, den „Bewältigungsaufgaben“ und jeweiligen gesell-schaftlichen „Problemkonstellationen“ ihrer Adressaten (Böhnisch u.a.2005; ähnlich Hamburger 2003) ins Zentrum rücken. Kern des Problemssind aus dieser Sicht die unabgeschlossene Institutionalisierung vonInfrastrukturen für die Arbeit in gesellschaftlichen Bruchzonen einer-seits; und eine „doppelte Entgrenzung – sowohl der sozialen Problem-konstellationen als auch der institutionellen Zuständigkeiten“ (Böhnischu.a. 2005: 225) andererseits. Wissenschaftliche Ausbildung hat in dieserSicht die Aufgabe, die Lebenswelt der Adressatinnen als Ressourcenge-füge (wie als Gefüge strukturell mangelnder Ressourcen) zu erschließenund dabei sozialpädagogische Institutionen als Teil und Wechselwir-kung in diesem Gefüge verständlich zu machen.1 SozialpädagogischePraxis wird dabei als unterstützendes und kompensierendes Ressourcen-management verstanden, das aber zugleich dem „Druck der Verengung“(auf abgegrenzte Zuständigkeiten, Wissensbestände, Methoden; vgl.Böhnisch u.a. 16f.) widerstehen muss, um auf größere Zusammenhänge„im Legitimationsrahmen sozialer Gerechtigkeit“ (ebd. 225) zu verwei-sen. Die Stärke dieser Perspektive liegt sicher darin, dass sie SozialeArbeit historisch wie systematisch in ihrer Sonderstellung gegenüberanderen professionellen Interventionssystemen zeigt. Die Schwäche ist,dass sie nur schwer zeigen kann, wie Soziale Arbeit mit den Grenzenihrer Möglichkeiten und mit ihrer Abhängigkeit von jenen anderenSystemen umgehen soll und welches professionelle Wissen und Könnensie dafür braucht (Müller 2011c). Eine Vermittlung zwischen diesem

1 Methoden des Empowerment und der Netzwerkarbeit legen sich hier nahe, wenn die Lö-sung nicht gar in paradoxen Formulierungen wie der einer „postmodernen“ „Sozialarbeitohne Eigenschaften“ (Kleve 2000) gesucht wird.

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Einleitung für Lehrende

Modell und dem des Experten versucht Maja Heiner (2007) mit ihremBegriff der „Fachkraft“.

(3) Die Annahme, Soziale Arbeit sei primär eine hermeneutische Aufga-be der Entschlüsselung individueller Problemkonstellationen im Medi-um personaler Arbeitsbeziehungen, also „Beziehungsarbeit“ im weitenSinne. Wissenschaftliche Ausbildung hat unter dieser Perspektive vorallem die Aufgabe, einerseits Interpretationshilfen für die lebenswelt-lichen Deutungsmuster und subjektiven (Über-)Lebensstrategien derAdressaten Sozialer Arbeit zu liefern, andererseits Selbstreflexion inangemessener „Nähe und Distanz“ (Dörr/Müller 2007) zu diesen Adres-satinnen zu ermöglichen. Praxis Sozialer Arbeit wird hier als Rahmenund Aktionsfeld für Aushandlungsprozesse mit offenem Ende verstan-den. Sie unterscheidet sich aber vom „wirklichen“ Alltag und Lebens-kampf ihrer Klientel darin, dass sie versucht „Chancen der Virtualisie-rung“ (Körner, Müller 2004) zu erschließen und verstellte Freiräume desNeuanfangs (Hörster/Müller 1996) zu eröffnen. Der Aushandlungspro-zess zwischen Sozialpädagoginnen und ihren Adressaten ist dabei als eindoppelt gerichteter gedacht: Er betrifft einerseits „Sinnfragen“ derArbeitsbeziehung unter Einschluss von deren emotionalen, ja unbewuss-ten Dimensionen; das Aushandeln hat insofern den Charakter von„Gefühlsarbeit“ (vgl. Müller 2011b), als es Bewältigung dessen ein-schließt, was mit Klienten nicht direkt verhandelbar ist, sondern „absti-nent“ verarbeitet werden muss (Müller 1991, Oevermann 1996). Ebendies begründet vor allem anderen die Notwendigkeit eines besonderen„kasuistischen Raumes“ (Hörster 1999), auch jenseits direkter Kommu-nikation mit Klienten. Andererseits aber sind die Sach- und Beziehungs-fragen („Worum geht es hier?“, „Was erwartet wer von wem?“) Gegen-stand der Aushandlung selbst und können nicht im Voraus oder einseitigdefiniert werden, sondern müssen gemeinsam gefunden werden. DieStärke dieser Perspektive ist sicher, dass sie Soziale Arbeit als ein inter-personales Geschehen – und nicht nur als sachbezogene Dienstleistungoder Behandlung in den Blick nimmt. Die Schwäche könnte sein, SozialeArbeit zu nahe an therapeutisches Handeln zu rücken und die objektiv-materielle Seite der Dienstleistung, wie deren institutionelle und politi-sche Bedingungen und Grenzen zu unterschlagen.

