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Einführendes Im Jahr 1683 reist der im westfälischen Lemgo geborene Engelbert Kämpfer, Historiker, Philologe und Arzt, mit einer schwedischen Gesandtschaft in den safawidischen Iran und hält sich von 1684 bis 1685 für 20 Monate in Isfahan auf. Über Persepolis und Schiraz begibt er sich später an den Persischen Golf und von dort weiter nach Indien, Java und Japan. 1694 kehrt Kämpfer schließlich nach Deutschland zurück und schreibt seine Beobachtunge n in den „Amoenitates exoticae“ 1 nieder. Bei Kämpfer finden sich bereits erstaunlich genaue Beobachtungen zum schiitischen Iran, etwa zu der Bedeutung der Imame, der „heiligmäßigen Scheiche“ 2 , zu den Quellen, die neben Koran auch die Traditionen des Propheten und der Imame enthalten, den Lehreinrichtungen sowie zu der Stellung des Mu ğtahid 3 , seines Werdegangs, seiner Lehre, vor allem aber auch seiner sozialen und politischen Position im monarchistisch regierten Safawiden-Reich. 4 Im Zusammenhang mit der Erziehung der safawidischen Prinzen schreibt Kämpfer: „Der Prinzenerzieher […] führ t den Zögling […] in die Gottesgelehrsamkeit ein, um ihn beizeiten mit den Lehrmeinungen des schiitischen Glaubens zu durchtränken. […] 1 Kaempfer, Engelbert: Amoenitates exoticae politico-physico-medicarum, übers. von Walther Hinz: Am Hofe des persischen Großkönigs (1684-1685), Tübingen und Basel 1977 (im Folgenden Kämpfer/Hinz 1977). 2 Ebd., S. 176. 3 Eingedeutschte Begriffe wie Schia, Koran, Imam, Ismailiten, aber auch das Safawiden-Reich werden ohne Umschrift, andere Termini oder Namen in der Umschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) wiedergegeben. 4 Ebd. Siehe vor allem die Seiten 126-149, 176-190. Zum Muğtahid besonders S. 130-133.

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Einführendes

Im Jahr 1683 reist der im westfälischen Lemgo geborene Engelbert

Kämpfer, Historiker, Philologe und Arzt, mit einer schwedischen

Gesandtschaft in den safawidischen Iran und hält sich von 1684 bis 1685

für 20 Monate in Isfahan auf. Über Persepolis und Schiraz begibt er sich

später an den Persischen Golf und von dort weiter nach Indien, Java und

Japan. 1694 kehrt Kämpfer schließlich nach Deutschland zurück und

schreibt seine Beobachtungen in den „Amoenitates exoticae“1 nieder.

Bei Kämpfer finden sich bereits erstaunlich genaue Beobachtungen zum

schiitischen Iran, etwa zu der Bedeutung der Imame, der „heiligmäßigen

Scheiche“2, zu den Quellen, die neben Koran auch die Traditionen des

Propheten und der Imame enthalten, den Lehreinrichtungen sowie zu der

Stellung des Muğtahid3, seines Werdegangs, seiner Lehre, vor allem aber

auch seiner sozialen und politischen Position im monarchistisch

regierten Safawiden-Reich.4 Im Zusammenhang mit der Erziehung der

safawidischen Prinzen schreibt Kämpfer: „Der Prinzenerzieher […] führ t

den Zögling […] in die Gottesgelehrsamkeit ein, um ihn beizeiten mit

den Lehrmeinungen des schiitischen Glaubens zu durchtränken. […]

1 Kaempfer, Engelbert: Amoenitates exoticae politico-physico-medicarum, übers. von Walther

Hinz: Am Hofe des persischen Großkönigs (1684-1685), Tübingen und Basel 1977 (im

Folgenden Kämpfer/Hinz 1977). 2 Ebd., S. 176.

3 Eingedeutschte Begriffe wie Schia, Koran, Imam, Ismailiten, aber auch das Safawiden-Reich

werden ohne Umschrift, andere Termini oder Namen in der Umschrift der Deutschen

Morgenländischen Gesellschaft (DMG) wiedergegeben. 4 Ebd. Siehe vor allem die Seiten 126-149, 176-190. Zum Muğtahid besonders S. 130-133.

Danach werden Leben und Wunder des Propheten Mohammad und der

zwölf ihm nachfolgenden Imâme sowie deren schwer zu entwir rendes

Verwandtschaftsverhältnis durchgenommen.“5

Dieser mögliche Hinweis auf verschiedene genealogische Imamatslinien

schiitischer Grupperungen, die frühen Orientalisten6 immer wieder

Probleme bereiteten, soll an dieser Stelle auf das Verhältnis der

deutschsprachigen Orientalistik zur Schia-Forschung, allen voran der

Forschung zu den Zwölferschiiten, übertragen werden. Denn trotz der

Berichte Engelbert Kämpfers sowie der einer Reihe weiterer

Iranreisender des 17. Jahrhunderts7 haben diese Beobachtungen doch

nicht zu tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit der Schia bzw. den

schiitischen Gruppierungen geführt. Eine Unkenntnis der schiitischen

Glaubenslehren und ihres Schrifttums lässt sich – nicht nur in

Deutschland – bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen. Während

einige wichtige sunnitische Handschriften im 19. Jahrhundert schon mit

viel Sorgfalt früher Orientalisten ediert werden, beginnt die

Editionsarbeit schiitischer Texte etwa ab den 1960er Jahren. Im Mai

1968 findet der erste Kongress zur Schia in Straßburg statt8 und

Abdoljavad Falaturi ruft im Juli 1968 auf dem 17. Deutschen

Orientalistentag in Würzburg zu einer Intensivierung der Schia-

Forschung auf9. Trotz dieser Forderungen nach einer Belebung der

Schia-Forschung, spielen die Schia-Studien in Deutschland, etwa im

Vergleich mit England, bis heute nur eine marginale Rolle. Woran liegt

dieser späte Einstieg in die Schia-Forschung? Drei Aspekte sind es, die

im Folgenden mit einander in Beziehung gesetzt werden: die

Entwicklung des Faches „Orientalistik“ bzw. der Islamwissenschaft in

5 Kämpfer/Hinz 1977, S. 35.

6 Die Bezeichnungen „Orientalistik“ und „Orientalist“ (es sind nur Männer, von denen im

Folgenden die Rede sein wird) werden verwendet, da sie der historischen Fachbezeichnung und

Selbstreferenz entsprechen. Im Zuge der Orientalismusdebatte im 20. Jahrhundert und der

institutionellen Auffächerung der einzelnen orientalistischen Disziplinen im Laufe des 19., vor

allem des 20. Jahrhunderts hat man sich von dem Konzept einer „Orientalistik“ distanziert und

auf der Grundlage sprachlicher, geographischer, methodischer und/oder thematischer

Zuordnungen definiert. 7 Yarshater, Ehsan (ed.): Encyclopaedia Iranica, Bd. X, New York 2001, S. 555-559 (im

Folgenden Encyclopaedia Iranica). 8 Publizierte Vorträge: „Le Shî’isme imâmite, Colloque de Strasbourg (6-9 mai 1968),

Bibliothèque des Centres d’Études Supérierures spécialisés, Travaux du Centre d’Études

Supérieures spécialisé d’Histoire des Religions de Strasbourg, Paris 1970, S. 9. 9 Falaturi, Abdoljavad: Die Bedeutung der Schia-Forschung für die islamischen Wissenschaften

samt einem Bericht über die Schia-Forschung in Köln, in: Voigt, Wolfgang (Hrsg.): XVII.

Deutscher Orientalistentag vom 21. bis 27. Juli 1968 in Würzburg, Vorträge Teil 2, Wiesbaden

1969, S. 604-610. Es sei darauf hingewiesen, dass Falaturi die Zwölferschia als „Sekte“ benennt,

siehe ebd., S. 604. Eine Kritik an der Bezeichnung der schiitischen Gruppierungen als „Sekten“

findet sich bei ihm nicht.

Deutschland, die Quellenlage und zeitgenössische politische

Konstellationen.

Dabei skizzieren die folgenden Ausführungen mögliche

Erklärungsansätze, ohne den Anspruch zu erheben, erschöpfend zu sein,

und sie konzentrieren sich weitgehend auf das 17. bis 19. Jahrhundert.

