eine FaMilie wie auS deM BildeRBuch. wäRe da nicht ... · Pelagias und Silmus große Schwester ......

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Roman einer fast perfekten Familie MIINA SUPINEN ENDLICH ZU FÜNFT

Transcript of eine FaMilie wie auS deM BildeRBuch. wäRe da nicht ... · Pelagias und Silmus große Schwester ......

4429

€ 8

,95

www.insel-verlag.de

ISBN 978-3-458-36129-9

9 783458 361299

€ 9,99 [D

]€ 10,3

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eine FaMilie wie auS deM BildeRBuch.

wäRe da nicht… Ba ld weiß die ha lbe S t a d t , da s s a uch

bei der Vorzeige f a milie Silola nich t a lle s per f ek t is t , und die Silola s beg rei f en ,

da s s G lück und ha rmonie nich t von p er f ek tion a bhä ngen.

Frisch, unkonventionell, vergnügt – und spannend bis zur letzten Seite:

Miina Supinens unterhaltsamer Familienroman.

deutsche erstausgabe

Miina Supinen

endlich zu

FünFt

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M i i n a S u p i n e nEndlich zu fünft

Roman einer fast perfekten Familie

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

Insel Verlag

Roman einer fast perfekten FamilieAus dem Finnischen von

Stefan Moster

INSEL VERLAG

MIINA SUPINEN

ENDLICHZU

FÜNFT

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Liha tottelee kuria bei WSOY, Helsinki 2007.

Der Verlag dankt FILI – Finnish Literature Exchange

für die Förderung der Übersetzung

Erste Auflage 2016

insel taschenbuch 4429

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016

© Miina Supinen 2007

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des

öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag: ZERO Werbeagentur, München

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in Germany

ISBN 978-3-458-36129-9

1 P E L A G I A S Z W O L F T I E R E

Es war einmal eine Mutter, die ihr kleines Mädchen sosehr liebte, dass sie es nicht übers Herz brachte, die zwölfPlüschtiere, die sie für die Kinder ihrer Bekannten gekaufthatte, zuverschenken, sondern sie alle ihrem eigenen Kindgab. Das Mädchen hieß Pelagia und war vier Jahre alt, alsdie Ereignisse, von denen hier erzählt wird, stattfanden.

Die Tiere waren paarweise vertreten, wie in der Arche,und gehörten folgenden Spezies an: Kamel, Skorpion, En-te, Spinne, Möwe und Maulwurf. Zwar genossen einigevon ihnen einen zweifelhaften Ruf – vor allem Spinneund Skorpion, aber auch die Möwe gehört nicht unbe-dingt zu den Stofftierarten, die das größte Vertrauen erwe-cken –, trotzdem waren sie alle weich, plüschig und wun-derbar, sogar der Skorpion.

Pelagia freute sich über ihre Tiere. Sie trug sie ins Wohn-zimmer und türmte sie auf ihrem großen Bruder und ih-rer großen Schwester auf, die gerade fernsahen. Bruder undSchwester warfen mit den Stofftieren nach Pelagia, dasses nur so hagelte, und Pelagia kicherte. Dann brachte sieden Tieren auf dem Teppich schmutzige Wörter und dieNamen von berühmten Komponisten bei.

Am Abend schlich Pelagia in die Küche, öffnete die Kühl-schranktür, hob den Plastikdeckel des Marmeladenglasesan und steckte einender beidenMaulwürfe indie Himbeer-konfitüre. Er versank bis zum Rücken im Zuckerschleim.Pelagia rannte so weit weg, wie es die Zweihundert-Qua-dratmeter-Wohnung zuließ, und vergaß das Ganze auf derStelle.

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In der folgenden Nacht wollte sich ihr großer Bruder –er hieß Silmu – ein Marmeladenbrot schmieren und er-schrak, als er mit dem Messer den Rücken des Maulwurfstraf. Zuerst glaubte Silmu, es sei ein echtes totes Tier. Ererinnerte sich, von Mäusen gehört zu haben, die in Fabri-ken in die Behälter mit Beeren gefallen waren. Und hatteman nicht irgendwo in Amerika oder Kanada mal einenHühnerkopf unter den Chicken McNuggets gefunden?Silmu erstarrte, das Marmeladenglas kippte um.

Er rannte in sein Zimmer und redete sich ein, geträumtzu haben – während eines Mikroschlafs am Küchentisch –,aber tief in seinem Inneren wusste er, dass da wirklich einesüße, struppige Kreatur gewesen war.

Der Vorfall löste ein Trauma aus. Silmu traute sich nichtmehr, Marmelade zu essen. Fortan mied er die Küche.

Da er übergewichtig war, hatte das Trauma auch seineVorteile, denn nun hörte er endlich auf, immer fetter zuwerden. Er war bereits achtzehn, aber noch immer hattesich kein Mädchen ihm gegenüber so verhalten, dass dieAussicht sich abzeichnete, demnächst oder irgendwannvon ihr herangelassen zu werden. Silmu hatte überall Ba-byspeck.

Das Allerpeinlichste ist das nicht. Heutzutage haben javiele überall Babyspeck.