Diese drei hier grob vereinfacht dargestellten Grundannahmen werden,unbeschadet ihrer Vermischung im Alltagshandeln von Praktikern undden Vermittlungsversuchen in der neueren Methodenliteratur, immer

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noch als Alternativen diskutiert. Insbesondere das Expertenmodell wirdeher als bloße Kontrastfolie diskutiert (z.B. Olk 1986, Dewe u.a. 1992,Dewe/Otto 2005), da es den sozialpädagogischen Handlungsbedingun-gen und Aufgaben nicht gerecht werde und zudem als technokratischesModell ethisch fragwürdig sei.

Ich meine demgegenüber, dass keine sozialpädagogische Methodenlehreumhinkommt, von allen drei Annahmen wenigstens implizit und partiellauszugehen. Die zentrale Arbeitshypothese dieses Buches ist jedenfalls,dass ein adäquates sozialpädagogisches Handlungsmodell alle dreiAnnahmen in je spezifischer Weise voraussetzt. Sie sind als Hintergrundder im Folgenden entwickelten Falltypologie (Fall von, Fall für, Fall mit;vgl. Kap. 2) zu erkennen: Soziale Arbeit muss ihr Können als Sachkom-petenz ausweisen, auch wenn die Art der zu bearbeitenden „Sachen“ undder Zugang zu ihnen nur wenig standardisierbar ist; sie muss sich auf’sNetzwerken verstehen und sich mit den Zuständigkeiten und Ressourcenanderer verbinden können; und sie muss zu selbstreflexiver „Beziehungs-arbeit“ mit Klienten fähig sein.

Allerdings ist damit ein Problem verbunden, vor dem alle integrativenMethodenansätze Sozialer Arbeit stehen, egal ob sie, wie etwa das klassi-sche Case-Work, „den ganzen Menschen in seiner Situation“ zum metho-dischen Ausgangspunkt und Aufgabenfeld erklären, oder ob sie, wie dieneuere Sozialpädagogik seit dem 8. Jugendbericht (1990), die „Lebens-weltorientierung“ und „Alltagsnähe“ zu fachlichen Standards macht,oder ob sie Modelle „kooperativer Prozessgestaltung“ (Hochuli Freund/Stolz 2011) entwirft. Immer sind solche „ganzheitlichen“ Orientierungenin der Gefahr, eine willkürliche und/oder an zufällig aktuellen Kriterienfür das jeweils Opportune orientierte Handlungsweise nicht überwindenzu können. Die andere Gefahr ist, dass Ganzheitlichkeit in Grenzenlosig-keit der Einmischung umkippen kann (vgl. dazu ausführlich: Müller1991: 50ff.). Wenn ich die Integration jener Perspektiven durch das Stich-wort „multiperspektivisch“ kennzeichne, so geht es mir darum, solchenGefahren Rechnung zu tragen, ohne dadurch die notwendige Offenheitdes Zugangs zu verlieren. Es ist ja nicht mehr als ein verbreiteter fach-licher Mythos, wenn Sozialpädagogen seufzen, dass sie „Mädchen füralles“ sein müssten. Dieser Mythos entspricht weder den Außenerwar-tungen, noch den realen Handlungsmöglichkeiten. Soziale Arbeit kanndeshalb gar nicht anders, als mehrere – in sich begrenzte – Handlungsper-spektiven miteinander zu verknüpfen, ohne dabei den Anspruch zu er-

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heben, diese Perspektiven jeweils auszuschöpfen. Sie ist dabei zugleichimmer selbst Teil des Feldes, in dem sie handelt und sich orientieren muss(Köngeter 2009). Unter multiperspektivischem Vorgehen verstehe ichdemnach, dass sozialpädagogisches Handeln bewusste Perspektiven-wechsel zwischen unterschiedlichen Bezugsrahmen erfordert. Multiper-spektivisches Vorgehen heißt zum Beispiel, die leistungs- und verfah-rensrechtlichen, die pädagogischen, die therapeutischen oder gegebenen-falls auch medizinischen sowie die fiskalischen Bezugsrahmen einesJugendhilfe-Falles nicht miteinander zu vermengen, aber sie dennoch alswechselseitig füreinander relevante Größen zu behandeln und in gekonn-ter Kooperation mit anderen Fachleuten zu bearbeiten.

