Eine Bildbetrachtung mit Hella Nocke-Schrepper...Paula Modersohn-Becker – Selbstbildnis mit...

2
1 Paula Modersohn-Becker – Selbstbildnis mit Kamelienzweig Paula Modersohn-Becker (1876 Dresden – 1907 Worpswede) Selbstbildnis mit Kamelienzweig, 1906/07 Öl/Holz, 61,5 × 30,5 cm bezeichnet links unten: „P M-B.“ Erworben 1913 für das Museum Folkwang in Hagen; seit 1922 in Essen; 1937 beschlagnahmt; 1957 zurückerworben © Museum Folkwang, Essen Foto: Museum Folkwang Paula Modersohn-Becker Eine Bildbetrachtung mit Hella Nocke-Schrepper Die großen Augen und das leichte Lächeln im Selbstporträt von von Paula Modersohn-Becker fesseln mich immer wieder und ringen mir großen Respekt ab, mit welcher Energie und Konse- quenz die Künstlerin für ein gleichberechtigtes Selbstverständnis als Frau und eine moderne Ausdrucksweise als Malerin gekämpſt hat. Diese besondere Positionierung einer jungen Frau um die Jahrhundertwende wird mit der Präsentation ihres Porträts in den Räumen der „Ursammlung Folkwang“ zwischen den Werken der modernen Künstler Paul Cezanne, Paul Gauguin und Vincent van Gogh sichtbar. Denken wir an die Ausstellungen in Bremen 2007 und Wuppertal 2018, die viele Kunstring-Mitglieder gesehen haben, lassen uns die neu gewonnenen Erkenntnisse über die Künstlerin das vertraute Bildnis in einem anderen Licht erscheinen - zu dieser gemeinsamen Betrachtung lade ich Sie hiermit herzlich ein. Bildformat und Farben Das Selbstbildnis mit Kamelienzweig besitzt ein ungewöhnliches Hochformat, das durch die Anschnitte der Schultern und die braune Rahmung ihrer Kontur, möglicherweise ein Schultertuch, betont wird. Vertikal verlaufende Linien im Hintergrund erin- nern an Spitzbögen eines gotischen Lichtraums. Mit dem Hoch- format kommen uns gleichzeitig japanische Rollenbilder in den Sinn, die Paula Modersohn-Becker während ihrer vier Parisauf- enthalte in Galerien studiert und die uns mit Beispiele aus der Japonismus-Ausstellung in unserem Haus im Jahr 2014 noch gut in Erinnerung sind. Auffällig ist das dunkel gestaltete Gesicht der Künstlerin vor einem leuchtenden Türkis im Hintergrund, das an farbige Kirchen- fenster erinnert. Diese faszinierende Leuchtkraſt führt zu einer mutigen Umkehrung des traditionellen Helldunkel-Verhältnisses im Porträt, wodurch die Farbfläche hinter dem Kopf wie ein Nym- bus wirkt und einen Vergleich mit Vincent van Goghs Porträt Armand Roulin, 1888, in unserer Sammlung Folkwang nahelegt. Die konsequente Frontalität und Nahsicht von Kopf und Oberkörper wie auch die großen geöffneten Augen spiegeln vor allem die Begeisterung der Malerin für ägyptische Fayum-Porträts, kleinformatige Grabbeigaben, die sie bei zahlreichen Besuchen im Louvre bewundert. Attribut der „Kette“ Paula Modersohn-Becker trägt in ihren Selbstporträts häufig Ketten mit großen runden Perlen als Zeichen ihrer Weiblichkeit. Ketten stehen generell seit vorchristlicher Zeit symbolisch für das „Binden“ und „Lösen“. Denken wir an das fast gleichzeitige Selbstporträt zum 6. Hochzeitstag als Halbakt mit langer Halskette, deutet die Malerin in Hinblick auf die Trennung von ihrem Ehemann mög- licherweise ihre Entscheidung für eine selbstbestimmte, ungewis- se Zukunſt an – eine wie ich finde sehr kühne Entscheidung der jungen Frau. Die junge Dresdenerin gehört zu der ersten Generation von Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts eine Ausbildung wahr- nehmen kann. Ihren Eltern zuliebe besucht sie zunächst das Lehre- rinnenseminar in Bremen, um sich ab 1896 in Berlin und in Worpswede ausschließlich der Kunst zu widmen und mehrfach allein nach Paris zu reisen. Otto Modersohn fährt ihr im Oktober 1906 nach und das Ehepaar kehrt versöhnt Anfang 1907 gemeinsam nach Worpswede zurück. Das Selbstporträt ist vermutlich in diesem Kontext ihres vierten Paris-Aufenthaltes zwischen August 1906 und März 1907 entstanden.

