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50 > Drehen, Drehfräsen SPECIAL > Der Messtechnikspezialist Wika liefert mit 7000 Mitarbeitern weltweit Instru- mentierungslösungen für unterschiedli- che Industrien. Im Stammwerk in Klin- genberg am Main werden vor allem hochwertige Druck- und Temperatur- messgeräte produziert (Bild 1). Für die reaktionsschnelle Versorgung der circa 50 Montagelinien mit Drehteilen ist die Ab- teilung Zerspanung zuständig. 130 Mitar- beiter fertigen dort auf 40 CNC-Maschi- nen circa 15000 Drehteil-Varianten. Es werden ausschließlich hochlegierte Werk- stoffe wie zum Beispiel 1.4404 oder Has- telloy verarbeitet. Pro Jahr müssen 35000 Fertigungsauf- träge mit Losgrößen von 1 bis 500 Stück durch die vier Fertigungsgruppen gesteu- ert werden. Jeden Tag sind dazu fünf bis zehn neue NC-Programme zu erstellen und ebenso viele Programmänderungen durchzuführen. Wie kompliziert muss die Fertigung eigentlich sein? Wika hat im Jahr 2002 ein umfassendes Lean-Programm gestartet und in der Mon- tage das Wika-Produktionssystem mit kurzen Durchlaufzeiten und schnellen Re- aktionszeiten aufgebaut. Standardproduk- te werden mit festen Lieferzeiten innerhalb von fünf bis zehn Arbeitstagen kunden- spezifisch hergestellt und ausgeliefert. Die Lean-Aktivitäten erreichten natür- lich auch die Zerspanung. Regelmäßige Rüstworkshops,externe Werkzeugvorein- stellung et cetera waren bereits 2008 Stan- dard. Allerdings war nach anfänglichen Erfolgen kein Fortschritt mehr zu erken- nen: Produktivitätssteigerungen waren nicht messbar, die Herstellkosten der we- nigen Serienprodukte lagen teilweise hö- her als bei externen Zulieferern. Die internen Lieferzeiten für Drehteile wurden fest mit sechs bis zehn Tagen ein- geplant. Durch die starken Bedarfsschwan- kungen der Montage kam es jedoch häufig vor,dass die tatsächlichen Lieferzeiten kurz- fristig auf bis zu drei Wochen anstiegen. Die nüchterne Kapazitätsbewertung zeigte einerseits absolute Engpässe, die nur durch Investitionen zu entspannen waren. Eine ›Lean Company‹ auf dem Weg zur marktsynchronen Fertigung Lean in der Zerspanung Auf dem Weg zur marktsynchronen Produktion in der mechanischen Fertigung bilden die ›klassischen‹ Lean-Methoden die notwendige Basis. Darüber hinaus sind jedoch begleitende Technologie- und Organisationsänderungen erforderlich. ANWENDER i Wika Alexander Wiegand SE Co. KG 63911 Klingenberg am Main Tel. + 49 9372 132-0 Fax + 49 9372 132-406 > www.wika.de BERATUNG i CIM Aachen GmbH 52064 Aachen Tel: +49 241 88870 Fax: +49 241 8887100 > www.cim-aachen.de VON GÖTZ MARCZINSKI UND THORSTEN SEEFRIED Bilder: CIM Aachen, Wika © Carl Hanser Verlag, München WB 7-8/2012 Typische Wika-Produkte und Teilespektrum der Wika-Zerspanung 1

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50 > Drehen, DrehfräsenS P E C I A L

> Der Messtechnikspezialist Wika liefertmit 7000 Mitarbeitern weltweit Instru-mentierungslösungen für unterschiedli-che Industrien. Im Stammwerk in Klin-genberg am Main werden vor allemhochwertige Druck- und Temperatur-messgeräte produziert (Bild 1). Für diereaktionsschnelle Versorgung der circa 50Montagelinien mit Drehteilen ist die Ab-teilung Zerspanung zuständig. 130 Mitar-beiter fertigen dort auf 40 CNC-Maschi-nen circa 15 000 Drehteil-Varianten. Eswerden ausschließlich hochlegierte Werk-stoffe wie zum Beispiel 1.4404 oder Has-telloy verarbeitet.