Folgende Einschränkungen und Probleme der Eingrenzung gelten für die

nachstehenden Ausführungen: Zwar liegt der Schwerpunkt auf der

Forschung zur Zwölferschia, doch wird im Folgenden deutlich werden ,

dass die Zuordnungen bestimmter religiöser und religionspolitischer

Konzepte zu schiitischen Gruppierungen in der frühen Orientalistik nicht

immer klar waren. Ferner beschränken sich die folgenden Ausführungen

in Bezug auf Kontakte zu schiitisch geprägten Regionen weitgehend auf

den Iran – zum einen, weil das Safawiden-Reich (1501-1722 n. Chr.)

eine zentrale Rolle für die Kenntnis der Zwölferschia im

deutschsprachigen Raum hatte und zum anderen, weil dieser Artikel auf

einem Vortrag beruht, der im Rahmen der Veranstaltung einen

deutlichen Iran-Bezug aufwies. Es soll damit keineswegs die weiter

unten angeführte Sichtweise von der Schia als einem vorrangig

„persischen Phänomen“ unterstützt werden. Ein drittes Problem der

Eingrenzung stellt sich bei der geographischen Zuweisung der deutschen

bzw. deutschsprachigen Orientalistik, die in der Geschichte großen

Veränderungen unterlag. Nicht nur die wechselnden politischen Grenzen

über die Jahrhunderte, auch die Tatsache, dass eine Reihe von

skandinavischen und osteuropäischen Gelehrten bis weit ins 19.

Jahrhundert hinein auch auf Deutsch veröffentlichten, erschwert eine

eindeutige Eingrenzung.10

Die Anfänge: Erste Kontakte

Etan Kohlberg betont in seinem Artikel “Western Studies of Shi’a

Islam” von 1987 mit einem Verweis auf Bernard Lewis, dass “the Shi’a

which the Western world first came to know from direct experience

[was] that of the Fatimids and, somewhat later, the Assassins. It was the

Fatimids, not the Twelver Shi’is, whom the Crusaders confronted as

immediate enemies”11

. Man mag zwar auf Zwölferschiiten in Syrien und

10

Die prinzipielle Problematik dieser Eingrenzung findet sich auch bei verschiedenen Einträgen

zu „Germany“ in der Encyclopaedia Iranica, Bd. X, S. 530, 567. 11

Kohlberg, Etan: Western studies of Shī’a Islam, in: Kramer, Martin (ed.): Shi’ism, resistance,

and revolution, London 1987, S. 31-44.

Palästina gestoßen sein, diese waren jedoch nicht staatlich organisiert

wie die Fatimiden und besaßen auch nicht die „mystical aura“ der

„Assassinen“. Das Fazit von Kohlberg: “They were therefore much less

attractive to Crusader writers.“12

Dennoch blieben auch die Kenntnisse

von den Ismailiten vage, bis im 20. Jahrhundert der Zugang zu

ismailitischen Quellen neue Voraussetzungen für die Forschung schuf.13

Unpräzise Vorstellungen der genealogischen Imamatsreihen und der

theologischen und religionspolitischen Konzepte prägen die Anfänge der

europäischen universitären Beschäftigung mit der Schia. Die

Ausgangslage für europäische Gelehrte, die sich mit dem schiitischen

Islam befassten – eine vage Kenntnis vor allem der Fatimiden und der

sagenumwobenen „Assassinen“, weniger der Zwölferschiiten – wurde

schließlich begleitet von dem Studium vorrangig sunnitischer firaq-

Literatur, der es vor allem darum ging, das „Sektiererische“,

Nonkonformistische der schiitischen Gruppierungen in Abgrenzung zu

einem sich als „orthodox“ zu begreifenden (aš‛aritischen) Sunnitentum

zu sehen, wobei die Darstellung extremer theologischer Positionen solch

„abweichender“ Strömungen besonders betont wurden.14

Dieses Konzept

einer (aš‛aritischen) sunnitischen „Orthodoxie“ und einer schiitischen

„Heterodoxie“ ist bis heute in der Islamwissenschaft lebendig geblieben,

obgleich die Übertragung dieser Begriffe auf die islamische Religion

höchst problematisch ist.15

Im 16. Jahrhundert führen die

orientalistischen Studien noch ein Randdasein. „Orientalische Sprachen“

waren vor allem eingebunden in die Bibel- und Kirchengeschichte und

hatten eine praktische Bedeutung für die Mission in den betreffenden

Gebieten. Diese Grundtendenz war nicht nur im 16. Jahrhundert

bestimmend, sie hielt sich bis weit ins 18. und 19. Jahrhunder t.16

12

Ebd., S. 23. 13

Daftary, Farhad: The Ismā‛īlīs. Their history and doctrines, Cambridge 1994, S. 1-31;

Hamdani, Sumaiya A.: Between revolution and state. The path to Fatimid statehood. Qadi al-

Nu‛man and the construction of Fatimid legitimacy, London 2006, S. XXI-XXIV. Zu Darstellung

und wissenschaftlichen Erforschung der Ismailiten siehe auch Lewis, Bernard: Die Assassinen.

Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam, München 1993, S. 15-38. 14

Siehe unten im Kontext der Forschung des 19. Jahrhunderts die Angaben zu den am häufigsten

zitierten firaq-Werken. 15

Siehe Langer, Robert und Simon, Udo: The dynamics of orthodoxy and heterodoxy, Dealing

with divergence in Muslim discourses and Islamic Studies, in: Die Welt des Islam 48 (2008), S.

273-288. (Der gesamte Band 48 befasst sich in verschiedenen Artikeln mit der Frage nach

„Häresie” und „Orthodoxie” oder „richtigem Glauben“.) 16

Zu den orientalistischen Studien im 16. Jahrhundert siehe auch Irwin 2006, S. 54-81 (Irwins

Fachgeschichte ist auch zu verstehen als kritische Entgegnung auf Said, Edward: Orientalism,

London 1978.). Fück, J.: Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20.

Jahrhunderts, Leipzig 1955, S. 29-73.

Durch die Gründung der Safawiden-Dynastie im Iran 1501 und der

folgenden Schiitisierung des Landes ab dem 16. Jahrhundert entstehen

neue Voraussetzungen für die Kenntnisnahme und Erforschung der

Zwölferschia. Dennoch ist dieses neue Reich zunächst vor allem

politisch als potentielles Gegengewicht zum sunnitischen Osmanenreich

präsent: Im Jahr 1523 sendet Schah Ismā‛īl einen Brief an Karl V., in

dem mögliche gemeinsame militärische Schritte gegen das Osmanische

Reich erörtert werden.

Das 17. Jahrhundert:

Grundlagen einer Schia-Forschung? Reiseberichte, philologische

Grundlagenwerke und Handschriften

Erst ab dem 17. Jahrhundert kommt es zu vermehrten diplomatischen

Kontakten und Reiseberichten, die detaillierter von schiitisch geprägten

Regionen, allen voran Iran berichten. Berichte wie jene von Engelbert

Kämpfer oder Adam Olearius, der eine schleswig-holsteinische

Gesandtschaft auf Veranlassung Friedrich III. zu Holstein-Gottorp an

den safawidischen Hof begleitete, wurden zu Bestsellern. Dabei

beschreibt Kämpfer, weit mehr als Olearius, zeitgenössische

Ausprägungen der Zwölferschia im 17. Jahrhundert und geht

verschiedentlich auch auf doktrinäre Inhalte ein. Zu der Rolle des

Rechtsgelehrten, des Muğtahid, schreibt Kämpfer:

„Weder die Gunst des Großkönigs noch das Einverständnis der

Geistlichkeit oder der Vornehmen, sondern allein die allmählich

erworbene, auf heiligmäßiges Leben und überlegene Bildung sich

gründende Hochschätzung seitens des ganzen Volkes verhilft ihm zu

dieser hohen Würde. […]“ Und: „[…] nach göttlichem Recht [stehe] dem

Modschtahed als dem höchsten geistlichen Führer die Herrschaft über

die Moslems [zu], während dem Schah nur die Einhaltung und

Ausführung der oberhirtlichen Gutachten obliege. Demnach entscheide

eigentlich der Modschtahed über Krieg und Frieden, ohne seinen Rat

könne nichts Wichtiges in der Herrschaft über die Gläubigen

unternommen werden.“17

Kämpfers vorrangig deskriptive Behandlung der Religionsgelehrsamkeit

konnte noch nicht in dem historischen Konflikt zwischen Uśūlīs und

Aốbārīs angesiedelt werden. Um so interessanter scheinen seine

Beobachtungen im zeitgenössischen Iran, da das 17. Jahrhundert für den

17

Kämpfer/Hinz 1977, S. 130-132.

in der formativen Periode des Islam angelegten Konflikt zwischen

Schriftgebundenheit und eigenständiger, auf der Ratio beruhenden

Entscheidungsfindung erst mit an bestimmte Personen gebundenen

„Schulen“ greifbar wird.18

Abgesehen davon, dass die Ausführungen

Kämpfers oftmals nicht in ein vorhandenes akademisches Wissen von

der Entwicklung der Zwölferschia integriert werden konnten – etwa zum

iğtihād –, standen Beobachtungen zu zeitgenössischen Glaubensformen

auch nicht im Blickfeld der damaligen Orientalistik.

