Eine Sonnenblume für Lea - Teil 2 · 2012-02-10 · ganze Zeit, dass ich bestimmt “ sagte Lea....

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1 Eine Sonnenblume f r Lea - Teil 2 Lea wurde langsam ganz aufgeregt. Endlich war der Winter vor ber, und schon in ein paar Wochen w rde sie die Samen f r ihre magische Sonnenblume einpflanzen k nnen. Der Winter hatte ewig lang gedauert, und jeden Tag war Lea zu der Schublade gegangen, wo sie die Samen in einem kleinen Beutel versteckt hatte, und hatte sie herausgenommen, um sie sich anzuschauen. Sie sahen nicht anders aus als andere Sonnenblumensamen, aber Lea wusste, dass sie anders waren, weil die magische Sonnenblume ihr gesagt hatte, sie solle die Samen einpflanzen, damit sie noch weitere besondere Kr fte bek me. Dann endlich kam der gro e Tag f r Lea, an dem sie ihre magischen Samen einpflanzen w rde. Sie holte ihren Vater, und zusammen schaufelten sie noch einmal die Erde neben dem Apfelbaum auf, weil dort die sonnigste Stelle im Garten war. Sie pflanzten die Samen ein und verteilten die Erde wieder dar ber. Dann holte Lea genau wie im letzten Jahr ihre Gie kanne und gab den Samen eine Menge zu trinken. Du musst schon Gl ck haben, wenn eine so gro wird wie die im letzten Jahr , sagte ihr Vater und ging zur ck ins Haus. Lea stand vor dem kleinen Beet, in das sie ihre Samen eingepflanzt hatte, und schaute es sich an. Alles, was sie tun konnte, war zu warten und zu sehen, was passierte. Sie hatte niemanden von ihren magischen Samen erz hlt, weil sie wusste, dass niemand ihr glauben w rde, aber schon bald w rden die Samen anfangen zu wachsen, und der Zauber w rde von Neuem beginnen. Jeden Tag goss Lea die Samen und schaute sich genau die Erde an, um nach den ersten Anzeichen daf r zu suchen, dass sie wuchsen. Ihr Bruder Tom lachte sie oft aus. Wei t du, die wachsen auch nicht schneller, wenn du sie die ganze Zeit anguckst. Lass sie doch einfach alleine wachsen, es sind doch nur Sonnenblumensamen, nichts besonderes. Doch Lea wusste es besser, und eines Tages, als sie durch den Garten ging, um

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Eine Sonnenblume für Lea - Teil 2

Lea wurde langsam ganz aufgeregt. Endlich war der Winter vorüber, und schon in ein paar Wochen würde sie die Samen für ihre magische Sonnenblume einpflanzen können. Der Winter hatte ewig lang gedauert, und jeden Tag war Lea zu der Schublade gegangen, wo sie die Samen in einem kleinen Beutel versteckt hatte, und hatte sie herausgenommen, um sie sich anzuschauen. Sie sahen nicht anders aus als andere Sonnenblumensamen, aber Lea wusste, dass sie anders waren, weil die magische Sonnenblume ihr gesagt hatte, sie solle die Samen einpflanzen, damit sie noch weitere besondere Kräfte bekäme.

Dann endlich kam der große Tag für Lea, an dem sie ihre magischen Samen einpflanzen würde. Sie holte ihren Vater, und zusammen schaufelten sie noch einmal die Erde neben dem Apfelbaum auf, weil dort die sonnigste Stelle im Garten war. Sie pflanzten die Samen ein und verteilten die Erde wieder darüber. Dann holte Lea genau wie im letzten Jahr ihre Gießkanne und gab den Samen eine Menge zu trinken. „Du musst schon Glück haben, wenn eine so groß wird wie die im letzten Jahr“, sagte ihr Vater und ging zurück ins Haus. Lea stand vor dem kleinen Beet, in das sie ihre Samen eingepflanzt hatte, und schaute es sich an. Alles, was sie tun konnte, war zu warten und zu sehen, was passierte. Sie hatte niemanden von ihren magischen Samen erzählt, weil sie wusste, dass niemand ihr glauben würde, aber schon bald würden die Samen anfangen zu wachsen, und der Zauber würde von Neuem beginnen.