Das Allerpeinlichste, das man sich vorstellen kann, istdas hier: Ein Jüngling mit Babyspeck, auf dessen weißerSpeckbrust in großen gotischen Buchstaben eintätowiertsteht: OUTLAW. Pelagias und Silmus große Schwesterschwor, einmal so einen Jungen kennengelernt zu haben.Angeblich hatte er wegen eines total laschen Verbre-chens im Jugendgefängnis gesessen, wegen Autodieb-

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stahl oder so, und sich dann dieses Tattoo stechen las-sen.

Die große Schwester hieß Astra und wohnte nicht mehrbei ihnen zu Hause, hing dort aber noch oft herum, weilsie fast immer Sehnsucht nach ihrer Mutter hatte.

Die Marmelade war ein Beweis für die Pflichtvergessen-heit der Eltern. Alle verschlangen sie. Pelagia sogar mit ih-ren kleinen Fingern. Und das bei einer Marmelade mitsechzig oder siebzig Prozent Zucker. Was passiert, wennman so etwas in sich hineinstopft? Man kommt in denZuckerrausch. Erlebt einen orgastischen Genuss, der abernur einen flüchtigen Moment dauert. Dann bricht derBlutzuckerspiegel ein, die Marmeladenesserin wird müdeund gereizt, und wenn sie eine Essstörung hat, versuchtsie zu kotzen, und wenn nicht, dann hasst sie sich unddie ganze Welt halt einfach so. Manche weinen auch. Beimanchen ist der Bauch so voll, dass es wehtut und sieanden Film Siebendenken müssen, indem ein Serienkillereinen fetten Mann umbringt, indem er ihn zwingt, so lan-ge Dosenspaghetti von Campbell zu essen, bis ihm derMagen platzt. Und dann stellt sich vielleicht der Gedan-ke ein, ob die Firma Campbell dafür bezahlt hat, dass ihrProdukt im Film zu sehen ist, oder ob die Leute von Camp-bell im Gegenteil deswegen sauer sind.

Die Marmeladenesserin macht sich noch ein Marme-ladenbrot.

Alle Marmeladenesserinnen leiden unter Unwohlsein,ständiger Müdigkeit, so großem Hunger, dass es wehtut,obwohl sieMarmelade intushaben,undmiteinigerWahr-scheinlichkeit auch unter Babyspeck und Diabetes Typ 2.

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Kein Problem, seine Kinder Astra, Silmu oder Pelagia zunennen, aber die Marmelade – für deren Verabreichungmüsste man ins Gefängnis kommen.

Pelagia war so klein, dass man noch nicht sagen konn-te, wie schlimm es ihr einmal ergehen würde. Silmu be-kam keinen Sex, und Astra hatte sich trotz ihres hübschenGesichts, ihrer schlanken Figur und ihres regen Sexualle-bens die ganze Teenagerzeit hindurch gehasst. Jetzt warsie zweiundzwanzig, studierte Biologie und hatte einenLiebhaber.

Kurzkettige Kohlenhydrate: Die brennen im Menschenin hellen Flammen, versengen die Eingeweide wie Säureund hinterlassen einen Hunger, dass der Mensch Türenschlägt und Schreie ausstößt. Wenn man in der Teenie-ZeitkeineGefangenederMarmeladegewesen ist, sondernFleisch, Kartoffeln und Karotten gegessen hat, was Nor-males halt, findet man einen netten Freund und hat mitihm normalen, hemmungslosen Sex. Ist man aber eineMarmeladenesserin, wird man ein bisschen nymphoma-nisch und pervers und will ständig gezüchtigt werden. DieRede ist von Frauen, genauer gesagt von Astra.

Astra wurde geil, wenn ein großer, gemeiner Mann sieherumkommandierte. Normalerweise tun Männer so et-was nicht, außer es sind Ärzte oder Vorgesetzte, weshalbsämtliche Freunde und dergleichen für Astra nicht inFrage kamen. Gerade hatte sie einen Liebhaber gefun-den, und zwar einen von der Sorte, bei dem man nur mitdem Kopf schütteln und sich wundern konnte, was Mar-melade und eine Essstörung in Teenie-Zeiten bei einemMenschen anrichten konnten, aber Astra wurde einfachnur geil.

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Der Mann hatte folgendes Inserat im Internet aufgege-ben:

KLEINE SCHLAMPE GESUCHT

Suche 17-25-jähriges Luder. Bin ein gesunder, anständiger

Mann und will was zum Bumsen haben, das unschuldig

wie ein Mädchen aussieht, aber so viel Erfahrung hat, dass

es weiß, wie es mich befriedigt. SM interessiert mich nicht,

ich will dich einfach ohne Einschränkungen zu meiner Be-

friedigung benutzen. Du hast keine Rechte, außer dass du

jederzeit gehen kannst, aber wenn du eine echte Schlampe

bist, macht es dich schon an, das hier zu lesen.

Astra lebte in sexueller Benommenheit. Sie vergaß zu es-sen und wollte auch nicht schlafen. Leicht und kurzat-mig sog sie den Sauerstoff ein und lächelte die ganze Zeitmit faltiger Stirn.

Wenn man sich mal ganz normale Eltern vorstellt. Wür-den die wollen, dass ihre Tochter durch so etwas erregtwird? Oder würden die vielleicht lieber wollen, dass siemit ihrem Freund im Trainingsanzug ans Meer geht, umden Golden Retriever auszuführen, der Poju heißt, unddass die beiden dann, wenn sie mit roten Bäckchen wie-der nach Hause kommen, in aller Freundschaft – pimper,pimper – ins Bett gehen?