Transcript of Eine Bildbetrachtung mit Hella Nocke-Schrepper...Paula Modersohn-Becker – Selbstbildnis mit...

  • 1Paula Modersohn-Becker – Selbstbildnis mit Kamelienzweig

    Paula Modersohn-Becker (1876 Dresden – 1907 Worpswede)Selbstbildnis mit Kamelienzweig, 1906/07Öl/Holz, 61,5 × 30,5 cmbezeichnet links unten: „P M-B.“Erworben 1913 für das Museum Folkwang in Hagen; seit 1922 in Essen; 1937 beschlagnahmt; 1957 zurückerworben© Museum Folkwang, EssenFoto: Museum Folkwang

    Paula Modersohn-BeckerEine Bildbetrachtung mit Hella Nocke-Schrepper

    Die großen Augen und das leichte Lächeln im Selbstporträt von von Paula Modersohn-Becker fesseln mich immer wieder und ringen mir großen Respekt ab, mit welcher Energie und Konse-quenz die Künstlerin für ein gleichberechtigtes Selbstverständnis als Frau und eine moderne Ausdrucksweise als Malerin gekämpft hat. Diese besondere Positionierung einer jungen Frau um die Jahrhundertwende wird mit der Präsentation ihres Porträts in den Räumen der „Ursammlung Folkwang“ zwischen den Werken der modernen Künstler Paul Cezanne, Paul Gauguin und Vincent van Gogh sichtbar. Denken wir an die Ausstellungen in Bremen 2007 und Wuppertal 2018, die viele Kunstring-Mitglieder gesehen haben, lassen uns die neu gewonnenen Erkenntnisse über die Künstlerin das vertraute Bildnis in einem anderen Licht erscheinen - zu dieser gemeinsamen Betrachtung lade ich Sie hiermit herzlich ein.

    Bildformat und Farben

    Das Selbstbildnis mit Kamelienzweig besitzt ein ungewöhnliches Hochformat, das durch die Anschnitte der Schultern und die braune Rahmung ihrer Kontur, möglicherweise ein Schultertuch, betont wird. Vertikal verlaufende Linien im Hintergrund erin-nern an Spitzbögen eines gotischen Lichtraums. Mit dem Hoch-format kommen uns gleichzeitig japanische Rollenbilder in den Sinn, die Paula Modersohn-Becker während ihrer vier Parisauf-enthalte in Galerien studiert und die uns mit Beispiele aus der Japonismus-Ausstellung in unserem Haus im Jahr 2014 noch gut in Erinnerung sind.

    Auff ällig ist das dunkel gestaltete Gesicht der Künstlerin vor einem leuchtenden Türkis im Hintergrund, das an farbige Kirchen-fenster erinnert. Diese faszinierende Leuchtkraft führt zu einer

    mutigen Umkehrung des traditionellen Helldunkel-Verhältnisses im Porträt, wodurch die Farbfl äche hinter dem Kopf wie ein Nym-bus wirkt und einen Vergleich mit Vincent van Goghs Porträt Armand Roulin, 1888, in unserer Sammlung Folkwang nahelegt.