Zu der Safawiden-Dynastie und den Berichten über dieses Reich, die

zumindest theoretisch Voraussetzungen für die Studien zur Zwölferschia

darstellten, kamen im 17. Jahrhundert grundlegende Werke der

arabistischen Philologie: Die „Grammatica Arabica“ von Thomas

Erpenius (1584-1624) im Jahr 1613 sowie das „Lexicon Arabico-

Latinum“ von Jakob Golius (1596-1667); der Züricher Johann Heinrich

Hottinger (1620-1667) verfasste eine Realiensammlung („Historia

Orientalis“).19

Und es war das 17. Jahrhundert, das die ersten

umfassenden Handschriftenkataloge hervorbrachte, die die Grundlage

späterer bio-bibliographischer Werke bildeten und eine zentrale

Informationsquelle der frühen Orientalisten waren.

Eines der wichtigsten Werke für Orientalisten der folgenden

Generation(en) sollte jedoch die „Bibliothèque Orientale“ von B.

d’Herbelot werden.20

D’Herbelot, der etwa zeitgleich zu den Iran-

Reisenden Kämpfer und Olearius lebte, konnte für seine Enzyklopädie

auf einige schiitische Werke zurückgreifen. Diese lagen allerdings nicht

in Deutschland, vielmehr fand er das grundlegende Material für seine

„Bibliothèque“ nach Angabe J. Fücks21

in Florenz, wo er sich ab 1666

für einige Zeit aufhielt.22

Als entscheidendes Merkmal der Schia nennt er

18

Siehe hierzu vor allem Gleave, Robert: Scripturalist Islam. The history and doctrines of the

Akhbārī Shī‛ī school, Leiden und Boston 2007. 19

Irwin 2006, S. 101-104; Fück 1955, S. 59-73, 79-84; zu Hottinger siehe Loop, Jan: Johann

Heinrich Hottinger (1620-1667) und die „Historia Orientalis“, in: Church History and Religious

Culture 88 (2008), S. 169-203. 20

D’Herbelot, Barthélemy de Molainville: Bibliothèque Orientale, ou Dictionnaire Universel

contenant tout ce qui fait connoître les peuples l’Orient, 4 Bde, J. Neaulme & N. van Daalen, La

Haye (Den Haag), 1777 (Bde 1-2), 1778 (Bd. 3), 1779 (Bd. 4). Zu ihm und der französischen

Orientalistik im 17. Jahrhundert siehe die Ausführungen von Martino, Pierre: L’Orient dans la

littérature francaise, Paris 1906, Bd. I, Kap. 5,3. 21

Fück 1955, S. 99. 22

Entscheidende Informationsquelle für d’Herbelots Wissen zur schiitischen Geschichte dürfte

das Werk „Rauỗat aś-Śafā’“ gewesen sein. Ursprünglich von Mīrốwānd (st. 903/1498) begonnen,

führte dessen Enkel Ốwāndāmīr (Ġiyāŧ ad-Dīn b. Humām ad-Dīn Muỏammad; 880/1475-76 bis

942/1536) die Arbeit fort. In seinem Band, „Rauỗat aś-śafā’ fī sīrat al-anbiyā’ wa-l-mulūk wa-l-

ốulafā’“ stellt er den Sieg der Safawiden als einen Triumph des schiitischen Glaubens dar.

(Ốwāndamīr verfasste 1523/24 auch ein weiteres Werk, „Tārīố-i Ỏabīb as-siyar“, zur frühen

Safawidengeschichte.) Ein anderes historisches Werk, das d’Herbelot vorlag, behandelt ebenfalls

unter dem Eintrag „Schiah“ den Glauben an das göttlich legitimierte

Anrecht der Imame, ‛Alīs und seiner Nachkommen auf spirituelle und

weltliche Herrschaft. Sodann teilt er die religiöse Zugehörigkeit den

islamischen Reichen seiner Zeit zu: Die Türken, die Osmanen seien die

Sunniten, die Perser, die Safawiden die Schiiten.23

Derartige ethnische

Zuschreibungen begegnen einem bei einer Reihe von Gelehrten des 19.

Jahrhunderts wieder, die in der Schia ein explizit persisches Phänomen

sehen.

In d’Herbelots Einträgen zur „Schiah“, dem „Imam“ und dem „Mahadi“,

Mahdī, wird deutlich, dass grundlegende genealogische Linien gekannt

werden24

, aber nicht immer klar getrennt und zugeordnet werden können.

Die zwölf Imame nennt er jedoch namentlich.25

Die Mahdī-Erwartung

findet sich bei den „Kessabien“, die wahrscheinlich mit der Ốašabiyya,

einer Untergruppe der Kaysāniyya, identisch sein dürften, sowie bei den

Zwölferschiiten. Im Zusammenhang mit den Zwölferschiiten verweist

d’Herbelot auch auf die zwei Verborgenheiten des 12. Imams, „retraite“,

der Begriff ġaiba wird nicht erwähnt.26

D’Herbelot schließt seinen

Schia-Eintrag mit dem politischen Aspekt der Schia, ihrer Ablehnung

der ersten drei Kalifen Abū Bakr, ‛Umar und ‛Uŧmān, sowie der

umayyadischen und abbasidischen Kalifate. Unter den Umayyaden sei

Ỏusain ermordet worden, und die Abbasiden könnten ihre Abstammung

nicht auf ‛Alī zurückführen.27

Zugleich wird deutlich, dass auch

d’Herbelot noch vielfach von den Ideen einer „extremen Schia“ und der

(fatimidischen) Ismailiyya unterrichtet war. Das mag sich daran zeigen,

dass er der Schia die Konzepte von Metempsychose (tanāsuố) und

Inkarnation (ỏulūl) zuschreibt28

und den Fatimiden einen

vergleichsweise ausführlichen Eintrag widmet.29

Die Kenntnis

d’Herbelots im Bezug auf die Zwölferschia beschränkt sich somit

weitgehend auf drei Komplexe: die Imame und ihren Anspruch auf

die schiitische Geschichte: das auf Anfrage des Safawidenherrschers Šāh Tahmāsp von Yaỏyā b.

‘Abd al-Laţīf verfasste Werk „Lubb-i tawārīố“. Abgesehen von diesen und einigen wenigen

anderen Werken lag d’Herbelot während seiner Forschungszeit an der „Bibliothèque“ auch die

Bibliographie „Kašf aż-Żunūn“ von Ỏāğğī Ốalīfa (Kātib Čelebī, ca. 1599-1658) vor. 23

„Les Persans sont Schiites, & les Turcs sont Sunnites“, (d’Herbelot, Bd. 3, 1778, S. 264.)

24 So die Ỏasan, Ỏusain und Muỏammad b. al-Ỏanafiyya nachfolgenden Linien.

25 D’Herbelot, Bd. 2, 1777, S. 323-326 zum „Imam“, Zitat und Nennung der Imame S. 325.

Dabei gibt er den 10. Imam als „Ali Askeri, fils d’Abou Giâfar, surnommé Al Zek“ an. 26

Eintrag „Schiah“: d’Herbelot, Bd. 3, 1778, S. 265f.; zum „Imam“: Bd. 2, 1777, S. 323-326;

zum „Mahadi“: Bd. 2, 1777, S. 513f. 27

D’Herbelot, Bd. 3, 1778, S. 265. 28

D’Herbelot, Bd. 2, 1777, S. 323-326, Bd. 3, 1778, S. 265. 29

D’Herbelot, Bd. 2, 1777, S. 27-29. Der Eintrag zu den Ismailiten (Ismaelioun, Ismaëliens)

verweist auf die Fatimiden und die iranischen Ismailiten, für die d’Herbelot neben dem Gründer

Ỏasan aś-Śabāỏ sieben weitere Führungspersonen aufzählt. (Ebd., S. 344f.)

weltliche und spirituelle Führung, sowie die Verborgenheit und damit

verbundene messianische Mahdī-Erwartung des 12. Imams und

Muỏammad b. al-Ỏanafiyyas. Entwicklungsprozesse in Fragen der

Theologie und des Rechts behandelt er nicht.