Wer sich für die zweite Variante entscheidet, sollte kei-ne Marmelade kaufen. Menschen mit Essstörungen wer-den im Bett niemals autonom und aktiv. Sie sind gehemmtund verrückt nach Kontrolle. Sie haben Angst, dass ihresorgfältig gewahrte Kontrolle versagt und wollen darum,dass ein anderer sie an ihrer Stelle bricht, und wenn ihr

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Speck oder ihr Schweiß oder sonst ein Schmutz das Ge-bilde kaputt macht, dann ist das nicht ihre Schuld, son-derndie des anderen. Sie sehen sich als Objekte, als dünneMädchen auf Reklamefotos, mit leidendem Blick, spitzenRippen und von Natur aus kalter Haut.

2 D A S TA S C H E N B U C H

Einmal schob Pelagia eines der beiden Plüschkamele inAstras Handtasche. Dort steckte es, solange Astras Besuchdauerte, und als Astra ging, kam es mit. Astra besuchte ei-ne Vorlesung, hörte abernicht zu.Nach der Vorlesung ließsie ihre Kommilitoninnen essen und plaudern und gingsich bumsen lassen.

Es war ein klarer Märztag. So kühl und klar, dass es über-all nach schmelzendem Schnee roch. Astra ging leichtenSchrittes, ihr honigfarbenes Haar glänzte. Sie trug schwar-ze Stiefel, enge Jeans und ein inzwischen bereits feuchtesHöschen.So istdas imMärz,undso istdasbeieiner jungenFrau, die in ihrer Seele auf die sexuelle Goldader gestoßenist.

Astras Absätze klapperten auf der Brücke, und unter ihrschosseinZug hindurch. O, welcheSymbolik,dachteAstravergnügt. Auf dem Finnischen Meerbusen brach das Eis.Astras Absätze klapperten, eine Möwe schrie, es war wun-derbar, es war Frühjahr und es war eine Freude, jung zusein und gebumst zu werden. Armes Mädchen, so ungezü-gelt, so schön, so zart und verletzlich, dass die Männer ver-rücktwurdenvorBegierde, ihmdiegoldenenFlügel zustut-zen. Klipp-klopp machten die Absätze auf der Holzbrücke.O Falter, o Kerzenflamme, o Freude!

Kai wohnte in einem ziemlich normalen mehrstöcki-gen Haus, und dort läutete Astra an der Tür. Kai öffnete,musterte Astra kurz von Kopf bis Fuß und ließ sie eintre-ten.

»Zieh dich aus!«, sagte Kai.

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Er hatte ernste Augen und einen ernsten Mund, und inseinem Blick lag etwas sehr Abweisendes und Kaltes, undobwohl er nicht besonders groß und nicht besonders altwar, eher mittelgroß und etwas über zwanzig, strahlte ereine Wirkungskraft aus, die Astra zu schätzen wusste. KaisHaare waren aschblond, die Augen grün, und sein Körperwar gerade und eckig.

Astra hängte den Mantel auf, legte die Handtasche aufdie Hutablage und fing an, sich aus den Kleidern zu schä-len. »Lass die Stiefel an«, sagte Kai. Er lehnte sich inder Die-le an die Wand und betrachtete Astra angenehm gleich-gültig. Astra hatte ein Problem: Wie kann man die Stiefel»anlassen«, wenn manenge Jeans trägt? »Warte«, sagte sie,zog die Stiefel aus, dann die Hose und zog anschließenddie Stiefel wieder an.

Dann wurde sie rot. Kai befahl ihr, aufdie Knie zu gehen.Der Teppich piekste Astra, es lagen Sandkörner darauf, ihrMagen zog sich vor Euphorie zusammen, sie spürte, wielocker ihre Gliedmaßen waren und wie leicht ihr Kopf. Kaiöffnete seinen Reißverschluss, Astra zögerte absichtlichund schaute ihm in die Augen, bis er sie an den Haarenpackte.

Kai benutzte Astra lang und gründlich, und als er sie aufdem Fußboden in der Diele fickte, fiel das Kamel von derHutablage und landete in seinem Nacken. Kai war kurz da-vor, zu kommen, und ganz und gar in seiner eigenen Welt,als er den leichten Aufprall spürte. Er erschrak, schrie undfuhr von Astra auf.

»Was ist das?«, fragte er und deutete mit dem Finger aufdas Tier.

Astra reckteden Hals.Auchsiewar in ihrer eigenen Welt

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gewesen und hatte nicht auf Anhieb verstanden, was pas-siert war.

»Das ist eines von Pelagias Spielsachen«, sagte sie mehrzu sich selbst.

»Schaff das weg, verdammt!«, schrie Kai. Das klang über-haupt nicht erregend, nicht für Astra, aber auch nicht fürjede andere, die es zufällig gehört hätte. Kais brutaler Rie-men zog sich schneckenartig zusammen, und dann löstesich auch noch das schimmernde Kondom und fiel aufden Fußboden. Weil an der Stelle kein Teppich lag, platsch-te es, als der Gummi aufdem Linoleum landete. Der Mannhörte es in seiner Aufregung nicht, aber Astra hörte es.