Pro Jahr müssen 35000 Fertigungsauf-träge mit Losgrößen von 1 bis 500 Stückdurch die vier Fertigungsgruppen gesteu-ert werden. Jeden Tag sind dazu fünf biszehn neue NC-Programme zu erstellen

und ebenso viele Programmänderungendurchzuführen.

Wie kompliziert muss die

Fertigung eigentlich sein?

Wika hat im Jahr 2002 ein umfassendesLean-Programm gestartet und in der Mon-tage das Wika-Produktionssystem mitkurzen Durchlaufzeiten und schnellen Re-aktionszeiten aufgebaut.Standardproduk-te werden mit festen Lieferzeiten innerhalbvon fünf bis zehn Arbeitstagen kunden-spezifisch hergestellt und ausgeliefert.

Die Lean-Aktivitäten erreichten natür-lich auch die Zerspanung. RegelmäßigeRüstworkshops, externe Werkzeugvorein-

stellung et cetera waren bereits 2008 Stan-dard. Allerdings war nach anfänglichenErfolgen kein Fortschritt mehr zu erken-nen: Produktivitätssteigerungen warennicht messbar, die Herstellkosten der we-nigen Serienprodukte lagen teilweise hö-her als bei externen Zulieferern.

Die internen Lieferzeiten für Drehteilewurden fest mit sechs bis zehn Tagen ein-geplant.Durch die starken Bedarfsschwan-kungen der Montage kam es jedoch häufigvor,dass die tatsächlichen Lieferzeiten kurz-fristig auf bis zu drei Wochen anstiegen.

Die nüchterne Kapazitätsbewertungzeigte einerseits absolute Engpässe, die nurdurch Investitionen zu entspannen waren.

Eine ›Lean Company‹ auf dem Weg zur marktsynchronen Fertigung

Lean in der ZerspanungAuf dem Weg zur marktsynchronen Produktion in der mechanischen Fertigung

bilden die ›klassischen‹ Lean-Methoden die notwendige Basis. Darüber hinaus sind

jedoch begleitende Technologie- und Organisationsänderungen erforderlich.

ANWENDERiWika Alexander Wiegand SE Co. KG63911 Klingenberg am MainTel. + 49 9372 132-0Fax + 49 9372 132-406> www.wika.de

BERATUNGiCIM Aachen GmbH52064 AachenTel: +49 241 88870Fax: +49 241 8887100> www.cim-aachen.de

VON GÖTZ MARCZINSKI UND

THORSTEN SEEFRIED

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© Carl Hanser Verlag, München WB 7-8/2012

Typische Wika-Produkte und Teilespektrum der Wika-Zerspanung

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Andererseits versprach die systematischeBetrachtung unproduktiver Maschinen-zeiten ebenfalls Kapazitätsreserven. Umdiese zu erschließen, waren ›nur‹ die spe-ziellen Herausforderungen für ›Lean‹ inder Fertigung zu meistern.

Ziel war es, neben dem primären Er-folgsmaßstab ›Reaktionsgeschwindigkeit‹die Fertigung auch in den Dimensionen›Volumenflexibilität‹ und ›Produktivität‹zu optimieren.Wie viel Produktivität kannman zugunsten kurzer Lieferzeiten opfern?– Das war eine der zentralen Fragen dabei.Zu vertretbaren Kosten möglichst nahe andas Ideal der marktsynchronen Produk-tion zu kommen – das war die Aufgabe.

Marktsynchron zu produzieren heißtgenau das herzustellen, was die Kundengerade fordern. Das Ziel ist der ›One-Piece-Flow‹. Der Reflex, Rüstvorgänge zu-gunsten der Produktivität zu vermeiden,ist zu ersetzen durch den Anspruch, dasRüsten so einfach zu machen, dass es denFertigungsfluss nicht mehr stört. Und soprozesssicher, dass das Rüsten nicht zumProduktivitätsfresser wird.

Um zu klären, wie das gehen soll, wurdebei Wika ein Team aus Fertigungsleitung,Gruppenleitern und Fertigungssteuerunggebildet und mit Unterstützung der CIMAachen GmbH zunächst ein ›Kreativ-

Workshop‹ durchgeführt. Innerhalb vonzwei Tagen war die notwendige Zielvor-stellung entwickelt: ›die Fertigung aufKnopfdruck‹. Dass die Maschinenführernach klassischem Verständnis schnell mitminimalen Stillstandszeiten rüsten, warbereits Stand der Technik bei Wika. Jetztging es um Einfahrzeiten, um Überprü-fungen der bereitgestellten Werkzeuge,umdie Absicherung der NC-Programme. DieMaschinenführer sollen sich ›blind‹ aufihre ›Lieferanten‹ aus der NC-Program-

mierung und Werkzeugbereitstellung ver-lassen und nach erfolgtem Rüstvorgangangstfrei ›Start‹ drücken können.