Jeden Tag goss Lea die Samen und schaute sich genau die Erde an, um nach den ersten Anzeichen dafür zu suchen, dass sie wuchsen. Ihr Bruder Tom lachte sie oft aus. „Weißt du, die wachsen auch nicht schneller, wenn du sie die ganze Zeit anguckst. Lass sie doch einfach alleine wachsen, es sind doch nur Sonnenblumensamen, nichts besonderes.“ Doch Lea wusste es besser, und eines Tages, als sie durch den Garten ging, um

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sie zu gießen, hatten sie alle ihren Weg nach oben durch die Erde gefunden und fingen an zu wachsen. Lea betrachtete sie sehr genau. „Ich frage mich, welche die magische Blume sein wird“, dachte sie. „Sie sehen alle gleich aus.“ Doch sie waren nicht alle gleich. Langsam wurden sie größer und größer, doch Lea konnte kein lächelndes Gesicht auf ihnen erkennen. Sie sahen einfach nur wie normale Sonnenblumen aus, sehr groß mit einer großen gelben Blüte, aber sie hatten kein lächelndes Gesicht. Zwischen den großen Sonnenblumen waren zwei, die kaum gewachsen waren. Sie sahen auch nicht aus, als würden sie noch wachsen, und ihr Vater meinte, er sollte sie vielleicht lieber ausgraben und in einen Topf pflanzen, damit sie eine Zeit lang im Haus wachsen konnten, doch das wollte Lea nicht. Sie sagte, dass sie stehen bleiben sollten. Sie wollte abwarten, ob sie vielleicht in ein paar Wochen doch noch anfangen würden zu wachsen.

Die größten Sonnenblumen wuchsen immer weiter, doch die beiden kleinen wurden einfach nicht größer. Lea war sehr, sehr enttäuscht. Die großen Sonnenblumen sahen sehr schön aus, aber sie waren ganz sicher keine magischen Sonnenblumen. Die beiden kleinen hatten noch nicht einmal eine Blüte und sahen aus, als würden sie auch niemals eine bekommen. Lea war ganz traurig. Sie hatte sich so darauf gefreut, dass die Sonnenblumen magisch waren und ihr besondere Kräfte verleihen würden, doch sie waren gewachsen wie alle anderen Sonnenblumen. Tom hatte Recht, es waren einfach nur Sonnenblumen, nichts besonderes.

Ein paar Tage lang ging Lea nicht zurück in den Garten, weil es immerzu regnete und sie drinnen spielte. Und sie beschloss, nicht traurig zu sein, weil die Sonnenblumen anscheinend doch keine Zauberkräfte besaßen. Sie dachte daran, was die magische Sonnenblume ihr gesagt hatte, dass sie immer glücklich sein und dafür sorgen sollte, dass alle anderen auch glücklich waren. Es war nicht so schlimm, dass die neuen Sonnenblumen keine Zauberkräfte hatten, denn Lea hatte immer noch die besondere Gabe, alle Menschen glücklich zu machen.