All die genannten Voraussetzungen haben dennoch nicht zu einer

intensiven Beschäftigung mit der Schia im deutschsprachigen Raum

geführt. Zwei Gründe mögen hier entscheidend gewesen sein: Zum einen

war die allgemeine Quellenlage für eine Forschung zur Schia nach wie

vor extrem beschränkt – es gab kaum schiitische Werke, dafür jedoch

anti-schiitisch gefärbte sunnitische firaq-Werke –, zum anderen

verwehrte die ideologische Verortung des Faches das Studium der

islamischen Geschichte und ihres Schrifttums als Ausdruck einer

eigenständigen, sich entwickelnden Kultur im Kontext der

Weltgeschichte.

Insgesamt gesehen gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein original

sprachliche islamische Quellen nur in begrenzter Zahl. Dennoch brachte

das 17. Jahrhundert einen vergleichsweise großen Zuwachs an

Handschriften: Durch die Siege gegen die osmanischen Truppen – 1693

vor Wien, 1686 bei Buda und Ofen und schließlich der Sieg über Sultan

Mehmet IV. bei Mohács, wurden Handschriften erbeutet und einem

eifrigen Buchhändler- und Gelehrtenmarkt eingespeist. Diese sogenannte

Türkenbeute bildet in den meisten deutschen Bibliotheken den

Grundstock ihrer islamischen Handschriftenbestände. Die Tatsache, dass

das Osmanische Reich sunnitisch war, führte zugleich dazu, dass die bei

weitem größte Masse an Handschriften an deutschen Bibliotheken

sunnitisch war. Während man auf diese Weise nach und nach wichtige

Kerntexte des sunnitischen Islam kennen lernte und bearbeitete, war die

schiitische Literatur weitgehend unbekannt, und zwar bis ins 19.

Jahrhundert hinein.

Leipzig, das im 19. Jahrhundert mit Heinrich Leberecht Fleischer

Zentrum der philologischen Arabistik werden sollte, möge für diese

Entwicklungen ab dem 17. Jahrhundert als ein Beispiel dienen:Während

1691 erste orientalische Handschriften von der Ratsbibliothek erstanden

wurden, bildeten vor allem die Nachlässe wichtiger Theologen und

Orientalisten wie August Pfeiffer (1640-1698), Andreas Acoluthus

(1654-1704) und Christoph Wagenseil (1633-1705) den Grundstock der

orientalischen Handschriften der Ratsbibliothek in Leipzig. Zahlreiche

Einträge in diesen Handschriften verweisen auf ihre Provenienz als

Türkenbeute.30

340 Handschriften lagen zu Beginn des 18. Jahrhunderts

in der Ratsbibliothek, und nur eine einzige darunter war schiitisch. Wie

unbekannt die schiitische Literatur noch im 18. Jahrhundert war, zeigt

auch die Tatsache, dass sie oft falsch katalogisiert wurde:

Der Gelehrte Georg Jakob Kehr (1692-1740)31

verfasste einen ersten

Katalog der islamischen Handschriften an der Ratsbibliothek.32

Leider

ist sein Katalog nicht vollständig erhalten, einige wenige

Katalogisierungszettel in Handschriften machen jedoch das Arbeiten von

Kehr deutlich. Kehr konnte diese eine schiitische Handschrift in den

Beständen der Ratsbibliothek nicht zuordnen. Dabei handelt es sich um

eine Abschrift des Werkes „Minhāğ al-karāma fī ma‘rifat al-Imāma“ von

743/1343, dessen Verfasser niemand anderer war als der prominente

‘Allāma al-Ỏillī (gest. 726/1325 n. Chr.). Al-Ỏillī war um 705/130533

an

den Hof des mongolischen Ilốānidenherrscher Ülğāytü Muỏammad

Ốudābanda gegangen und hat wohl zu dessen Konversion zum

Schiitentum beigetragen. Das Werk „Minhāğ al-karāma“ ist Ülğāytü

gewidmet, wie auch auf dem ersten Blatt der Handschrift zu lesen ist.

Die Abhandlungen von al-Ỏillī zum Imamat waren damals den deutschen

Gelehrten unbekannt. Kehr bezeichnet den Verfasser als „Anonymi“,

und noch H.L. Fleischer übernimmt diesen Eintrag in seinem Katalog

von 1838.34

Die Geschichte dieser einen schiitischen Handschrift aus

dem Nachlass des Theologen und Orientalisten Andreas Acoluthus

30

Liebrenz, Boris: Arabische, persische und türkische Handschriften in Leipzig. Geschichte ihrer

Sammlung und Erschließung von den Anfängen bis zu Carl Vollers, (Schriften aus der

Universitätsbibliothek Leipzig 13) Leipzig 2008, S. 12-28, 80-87. 31

Zu Kehr siehe auch Liebrenz 2008, S. 38-55. 32

Vor Kehr hatte der Sinologe Gottfried Siegfried Bayer (1694-1738) im Jahr 1717 versucht, alle

Bestände orientalischer Handschriften zu katalogisieren, neben den arabischen, türkischen und

persischen auch die hebräischen und chinesischen. Wie der detaillierte Katalog von Kehr ist aber

auch der Bayer-Katalog verloren gegangen. 33

Dieses Datum nennt Halm, Heinz: Die Schia, Darmstadt 198, S. 85. S. Schmidtke schreibt, al-

Ỏillī sei ungefähr von 709/1309-10 bis 714/1314-15 oder sogar 716/1316-17 am Hof von

Ülğāytü gewesen. Schmidtke, Sabine: al-‛Allāma al-Ỏillī and Shi‛ite Mu‛tazilite theology, in:

Luft, P. and Turner, C. (eds.): Shi’ism. Critical concepts in Islamic Studies, New York u.a. 2008

Bd. I, S. 151-174 (Datum S. 158). Ebenso in: Schmidtke, S.: The theology of al-‘Allāma al-Ỏillī,

Berlin 1991, wo sie detailliert auf die Datumsangabe eingeht, siehe ebd. S. 26-27. Zu Ỏillī und

anderen schiitischen Gelehrten unter den Mongolen siehe auch: Mazzaoui, Michel M.: Šī’ism

under the Mongols, in Luft/Turner 2008, S. 228-253. 34

Fleischer, H., Delitzsch, F.: Codices Orientalium Linguarum descripserunt H.L. Fleischer et F.

Delitzsch, Grimma 1838 (Neudruck, Osnabrück 1985), S. 475 (CXCV). (Der Katalog war erst

1840 auslieferbar, das Datum 1838 geht auf den Gesamtkatalog von Naumann, Robert (Hrsg.):

Catalogus librorum manuscriptorum qui in Bibliotheca Senatoria Civitatis Lipsiensis asservantur.

Grimma 1838, zurück.). Siehe zu dieser Beschreibung der Handschrift und den Abbildungen

Brinkmann, Stefanie: Zweifach einzigartig: Ein schiitischer Mongolenherrscher und die einzige

schiitische Handschrift in der ehemaligen Leipziger Ratsbibliothek, in: Klemm, Verena (Hrsg.):

Ein Garten im Ärmel. Islamische Buchkultur, Katalog zur Ausstellung in der Bibliotheca

Albertina, 10. Juli-27. September 2008, (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 12),

Leipzig 2008, S. 67f. (Korrektur des Drucks ebd.: 743/1343.)

(1654-1704) – der insgesamt 186 Kodices umfasste –, bleibt aufgrund

fehlender Besitzer- oder Lesereinträge von 743/1343 bis zu dem

Nachlass von Acoluthus in Leipzig zu Beginn des 18. Jahrhunderts im

Dunkeln.35

Ein anderes Beispiel einer falschen Zuschreibung geht noch auf das 19.

Jahrhundert zurück: Wilhelm Ahlwardt verwechselt in seinem Katalog

zu den Berliner Handschriftenbeständen den Verfasser von „Bihār al-

Anwār“, der bekannten Sammlung imamitischer Traditionen aus der

Safawidenzeit, Muỏammad Bāqir al-Mağlisī (gest. 1110/1700), mit dem

(sunnitischen) Ŧa’labī, der die „Qiśaś al-anbiyā’“ verfasst hat.36

Das 18. Jahrhundert:

Die ideologische Verortung der orientalistischen Studien und das

alte Quellenproblem

Zu den wenigen schiitischen Quellen und der Problematik, sie zu

identifizieren und korrekt einzuordnen, kam aber noch etwas Anderes:

Zeitgenössische Berichte, die Glaubensformen in einen konkreten

historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext stellten, waren

nicht gefragt. Es waren vielmehr zwei Diskurse, die die Wissenschaft in

der Auseinandersetzung mit der islamisch geprägten Welt bestimmten:

Der Orient als ein geschichtsloses Konstrukt sowie die Vorstellung eines

linearen Kulturfortschritts, der seine kindliche Form im Orient, seine

erwachsene aber in Europa habe.