    Die konsequente Frontalität und Nahsicht von Kopf und Oberkörper wie auch die großen geöff neten Augen spiegeln vor allem die Begeisterung der Malerin für ägyptische Fayum-Porträts, kleinformatige Grabbeigaben, die sie bei zahlreichen Besuchen im Louvre bewundert.

    Attribut der „Kette“

    Paula Modersohn-Becker trägt in ihren Selbstporträts häufi g Ketten mit großen runden Perlen als Zeichen ihrer Weiblichkeit. Ketten stehen generell seit vorchristlicher Zeit symbolisch für das „Binden“ und „Lösen“. Denken wir an das fast gleichzeitige Selbstporträt zum 6. Hochzeitstag als Halbakt mit langer Halskette, deutet die Malerin in Hinblick auf die Trennung von ihrem Ehemann mög-licherweise ihre Entscheidung für eine selbstbestimmte, ungewis-se Zukunft an – eine wie ich fi nde sehr kühne Entscheidung der jungen Frau. Die junge Dresdenerin gehört zu der ersten Generation von Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts eine Ausbildung wahr-nehmen kann. Ihren Eltern zuliebe besucht sie zunächst das Lehre-rinnenseminar in Bremen, um sich ab 1896 in Berlin und in Worpswede ausschließlich der Kunst zu widmen und mehrfach allein nach Paris zu reisen. Otto Modersohn fährt ihr im Oktober 1906 nach und das Ehepaar kehrt versöhnt Anfang 1907 gemeinsam nach Worpswede zurück. Das Selbstporträt ist vermutlich in diesem Kontext ihres vierten Paris-Aufenthaltes zwischen August 1906 und März 1907 entstanden.

  • 2

    Symbole der „Hand“ und der „Kamelie“

    Malerisch setzt die Künstlerin den skizzenhaft ausgeführten Oberkörper mit heller ocker-gelber Farbgebung von ihrem dunklen, kompakt gestalteten Gesicht und Dekolleté ab. Mittig vor ihrem Körper hält sie in ihrer rechten Hand auf Brusthöhe einen grünen Kamelienzweig, der sich durch den Helldunkelkontrast abhebt. Das rituell anmutende Handmotiv ist bis heute nicht geklärt, aber wir fi nden es auch in einem Porträt ihrer Freundin Clara Rilke-Westhoff 1905. Die Hand symbolisiert in verschiedenen Kulturen des Abendlandes die „Schöpfung“. Die Darstellung der Maler-hand kann an dieser Stelle auch als ausführendes Instrument der künstlerischen Schöpfung verstanden werden. Die Kamelie, Ende des 18. Jahrhunderts aus Asien nach Europa importiert, ist eine immergrüne Pfl anze und steht für den ewigen Kreislauf von Er-blühen und Verwelken, Werden und Vergehen, Leben und Tod. Oft habe ich mich gefragt, warum sich Paula Modersohn-Becker für einen Kamelienzweig ohne Blüte entschieden hat - die präch-tigen Blüten der Camillia-Sträucher wären doch ein dankbares Motiv für ein Gemälde. Möglicherweise begreift die junge Malerin ihren eigenen Weg als Wachstumsprozeß mit ihrem Ringen um eine eigene künstlerische Ausdrucksweise, deren „blühenden Höhe-punkt“ sie noch anstrebt? Oder steht der Zweig ohne Blüte für die Hoff nung der jungen Frau auf die noch immer unerfüllte (aber bald eintretende) Mutterschaft ?

    Die Malerin hat sich in ihren Tagebüchern wiederholt zu ihrer eigenen Lebenserwartung im Sinne eines „kurzen intensiven“ Lebens geäussert. Der Kontrast des skizzenhaft gestalteten Oberkörpers zur kompakt fl ächigen Darstellung des Kopfes gibt möglicherweise das Bewusstsein ihrer eigenen Vergänglichkeit zu erkennen – die Materie (der Körper) vergeht, aber das Geistige (die schöpferische Idee) überdauert.