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In der nächsten Woche, als der Regen aufgehört hatte, ging Lea in den Garten, um sich die Sonnenblumen anzusehen. Sie schaute sich die großen mit den hübschen, großen, gelben Blüten an, die in der Sonne blitzten, und dachte, wie schön sie waren. Dann sah sie hinunter zu den kleinen, und oh, was für eine Überraschung! Die beiden kleinen hatten jede eine Blüte bekommen, und genau in der Mitte der kleinen Blüten war ein lächelndes Gesicht. Lea war so überrascht, sie hatte gar nicht erwartet, dass die kleinen Sonnenblumen eine Blüte bekommen würden, aber nun waren sie da, jede mit einem lächelnden Gesicht. Jetzt hatte sie doch noch magische Sonnenblumen gezüchtet, aber es waren nur sehr kleine. Plötzlich blinzelte eine der Sonnenblumen sie an und fing an zu sprechen. „Lea, Lea, komm näher, wir haben etwas für dich.“ Lea kniete sich hin, damit sie die lächelnden Gesichter sehen konnte. „Lea, du bist ein ganz besonderes kleines Mädchen, und weil du immer versuchst, glücklich zu sein, auch wenn du manchmal traurig bist, werden wir dir noch weitere magische Kräfte verleihen, die noch mächtiger sind als die, die dir letztes Jahr verliehen wurden.“ Die andere Sonnenblume fing an zu lachen, und dabei fielen ein paar Blütenblätter auf die Erde. „Lea,“ sagte die erste Sonnenblume, „nimm dir ein Blütenblatt, lege es in deine Hand, schließe die Augen, drücke es und schau, was passiert.“ Lea nahm sich ein Blütenblatt und tat, was die Sonnenblume ihr gesagt hatte. Sie fühlte ein warmes Glühen auf ihrem Gesicht, als ob die Sonne auf sie schien. Sie öffnete die Augen und sah, dass plötzlich alles im Garten ein Gesicht hatte. Die Blumen, die Bäume, die Büsche, das Gras, die Äpfel am Baum, sogar die kleinen Steine, die zwischen den Blumen lagen. Es war wie eine andere Welt. Eine Welt, die niemand sehen konnte außer Lea. Als sie erstaunt um sich blickte, vernahm sie Stimmen und merkte, dass sie von den Vögeln kamen, die sich unterhielten. Von den Blättern an den Bäumen kam Musik, und all die hübschen Blumen im Garten sangen. Die Schnecken summten Melodien, als sie die Wege entlangkrochen, und die Bienen ließen sich auf den riesigen Sonnenblumen nieder, um ein Nickerchen zu halten, während die Sonnenblumen ihnen ein Schlaflied vorsangen. Die Schmetterlinge applaudierten sich gegenseitig, als sie in Kreisen in der Luft umhertanzten, und alle Äpfel an den Bäumen sangen. Der Garten sah nicht mehr aus wie Leas Garten. Die Pflanzen und Bäume, die Blumen und

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die Vögel waren alle so glücklich, und sie sprachen miteinander, als ob sie alle wie durch einen Zauber zum Leben erwacht wären.„Lea, Lea!“ Lea drehte sich um, um zu sehen, wer sie gerufen hatte. Es war ihre Mutter. „Lea, ist alles in Ordnung, was machst du? Du stehst schon ewig vor den Sonnenblumen und starrst sie an, es ist Essenzeit.“ „Ja, ich komme“, rief Lea. Sie blickte wieder auf die kleinen Sonnenblumen, aber dielächelnden Gesichter waren verschwunden, und alles im Garten sah aus wie immer. Vielleicht hatte sie nur einen Tagtraum gehabt. Sie ging ins Haus, um zu essen. Sie würde später wieder zurückgehen.

Nachdem Lea gegessen hatte, ging sie zurück in den Garten. Die beiden kleinen Sonnenblumen hatten ihre Köpfe nach unten geneigt, aber als Lea sich ihnen näherte, blickten sie auf und lächelten sie an. Lea war so glücklich. Es waren wirklich magische Sonnenblumen, sie hatte doch keinen Tagtraum gehabt. „Lea, Lea“, sagte eine der Sonnenblumen, und die andere Sonnenblume fing an zu lachen. Abermals fielen Blütenblätter auf die Erde. „Lea, nimm dir ein Blütenblatt, schließe die Augen und drücke es fest.“ Lea nahm sich ein Blütenblatt, schloss die Augen und drückte es fest. Sie fühlte, wie das warme Glühen über sie kam, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass der Garten wieder zum Leben erwacht war und die großen Sonnenblumen ihre Köpfe gedreht hatten, um in den Garten zu blicken. Lea sah in einer Ecke des Gartensein wunderschönes Tor aus roten und weißen Rosen. Sie ging hinüber, um es sich genauer anzusehen. Dieses Tor hatte sie noch niemals zuvor gesehen. Was es auch damit auf sich hatte, sie musste es herausfinden. Sie guckte hinein und hörte sanfte Musik. Es war ein Pfad darin, der in einen hell erleuchteten Tunnel führte. Sie musste hineingehen und herausfinden, was sich darin befand.