Johann David Michaelis (1717-1791) etwa war der Auffassung, dass all

die Theologie nach dem Koran nicht der Beachtung Wert sei. Im

Gegenteil, man müsse sich einzig auf den Koran konzentrieren, wenn

man überhaupt zum Islam forschen möchte.

„Überhaupt ist sie [die Religion des Islam] in so viele Secten zertheilt,

dass man nirgends Hoffung haben kann, ächte Muhammedanische

Religion völlig ohne Zusatz anzutreffen, wenn man nicht selbst zu der

Secte gehört, und wie einer, der wissen will, was christliche Religion ist,

35

Zu den orientalischen Studien im 17. und 18. Jahrhundert in Leipzig, siehe Liebrenz 2008, S.

12-61, 80-86. Preissler, Holger: Orientalische Studien vor Reiske, in: Ebert, H.G. und Hanstein,

Th. (Hrsg.): Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung. Ein Leipziger Byzantinist und

Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert, Leipzig 2005, S. 19-43. 36

Ahlwardt, Wilhelm: Verzeichnis der arabischen Handschriften der Kgl. Bibliothek zu Berlin,

Berlin 1887-1899, Bd. I, S. 409, Nr. 1025, 1026. Zu al-Mağlisī siehe auch Brockelmann, Carl:

Geschichte der arabischen Litteratur (GAL), Leiden, S II, S. 572f. Zu aŧ-Ŧa‘labī GAL, G I, 350

und S I, S. 592; Kaỏỏāla, ‘Umar ar-Riỗā: Mu‘ğam al-mu’allifīn, Beirut o.J., Bd. 2, S. 60f.

nicht das System dieser oder jener Religionspartheyen, sondern die Bibel

lesen muß, so ist das gleiche auch bey der Muhammedanischen Religion

nöthig, und dis um desto mehr, weil der vor Untersuchungen fliehen

müssende Koran nicht so wohl critische, als theologische Ausleger

gehabt hat, die ihm mit erdichteten Histörchen aus der Tradition zu

Hülfe kamen.“ Die Auslegung des Korans sei ausschließlich an der

Frage auszurichten „was Mohammed selbst darin gesagt hat“ und nicht

„was jetzt die Türken oder Persianer aus ihm machen.“37

Die Schia traf eine solche Haltung besonders, galt sie doch als eine

dieser „Secten“, worin man nicht mehr die „wahre Mohammedanische

Religion“ sah.

Scharfe Kritik an solchen Ansätzen kam im 18. Jahrhundert bereits von

Johann Jakob Reiske (1716-1774). Reiske, Arabist und Byzantinist,

widersprach der Stagnationsvorstellung einer „orientalischen Kultur“.38

Es war gerade die stets wirkende islamische Auslegungstradition, die die

dynamische islamische Kultur ausmache. Die „Secten“ sind nach Reiske

nichts Verfälschendes, vielmehr seien sie es, deren Auslegungen es zu

studieren gelte, um die Auslegungstraditionen in ihrem jeweiligen

historischen Kontext zu verstehen:

„Es kömmt nicht darauf an, was für einen Sinn manche Stellen haben

können, der sich auch gar wohl schickete; sondern was für einen Sinn

die Muhammedaner darin finden. Was würden wir zu einem

Muhammedaner sagen, der, ohne unsere Theologie in ihrem weitesten

Umfange zu kennen, eine Uebersetzung vom neuen Testament machete,

und seine philosophische Brühe darüber gösse.“39

Reiskes vorrangiges Interesse an der islamischen Geschichte im Rahmen

der Universalgeschichte führte ihn auch zur Beachtung der Schia. In

seiner Leipziger Antrittsrede und der Prodidagmata des Werkes von

Ỏāğğī Ốalīfa (Kātib Čelebī) stellt er sich sogar hinter den Anspruch

‘Alīs, der eigentlich berechtigte Nachfolger Muhammads zu sein. ‘Al ī

verkörpert für Reiske Gerechtigkeit, Tapferkeit und Stärke, und er

37

Loop, Jan: Kontroverse Bemühungen um den Orient. Johann Jacob Reiske und die deutsche

Orientalistik seiner Zeit, in: Ebert, H.G. und Hanstein, Th. (Hrsg.): Johann Jacob Reiske – Leben

und Wirkung. Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert,

Leipzig 2005, S. 76. 38

Fück 1955, S. 108-124 (zu Reiske); Ebert/ Hanstein (Hrsg.) 2005 (zu den Debatten um

methodische Zugänge seiner Zeit siehe vor allem den Artikel von Jan Loop, S. 45-85.) Liebrenz

2008, S. 56-61. 39

Loop 2005, S. 62.

vergleicht ihn darin mit Marc Aurel.40

Die Frage, aus welchen Quellen

Reiske schöpfen konnte, ist noch nicht im Detail untersucht worden. Für

seine Kenntnisse zur Schia und der schiitischen Geschichte dürften dies

neben Handschriften zur islamischen Geschichte und Geographie, wie

etwa dem Werk von Abū l-Fidā’ (gest. 732/1331), vor allem Bartholomé

d’Herbelots (1625-1695) „Bibliothèque Orientale“ und Ỏāğğī Ốalīfas

(1609-1657) „Kašf aż-żunūn“41

gewesen sein. Arbeiten, die sich

ausdrücklich mit der Schia befassen, hat Reiske jedoch nicht

hinterlassen.

Das 19. Jahrhundert:

Die institutionelle Etablierung der „Orientalistik“,

Handschriftenzuwächse und

neue Fragestellungen

Im 19. Jahrhundert lässt sich eine gewisse Intensivierung der Kontakte

zwischen Deutschland und dem Iran verzeichnen. Allerdings gestaltet en

sich diese Kontakte in der Regel sehr zurückhaltend, da sich

Deutschland unter Bismarck und Wilhelm II. mit

Neutralitätsverpflichtungen Iran gegenüber und Aktivitäten im Iran

zurückhielt, um nicht in den Kampf zwischen England und Russland um

die Vormachtstellung im Iran involviert zu werden.

Das 19. Jahrhundert war hingegen das entscheidende Jahrhundert für die

orientalischen Studien, die sich durch unabhängige, von der Theologie

losgelöste Institute als vorrangig philologische Disziplin etablierten.42

Islamwissenschaftliche Fragestellungen, gar im Hinblick auf die Schia,

finden sich zunächst kaum. Der Durchbruch für eine Forschung zur

Zwölferschia fällt dementsprechend in die Zeit gegen Ende des 19.

Jahrhunderts. Verbunden sind damit, wie mit dem Entstehen

islamwissenschaftlicher Forschung43

überhaupt, vor allem folgende

40

Fück 1955, S. 116. Und in Reiske, J.J.: Prodidagmata ad Hagji Chalifae librum memorialem

rerum a Muhammedanis gestarum exhibentia introductionem generalem in historiam sic dictam

orientalem, erst 1766 in Leipzig von einem Schüler Reiskes, J.B. Koehler, hinter Reiskes

„Abulfedae Tabula Syriae“,S. 215-240, veröffentlicht, 2. Aufl. 1786. Ohne Schlussteil (spätere

Zusätze Reiskes) nochmals abgedruckt in J.G. Meusel’s Neubearbeitung der Struve-Buderschen

Bibliotheca Historica II, 1785, S. 107-204.)

41 Zu Kātib Čelebī Ỏāğğī Ốalīfa siehe GAL, G II, 428, S II, S. 636. Zu d’Herbelot siehe Fück

1955, S. 98ff. 42

Mangold, Sabine: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19.

Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 91ff. 43

Damit sei an dieser Stelle ganz allgemein die Behandlung der islamischen Geschichte als Teil

einer Weltgeschichte und die Untersuchung islamischer Theologie als einer eigenständigen

Theologie in ihrer historischen Entwicklung verstanden. Neben den (kultur-) historisch

Namen: Alfred von Kremer (1828-1889), Julius Wellhausen (1844-

1918), Theodor Nöldeke (1836-1930) sowie – zentral für die

Islamwissenschaft allgemein und die Schia im Besonderen – Ignaz

Goldziher (1850-1921). Die islamische Geschichte sollte fortan als Teil

der Weltgeschichte studiert werden, wie es schon Reiske gefordert hatte.