Für die Klärung solcher Bezugsrahmen greife ich – neben und quer zurgenannten Falltypologie – auf konventionelle Figuren zurück. Sie werdenüblicherweise, methodisch reflektiert oder auch beiläufig, als ordnendeSchemata für Fallarbeit auch außerhalb Sozialer Arbeit in anderen perso-nenbezogenen professionellen Dienstleistungen (etwa medizinischenoder juristischen) benutzt. Ich meine damit das gängige Schema, wonachder Prozess des Fallverstehens als Prozess von Anamnese, Diagnose,Intervention und Evaluation gegliedert werden kann. Ich versuche zu zei-gen, dass damit keineswegs eine defizitorientierte oder expertokratische(Kunstreich u.a. 2004) Vordefinition Sozialer Arbeit verknüpft sein muss.Beide Schemata zu Struktur und Prozess von Fallarbeit lassen sich zueiner Matrix zusammenfügen, die gewissermaßen das grundlegendeStrickmuster dieses Buches bildet (vgl. Schema 2 und 3 in Kap. 3 und 4).

Kasuistisch zu arbeiten heißt hier schließlich, heuristisch (entdeckend)vorzugehen. Im Unterschied zu andern Methodenlehrbüchern SozialerArbeit, den klassischen (z.B. Germain/Gitterman 1983) ebenso wieneueren (z.B. Stimmer 2000, v. Spiegel 2004, Heiner 2007, HochuliFreund/Stolz 2011) werden Fälle nicht als Illustrationen für fachlicheArbeitsprinzipien und daraus abgeleitete Arbeitsmethoden und -verfah-ren eingeführt. Ausgangspunkt sind vielmehr Fallgeschichten von Stu-dierenden (insgesamt 21), die durch Herantragen von Verallgemeinerun-gen auf ihre methodischen Implikationen hin befragt werden. Die Fall-geschichten sind demnach keine „Lehrfälle“, die zeigen, „wie man’smacht“, sondern eher als Testfälle zu verstehen, an denen sich beispiel-haft überprüfen lässt, ob die benutzten Interpretationsschemata heuri-stisch fruchtbar sind. Genauer gesagt: Die Fallgeschichten sind zunächstwirklich nicht mehr als „Geschichten, die man sich erzählt“ (vgl. Fall 1).

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Einleitung für Lehrende

Sie werden erst durch das Herantragen von Interpretationsperspektivenzum sozialpädagogischen Fall – und je nach Art der Perspektive zu einemjeweils unterschiedlichen Fall. Zugleich werden sie dadurch zum Fall,dass sie jemand aus fachlichem Interesse als Fallgeschichte erzählt. Von„Perspektiven“ zu reden setzt immer einen Standpunkt voraus, von demaus jemand blickt. Fallarbeit aber setzt einen praktisch und institutionelllokalisierbaren Standpunkt voraus, den Standpunkt derjenigen, die – realoder im Seminar gedankenexperimentell – an Fällen „arbeiten“ bezie-hungsweise daraus lernen wollen.2

Sowohl im Blick auf die mögliche Vielzahl der Fallperspektiven, als auchim Blick auf den praktischen Betrachtungsstandpunkt gilt es das Missver-ständnis zu vermeiden, es stecke das, was objektiv „der Fall ist“, in derGeschichte drin, wie ein Kern in der Schale, und die „Lösung“ des Fallesbestehe darin, diesen Kern freizulegen. Vielmehr ist Fallarbeit immer einKonstruktionsvorgang (nicht nur ein Rekonstruktionsvorgang): Konstru-iert wird „ein kasuistischer Raum, in dem sich SozialpädagogInnengemeinsam beraten“ (Hörster 2003: 335); und konstruiert werden Lösungs-schritte, die „man erfinden muss und wechseln kann“ (Wilhelm Flitner).

Weil ich dies verdeutlichen möchte, habe ich ausschließlich studentischeFallbeispiele verwendet. Oft handelt es sich dabei nur um Bruchstückeund Einzelsituationen aus größeren Zusammenhängen, zum Teil auch umhochkomplexe und wenig erschlossene Problemanzeigen, in keinem Fallum aufbereitete Lehrstücke. Gerade so aber eignen sie sich besondersgut, um den praktischen Ausgangspunkt und Einstieg jeglicher Fallarbeitzu beleuchten. Dieser gleicht dem, den der Philosoph Ernst Bloch „Dun-kel des gelebten Augenblicks“ genannt hat. Sozialpädagogische Kasuis-tik hat nach meinem Verständnis als allgemeinen Zweck, zu zeigen,

· dass man sich vor diesem Dunkel nicht zu fürchten braucht,· dass man lernen kann, sich selbst ein paar Lichter aufzustecken und,· dass es für dieses Lernen Orientierungsmöglichkeiten und Hilfsmittel

gibt.

Wenn mir gelingt, dies ein Stück weit zu vermitteln, bin ich zufrieden.

2 Das jüngst erschienene Lehrbuch zur Fallarbeit von Braun/Graßhoff/Schweppe (2011)arbeitet ähnlich wie dieses mit eigenen Fällen der Studierenden, alledings mit einem andernZiel: nicht mit dem Ziel, sich den praktischen Standpunkt des verantwortlich Handelndenreflektierend zu erschließen, sondern ihn von einem wissenschaftlich und handlungsent-lastet rekonstruierenden Standpunkt aus analysieren zu lernen. Beides sind wichtige, aberunterschiedliche Ziele.