Langsam ging sie den Pfad entlang, und als sie näher zum Eingang des Tunnels gekommen war, erlebte sie die größte Überraschung ihres Lebens. Auf einem großen Stein saß ein kleiner grüner Kobold. Sie hatte schon in Märchenbüchern von Kobolden gelesen, hatte aber nie geglaubt, dass es sie wirklich gab. Doch da saß ein echter Kobold, und er winkte ihr zu.

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„Hallo Lea”, sagte der Kobold. „Ich habe schon auf dich gewartet.” Lea ging zu dem Kobold hinüber und glaubte, dass sie bestimmt träumte. Doch der Kobold nahm Lea an der Hand und sagte: „Glaubst du an Feen?“ Lea schüttelte den Kopf. „Nein, die gibt es nur in Märchen.“ „Dann komm mit mir“, sagte der Kobold, „ich möchte dir etwas zeigen, aber du musst ganz leise sein.“ Ganz langsam gingen sie durch den Tunnel, wobei der Kobold voranging, und dann traten sie hinaus auf eine weiche, weiße Wolke. Lea sah viele, viele andere weiche, weiße Wolken mit wunderschönen weißen Schlössern darauf. „Wo sind wir?“ fragte Lea. „Dies ist die geheime Welt der Zahnfeen“, erklärte ihr der Kobold. „Du weißt doch, was Zahnfeen sind, oder?“

„Ja“, sagte Lea. „Aber ich glaube eigentlich nicht daran.“ „Hast du daran geglaubt, dass es Kobolde gibt?“ „Nein, ich glaube die ganze Zeit, dass ich bestimmt träume“, sagte Lea. „Aber du träumst nicht, ich bin echt, und weil die Sonnenblumen dir besondere Kräfte verliehen haben, kannst du mich sehen“, sagte der Kobold zu ihr. „Wenn du nicht an die Zahnfee glaubst, warum legst du dann deine Zähne unter dein Kopfkissen, wenn sie dir ausfallen?“ fragte der Kobold. „Weil meine Mutter mir immer etwas Geld gibt und so tut, als wäre das nachts die Zahnfee gewesen, aber ich weiß, dass in Wirklichkeit meine Mutter die Zähne nimmt“, erklärte Lea. Der Kobold fing an zu lachen. „Sei nicht töricht, warum sollte deine Mutter deine Zähne haben wollen, sie hat doch eigene.“Doch Lea hörte dem Kobold gar nicht mehr zu, sie machte riesige Kulleraugen, weil sie sah, dass die weichen Wolken jetzt voller wunderschöner, winziger Feen mit Flügeln in unterschiedlichen Farben waren, und jede Fee trug einen kleinen Zahn. Als Lea genauer hinschaute, sah sie, dass die Feen aus den Zähnen Schlösser bauten. Hunderte von Feen, die alle auf die Wolken flogen und Zähne von all den Jungen und Mädchen mitbrachten, die sie unter ihr Kissen gelegt hatten. Sie türmten die Zähne auf, schwenkten ihren Zauberstab, und sofort verwandelten sich die Zähne in hübsche weiße Schlösser, in denen die Feen wohnen konnten. Es stimmte also. Es gab wirklich Zahnfeen, und hier bauten sie aus den Zähnen der Kinder ihre Schlösser. „Aber woher bekommen die Feen das Geld, das sie zurücklassen?“ fragte Lea. Der Kobold lächelte.