Auch änderte sich die Quellenlage, denn das 19. Jahrhundert brachte

einen Schub an Handschriftenzuwächsen, die sich deutlich in der

wissenschaftlichen Beschäftigung mit der islamisch geprägten Welt

niederschlugen.44

Im Kontext von Kolonialismus, Besatzung,

diplomatischen Kontakten, vermehrten Reisen und Handelsbeziehungen

kam es zum rechtmäßigen Erwerb und zur unrechtmäßigen Aneignungen

von Handschriften. Aber auch hier gilt: wenig Schiitisches. Ein

Vergleich: Englands Entwicklung im Bereich der Schia-Forschung ist

eng verbunden mit seiner kolonialen Präsenz in Indien, wo schiitische

Handschriften oder Lithographien vor Ort katalogisiert, ediert, übersetzt

oder teilweise nach England gebracht wurden. England war ferner neben

Russland ein wichtiger Akteur in der iranischen Politik des 19.

Jahrhunderts, eine politische Konstellation, die auch praktische

Antworten aus der Wissenschaft, allen voran Sprachkenntnisse und

landeskundliche Kenntnisse, erforderte. Derartige, unter anderem mit

imperialistischen Interessen verbundene Impulse in der Wissenschaft,

bestanden für das Deutsche Reich nicht mit einem regionalen Bezug zu

schiitisch geprägten Räumen.

In der Figur des Tirolers Aloys Sprenger (1813-1893)45

lässt sich jedoch

eine Verbindungsperson zwischen der Erforschung schiitischer Werke

im Kontext der englischen kolonialen Besatzung in Indien und dem

Fortschritt der deutschen Schia-Forschung ausmachen: Aloys Sprenger

verbrachte Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 10 Jahre in Indien46

und

bearbeitete dort eine ganze Reihe den europäischen Forschern

unbekannte Handschriften, die er zum Teil für seine Muỏammad-

arbeitenden von Kremer und Wellhausen und dem weitgehend philologisch arbeitenden Nöldeke,

kann man mit Goldziher die eigentliche Hinwendung zu einer künftigen Islamwissenschaft

sehen. 44

Die Phasen erster großer Erwerbungen bzw. Eingänge orientalischer Handschriften an

deutsche Bibliotheken im 17. Jahrhundert und einer zweiten Phase wichtiger Zugänge im 19

Jahrhundert lässt sich in vielen deutschen Bibliotheken beobachten. Siehe auch Kurio, Hars:

Arabische Handschriften der ‘Bibliotheca orientalis Sprengeriana’ in der Staatsbibliothek

Preussischer Kulturbesitz-Berlin. Historische und quantitative Untersuchungen an der Sammlung

des Islamhistorikers Sprenger (1813-1893): Die Abteilungen Geschichte, Geographie und Ỏadīŧ,

Freiburg im Breisgau 1981, S. 11. 45

Zu ihm siehe Fück 1955, S. 176-179. 46

Sprenger, Aloys: A Catalogue of the Bibliotheca Orientalis Sprengeriana, Giessen 1857, S. III.

Biographie47

verwendete. Es war vor allem während seiner Zeit in

Lucknow (Lakhnau), als Sprenger intensiv mit schiitischen Quellen

arbeiten konnte – Lucknow ist seit dem 18. Jahrhundert ein Zentrum der

Zwölferschia in Indien.48

1853 veröffentlichte Sprenger mit Hilfe eines

indischen Gelehrten eine Bearbeitung des „Fihrist kutub aš -šī’a“ von

Abū Ğa’far Muỏammad b. al-Ỏasan aţ-Ţūsī, Šaiố aţ-Ţā’ifa (gest.

460/1067).49

Auch auf seiner Rückreise erstand Sprenger Handschriften

oder kopierte. 1856 kehrte er nach Europa zurück, und 1858 wurde seine

Sammlung auf Betreiben des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV.

für die Berliner Staatsbibliothek angekauft und bildete fortan die

„Bibliotheca Orientalis Sprengeriana“.50

Sprengers Bearbeitung von

Ţūsī’s Fihrist, die „Tusys list of Shy‘ah Books“, stand Ignaz Goldziher

Ende des 19. Jahrhunderts als eine zentrale Quelle für seine Schia -

Studien zur Verfügung, und er beruft sich in seinen Veröffentlichungen

immer wieder auf sie.

Der im 19. Jahrhundert immer noch sehr beschränkten Masse an

schiitischen Handschriften standen die zahlenmässig häufiger

vorkommenden sunnitischen Handschriften zur Schia gegenüber, allen

voran aus dem Bereich der Häresiographie. Davon ausgehend hatte das

Bild einer sunnitischen Orthodoxie und eines schiitisches Sektierertums

lange Zeit Bestand in der Forschung – bis weit ins 19., und auch noch im

20. Jahrhundert. Zentral waren hier die Werke der firaq-Literatur,

insbesondere „Kitāb al-Milal“ von Ibn Ỏazm (gest. 456/1064) aus dem

11. Jahrhundert und Šahrastānīs (st. 548/1153) „al-Milal wa-n-niỏal“ aus

dem 12. Jahrhundert, das 1850-51 in einer Übersetzung von Th.

Haarbrücker vorlag.51

So bezieht sich Alfred von Kremer in seiner Abhandlung zu „den

religiösen Sekten“ in „Geschichte der herrschenden Ideen des Islams“

von 186852

im Bezug auf schiitische Gruppen vor allem auf Ibn Ỏazm

47

Sprenger, Aloys: Das Leben und die Lehre des Moỏammad nach bisher grösstenteils

unbenutzten Quellen, Berlin 1881-85. 48

Siehe auch Halm, Heinz: Die Schia, Darmstadt 1988, S. 173-175 mit weiteren

Literaturhinweisen. 49

aţ-Ţūsī, Abū Ğa‘far: Tusys List of Shy‘ah Books, ed. Alois Sprenger, Bibliotheca Indica, Old

ser., Fasc. 60, 71, 90, 107, Calcutta: Asiatic Society of Bengal, 1853-1855. 50

Kurio, Hars: Arabische Handschriften der ‘Bibliotheca orientalis Sprengeriana’ in der

Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz-Berlin. Historische und quantitative Untersuchungen

an der Sammlung des Islamhistorikers Sprenger (1813-1893): Die Abteilungen Geschichte,

Geographie und Ỏadīŧ, Freiburg im Breisgau 1981, S. 24. 51

Haarbrücker, Th.: Religionspartheyen und Philosophenschulen, 2 Bde, Halle 1850-51

(Neudruck Wiesbaden 1969). 52

Kremer, Alfred von: Geschichte der herrschenden Ideen des Islams, Leipzig 1868.

und Šahrastānī und er behandelt kein schiitisches Werk. Ferner stechen,

wie wir bereits bei d’Herbelot und anderen gesehen haben, die extremen

Gruppen, wie etwa die Ġulāt hervor, neben Nusairiern, den Drusen und

den Yeziden. Das Zwölferschiitische erschöpft sich in der

Nachfolgefrage im Bezug auf ‘Alī, der Verehrung der Imame – Kremer

nennt sie „Fürsten“ –, und dem Mahdī-Glauben, der aber nur als

messianische Idee kurz genannt wird. Die Vorstellung, dass Göttliches

ganz oder in Teilen auf Menschen übergehen könne, siedelt von Kremer

im buddhistischen Gedankengut Indiens an, von wo aus sie westwärts

gewandert sei und schließlich in Persien einen „günstigen Boden“

gefunden habe.53

Julius Wellhausen legte als Historiker etwas mehr als 30 Jahre nach von

Kremers „Geschichte der herrschenden Ideen des Islams“ im Jahr 1901

sein „Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam“ vor

und behandelt darin die Ốāriğiten und die Schiiten.54

Grundlegendes

Quellenmaterial bildete dabei Abū Ğa’far Muỏamad aţ-Ţabarī (gest.

310/923). Die Schia ist bei Wellhausen jedoch keine Absplitterung mehr,

sondern eine der zahlreichen politischen Gruppierungen zur Frühzeit des

Islam. Als entscheidendes Ereignis für einen Wandel hin zu einer auch

religiösen Gruppierung gibt Wellhausen die Schlacht von Kerbalā’ im

Jahr 61/680 an. Neben einigen Einflüssen iranischer Religionselemente

geht Wellhausen auch von einem Einfluss jüdischer Ideen durch die

Figur des ‘Abd Allāh b. Saba’ und jüdisch-häretischer Kreise aus. Von

zentraler Bedeutung bei der Forschung Wellhausens zur Schia ist jedoch

die Analyse des Wechselspiels von Politik und Religion, das er z.B.

anhand der Spannungen zwischen den Mawālī und der ein Arabertum

propagierenden Umayyadendynastie darstellt.