Bei der Erarbeitung der dazu notwendi-gen Maßnahmen wurde schnell klar, dasszunächst durch geeignete organisatorischeMaßnahmen die Komplexität in der Ferti-gung reduziert werden musste. Den strate-gischen Rahmen bildete die Segmentierungin drei Arten von Fertigungsgruppen:■ Fokussierte Fertigungszellen für Serien-

produkte, bei denen eine 1:1-Relation

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Strategischer Rahmen für die Werkstattorganisation 3

Modulare Werkzeugsysteme führen zur Verkürzung von Einfahrzeiten2

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von Fertigungsteil und Maschi-ne sinnvoll ist.

■ Spezialisierte Gruppen, diejeweils für ähnliche Teile undeingefahrene Prozesse gebildetwerden.

■ Schließlich flexible Fertigungs-gruppen für das Restprogramm(Bild 3).

Die bisherige Fertigungsorgani-sation entsprach den flexiblenGruppen und den 1:1-Zellen, dieweitgehend autonom jeweils fürbestimmte Artikel die kompletteVerantwortung hatten.Im Fall derflexiblen Gruppen wurden nurdie Werkzeug- und Materialbe-reitstellung zentral organisiert.

Das neue strategische Konzeptmit den spezialisierten Zellenerlaubt jetzt die Optimierung inRichtung Produktivität, ohneKompromisse bei den Durchlaufzeitenzu machen.

Heute bilden jeweils zwei bis fünfgleichartige Maschinen eine spezialisierteGruppe. Um Platz zu sparen und die Ma-schinenaufstellung zu optimieren, wurdenach Möglichkeit auf Kurzstangenladerumgestellt. Die Maschinen sind so ange-ordnet, dass die starre Zuordnung vonMitarbeitern zu Maschinen aufgehobenwerden konnte (Bild 5). Je nach Losgrö-ße,Art und Komplexität der aktuellen Auf-träge bedient ein Mitarbeiter eine bis dreiMaschinen. Die Mitarbeiterzuordnung

innerhalb einer Zelle ändert sich dyna-misch auf Zuruf der Kollegen.

Prozessstabilität für die

›Fertigung auf Knopfdruck‹

Produktivitätsfresser Nummer eins anden Maschinen war die mangelnde Pro-zesssicherheit. Daraus resultierten langeEinfahrzeiten, hohe Nebenzeiten und einhoher Überwachungsaufwand durch dieMaschinenführer. Die Betrachtung derAbläufe im Detail zeigte bei Rüstvorgän-gen eine mangelhafte Reproduzierbarkeitvon Werkzeugen und Programmen,sodass

Prozess- und Teilequalität sehr stark vomjeweiligen Maschinenbediener abhingen.

Das schnelle Rüsten nach klassischerLean-Idee war nicht das Problem. DerTeufel steckt in Details. Das fängt bei derWechselgenauigkeit an, die wesentlichdurch die Werkzeugschnittstelle bestimmtist (Bild 2). Ein Wechsel auf das Capto-System schaffte hier die Voraussetzung zurVerkürzung von Einfahrzeiten.

Um sicherzustellen,dass NC-Programmund Werkzeug bei Wiederholaufträgenexakt wie beim Vorauftrag an die Maschinekommen,wurde eine Werkzeugdatenbank

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Beispiel einerflexiblen Ferti-gungszelle. Jenach Auslastungund Art der Auf-träge werden dievier Maschinenvon ein bis dreiMitarbeiternbedient

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Vernetzte Produktion bei Wika 4

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aufgebaut. Die eindeutige Identifizierungvon Werkzeugen und Komponenten sowieder Zugriff auf standardisierte Einrichte-blätter helfen jetzt, Fehler zu vermeiden.

Transparenz für die

Fertigungssteuerung

Die ›Disposition‹ versorgt die Zerspanungmit Fertigungsaufträgen. Diese werdenentweder direkt für kundenspezifischeMontageaufträge erzeugt oder sind ver-brauchsgesteuerte Lagerauffüllungen.