1 Aus Geschichten lernen –oder: Wie wird der Fall zum Fall?

1 Alexander und sein Freund Carlos langweilen sich am Sonnabend. Sie

gehen angeln. An dem See, wo sie mit Vergnügen Fische fangen, ist dies

verboten. Obwohl sie es wissen, unterhalten sie sich und scherzen laut.

Der Eigentümer entdeckt sie bald. Die Polizei wird eingeschaltet. Eine

zufällige Kontrolle durch die Polizei auf der Straße wird ihnen noch nicht

zum Verhängnis. Aber als sie zu Hause ankommen, wartet erneut die

Polizei auf sie. Jetzt werden die gefangenen Fische als Beweis gegen sie

eingezogen. Es kommt zur Gerichtsverhandlung. Dabei stellt sich

heraus, dass Carlos, 20 Jahre alt, verheiratet und Vater von einem Kind,

schon mehrmals wegen solcher Delikte vor Gericht stand und zwar

immer, wenn er arbeitslos geworden war. Der Staatsanwalt plädiert des-

halb für einen mehrmonatigen Freiheitsentzug, um Carlos’ Verhalten zu

ändern. Alexander soll eine Geldstrafe bekommen. Das Urteil wird

gefällt. Alexander bekommt seine Geldstrafe. Bei Carlos ist die Geld-

strafe so angelegt, dass ihm durch Vermittlung des Arbeitsamtes eine

Zahlung des Betrages möglich werden sollte. Bis heute hat er jedoch

noch nichts bezahlen können.

1.1 Einleitende Bemerkungen

Diese Geschichte vom Fischfang mit bösen Folgen ist eine von vielen, dieStudenten und Studentinnen der Sozialpädagogik, vor allem Studienan-fänger, in meinen Seminaren zur Verfügung stellten. Es handelte sichdabei um Lehrveranstaltungen, die als „Kasuistik der Kinder- undJugendhilfe“, als „Sozialpädagogische und sozialarbeiterische Fälle“oder auch als Begleitveranstaltung zum Praktikum angekündigt waren. Jeeine solche niedergeschriebene Geschichte stellen die Teilnehmerinnensolcher Veranstaltungen gleichsam als „Eintrittsbillett“ zur Verfügung.

Die Frage, die für mich in diesen Lehrveranstaltungen im Mittelpunktsteht und die ich auch in diesem Buch beantworten möchte, ist einfach:

Wie ist es möglich, aus solchen Geschichten zu lernen, genauer gesagt,etwas über Soziale Arbeit zu lernen? „Solche Geschichten“ heißt:

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1 Aus Geschichten lernen – oder: Wie wird der Fall zum Fall?

Geschichten, die Studierende der Sozialpädagogik erzählen, wenn mansie auffordert, aus dem eigenen Erfahrungsbereich „Fälle“ oder„Momentaufnahmen“, die „etwas mit Sozialpädagogik zu tun haben“ zuberichten. Die vage Formulierung „etwas“ ist bewusst gewählt.

Es geht mir mit dieser Frage um Methoden und Hilfsmittel, die es Studie-renden ermöglichen, sich eigene, aus ihrer Sicht für Sozialpädagogikirgendwie relevante Erfahrungen als Lernerfahrungen anzueignen. Ichgehe dabei von dreierlei aus:

· dass alle Studierenden solche Erfahrungen mitbringen, auch wenn sienoch nicht (z.B. als ehemalige Ehrenamtliche oder Praktikantinnen)mit sozialpädagogischen Berufsrollen näher bekannt sind;

· dass fast alle über solche Erfahrungen auch berichten können, dasheißt sie erzählen und in der Erzählung Bezüge herstellen können, dieerkennen lassen, dass die Geschichte „etwas“ mit Sozialpädagogik zutun hat;

· dass aber nur sehr wenige in der Lage sind, dieses „Etwas“ näher zubestimmen und in ihr Wissen über Sozialpädagogik einzuordnen.

Dabei zu helfen ist Ziel dieses Buches.

Dafür werden einige Instrumente entwickelt:

· Es werden Geschichten wie die oben erzählte unter der Fragestellungbetrachtet, welches sozialpädagogische „Etwas“ darin entdeckt wer-den kann; und es wird verdeutlicht, dass solche Geschichten selbstzwar noch keine „Fälle“ sind, aber aus unterschiedlichen Handlungs-zusammenhängen auf sehr unterschiedliche Weise „als Fall“ gelesenwerden können (Kap. 1.4).