Sie zog sich rasch an, steckte das Kamel in die Handtascheund verließ schlechter Dinge die Wohnung. Ihr war so un-angenehm zu Mute, dass sie vor ihrer eigenen Stimmungfliehen musste. Auf ihren hohen Absätzen rannte sie aneinem Spielplatz vorbei, über die Brücke in die Straßen derInnenstadt und wurde rot, als sie sich an die lächerlichenGedanken erinnerte, die sie auf dem Hinweg gehabt hatte.Goldflügel, Schmetterling. O Pein!

Sie dachte an Kais Stimme, als er von dem Plüschtier er-schreckt wurde. Sie dachte an Kais verschwitzte Haut. DerSchweiß hatte sie in keiner Weise gestört, als Kai sie heftigund gleichgültig gefickt hatte, aber wenn sie jetzt darandachte, wurde sie rot. Und seine Wohnung erst. Das Lin-oleum. Was war an einem Kunststofffußboden satanisch?Das Rasierwasser aus dem Supermarkt. Wie dämonisch wardas denn? Das Bild mit dem Segelboot ander Wand. Hallo!Wer ein Gemälde mit Segelboot an der Wand hängen hat,ist entweder bemitleidenswert oder sympathisch.

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Und was hatte Kai getan, wie hatte Astra dabei ausgese-hen, wie hatte er dabei ausgesehen, wo ist der Schmetter-ling, wenn man in einer Diele auf dem Fußboden bloß inStiefeln den Hintern hinhält und der andere einem viel-leicht direkt ins Arschloch glotzt oder auf eine Speckfalteoder einen Pickel?

Astra hatte die Angewohnheit, manchmal vor sich hinzu murmeln, und jetzt tat sie es: Ich könnte mich umbrin-gen, verdammte Scheiße, ich könnte mich umbringen.»Nicht doch«, sagte ein alter Mensch, der ihr entgegen-kam, aber Astra hörte es nicht, so sehr schämte sie sich.

Sie rannte in eine Konditorei, kaufte sich Geleeschnitt-chenundgingnach Hause.Dort schälte sie sicherneut ausden Kleidern, zog sich rasch den Jogginganzug an, las alteMädchenbücher und aß die Schnittchen. Bald begriff sieallerdings, dass sich auch die Hauptfiguren in Mädchen-büchern peinliche Sachen einbilden konnten, und das er-innerte sie an ihre eigenen peinlichen Gedanken. Sie warfdie Bücher an die Wand und ging dazu über, Donald-Duck-Taschenbücher zu lesen. Die wecken keine Gefühle, diesind die sicherste Lektüre, die es gibt.

Astra las, bis ihr die Augen brannten, legte sich ins Bettund las weiter, bis ihr das Taschenbuch aus den Händenfiel und sie ohne Zwischengedanken in den Schlaf glitt.Als sie aufwachte, war es Morgen, und sie gab Instantkaffeein eine Tasse und Wasser aus dem Hahn dazu. Dann las siein den Taschenbüchern weiter. Sie ging nicht zur Vorle-sung, sondern las einfach weiter. Sie hatte das Gefühl, alleNuancen von Donald Duck zu verstehen, die ganze Platt-heit, die fade Farbskala, die Unendlichkeit, das SchwarzePhantom.

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Am Nachmittag schien die Sonne durch den Vorhang-spalt und strahlte die weißen Wände und die Wellen aufdenPosternan.DieTaschenbücherwarenausgelesen.AstratrankMilch, als ihrHandyklingelte. Es schienSilmuzusein.

»Hi«, sagte Astra.»Hi«, sagte Silmu. »Kannst du mir einen Fuffi leihen?«»Wofür?«»Für die Anmeldung im Fitnessstudio.«»Unter einer Bedingung.«»Ja?«»Dass du mir alle Donald-Duck-Taschenbücher leihst,

die du hast.«Es dauerte keine Stunde, bis Silmu kam. Er kippte die Ta-

schenbücher gleich in der Diele auf den Fußboden undfragte Astra, wozu sie die brauche.

»Ich will abstumpfen«, sagte sie.»Dann nimm lieber Drogen.«»Was weißt du denn von so was? Du hast in deinem gan-

zen Leben ja noch keine Drogen gesehen. Du Luschi.«Silmu seufzte, und Astra bereute. »Hast du Zeit für einen

Kaffee?«, fragte sie.Silmu nickte, und die Geschwister gingen in die Küche.

Astra machte für beide Kaffee mit Wasser aus dem Hahn.Sie rauchte eine und aschte in einen mit Perlen verziertenAschenbecher. Silmu wedelte den Qualm von sich weg.Zuerst wollte Astra ihm schon absichtlich ins Gesicht bla-sen, aber sie war dankbar für die Gesellschaft ihres Bru-ders und wollte ihn darum nicht ärgern. Silmu war so nor-mal. Er hatte nichts Gekünsteltes und nichts Erregendesan sich. Er war die menschliche Ausgabe eines Donald-Duck-Taschenbuchs.

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»Hast du das Geld?«, fragte er.»Ja. Gehst du jetzt ins Fitnessstudio?«»Ich dachte, ich fang mal an.«»Gut. Aber du solltest vielleicht Mama und Papa nichts

davon sagen.«Als Silmu aufbrach, gab Astra ihm das Geld und das

Plüschkamel.»Bringst du das Pelagia mit? Es ist irgendwie in meine

Handtasche geraten«, sagte Astra. »Stell dir vor, ich warbei einem Freund von mir, und da fiel es ihm auf den Kopf.Er hat geschrien.«

Silmu steckte das Kamel in die Sporttasche und ging.Astra hob eines der Taschenbücher vom Fußboden in derDiele auf. Aber ihr Bruder hatte sie ein bisschen aufgemun-tert. Sie musste gar nicht mehr lesen.