Die Auftragsreichweite für die Ferti-gung beträgt dabei nur ein bis zwei Tage.Auf diesen Auftragsvorrat ist der Spiel-raum zur Produktivitätsoptimierung undzur Reaktion auf Störungen in den Ferti-gungsgruppen begrenzt. Da hierfür dieGruppenführer jederzeit den Überblicküber die aktuelle Kapazitätssituation, Ma-schinenbelegung, Abarbeitungsgrad undMaterialverfügbarkeit haben müssen,wur-de 2011 ein MES-System eingeführt.

Das MES-System liefert den Fertigungs-gruppen alle operativen Kennzahlen, diefür das Tagesgeschäft wichtig sind (Bild 4).Mit der Messbarkeit von Produktivitäts-kennzahlen ist auch eine objektive Füh-rung der Fertigungsgruppen möglich. Dieverantwortlichen Gruppen- beziehungs-weise Abteilungsleiter nutzen die Transpa-renz, um gezielte Optimierungsmaßnah-men durchführen zu können.Die Effizienzder routinemäßigen Fertigungsbespre-chungen ist damit wesentlich gestiegen.

Der Schlüssel zur

Volumenflexibilität

Voraussetzung für eine Erhöhung der Vo-lumenflexibilität war die Erhöhung desAnteils an Serienteilen, die auf Lager ge-fertigt werden können.

In den vergangenen Jahren wurde vielWert auf die Mitarbeiterqualifizierunggelegt, sodass die Beschäftigten heute fürden Einsatz in verschiedenen Maschinen-zellen qualifiziert sind. Das bisher sehrstarre Schichtmodell ist jetzt so flexibi-lisiert, dass die wöchentliche Personal-kapazität kurzfristig um ± 15 Prozent an-gepasst werden kann.

Obwohl die meisten Mitarbeiter in dreiSchichten arbeiten, werden die Maschinendurchschnittlich nur zu 70 Prozent ausge-lastet. Die Reserven sind jedoch ungleich-mäßig verteilt. Maschinengruppen, diekaum Lagerteile fertigen, haben Kapazi-tätsreserven von bis zu 50 Prozent. Beikurzfristigen Bedarfsspitzen können durchVerschieben von Mitarbeitern diese Kapa-zitätsreserven innerhalb weniger Stundenaktiviert werden. Die Mitarbeiter werdenvon Maschinen abgezogen, die normaler-weise rund um die Uhr laufen und Lager-komponenten produzieren. Deren dannverspätet abgelieferten Aufträge haben kei-ne unmittelbare Auswirkung auf die Teile-verfügbarkeit in der Montage. Durch Nut-zung der flexiblen Schichtmodelle wird diefehlende Kapazität für die Serienteile zeit-nah ausgeglichen. Auf diese Weise dient

der Lagerbestand an Serienteilen zur Ka-pazitätsglättung für nicht lagerbevorrate-te Sonderteile.

Dank dieser Maßnahmen liegt heute dieLieferzeit bei weiterhin stark schwanken-den Montagebedarfen und gesunkenenBeständen stabil bei vier bis sieben Tagen.Auch der Spagat zwischen Produktivitätund Flexibilität ist gelungen. Trotz not-wendiger Kompromisse, die der Flexibili-tät geschuldet sind, ist die Produktivität fürSerienteile um über 30 Prozent gestiegen.

Fazit

Ohne die Prozessstabilisierung kann in derZerspanung nicht die notwendige Repro-duzierbarkeit sichergestellt werden, die beider Anwendung des Lean Managementsunterstellt wird. Organisationsänderun-gen sind notwendig, um die Komplexitätzu reduzieren und die Flexibilität zu er-höhen. Bei großer Teilevarianz kann dieFertigung alleine die notwendige Kom-plexitätsreduzierung nicht leisten. Dannkönnen fortschrittliche IT-Systeme hel-fen, die schlanke Produktion zur Wirkungzu bringen. ❚ > WB110611

Dr. Ing Götz Marczinski ist Geschäftsführerder CIM Aachen GmbH> [email protected]

Dipl.-Ing. Thorsten Seefried leitet den Be-reich Vorfertigung bei Wika in Klingenberg> [email protected]