· Es werden drei Typen solcher Lesarten beziehungsweise drei Perspek-tiven unterschieden, die für sozialpädagogisches Handeln auf unter-schiedliche Weise von Bedeutung sind:

1. als Handeln, das vorgegebene Tatbestände (z.B. Rechtsansprüchevon Klienten – oder gegen sie) verwaltet und umsetzt;

2. als auf andere Instanzen verweisendes und an sie vermittelndesHandeln;

3. als Handeln in unaustauschbar persönlichen aber doch professio-nell zu gestaltenden Beziehungen (Kap. 2).

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1.1 Einleitende Bemerkungen

· Auch das am meisten benutzte Schema professioneller Fallbearbei-tung – die methodische Folge von Anamnese, Diagnose, Interventionoder Behandlung sowie Evaluation – wird neu interpretiert. Dabeiwird geklärt, inwieweit dieses Schema für sozialpädagogische Fall-arbeit brauchbar ist und wie es modifiziert werden muss (Kap. 3).

· Es wird am Beispiel der so genannten „Hilfeplanung“ nach dem Kin-der- und Jugendhilfegesetz (KJHG/SGB VIII) gezeigt, dass dieserProzess der Fallarbeit mit dem Bezug auf jene drei Perspektiven keinbeliebig zu verwendendes Schema darstellt, sondern notwendigeSchritte und Betrachtungsebenen benennt, die fachgerecht abgearbei-tet werden müssen (Kap. 4).

· Es werden zu jedem einzelnen Prozesselement von Fallarbeit Beispie-le, besondere Fragen und Schemata der Bearbeitung diskutiert, wobeiversucht wird, eine spezifisch sozialpädagogische Sichtweise vonAnamnese, Diagnose, Behandlung und Evaluation zu entwickeln(Kap. 5 bis 8).

· Schließlich wird in einer Zusammenfassung eine Beschreibung derbesonderen professionellen Haltung versucht, die sozialpädagogischeFallarbeit kennzeichnen sollte (Kap. 9).3

3 Diese Zielsetzung und dieses Vorgehen schließen, trotz mancher Übereinstimmungen (vgl.unten Kap. 9.3) andere Fragestellungen aus. Anders als in der auf sozialpädagogisches Han-deln bezogenen Biographieforschung (Baacke/Schulze 1979, Schweppe 2002, Glinka 2005)geht es hier nicht um Methoden der Interpretation von Lebensgeschichten und ihre Relevanzfür Soziale Arbeit, auch nicht um narrative Interviews oder Ähnliches. Das Buch beschränktsich nicht auf speziell pädagogisches Fallverstehen (wie z.B. die Fallsammlungen von Ertle/Möckel 1981, oder die Studien zu Sozialpädagogischen Diagnosen von Mollenhauer/Uhlen-dorff 1992, 2000, Uhlendorff 2001). Es bietet auch keine sozialpädagogischen „Lehrfälle“,die exemplarisch zeigen, wie komplexe Einzelfälle, zum Beispiel im Jugendhilferecht (Ober-loskamp/Adams 1996) oder in der Hilfeplanung (Schwabe 2005) gelöst werden können, nocheine empirische Aufarbeitung der Fallarbeit von Ämtern und Einrichtungen (z.B. Arbeits-gruppe 5 1975, Freigang 1986), und keine Vergleiche unterschiedlicher Zugänge zum metho-dischen Handeln (z.B. Müller u.a. 1986, Peters 1999, Galuske 2005). Schließlich geht es nichtum eine Neuauflage des sozialpädagogischen „Case Work“, d.h. nicht um den Versuch, einen„Helfenden Prozess“ (vgl. z.B. Hollis 1971, Perlman 1969, Germain/Gittermann 1983; vgl.Neuffer 1990) von Anfang bis Ende zu beschreiben. Näher ist der Ansatz bei neueren Ver-suchen, theoretische Grundlagen Sozialer Arbeit mit Prozessmodellen für praktisches Vor-gehen zu vermitteln (z.B. v. Spiegel 2004, Heiner 2010, Hochuli Freund/Stolz 2011), mitdem Unterschied allerdings, dass ich nicht beanspruche zu zeigen, wie gelingende sozialeFallarbeit geht, sondern eher beibringen will, gute Fragen zu stellen, die dabei helfen (Müller2011a). Begriffe wie „Didaktik der sozialpädagogischen Arbeit“ (Martin 2005, Schilling2005) oder „Beobachtungslehre“ (Martin/Wawrinowski 1991) könnten deshalb auch passen,obwohl die genannten Bücher vollkommen anders ansetzen.

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1 Aus Geschichten lernen – oder: Wie wird der Fall zum Fall?