3 A I V O U N D D I E M U S K E L N

Ein Anfänger wie Silmu sieht im Fitnessstudio so doofaus, dass die erfahrenen Besucher hinschauen, obwohl siesonstnieaufdasTrainingvonanderenschielen.Mankonn-te fast riechen, wie hilflos er war. Es wirkte fast wie Selbst-zweck. Niemand konnte so hilflos sein, dass er Angst vorseinen eigenen Schritten und vor den Plakaten an denWänden hatte.

Der dicke Junge erinnerte an einen Psychologiestuden-ten, der mit seinem Kurs einen Besuch in der Gefangenen-psychiatrie gemacht hatte und von den anderen aus Ver-sehen hinter Schloss und Riegel vergessen worden war.Jetzt versuchte er, mit den Mördern im Kreis zu gehen undso zu tun, als hätte er selbst jemanden umgebracht, keinProblem, ein Mörder zur rechten Zeit am rechten Ort, imKreis gehend, dabei aber wohl wissend, dass er damit nichtlange durchkäme und dass es bald Zeit für hysterische Trä-nen und eine Klinge zwischen den Rippen würde.

Kein Problem, trallala. Ab und zu probierte Silmu einesder Geräte aus, bekam aber kein Gefühl dafür. Man hörteobskures Gepolter. »O Jesus«, dachten die anderen zwi-schen ihren Trainingseinheiten.

Einer vondenen, die gerade im Studio aktiv waren, hießAivo. Er hatte den Körper einer Statue und den Charaktereines ehrlichen Esten. Ihm tat der dicke Junge mit demschlecht sitzenden Trainingsanzug leid. Der braucht Knie-beugen, dachte Aivo.

»Hallo«, sagte er und tippte Silmu an die Schulter. »Kannich behilflich sein?«

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»Nein, nein, alles okay«, brüllte Silmu. Ein fürchterlicherSteinhammerhatte inseinemHerzengeschlagen,undjetzthämmerte sein Puls. Er spürte, wie er abwechselnd rot undblass wurde. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wä-re davongerannt. Ihm wurde bewusst, dass er auf den auf-geblasenen Brustmuskel des Mannes starrte. Dessen Hautwar braun und glatt, der ganze Körper unnatürlich perfekt.Silmu und dieser Mann konnten nicht der gleichen Spe-zies angehören.

»Wenn du willst, stelle ich dir ein Programm zusam-men.«

»Nein! Nicht nötig.«»Kostet nichts. Hilft dir, ins Training reinzukommen.«Silmu hatte sich inzwischen so weit beruhigt, dass sein

Kopf wieder funktionierte.»Na ja. Dann. Danke.«Aivo holte ein Formular, in das die Anzahl der Wieder-

holungen und die Gewichte eingetragen werden sollten.»Wie heißt du?«, fragte er und hielt den Stift in der Luft.

»Silmu.«»S-i-l-m-u?«»Genau.« Silmu freute sich irrsinnig, weil der andere

sich nicht über seinen Namen wunderte. Es war wie Ur-laub. Heimlich blickte er auf das Gesicht, das sich überdas Blatt Papier beugte. Es hätte auch das einer Statue seinkönnen, wäre da nicht dieses schauderhafte Detail gewe-sen: Vom einen Augenwinkel bis zur Oberlippe verlief ei-ne dicke Narbe. Sie sah wie ein aufgeklebter Regenwurmaus.

Aivo zeigte Silmu die Funktion aller Geräte. Eine Seriebestand aus zwölf Wiederholungen, drei Mal die Woche

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müsse man ins Studio kommen, und am wichtigsten seies, die Übungen sauber zu absolvieren.

»Am Anfang ist es Scheiße. Dann wird es langsam besser,und du kriegst Muckis«, sagte Aivo. »Ich glaube, du hastdie Gene dafür. Gib nicht auf.«

Jetzt war Silmu zufrieden. Fröhlich ging er unter die Du-sche. Die Angst war weg, alles kam ihm neu und interes-sant vor. Er beschloss, wiederzukommen.

Vor dem Fernseher saßen Pelagia und ihr Vater Launo.Letzterer löste zu seinem Vergnügen mathematische Auf-gaben – das war sein Hobby – und trank Espresso in klei-nen Schlucken. Silmu ließ sich auf die Couch fallen undschaltete den Fernseher ein: eine Sendung über Fohlen.Silmus Muskeln schmerzten unter dem Speck aufs ange-nehmste. Er betrachtete die Fohlen, dachte aber an AivosKörper. Pelagia fing an, Plüschtiere auf Silmu aufzuhäu-fen.

»Ach ja«, sagte Silmu, schüttelte die Tiere ab und ging inden Flur. Er nahm das Kamel aus der Tasche und brachtees Pelagia. Dann gab er für sie eine Puppentheatervorstel-lung, bei der die Plüschmöwe auf das Plüschkamel kackte.Pelagia kicherte.