    Tipps zum Weiterlesen und Schauen

    Paula Modersohn-Becker und die ägyptischen Mumienportraits: Eine Hommage zum 100. Geburtstag der Künstlerin. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Kunsthalle Bremen 2007

    Paula Modersohn-Becker: Berlin – Worpswede – Paris. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Hg. Paula Modersohn-Becker-Stift ung. Museum Böttcherstraße. Bremen 2014

    Paula Modersohn-Becker. Zwischen Worpswede und Paris. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Von der Heydt-Muse-um. Wuppertal 2018

    Ich bin Ich – Paula Modersohn-Becker. Die Selbstbildnisse. Werkverzeichnis und Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung. Museum Böttcherstraße. Bremen 2019

    Marina Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker. Eine Biographie mit Briefen. München 2007 (4. Aufl age)

    Stefanie Schröder: Paula Modersohn-Becker. Auf einem ganz eigenen Weg. Romanbiografi e. Freiburg/Br. 2017 (2. Aufl age)

    Rainer Stamm: „Ein kurzes intensives Fest“. Paula Modersohn-Becker. Eine Biographie. Stuttgart 2007

    Online Audio/Video:Museum Böttcherstraße: Hörproben des Audioguides zu Werken von Paula Modersohn-Becker, darunter das im Text erwähnte Selbstbildnis zum 6. Hochzeitstag. Auch Materialien für Kinder. www.museum-boettcherstrasse.de

    Kunsthalle Bremen: Homepage mit Online-Katalog und Online-Ausstellung zu Paula Modersohn-Becker. www.kunsthalle-bremen.de

    Virtueller Rundgang: Google Arts & Culture mit Online-Ausstel-lung Paula Modersohn-Becker. Zwischen Worpswede und Paris. www.museumsfernsehen.de

    Paula. Spielfi lm Deutschland 2016. Regie: Christian Schwochow

    Paula Modersohn-Becker – Selbstbildnis mit Kamelienzweig

    /ColorImageDict > /JPEG2000ColorACSImageDict > /JPEG2000ColorImageDict > /AntiAliasGrayImages false /CropGrayImages true /GrayImageMinResolution 250 /GrayImageMinResolutionPolicy /Warning /DownsampleGrayImages true /GrayImageDownsampleType /Bicubic /GrayImageResolution 304 /GrayImageDepth -1 /GrayImageMinDownsampleDepth 2 /GrayImageDownsampleThreshold 3.27961 /EncodeGrayImages true /GrayImageFilter /DCTEncode /AutoFilterGrayImages true /GrayImageAutoFilterStrategy /JPEG /GrayACSImageDict > /GrayImageDict > /JPEG2000GrayACSImageDict > /JPEG2000GrayImageDict > /AntiAliasMonoImages false /CropMonoImages true /MonoImageMinResolution 1000 /MonoImageMinResolutionPolicy /Warning /DownsampleMonoImages true /MonoImageDownsampleType /Bicubic /MonoImageResolution 1200 /MonoImageDepth -1 /MonoImageDownsampleThreshold 1.50000 /EncodeMonoImages true /MonoImageFilter /CCITTFaxEncode /MonoImageDict > /AllowPSXObjects false /CheckCompliance [ /PDFX3:2002 ] /PDFX1aCheck false /PDFX3Check true /PDFXCompliantPDFOnly true /PDFXNoTrimBoxError false /PDFXTrimBoxToMediaBoxOffset [ 0.00000 0.00000 0.00000 0.00000 ] /PDFXSetBleedBoxToMediaBox true /PDFXBleedBoxToTrimBoxOffset [ 0.00000 0.00000 0.00000 0.00000 ] /PDFXOutputIntentProfile (ISO Coated v2 300% \050ECI\051) /PDFXOutputConditionIdentifier () /PDFXOutputCondition () /PDFXRegistryName () /PDFXTrapped /False

    /CreateJDFFile false /Description