Mein Anliegen ist das, was man früher „Propädeutik“ nannte: einführen-de Vorübungen zu komplexer sozialpädagogischer Fallbearbeitung zuliefern, jedoch nicht, diese selbst Schritt für Schritt zu lehren. Die Fallbei-spiele stammen nicht aus der Praxis erfahrener Sozialpädagogen, son-dern aus der Erfahrung von Studentinnen und Studenten. Komplexe Fall-geschichten von langer Bearbeitungsdauerk können sie nicht bearbeiten.Sie berichten eher „Momentaufnahmen“ aus solchen Fällen, die inirgendeiner Form die Frage: „Was tun?“ stellen. Gerade diese Beschrän-kung auf das Verstehen und Handeln im einzelnen Moment zwingt aberdazu, das Thema Fallarbeit zunächst weit zu fassen und nicht von vornhe-rein auf ein bestimmtes Fachlichkeitsverständnis einzuengen. Was denspezifisch „sozialpädagogischen Blick“ ausmacht, kann man nur lernen,wenn man ihn mit anderen „Blicken“, zum Beispiel dem juristischen oderdem therapeutischen, vergleicht. Auch zeigen viele der studentischenGeschichten, dass sozialpädagogische Fallarbeit oft von solchen anderenins Alltagsbewusstsein abgesackten „professionellen“ Sichtweisen soüberlagert ist, dass daraus eher blockierende Vorurteile als Handlungs-möglichkeiten entstehen. Allgemeines Ziel dieser Art der Arbeit an Fäl-len ist wohl das, was der Philosoph Immanuel Kant als „Aufklärung“definiert hat: Es geht um den Mut, sich des eigenen Verstandes ohnefremde Hilfe bedienen zu lernen, genauer gesagt, um die sozialpädagogi-sche Nutzanwendung dieser Definition. Es geht um erste Schritte, dassozialpädagogische Studium als Mittel zu selbstständigem, professionel-lem Denken und Handeln zu begreifen – statt als unerfreuliche Mischungaus totem Wissen und pseudokonkreten Rezepten. Obwohl Kasuistik indiesem Sinne nur ein kleiner Beitrag zur Ausbildung sozialpädagogi-scher Fachlichkeit sein kann, geht es doch immer zugleich ums Ganze.

1.2 Interpretation einer Geschichte,die mit Sozialpädagogik zu tun hat

Die oben erzählte Geschichte (Fall 1) lässt zweifellos viele Interpretatio-nen zu. Mir kommt es zunächst darauf an, verständlich zu machen,weshalb die Geschichte als Erfahrungsbeitrag erzählt wurde, der „etwas“mit Sozialpädagogik zu tun hat. Der erzählende Student konnte dieses„Etwas“ nicht klar benennen und es liegt auch nicht auf der Hand. In derGeschichte kommen junge Männer, Fische und deren Eigentümer, Poli-zei, Gericht und der Staatsanwalt vor – aber keine Sozialpädagogen.

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Offenkundig wurde einer der Beteiligten (Carlos) schon vorher als Klein-krimineller auffällig und stand vor dem Jugendrichter. Dem einschlägi-gen Jugendgerichts-Gesetz (JGG) nach müsste die Sozialpädagogik des-halb in Gestalt eines Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) oder derJugendgerichtshilfe in der Geschichte auftauchen. Diese Funktionen aberscheinen dem Erzählenden nicht bekannt zu sein – er ist ja erst ganz amAnfang des Studiums. Jedenfalls erzählt er die Geschichte nicht als Fallfür die Jugendgerichtshilfe. Das „Sozialpädagogische“ der Geschichtebleibt eher allgemein und gleichsam zwischen den Zeilen verborgen:Man kann es hineinlesen, wenn von Jugendlichen die Rede ist, die sich„langweilen am Sonnabend“ und „mit Vergnügen Fische fangen“ – wo es„verboten“ ist; man kann mit sozialpädagogischem Blick ebenso das töl-pelhafte Sich-Erwischen-Lassen der beiden registrieren, wie die prompteAnzeige des „Eigentümers“ und die „zufällige“ (wenn auch zunächst fol-genlose) Kontrolle durch die Polizei auf der Straße. Offenbar wirkt eini-ges zusammen, was die beiden auffällig werden lässt; und einiges, wasmöglicherweise dazu führt, dass Sozialpädagogen etwas anderes auffällt,als etwa dem Eigentümer oder der Polizei. Dies könnte zum Beispiel derHinweis auf den Zusammenhang „solcher Delikte“ mit „arbeitslosgeworden“ andeuten.

Allerdings ist das, was hier das „Sozialpädagogische“ sein könnte, nichteindeutig. Auch der Staatsanwalt begründet ja seinen harten Strafantragpädagogisch und scheint seine besondere Art der Sozialpädagogik dabeizu verfolgen: Ein „mehrmonatiger Freiheitsentzug“ soll nach seiner Auf-fassung erzieherisch wirken. Dagegen gerät das Gericht mit seinem (ver-gleichsweise milden) Urteil, einer Geldstrafe, seinerseits in ein typischsozialpädagogisches Dilemma: Es verhängt eine Sanktion, die nicht aus-führbar ist, ohne dass dem Delinquenten vorher geholfen wird, bezahlenzu können. Das Geld soll selbst verdientes sein, „durch Vermittlung desArbeitsamtes“; da aber die Hilfe zur Arbeit nicht zu greifen scheint, greiftauch die Sanktion nicht: Das Geld ist nicht einzutreiben.