»Das ist vulgär«, sagte der Vater.Die Mutter – Katriina – kam die Treppe herunter und er-

gänzte: »Hör auf damit.«Silmu machte mit dem Mund noch ein Furzgeräusch,

aber das war schon fast nicht mehr zu hören.»Mehr, mehr«, kreischte Pelagia, rannte im Kreis und

schwenkte ihre Stofftiere. Dann schlich sie mit den Tie-ren unter den Tisch, von wo man kurz darauf ein Furzge-

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räusch hörte. Katriina funkelte Silmu böse an und sagtemit lockenderStimme inRichtungTisch: »Wenndusofortaufhörst, darfst du dir ein Marmeladenbrot holen.«

Das kleine Mädchen schoss so schnell unter dem Tischhervor, dass die Tischdecke aufflog. Die Blumenvase zit-terte, aberKatriinakonnte sie festhalten, bevorLaunos Re-chenpapiere nass wurden. Katriina funkelte Silmu erneutan. Launo beendete eine Rechnung und schlug das Heftzu.

»Weißt du, was echt vulgär ist?«, fragte Katriina ihrenMann.

»Na?«»Die Zeitschrift Der offene Kamin brachte mal einen Arti-

kel, in dem die Junggesellenbuden junger Männer vorge-stellt wurden. In einer davon saß einer, dem seine Mut-ter alles machte. Sie hatte ihm sogar fürs Klo ein maßge-schneidertes Regal für die Donald-Duck-Taschenbücheranfertigen lassen. In der Bildunterschrift stand, die kön-ne man gut bei einer Sitzung lesen. Verstehst du … beimSch …!«

Launo schüttelte den Kopf. »Unfassbar.«»Aber das war noch nicht alles. Dieser Kerl hatte in dem

vonseinerliebenMamaeingerichtetenWohnzimmer,oderwie man den Teil eines Apartments nun mal nennt, einenKunstarsch aus Plastik an der Wand hängen. Also so ei-nen arschfarbigen und arschförmigen künstlichen Arsch.Und unter dem Bild hieß es, das wäre ein ›humoristischesKunstgesäß‹.«

»Mein Gott!«»Wo sind eigentlich deine Donald-Duck-Taschenbü-

cher?«, wollte die Mutter von Silmu wissen.

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»Die hab ich Astra geliehen«, sagte Silmu aus der Tiefedes Sessels heraus.

»Astra? Liest Astra Donald-Duck-Taschenbücher?«»Ja«, sagte Silmu, »und sie hat in ihrer Zwei-Zimmer-Ju-

gendstil-Wohnung auch einen Arsch.«»Was ist los mit dir?«»Nichts.«Silmu stand auf und ging nach oben. In der Küche wein-

te jemand. Pelagia hatte sich beim Herumrennen im Zu-ckerrausch irgendwo gestoßen. Silmu holte sich den Spie-gel in sein Zimmer und zog sich aus. Er spannte die Mus-keln an. Noch hatte er einen langen Weg vor sich.

Jemand klopfte an die Tür.»Jetzt nicht«, rief Silmu, stürzte vom Spiegel zum Com-

puter und griff nach der Maus. Die Tür ging auf. KatriinasGesicht schob sich durch den Spalt:

»Ich gehe jetzt … Posierst du nackig vorm Spiegel?«»Vor welchem Spiegel?«»Mein Gott, vor dem Spiegel da.«»Nein. Ich bin im Internet.«»Du surfst als Nackedei?«»Hau ab!«, schrie Silmu.»Das tue ich auch. Ich gehe mit den Feministinnen zum

Eislochschwimmen.«Silmu sagte nichts. Mit einer Hand nahm er den Plüsch-

skorpion auf den Schoß.»Du solltest es auch mal mit Eislochschwimmen versu-

chen«, sagte die Mutter, »davon kriegt man braunes Fett.«»Ich will kein braunes Fett.«»Das ist gesund. Dein Fett ist weiß und das von norma-

len Menschen auch. Aber Eskimos haben braunes Fett.«

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Nachdem seine Mutter wieder weg war, sah Silmu ver-schiedene Body-Building-Seiten durch. An eine davonschrieb er unter dem Chatnamen pumper: »Ich bin einachtzehnjähriger Junge. Ich will keinen Body-Builder-Kör-per, sondern so einen normal sportlichen. So im Stil vonBrad Pitt in Fight Club.«

Die Antwort kam fast auf der Stelle: »Wieder mal so einAnfänger, der für den Sommer in Form kommen will … oMann … Hör zu: Abgesehen davon, dass Brad Pitt einenpersonal trainer hat, schluckt er garantiert Pillen. Wenn duAnfänger bist und naturmäßig pumpen willst, dauert esdrei bis fünf Monate, bis du die Muskelmasse hast. Unddann musst du noch das Fett wegkriegen. Das ist das, vondem du ausgehen musst.«

4 F A L S C H E R E G E L N

Katriina fuhr auf glatten Straßen durch den Wald zur Sau-na. Dann überquerte sie auf ihren hohen Absätzen den ge-frorenen, schwarzen Vorplatz, stieg die Holztreppe hinaufund öffnete die Tür. Aus dem Umkleideraum schlugen ihrWärme und Stimmen entgegen.

