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Einführung in die Gesundheitsökonomie
Prof. Dr. Dieter Ahrens MPHProfessor für Gesundheitsökonomie & -management
Hochschule Aalen – Technik und WirtschaftStudiengang Gesundheitsmanagement
Dieter Ahrens 1
• 48 Jahre
• Kaufmännische Ausbildung
• Studium: Betriebswirtschaft in Einrichtungen des Gesundheitswesens, Fachhochschule Osnabrück
• Studium: Gesundheitswissenschaften und öffentliche Gesundheitsförderung (Public Health), Universität Bielefeld
• Promotion: Dr. P.H. „Technologiebewertung und Public Health“Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften
• 1996-2004: Wissenschaftlicher Mitarbeiter / ab 2001: Hochschulassistent am Lehrstuhl „Management im Gesundheitswesen“, Uni Bielefeld, (Prof. Dr. Bernhard Güntert)
• 04.04 – 08.04 Hochschulassistent an der UMIT, Institut für Management und Ökonomie im Gesundheitswesen, Innsbruck (Prof. Dr. Bernhard Güntert)
• 09.04 – 08.08 FH-Studiengänge Burgenland (Gesundheitsmanagement und Gesundheitsförderung & Management im Gesundheitswesen)
• Seit 09.08 Hochschule Aalen, BA- und MA-Studiengang Gesundheitsmanagement
Dieter Ahrens 2
Kurzvorstellung des Dozenten
Einführung in die Gesundheitsökonomie
Angst vor Kollaps des Gesundheitswesens
Die Zukunftsangst Nr. 1 der Österreicher ist der Zusammenbruch des Gesundheitswesens. Das ergab eine Umfrage (n= 1.180) des Linzer Meinungsforschungsinstituts IMAS
Der Zusammenbruch des Gesundheitswesens – verbunden mit der Schließung von Krankenhäusern und eingeschränkter medizinischer Betreuung wurden von mehr als 80 % der Befragten als absolut unerwünscht bezeichnet
Auch eine Salzburger Studie (n=400) bestätigt dies: nur 32 % der Befragten waren der Auffassung, dass die gesundheitliche Versorgung für die nächsten fünf Jahre auf dem derzeitigen Niveau gesichert sei.
Dieter Ahrens 3
Quelle: apa 15.10.2004
Einführung in die Gesundheitsökonomie
Angst vor Kollaps des Gesundheitswesens
• „Es kracht an allen Ecken und Enden im Gesundheitssystem. Der Spardruckschnürt der Medizin allmählich den Atem ab„
• Die derzeitigen Probleme bei der spitzenmedizinischen Versorgung seien nur "die Spitze des Eisbergs". Tatsächlich ist der viel beschworene Speck im Gesundheitssystem längst weg, auch im niedergelassenen Bereich werden die Spielräume für moderne Diagnose und Therapie immer schmaler
• Brettenthaler mahnt vor diesem Hintergrund zusätzliche Mittel für das Gesundheitssystem ein. Blieben diese aus, sei eine "schleichende Versorgungskrise die logische Folge".
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Quelle: ÖÄK-Präsident Brettenthaler am 18.08.2005
Immer die gleichen Diskussionen
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Was ist Effizienz?
Produkt-name Arzneistoff Indikation Durchschnittl. Lebensverlängerung
Kosten in € pro Behandlung
Tarceva ® Erlotinib Bauchspeicheldrüsenkrebs + 24 Tage 24.000
Vectibix ® Panitumumab Darmkrebs + 35 Tage 42.000
Erbitux ® Certuximab Darmkrebs + 1,2 Monate 50.000
Alimta ® Pemetrexed Lungenkrebs + 1,7 Monate 47.000
Tarceva ® Erlotinib Lungenkrebs + 2,0 Monate 30.000
Avastin ® Bevacizumab Lungenkrebs + 2,0 Monate 70.000
Erbitux ® Cetuximab Krebs im Kopf-/Halsbereich + 2,7 Monate 45.000
Nexavar ® Sorafenib Leberzellkarzinom + 2,8 Monate 58.000
Nexavar ® Sorafenib Nierenzellkarzinom + 3,4 Monate 26.000
Avastin ® Bevacizumab Darmkrebs + 4,4 Monate 26.000
Herceptin ® Trastuzumab Brustkrebs + 4,8 Monate 42.000
Avastin ® Bevacizumab Brustkrebs + 6,6 Monate 67.000
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Übersicht über Wirksamkeit und Kosten verschiedener neuer Krebsmedikamente bei PatientInnen mit metastasierendem Tumor
Wie würden Sie entscheiden?Wild C. & Hinterreiter (2010). Neue Krebsmedikamente – was ist Fortschritt? In: Wild C. et al. (Hg.) Zahlenspiele in der Medizin. Wien, Orac-Verlag
Aktuelle Debatte bei Ihren Freunden…
• „Die Mär vom Gesundheitswettbewerb“ (Andreas Mihm, FAZ, 02.10.08)
„Jetzt, da der Gesundheitsfonds an den Start geht, wird wieder viel zu hören sein. Von einem effizienzsteigernden Wettbewerb, den der Fond stärken soll. Oder von dem kostensenkenden Wettbewerb, der ohne Gesundheitsreform nicht zustande gekommen wäre.“
„Die Effizienz des Systems sei durch eine wettbewerbliche Ausrichtung zu verbessern, hatte sich die Koalition sich selbst mahnend in den Regierungsvertrag geschrieben“.