Doch es wird Ignaz Goldziher (1850-1921) sein, der nicht nur erste

grundlegende Untersuchungen zur Schia vorlegt, sondern auch stets das

Bemühen erkennen lässt, eine Zwölferschia aus ihren eigenen Quellen

heraus zu studieren. Aber auch er sieht sich noch mit einer sehr

53

Kremer 1868, S. 12. Im Kontext der Rassenideologien des 19. Jahrhunderts sahen einige

Gelehrte das Sunnitentum als Repräsentanten eines semitischen Arabertums, und das Schiitentum

als Repräsentanten eines arischen Iran, der sich gegen die semitische Dominanz auflehne. Das

„Ariertum“ der Iraner und die Überlegenheit ihrer Kultur sollte später eine Rolle im

wissenschaftlichen Diskurs unter den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert spielen, siehe

Ellinger, Ekkehard: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Berlin

2006, S. 314-319, 362ff. 54

Wellhausen, Julius: Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam, Berlin 1901.

Zu ihm siehe auch Rudolph, Kurt: Wellhausen als Arabist, Sitzungsbereichte der Sächsischen

Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-Hist. Klasse Bd. 123, Heft 5, Berlin 1983.

bescheidenen Quellenlage konfrontiert, was in seinen Schriften immer

wieder zu unterschiedlichen Äußerungen zur Schia als einer Konfession

(neben dem Sunnitentum) oder aber einer Sekte führt, als religiöser

Gruppierung mit Mittelstufen und gemäßigten Tendenzen oder als

radikaler und fanatischer Partei. Mal spricht er davon, dass sich ein

Schisma im Islam nie wirklich vollzogen habe55

, dann wieder spricht er

vom (schiitischen) Schisma, etwa in seinen „Koranauslegungen“. Doch

bei alldem ist sich Goldziher der Beschränktheit durch mangelhafte

Quellenbestände bewusst. In seinen „Beiträgen zur Literaturgeschichte

der Schia“ von 1874 schreibt er:

„Wir verdanken unsere Kenntnis von der morgenländischen Literatur

solchen Büchersammlungen, welche zumeist den Handschriftenschätzen

und Bibliotheken von Ländern ihren Ursprung verdanken, wo der

Sunnismus die herrschende Confessionsrichtung ist; der Buchhandel und

die Bibliotheken des Orientes werden aber von solch subjectiver

Einseitigkeit beherrscht, dass es wohl zu den Seltenheiten zählen mag,

dass ein sunnitischer Büchersammler ein der gegnerischen Richtung

angehörendes Werk seiner Sammlung einverleiben möchte.“56

Goldziher macht auf drei Gründe für die mangelnde Kenntnis der

schiitischen Literatur aufmerksam: die Zerstörung schiitischer Literatur

vor allem durch sunnitische Umtriebe, das Untergrunddasein

schiitischer Literatur und das Verheimlichen der Religionszugehörigkeit

im Sinne der taqiyya, sowie die dadurch teilweise bedingte Tatsache,

dass nur wenig schiitische Literatur ihren Weg in europäische

Bibliotheken gefunden hat.57

Der beschränkte Zugang zu schiitischem Material wird besonders

deutlich bei Goldzihers Abhandlung zur schiitischen Qur’ānexegese in

den „Richtungen der islamischen Koranauslegung“ von 195258

, wo er die

schiitische Exegese unter dem Kapitel „sektiererische Koranauslegung“

behandelt.59

Er betont eine Umayyaden-feindliche und ‛Alī-freundliche

55

Goldziher, Ignaz: Beiträge zur Literaturgeschichte der Šî‛â und der sunnitischen Polemik, in:

Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften, 78 (1874), S. 439-524 (= Goldziher,

Ignaz: Beiträge zur Literaturgeschichte der Šî‛â und der sunnitischen Polemik, in: Desomogyi,

Joseph (Hrsg.): Ignaz Goldziher. Gesammelte Schriften, Hildesheim 1967-73, Bd. I, S. 261-

346.), S. 282f. 56

Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 264. 57

Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 261f.

58 Goldziher, Ignaz: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1952.

59 Goldziher 1952, S. 263-309.

Deutung des Korantextes, und sagt: „Dies sind Ansätze zu einer bald

üppig in die Halme schiessenden sch ī‘ītischen Parteiexegese. Es ist auf

keinem Gebiete der tendenziösen Koranauslegung in so unersättlicher

Weise und mit solch übertreibenden Resultaten gearbeitet worden als

eben in diesem Kreise.“60

Diese Einschätzung Goldzihers beruht

allerdings zu einem großen Teil auf seinem beschränkten

Quellenmaterial. Von der Existenz einiger schiitischer

Korankommentare und verwandtem Schrifttum weiß er nur aus

Sekundärquellen, konnte sie jedoch nicht oder nur in Teilen für seine

Forschung heranziehen.61

Es war nur ein einziger schiitischer

Kommentar, der ihm als Grundlage für seine Abhandlung zur

schiitischen Exegese diente: das Tafsīrwerk von ‘Alī b. Ibrāhīm al-

Qummī (st. 307/919?)62

, ein früher, deutlich anti-sunnitischer

Kommentar, der über den Vater von al-Qummī eher noch Tendenzen der

„spekulativen Theologie“ zeigt als der später oftmals mu‘tazilitisch

geprägte und mit philologischen Ausführungen und argumentativen

Schlüssen gekennzeichnete Korankommentar. Neben dieser einzigen

zentralen schiitischen Tafsīr-Quelle stehen sunnitische Quellen bei

Goldziher – unter anderem die firaq-Werke von Šahrastānī und Ibn

Ỏazm.

Wie stark jedoch das Interesse Goldzihers an schiitischem Schrifttum

war, zeigt folgende Episode: Von September 1873 bis April 1874 hielt

sich Goldziher in Damaskus auf, wo er Freundschaft schloss mit dem

Damaszener Bibliophilen und Notablen Muśţafā Efendi as-Sibā‘ī. In

einem Brief vom 18. November 1873 (27. Ramaỗān 1290) berichtet er

seinem Lehrer Heinrich Leberecht Fleischer in Leipzig:

„Sodann lassen Sie mich Ihnen über zwei Stücke Bericht erstatten, die

ich ebenfalls in Privatbibliotheken gefunden, und von denen, so viel ich

weiss, bisher weder in europäischen noch auch in orientalischen

Büchersammlungen andere Exemplare nachgewiesen worden sind. Ueber

das erstere will ich hier nur kurz referieren, da das darin Gefundene,

vereinigt mit anderen Materialien, nach meiner Rückkunft in die

60

Goldziher 1952, S. 269f. 61

Goldziher 1952, S. 271, 276-279. 62

Sichere Daten sind nicht überliefert. ‘Alawī Mihr, Ỏusain: Āšnā’ī bā ta’rīố-i tafsīr wa-

mufassirān, Qom 1384, S. 171-175, gibt das Datum 307 d. H. an. Bar-Asher, Meir M.: Scripture

and exegesis in early Imāmī Shiism, Leiden u.a. 1999, geht auf S. 34 auf die Problematik der

unsicheren Datierung ein. Zum Qummī-Kommentar siehe ebd. S. 33-56.

Heimath in einer Abhandlung „Zur Literaturgeschichte der Šî’a

aufzuarbeiten gedenke.“63

Die Handschrift, die Goldziher vorlag, bestand aus drei Werken, dem

„Nahğ al-haqq wa-kašf aś-śidq“, in welcher der Schiit (Ğamāl ad-Din b.

al-Muţahhir) ‘Allāma al-Ỏillī auf Anordnung des Ilốānīdenherrschers

Ülğāytü die Dogmatik des (aš‘arītischen) Sunnitentums kritisierte, der

Polemik des Sunniten Faỗl Allāh b. Rūzbihān b. Faỗl Allāh al-Hanağī

(so nach Goldziher) [al-Ốunğī64

oder al-Ốanğī65

] aus dem Jahr

909/150366

, und drittens einer Antikritik gegen das letztgenannte Werk

von dem Schiiten Nūr Allāh b. Šarīf al-Mar‛aši al-Ỏusainī aus dem Jahr

1014 d. H.67

„Sämmtliche drei Werke haben mir in einer Hdschr. vom

Jahre 1082 vorgelegen, da der dritte Kritiker seinen eigenen Worten stets

den ganzen Wortlaut sowohl seines schi‘itischen Vorgängers als auch

des sunnitischen Polemikers vorangehen lässt. Es liegt demnach in

diesem Buche ein sehr erhebliches Material zur Kenntnis der

Specialitäten des Schi‘ismus vor. Ich habe das Buch lange Zeit in meiner

Wohnung gehabt und es mir durch reiche Excerpte, besonders in

literaturgeschichtlicher Beziehung, nutzbar gemacht.“68

In seinen

„Beiträgen“ von 1874 verweist Goldziher auf weitere Werke al -Ỏillīs,

allerdings ohne das „Minhāğ al-karāma“ zu nennen, und behandelt

schließlich die Werke der ihm vorliegenden Handschrift.69

Goldziher

weist aber auch darauf hin, dass „der Besitzer des schiitischen Werkes ,

dem ich einige nachfolgende Abschnitte zu widmen gedenke, in des

allgemeinen Ansehens sich erfreuender Herr Muśtapha Sbā‘ī in

Damaskus, dieses Werk vor den Augen seiner Freunde auf’s

Sorgfältigste verbirgt, ja selbst mir das Versprechen abgenommen und

nur unter der Bedingung das Buch leihweise zur Verfügung gestellt hat,

63

Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) 28 (1874), S. 161f. 64

So Mazzaoui in Luft/Turner 2008, S. 232. 65

GAL, S 2, S. 272. 66

Titel des Werkes: Ibţāl an-nahğ al-bāţil wa-i‛māl kašf al-‛āţil, siehe GAL, S 2, S. 272. 67