Dort saßen sieben patente, kräftige Frauen. Alle Mitglie-der des Saunavereins waren freundlicher Natur, trotzdemscheuten die Stillen im Lande sie wie Ur-Säugetiere denTyrannosaurus. Rums, rums. Der Waldboden unter demFarn erzitterte, wenndiese Frauen bis andie Spitze des kul-turellen Lebens und diverser Organisationen vordrangen.

In einem Kübel standen Bier, Cider und Weißwein be-reit. Die Flaschen funkelten im Eis wie Gefäße mit himm-lischem Nektar. Sie enthielten Freude und Zufriedenheit.Eine der Frauen begrüßte Katriina und fragte: Na, Katjusch-ka, was gibt’s Neues? Sie hatte bereits eine offene Flaschein der Hand.

Mit dem Auto! Katriina! Warum bist du mit dem Autogekommen?

Katriina wägte ab: Sollte sie den Wagen stehen lassenund am nächsten Tag mit dem Bus kommen und ihn ho-len? Nein. So etwas machten Alkoholiker. Sollte sie nurein bisschen trinken und dann noch fahren? Nein. Na-türlich nicht. Sollte sie gar nichts trinken? Das war derursprüngliche Plan gewesen. Auch nüchtern sollte es gut-tun. Einfach die Saunagenießen und dann nach Hause fah-ren. Genau. So hatte sie es vorgehabt.

Aber im Umkleideraum war eswarm,und draußen zeich-

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neten sich die blattlosen Laubbäume schön vor dem milch-weißen Abendhimmel ab, und mit ein bisschen Wein wä-re die Welt sicherlich von Zauber erfüllt, die DinosaurierwärenFreunde,dasLachenwärewiePerlen,unddenWän-den würde man ansehen, dass ein Zimmermann einst vielLiebe und Kompetenz hineingesteckt hatte. Aber wennKatriina sich nicht mal ein bisschen entspannen dürfte,wäre der ganze Abend umsonst und nicht viel anders alsein Abend in der Firma.

Katriina fandeineLösung.EswareineschlechteLösung,aber die einzig mögliche. Sie ging auf die Terrasse hinausund sagte in die Dunkelheit: »Na, Piia, was gibt’s Neues?«

»Nichts«, antwortete die Dunkelheit und erzitterte. Piiastand rauchend in einer Ecke. Die Glut beleuchtete einenkleinen Streifen ihres Gesichts. Den dünnen, gebücktenKörper verbarg die Finsternis. Das von orangem Flaum ein-gerahmte Gesicht war das einer jungen, nicht einmal drei-ßigjährigen Frau, aber es sah verbraucht, blass und verbis-sen aus.

Katriina wartete ab, aber Piia fragte nicht zurück, was esbei Katriina Neues gab. In den letzten zwanzig Jahren hat-te es in Katriinas Bekanntenkreis niemanden gegeben, dersozial so beschränkt war. Wer hatte Piia überhaupt in denSaunaverein eingeladen? War sie eine entfernte Verwand-te von jemandem oder eine Arbeitskollegin aus der uner-heblichen Anfangsphase der Karriere?

Katriina lächelte freundlich und sagte: »Du, hör mal, ichhätte da eine Bitte, aber die ist ein bisschen blöd.« Piiaschwieg. Die Glut wurde abwechselnd stärker und schwä-cher.

»Musst du morgen früh arbeiten?«, fragte Katriina.

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»Ja.«»Dann hast du bestimmt nicht vor, viel zu trinken?«»Ich glaub nicht.«»Es ist nämlich so, dass ich einen kleinen Grund zum

Feiern hätte, weil mein Mann wieder diesen Preis gewon-nen hat, aber ich war so spät dran, dass ich mit dem Autokommen musste. Wäre es irgendwie möglich, dass du sowahnsinnig lieb wärst und mich später mit meinem Autonach Hause fahren würdest? Das wäre ja auch für dichpraktisch.«

Piia schwieg lange und willigte dann ein.»Mensch, danke, echt korrekt von dir«, sagte Katriina.

Ihr ganzer Körper sprühte vor Erleichterung. Sie blieb nocheine Weile auf der Terrasse und erkundigte sich nach PiiasArbeit und Hund, denn darum war sie ja herausgekom-men, um sich zu unterhalten; das mit dem Auto spieltegar keine große Rolle, das war ihr bloß auch gerade in denSinn gekommen. Aber Piia sagte, sie habe keinen Hundund ging dazu über, von ihrem ausländischen Freund zuerzählen. Sie war eine, die mit irgendwelchen Türken aufder Matratze lag und nicht kapierte, dass sie das besserfür sich behielt.

»Pass gut auf ihn auf«, sagte Katriina, drehte sich umund öffnete die Tür zum Umkleideraum. Sie nahm sich ei-nen Cider und prostete den anderen Frauen zu: »Piia hatversprochen, mich zu fahren. Ade Nüchternheit!«

Alle lachten. Für viele Stunden bildeten die Frauen eineBlase des lachenden, wohlriechenden Glücks. Die mitge-brachten Saunaprodukte hatten allerdings einen kleinenBeigeschmack von Wettrüsten. Eine verteilte Honigmas-ken, eine andere hatte eine Torf-Körpermaske dabei, die

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von Mönchen oder Nonnen nach altem Rezept hergestelltworden war. Einmal nahm Katriina rechts von sich denGeruch von Cortisonsalbe wahr. Piia massierte sich denInhalt einer Metalltube in die Haut ein. Sie musste die an-deren mal wieder an ihre Hautkrankheit erinnern.