1.3 „Hinterkopf-Wissen“

Ich habe mit dieser „Lektüre zwischen den Zeilen“ schon einiges an so-zialpädagogischem „Hinterkopf-Wissen“ in die Geschichte hineininter-pretiert, ohne dies sehr explizit zu machen; Wissen, über das ich alsLehrender verfüge, aber nicht (oder nur in eingeschränktem Maße) die

1.3 „Hinterkopf-Wissen“

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1 Aus Geschichten lernen – oder: Wie wird der Fall zum Fall?

Studierenden. Sie haben wohl ein vages Bewusstsein davon, dass ihreGeschichten unterschiedliche Dimensionen sozialpädagogischen Han-delns berühren, können sie aber zu wenig benennen. Was folgt daraus?Zweifellos wäre es möglich, die Geschichte als Anknüpfungspunkt zunehmen, um etwas von jenem Hinterkopf-Wissen „rüberzubringen“; alsozum Beispiel:

· pädagogisches Wissen über Heranwachsende, das deren „Herumhän-gen, Blödeln, Action machen“ (Kannicht 1983) besser verständlichmacht;

· sozialwissenschaftliches Wissen, das die Geschwindigkeit, mit der diebeiden Hobbyfischer in die Mühlen der Justiz geraten, nicht für selbst-verständlich nimmt, sondern als Folge mangelnder sozialer Immunitätbegreift: Jugendliche, erst recht ausländisch aussehende Jugendliche,werden einfach schneller „auffällig“;

· rechtskundliches Wissen, das die Funktion, Handlungsmöglichkeitenund -grenzen der Jugendhilfe, insbesondere der „Jugendgerichtshilfe“im Kontext von Jugendgerichtsbarkeit als Fachkenntnis verfügbarmacht;

· Wissen über den sozialen „Habitus“ (Bourdieu 1982) und die Zusam-menhänge von „Rolle und Macht“ (Claessens 1968), welche es zumBeispiel Staatsanwälten ermöglichen, sich zugleich für pädagogischeExperten zu halten;

· sozialpolitisches Wissen, das sich in den Bedingungen und Folgen derArbeitslosigkeit unterprivilegierter Jugendlicher und in den Möglich-keiten und Grenzen der Gegensteuerung auskennt;

· Wissen darüber, dass die Art der Gegensteuerung umstritten und ein-deutig wirksame Hilfe schwierig sein kann und nur als Gratwanderungzu bewältigen ist.

Um all dieses Wissen vermitteln zu können, über das die Studierendenzweifellos verfügen sollten, wenn man sie sich als kompetent intervenie-rende Fachleute in einem solchen Fall vorstellt, müsste man allerdingsviel Zeit haben. (Man könnte sicher mehr als ein ganzes Semester damitzubringen, all das „Sozialpädagogische“ zu entfalten, das mit einer ein-zigen Geschichte dieser Art verbunden werden kann.) Das größere Pro-blem aber ist, dass damit die Geschichten wirklich nur noch didaktischeAufhänger und Ausgangspunkte für Wissensvermittlung wären. Dieeigentliche Aufgabe der hier beschriebenen Art von Kasuistik aber wäre

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damit in den Hintergrund gedrängt: zu zeigen, wie aus eigenen Erfahrun-gen und aus Beobachtungen der eigenen Umwelt gelernt werden kann;und wie man sich Hilfsmittel aneignen kann, um das, was in diesen Erfah-rungen steckt, „aufzuknacken“.

Anders gesagt: Die Studierenden würden auf das verwiesen, was sie wis-sen sollten (um dereinst als kompetente Fachleute gelten zu können),aber nicht angeleitet, sich ihre jetzige Erfahrungswelt besser anzueignenund kritisch zu erschließen und dafür Wissen zu erwerben. Andererseitsmöchten die Lehrenden ja gerade deshalb ihr (hoffentlich) geordnetesHinterkopf-Wissen an die Stelle diffuser Alltagserfahrungen der Studie-renden setzen, weil diese eigenen Erfahrungen, für sich genommen, denStudierenden wenig nützen und offenkundig der Aufklärung bedürfen.Kasuistik stößt an dieser Stelle auf ein Problem, das in der Wissenschafts-theorie „hermeneutischer Zirkel“ (Zirkel des Verstehens) genannt wird.Damit ist gemeint, dass man, um Lebensäußerungen und -zusammenhän-ge zu verstehen, erst „das Ganze“ verstanden haben muss, sofern es denVerstehenshorizont bildet, vor dem sich erst das Konkrete, Einzelne ein-ordnen lässt; dass man zugleich aber „das Ganze“ nicht verstehen kann,ohne sich vorher einen Zugang zum Konkreten, Einzelnen verschafft zuhaben. So haben zum Beispiel Ethnologen vielfältig das Problembeschrieben, dass es unmöglich ist, Einzelheiten einer fremden Spracheund Kultur sinnvoll zu verstehen, ohne vorher die „Grammatik“, dieDenkweise dieser Sprache und Kultur entziffert zu haben; zugleich aberist der Zugang zu dieser Grammatik nur über die Erfahrung der Spracheund Kultur im konkreten, einzelnen Lebenszusammenhang möglich.