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„Sie können doch zaubern, sie schwenken einfach ihren Zauberstab, und das Geld liegt dann da, wo der Zahn sich befand. Wenn du nicht mehr daran glaubst, kommen die Feen nicht mehr in dein Haus, und dann hat es keinen Zweck mehr, wenn du die Zähne unter dein Kissen legst.“ Lea stand ganz still und leise da, während sie die Feen beobachtete, bis der Kobold schließlich sagte: „Wir müssen jetzt zurück, es ist fast Schlafenszeit, und bald werden die Feen wegfliegen, um zu versuchen, noch viel mehr Zähne zu finden, damit sie ihre Schlösser bauen können.“

Lea folgte dem Kobold zurück in den Tunnel und den Pfad entlang, und schon einen Augenblick später war sie wieder in ihrem Garten. Sie sah sich um. Das Tor und der Kobold waren verschwunden, und überall im Garten war es still. Sie betrachtete die großen Sonnenblumen, ihre Köpfe waren nach unten geneigt, als würden sie schlafen. Sie betrachtete die beiden kleinen, aber auch sie schliefen. Sie dachte an den Kobold und die Zahnfeen. Es gab sie wirklich; sie hatte sie gesehen, wie sie ihre Schlösser aus den Zähnen der Kinder bauten. Sie würde nie mehr daran zweifeln. Es fing an, dunkel zu werden, und es war Zeit, ins Bett zu gehen, aber sie würde morgen zurück in den Garten gehen und herausfinden, welche anderen magischen Kräfte die Sonnenblumen ihr verleihen würden.

Am nächsten Morgen, nachdem sie gefrühstückt hatte, ging Lea in den Garten. Die beiden kleinen Sonnenblumen lächelten, und als Lea sich hinabbeugte, fingen sie an zu lachen. Auch Lea fing an zu lachen; sie war so glücklich und nahm sich abermals ein Blütenblatt vom Boden, schloss die Augen und drückte es fest. Sie öffnete die Augen, aber diesmal war nichts passiert. Alles sah genauso aus wie vorher. Sie nahm ein weiteres Blütenblatt, schloss die Augen, drückte es und wartete, um das warme Glühen zu spüren. Doch es passierte wieder nichts. Sie blickte auf die beiden kleinen Sonnenblumen hinunter. Sie lächelten noch immer, und wie sie so dastand und auf die Sonnenblumen blickte, fingen sie an zu lachen. „Lea“, sagte eine der Sonnenblumen. „Wir sind nur klein, und schon bald wird unser Zauber vorüber sein, doch wir haben dir eine ganz besondere Kraft verliehen, die niemand anders auf der ganzen Welt je

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haben wird.“ Plötzlich fühlte Lea überall ein warmes Glühen, und sofort war der Garten wieder voller Leben. Die Sonnenblumen blinzelten, und die lächelnden Gesichter verschwanden.

„Lea, beeil dich“, rief ihre Mutter aus der Küche, „du kommst zu spät zur Schule.“ Lea lief ins Haus, sie hatte die Schule ganz vergessen und zog sich rasch ihre Jacke an. Als sie mit ihrer Mutter zur Schule ging, sah sie Max, den Kater, der im Haus nebenan lebte, und der vor der Tür darauf wartete, hineingelassen zu werden. Das Erstaunliche aber war, dass sie hören konnte, was er dachte. „Warum lassen die mich nicht hinein, mir ist kalt und ich habe Hunger, ich bin die ganze Nacht draußen gewesen, als alle anderen schliefen.“ Lea war so überrascht; sie glaubte, seltsame Dinge zu hören. „Hast du den Kater sprechen gehört?” fragte Lea ihre Mutter. „Ich habe ihn miauen gehört, wenn du das meinst“, sagte ihre Mutter. „Nein, ich habe ihn sprechen gehört”, sagte Lea. „Ach Lea, du bist albern, du weißt doch, dass Katzen nicht sprechen können“, sagte ihre Mutter. Lea sah sich nach dem Kater um, und in diesem Moment stellte er sich auf seine Hinterbeine und winkte ihr zu. Lea sagte nichts weiter. Sie wusste, dass dies die besondere Kraft sein musste, die die Sonnenblume ihr verliehen hatte.