Namensansetzung nach GAL, S 2, S. 207 und 607: Nūrallāh b. as-Saiyid aš-Šarīf al-Mar‛ašī

aš-Šuštarī (st. 1019/1610), Titel des Werkes: Iỏqāq al-ỏaqq wa-izhāq al-bāţil (als Entgegnung auf

Rūzbihāns [Rūzbahāns] „Ibţāl“). Siehe Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 289ff., wo er

zunächst Informationen zu Ülğāytü gibt und schließlich ab S. 291 näher auf das Wirken und

Werk al-Ỏillīs eingeht. Wieder weist Goldziher auf weitere Handschriften dieses Werks „Nahğ

al-ỏaqq“ hin, hier zwei in der Bibliothek des India Office. Siehe auch Mazzaoui in Luft/Turner

2008, S. 232.

68 ZDMG, 28 (1874), S. 161.

69 Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 289ff.

dass ich in Damaskus gegen keinen Muhammedaner erwähne, dass ich

ein solches Buch aus seiner Bibliothek entliehen habe.“70

Goldziher versucht nun in seinen „Beiträgen“ dieses Missverhältnis von

mangelhafter Quellenlage und sunnitischer Polemik kritisch zu

entwirren, wobei er anti-schiitische Polemik in sunnitischer (Traditions-

)literatur untersucht und „Schiitisches“ aus schiitischen Quellen.

Auch für seine 1906 erschienene Abhandlung zur Taqiyya, „Das Prinzip

der taķijja im Islam“71

, verwendet Goldziher vorrangig sunnitische

Literatur, daneben wieder Ţūsīs „Fihrist“ in der Bearbeitung A.

Sprengers, aber hier und da auch schiitische Literatur, die ihm für die

„Beiträge“ noch nicht zugänglich gewesen war, so etwa Kulainīs

(Kulīnī) „Uśūl al-Kāfī“ in der Edition von Bombay 1302. Die Masse der

Information muss Goldziher aber nach wie vor mühsam kritisch aus

vorrangig sunnitischen Werken herauslesen.

Jedoch unternahm Goldziher große Anstrengungen, um das Vorkommen

von schiitischen Handschriften, aber auch von Lithographien oder frühen

Drucken in Erfahrung zu bringen. Im Anschluss an seine „Beiträge“

schreibt er unter „Nachträgliches“: „Vergl. den (eben im Druck

befindlichen) Katalog der arab. Hschr. dieser Bibliothek [des India

Office, Anm. der Verf.], in dessen Aushängebögen mir ein Einblick

durch den Verf. Hrn. Prof. Loth in Leipzig gestattet war. Es ist dort

ersichtlich, dass Ibn al-Muţţahir noch ein anderes theol. Werk im

Auftrage Chudâbende’s arbeitete [sic].“72

Leider konnte Goldziher dieses

Werk damals noch nicht identifizieren – dabei handelt es sich um

„Minhāğ al-karāma fī ma‘rifat al-Imāma“, ein Werk, das seit Beginn des

18. Jahrhunderts durch den Nachlass von Andreas Acoluthus in der

Leipziger Ratsbibliothek (der späteren Stadtbibliothek) schlummerte,

und somit für Goldziher in greifbarer Nähe lag.

Das 20. Jahrhundert: Ein Ausblick

Doch auch wenn die Gelehrten im 19. Jahrhundert und um die

Jahrhundertwende die Voraussetzung für eine Schia-Forschung legten,

und auch wenn fachliche, politische, wirtschaftliche, aber auch

70

Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 264.

71 ZDMG 60 (1906), S. 213-226 (=Desomogyi, Joseph (Hrsg.): Ignaz Goldziher. Gesammelte

Schriften, Hildesheim 1967-73, Bd. V, 1970, S. 59-72.) 72

Goldziher/Desomogyi, Beiträge, 1967, S. 346.

medienrelevante Veränderungen im 20. Jahrhundert ganz neue Kontexte

und Möglichkeiten für die Schia-Forschung bereit stellten, so ist diese in

Deutschland auch im 20. und 21. Jahrhundert eine Randerscheinung

geblieben. Daran änderte auch die institutionelle Etablierung der

Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876-1933) und Martin

Hartmann (1851-1918) kaum etwas. Und die Iranistik – mit der

Safawiden-Dynastie ab 1501 potentiell ein Ort der Studien zur

Zwölferschia – blieb eine vorrangig philologische Disziplin, in der sich

sogar das Neupersische erst seinen Platz in der Wissenschaft um die

Jahrhundertwende sichern musste. Bis heute sind die Schia-Studien

vorrangig in der Islamwissenschaft anzusiedeln.73

Doch selbst diejenigen

Forscher, die sich der Schia im 20. Jahrhundert zuwandten, wie etwa

Heinz Halm, spezialisierten sich selten auf die Zwölferschia.

Dementsprechend ist die Zahl Schia relevanter Publikationen und die

Behandlung von Schia relevanten Themen im Rahmen allgemein

islamwissenschaftlicher Abhandlungen – etwa zum Ỏadīŧ – sehr gering.

Und durch ein ausgesprochen eingeschränktes Lehrangebot zu diesem

Themenbereich an den Universitäten werden zu wenige Anreize für

weitere Forschungen auf diesem Gebiet gestellt.

Eine notwendige Förderung schiitischer Studien an deutschen

Hochschulen sollte jedoch eingebettet sein in die Frage nach der eigenen

Positionierung des Fachs im Spannungsfeld von Wissenschaft,

Gesellschaft und Politik, einem Spannungsfeld, das bis heute zu einem

„Unbehagen in der Islamwissenschaft“ führt.74

Die Anforderungen an

eine Intensivierung schiitischer Studien in Lehre und Forschung müssen

auf inhaltlicher, methodischer und struktureller Ebene diskutiert werden.

Denn die Ausdifferenzierung der methodischen Zugänge im Bereich der

Islamwissenschaft und die Herausforderung einer Interdisziplinarität bei

steigender, auch institutionell verankerter Spezialisierung sind die

Voraussetzungen, in die sich eine Schia-Forschung integrieren muss.

Abgesehen von der Frage nach einer möglichen universitätsinternen

Ansiedlung der Schia-Forschung sollte der Austausch mit schiitischen

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Und so fällt der Eintrag zu den „Iranian Studies in Germany: Islamic Period“, „Religion

(including Islamic law)“ entsprechend kurz aus: Heinz Halm wird als führender Spezialist für die

Schia genannt, neben ihm Abdoljavad Falaturi (‘Abd al-Ğawād al-Falāţūrī) oder Harald

Löschner. Für die moderne Schia werden ab der Gründung der Islamischen Republik Iran Werner

Ende, Bert Fragner und H.R. Roemer genannt, im Bereich des Rechts Silvia Tellenbach.

(Encyclopaedia Iranica, Bd. X, S. 547.)

74 So der Titel eines Buches, das 2008 von Abbas Poya und Maurus Reinkowski herausgegeben

wurde.

Wissenschaftlern ein vorrangiges Ziel sein. In diesem Bereich

universitärer Kooperationen und Projekte böten sich interessante

Perspektiven; leider sind auch derartige Initiativen vergleichsweise

bescheiden in Deutschland. Einzig die internationale Konferenz zur

schia, initiiert von den Schia-Forschern Werner Ende und Rainer

Brunner, die 1999 in Freiburg im Breisgau stattfand und deren Beiträge

in großer Zahl, wenn auch nicht vollständig publiziert wurden, bildet

hier eine nennenswerte Ausnahme.75

75

Brunner, Rainer und Ende, Werner (eds.): The Twelver Shia in Modern Times. Religious

culture & political history, Köln u.a. 2001.