Ähnliches gilt für das Verstehen von Geschichten aus der eigenen alltäg-lichen Erfahrungswelt, mit dem Unterschied, dass hier „das Ganze“, dasder Geschichte ihren Sinn, ihren Bedeutungszusammenhang gibt, nichtfremd, sondern im Gegenteil von Kind auf eingeübt und allzu selbstver-ständlich ist. Auch dies kann das Verstehen erschweren, sofern wirdadurch gewissermaßen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kön-nen. Gerade auch Alltagsgeschichten aus dem eigenen Erfahrungs-bereich haftet immer etwas von dem an, was oben (s. Einleitung für Leh-rende) „Dunkel des gelebten Augenblicks“ genannt wurde; auch dann,wenn diese Geschichten nicht nur „einfach so“ erzählt, sondern in einenallgemeinen Bedeutungszusammenhang (z.B. von Sozialpädagogik)gestellt werden. Und dennoch gilt von solchen Geschichten im Prinzipdasselbe, was der Psychoanalytiker und Pädagoge G. Bittner überLebensgeschichten sagt:

1.3 „Hinterkopf-Wissen“

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1 Aus Geschichten lernen – oder: Wie wird der Fall zum Fall?

Wenn es uns gelänge, einen einzigen menschlichen Lebenslauf in seinem, sound nicht anders’ vollständig durchsichtig zu machen, wüßten wir zugleichalles Wissenswerte über alle nur erdenklichen Lebensläufe. (1979:126; imOrig. kursiv)

Bittner variiert diesen Satz anschließend, indem er ihn auf den Zusam-menhang pädagogischen Handelns bezieht:

Wenn es gelänge, die Erziehungsgeschichte eines einzigen Individuumsrichtig, das heißt vollständig und mit den zutreffenden Bedeutungsakzentendarzustellen, wären gleichzeitig alle nur denkbaren Erziehungsgeschichtenmit aufgeklärt. (ebd. 127)

Ich möchte eine weitere Variation dieses Gedankens auf unsere Fischer-Geschichte beziehen: Wenn es kasuistischer Arbeit gelänge, eine einzigeGeschichte dieser Art in ihren Hintergründen, ihren subjektiven undobjektiven Bedeutungszusammenhängen bezüglich aller daran Beteilig-ten, in der Logik, in der Veränderbarkeit ihres Ablaufes sowie in ihrenZukunftsperspektiven vollständig erfassbar zu machen, dann müsstenStudierende der Sozialpädagogik nichts darüber hinaus lernen, weil allesfür Soziale Arbeit Relevante darin stecken würde.

Dies „wenn es gelänge“ ist natürlich nicht mehr als ein fiktives Gedan-kenexperiment; es ist, wie Bittner sagt, die (unmögliche) „Quadratur desZirkels“ (ebd. 126). Es zeigt aber in der Überspitzung sehr schön, woraufes sozialpädagogischer Kasuistik (wie jeder Form fallbezogenen Studi-ums) letztlich ankommen muss: nicht darauf, vom Alltagsverstand undvon der sinnlichen Wahrnehmung des Einzelfalles wegzuführen zu abs-trakten wissenschaftlichen Erkenntnissen (die dann wieder auf passendeFälle „angewandt“ werden); sondern in den Alltagsverstand, in die sinn-liche Wahrnehmung hineinzuführen, sie selbstreflexiv und kritisch zumachen und dafür nutzbares Wissen zu erschließen. Allgemeinwissenüber Sozialpädagogik – das, was man gemeinhin „Theorie der SozialenArbeit“ nennt – ist dabei nicht überflüssig. Aber seine Vermittlung ist hiernicht Ziel des Ganzen. Das Buch hat nur den begrenzten Zweck, Hilfsmit-tel der Selbstaufklärung zu sein, neben anderen Hilfsmitteln. Es musssich die Frage nach seiner Brauchbarkeit für diesen Zweck gefallen las-sen. Nur wenn Studierende lernen, ihr erworbenes Fachwissen unter derFrage zu betrachten, wie es ihr Alltagswissen vertieft, klärt oder kritischbeleuchtet, kann ihr nur angelerntes Wissen zum lebendigen Wissenwerden (Müller 1999).