Dann wurde Pelagias Name bewundert.»Das ist griechisch und bedeutet Meer«, sagte Katriina.

»Die Namen für unsere Kinder hat sich alle Launo ausge-dacht. Er ist ein bisschen romantisch, der arme Mann.«

Alle lachten und zollten Launo Silola und seiner FrauRespekt.

Als sich der Abend dem Ende zuneigte, räumten die Frau-en auf und umarmten sich. Piia und Katriina gingen zumWagen. Katriina fielen die Schlüssel aus der Hand, und siemusstesievomgefrorenenBodenaufklauben.Dabeischürf-te sie sich die etwas unsichere Hand auf. Piia ließ den Mo-tor an und fuhr schweigend los. Katriina lehnte den Kopfans Seitenfenster. Sie war müde. »So schön, dass es baldFrühling wird«, sagte sie. »Stimmt«, sagte Piia.

Mehr fiel Katriina nicht ein. Sie wollte nur möglichstbald ein Marmeladenbrot und dann ins Bett. Zum Glückwar sie wenigstens sauber. Piia hielt vor Katriinas Haus undverlor kein Wort über dessen Architektur. Sie stiegen ausund standen im Dunkeln. Das Meer rauschte unsichtbar,die Finger wurden kalt.

»Vielen Dank, du«, sagte Katriina. »Die Bushaltestelle istgleich da vorne, die nächste Straße rechts.«

»Es ist zwei Uhr«, sagte Piia. »Die Busse fahren nichtmehr. Kannst du nicht deinen Mann bitten? Oder denJungen?«

Katriina war so verdutzt, dass sie zunächst kein Wort he-

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rausbrachte. Piia spielte nach den falschen Regeln! Nachden normalen Regeln müsste siemunter davongehenundaußer Hörweite ein Taxi bestellen. Und wenn sie sich dasnächste Mal begegneten, würde die eine sagen: »MeinGott, ich hab erst daheim gemerkt, wie spät es war. Fuhrüberhaupt noch ein Bus?« Und die Antwort würde lauten:»Nein, aber das war nicht schlimm, ich bekam sofort einTaxi.« Und darauf dann die Erste: »Wie furchtbar! Hättestdu mich nur angerufen. Jemand von uns hätte dich nachHause fahren können.« Und darauf die andere: »Auf kei-nen Fall! War doch überhaupt kein Problem. Ist übrigenssehr schön gewesen neulich in der Sauna. Ganz windstilldraußen, und auch sonst.«

»Warte hier, ich gehe Silmu wecken«, sagte Katriina.Auf dem Weg über die Steinplatten zur Haustür dachte

sie über eine Lösung nach. Blöderweise ging jetzt die Au-ßenbeleuchtung an. Der Schlüssel wollte nicht gleich dasSchloss finden. Im Flur stolperte Katriina über ein Plüsch-vieh und brachte ein ordentliches Poltern zustande. DerSchmerz in ihrem Knie war stechend und brennend, dahalf weder Weinen noch Wimmern, sondern nur ein nachAtem Ringen. Die Lichter gingen an.

Silmus und Launos verschlafene Gesichter tauchten aufderTreppeauf.Pelagiakamauf ihrenkleinenBeinchenan-gerannt.

»Warum liegst du auf dem Fußboden?«, fragte sie.»Die Mama ist über eine Ente gestolpert«, erklärte ihr

die Mutter.»Hat es wehgetan?«, fragte Launo und half Katriina auf

die Beine.»Hast du getrunken?«, fragte Silmu.

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»Ein bisschen was«, sagte Katriina und lächelte, obwohlihr zum Weinen war. »Hört zu, Männer, ich bin in einerkleinen Krisensituation und jemand von euch müsstemir einen großen Gefallen tun. Eine der Frauen aus un-serem Saunaverein hat etwas sehr Erschütterndes erlebt.Ich habe den ganzen Abend versucht, ihr beizustehen. Siewollte mit mir unter vier Augen reden, da haben wir aus-gemacht, dass sie mich fährt, und ich hab dann tatsäch-lich ein paar Gläser Wein getrunken. Aber jetzt müsstesie nach Hause gebracht werden. Wäre einer von euch sosuperkorrekt, das zu übernehmen?« Katriina schaute ihrenSohn und ihren Mann sehr ernst an. So ernst, dass die bei-den etwas erschraken und vergaßen, wie betrunken Ka-triina war.

»Was ist ihr denn Erschütterndes passiert?«, wollte Lau-no wissen. Katriina schüttelte den Kopf. Sie zog Pelagia ansich und küsste das Mädchen traurig auf den Kopf.

»Das ist sozusagen Frauensache. Fragt Piia jedenfallsnicht danach. Aber ich würde mir echt wünschen, dass je-mand sie jetzt nach Hause fährt.«

Launo zog graue Hosen mit Bügelfalte über die Pyjama-hose, fuhr sich kurz mit dem Kamm durchs Haar und ver-ließ das Haus. Die Kinder gingen schlafen, Katriina ging indie Küche, um ein Marmeladenbrot essen. Sie aß zwei. In-zwischen fuhr Launo Piia nach Hause und plauderte rit-terlich mit ihr.