Plötzlich rannte ein Hund an ihnen vorbei. „Geht mir aus dem Weg“, hörte Lea ihn sagen. Diesmal sagte sie ihrer Mutter nichts; sie wusste, dass sie ihr keinen Glauben schenken würde. Sie blickte nach oben in die Bäume und hörte, wie die Eichhörnchen miteinander sprachen. „Wenn das kleine Mädchen und ihre Mutter weg sind, werden wir hinunterklettern und ein paar Nüsse suchen“, hörte sie sie sagen. Es war erstaunlich. Sie hörte alles, was die Tiere sagten und dachten. Sie gingen an den Geschäften vorbei und durch den Park. Im Park war ein großer Teich mit vielen Fischen und Enten, die dort herumschwammen. Als sie näher kam, hörte sie die Enten sagen: „Ich hoffe, dieses kleine Mädchen hat uns Brot mitgebracht.“ Lea lief zu ihnen hinüber. „Es tut mir Leid, aber ich habe kein Brot dabei, ich bin auf dem Weg zur Schule, aber ich bringe euch später welches vorbei.“ Die Enten sagten ihr, dass sie großen Hunger hatten, auch die Fische, weil sie lange

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niemand gefüttert hatte. „Also vergiss es nicht“, riefen sie, als Lea und ihre Mutter davongingen. Lea war so glücklich. Ihr waren so wunderbare Kräfte verliehen worden. Sie würde nie mehr wieder einfach nur ein normales Mädchen sein. Überall, wo sie hinging, konnte sie andere glücklich machen, egal, wie traurig sie waren, und jetzt konnte sie sogar hören, was die Tiere sagten.

Nach der Schule fragte Lea ihre Mutter, ob sie den Enten etwas Brot bringen durfte, und sie gingen zurück in den Park. Die Enten freuten sich sehr, sie zu sehen, und sagten ihr, dass sie allen anderen Tieren im Park sagen würden, was für ein freundliches kleines Mädchen sie war. Lea wusste nun, welche besonderen Kräfte die Sonnenblumen ihr verliehen hatten, und sie war sehr, sehr froh. Sie wollte es ihrer Mutter und ihrem Vater erzählen, wusste aber, dass sie sie nur auslachen und ihr nicht glauben würden. Sie überlegte, ob sie es ihrem Bruder Tom erzählen sollte. Sie musste irgendjemandem ihr Geheimnis anvertrauen, und als sie nach Hause kam, suchte sie nach Tom. Er spielte mit seinen Freunden Fußball. „Tom, Tom, komm her, ich will dir etwas erzählen“, rief Lea Tom zu. „Geh weg, ich spiele Fußball.“ „Aber es ist wichtig“, rief Lea. „Erzähl es mir später“, rief Tom zurück. Lea ging zurück in den Garten. Sie blickte auf die beiden kleinen Sonnenblumen, doch sie hatten keine lächelnden Gesichter mehr. Sie sah sich im Garten um, doch sie konnte keine Gesichter auf den Blumen und Bäumen erkennen. Sie blickte hinüber in die Gartenecke, aber das Tor war verschwunden. Es sah alles genauso aus wie immer. „Vielleicht sind meine magischen Kräfte jetzt weg“, dachte sie.

Doch genau in diesem Moment ging Max, der Kater von nebenan, vorbei. „Hallo Lea“, sagte er. „Ich werde jetzt ein paar Mäuse jagen“, und er ging seiner Wege. Im nächsten Augenblick stürzten sechs kleine Mäuse hinter der Hütte hervor. „Sag dem Kater nicht, wo wir sind“, riefen sie ihr zu und versteckten sich unter einem Busch. Sie ging zurück, um nachzuschauen, ob Tom mit dem Fußballspielen fertig war, da kam ein Hund vorbeigelaufen. „Hast du diesen verteufelten Kater gesehen?“ rief er ihr zu. Lea beobachtete ihn, wie er hastig umherlief und versuchte, den Kater zu finden. Da hoppelte ein Kaninchen vorbei. „Hallo Lea, weißt du, wo ich

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saftige Möhren finden kann?“ „Ja, dort drüben“, sagte Lea und zeigte auf das Gemüsebeet. „Aber pass auf, dass die Gärtner dich nicht fangen.“ Das Kaninchen lief davon, gefolgt von einer Schildkröte, die sehr langsam den Pfad entlang kroch. Lea hörte, was die Schildkröte dachte. „Ach je, ich glaube, ich kann nicht mehr weiter laufen, dieses Kaninchen werde ich nie einholen, und es hat gewiss alle Möhren aufgegessen, bevor ich überhaupt angekommen bin.“ Lea blickte hinunter auf die Schildkröte. „Doch,“ sagte sie „das kannst du, wenn ich dir helfe“. Sie nahm die Schildkröte und trug sie an die Stelle, wo das Kaninchen bereits die saftigen Möhren aß. Das Kaninchen bemerkte nicht, wie Lea die Schildkröte zwischen die Möhren setzte, und als es plötzlich sah, wie die Schildkröte die Möhren aß, dachte das Kaninchen, dass es vielleicht doch nicht so schnell war, wie es geglaubt hatte, wenn schon eine Schildkröte es einholen konnte.

Lea fing an zu lächeln. Sie war so glücklich. Es war toll, all den Tieren zuzuhören. Wie viel Spaß sie haben würde. Sie brauchte es eigentlich niemandem zu erzählen. Und selbst wenn, würde ihr niemand glauben. Es war Leas Geheimnis. Ein ganz besonderes Geheimnis, weil sie ein ganz besonderes kleines Mädchen mit besonderen Kräften war, die niemand anders hatte, und morgen würde sie nachschauen, ob die lächelnden Gesichter der Sonnenblumen wieder da waren.

Am nächsten Tag ging Lea wieder zurück in den Garten. Die beiden kleinen Sonnenblumen waren verschwunden, doch als Lea sich hinkniete, sah sie Blütenblätter, die sie zurückgelassen hatten. Sie nahm sie, schloss die Augen und drückte sie fest. Abermals kam ein warmes Glühen über sie, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass alles im Garten wieder zum Leben erwacht war, und in der Ecke war wieder das Tor mit dem Kobold, der ihr zuwinkte. Sie lief zu dem Kobold hinüber. „Lea“, sagte der Kobold, „die Sonnenblumen sind nun weg, aber du wirst immer die Tiere verstehen können und andere glücklich machen können. Auch wenn der Garten ab morgen wieder genauso aussehen wird wie vorher, bin ich immer hier, und wenn du mit mir sprechen willst, reibe einfach an diesem kleinen Stein, und ich werde erscheinen.“ Der Kobold gab Lea einen kleinen gelben Stein, und als sie ihn sich anschaute, sah

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ein lächelndes Gesicht zu ihr herauf. Sie steckte ihn in ihre Tasche, der Kobold ging zurück in den Tunnel, und im nächsten Augenblick sah alles wieder ganz normal aus. Sie nahm den Stein aus ihrer Tasche und sah ihn sich noch einmal an. Er lächelte sie noch immer an. Lea fing an zu lachen, sie war das glücklichste kleine Mädchen auf der ganzen Welt.

Genau in diesem Moment kam Tom mit seinen Freunden in den Garten gelaufen. „Was wolltest du mir denn erzählen, Lea?“ fragte er. Lea steckte den Stein wieder in ihre Tasche zurück. „Ach, gar nichts, ist egal“, sagte Lea. Tom lief davon, und Lea ging zurück ins Haus. Sie ging die Treppe hinauf in ihr Zimmer und blickte aus dem Fenster. Alles im Garten war still. Sie würde niemandem ihr Geheimnis erzählen, auch Tom nicht. Die Sonnenblumen waren verschwunden, aber der Kobold hatte ihr einen magischen Stein gegeben, und es konnte ja sein, dass der Kobold sie vielleicht noch einmal mit in die geheime Welt der Zahnfeen nehmen würde. Doch es war Zeit, ins Bett zu gehen, und als Lea einschlief, war sie ganz sicher, dass sie wieder das Lachen der magischen Sonnenblumen im Garten hörte, oder träumte sie einfach nurû was meint ihr?