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Bestandsaufnahme der anderen Freunde
• Schlechte Noten für Schweizer Gesundheitssystem
• Kritischer Bericht von OECD und WHO
• „Das Schweizer Gesundheitswesen ist zu teuer und trotzdem nicht effizienterals dasjenige von Ländern mit tieferen Kosten.“ (NZZ online, 18.10.2006)
• Es dürfte deutlich geworden sein, dass hier nur noch Gesundheitsökonomen helfen können…
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Einführung in die Gesundheitsökonomie
• 08:30 - 10:00: zentrale Begriffe der Gesundheitsökonomie; Geschichte der Gesundheitsökonomie, Ethik und Gesundheitsökonomie, Gesundheitsökonomie heute
• 10:20 - 11:50: Markt und Wettbewerb im Gesundheitswesen
• 13:30 - 15:00 Entwicklung der Gesundheitsausgaben und Beeinflussung der Nachfrage
• 15:30 - 16:30 Von der falschen Nachfragesteuerung zur richtigen Angebotssteuerung, Gesundheitsökonomie und Public Health, (Akteure der Gesundheitsökonomie in Österreich)
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Was ist eigentlich Gesundheitsökonomie?
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Ausgewählte Fragestellungen der Gesundheitsökonomie
• Helfen Zuzahlungen für Arzneimittel oder Praxisgebühren die Inanspruchnahme von Leistungen zu reduzieren?
• Ist der Wettbewerb zwischen Leistungserbringern oder Krankenversicherungen im Gesundheitswesen besser als kein Wettbewerb?
• Ist die jährliche Honorarforderung der Ärzte und Krankenhäuser gerechtfertigt?• Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der durchgeführten OP
und deren Qualität? • Sind öffentliche Krankenhäuser wirtschaftlicher oder private?• Steigen die Gesundheitsausgaben, weil die Behandlungsfälle aufgrund des
demographischen Wandels ansteigen oder weil die Leistungserbringer den Versicherten / Patienten Leistungen anbieten, die sie eigentlich nicht benötigen bzw. die ihnen keinen Nutzen stiften?
• Ist das Gesundheitssystem Großbritanniens das „beste der Welt“ oder das System in Deutschland, oder der Niederlande?
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Ökonomik und/oder Gesundheitsökonomik
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Gesundheitsökonomik
• Maximierung des Eigennutzens ?
• Konkurrenz ?
• Koordination über Geld/Preis ?
• „homo oeconomicus“, ökonomische Rationalität ?
• Kurzfristigkeit ?
Ökonomische Rationalität bedeutet, dass Menschen in jeder Situation vollständig informiert sind, alle Entscheidungsalternativen hinsichtlich der Konsequenzen ihrer Entscheidungen (Nutzen) beurteilen können und sich dann „vernünftig“ entscheiden, um den maximal zu erzielenden Nutzen zu erreichen
Ökonomik und/oder Gesundheitsökonomik
Die Entwicklung der Ökonomik
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Marktökonomik (Methodologischer Individualismus, homo oeconomicus)
Institutionenökonomik (Individuen handeln in Institutionen entsprechend vorgegebener „Spielregeln“)
Psycho-Ökonomik (Überprüfung des menschlichen Verhaltens durch psychologische Experimente, vgl. Fehr. Die psychologischen Grundlagen der Ökonomie. Zürich 2002)
Neuroökonomik (Überprüfung des menschlichen Verhaltens durch neurowissenschaftliche Experimente, z.B. Koschnick. Neuroökonomie, Neuromarketing und Neuromarktforschung. Focus-Jahrbuch 2007
Lesetipp: Ariely. Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Droemer, 2008
Zwischenstopp:
• Offenbar gibt’s in der Gesundheitsökonomie immer wieder kehrende Begriffe:
• Kosten• Ausgaben• Ressourcen• Nutzen• Bedürfnisse / Bedarf• Markt• Wettbewerb• Rationale Entscheidungen• Effizienz• …
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Kurzer Einblick in die Wirtschaftswissenschaften
• Die Erklärung und Beschreibung der wirtschaftlichen Vorgänge ist die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften, die sich in die beiden Disziplinen „Volkswirtschaftslehre“ und „Betriebswirtschaftslehre“ gliedern
• Volkswirtschaftslehre (auch: Nationalökonomie): nationale und internationale gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge; „Steuerung“ knapper Güter
• Betriebswirtschaftslehre: Bewirtschaftung knapper Güter in kleineren Einheiten (Betriebe bzw. Unternehmen)
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Kurzer Einblick in die Wirtschaftswissenschaften
• In der Betriebswirtschaftslehre geht es um die optimale Kombination von Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden, Kapital) bei der Erstellung von Konsumgütern, Investitionsgütern und Dienstleistungen
• Das zentrale Ziel in der Betriebswirtschaftslehre in der heutigen Lehre ist die Gewinnmaximierung
• Derzeitiges „Problem“ der Wirtschaftswissenschaften: Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Verluste
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Einführung in die Gesundheitsökonomie
• Zwei zentrale Ziele der Gesundheitsökonomie
• Effizienz
• Verteilungsfragen / Gerechtigkeit
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Reinhardt, U. 1992.“Reflections on the Meaning of Efficiency: Can Efficiency be separated from Equity?”Yale Law and Policy Review. Vol. 10(2): 302-15.
Zwei gesundheitsökonomische „Schulen“ (Lehrmeinungen):Neoklassische Gesundheitsökonomie –Orientierung an freien Märkten„soziale“ Gesundheitsökonomie –Orientierung an gesellschaftlichen Werten
Die Bedeutung der Märkte in der Geschichte
Grundlagen der (politischen) Ökonomie –welche Rolle soll der Markt in der Gesellschaft spielen?
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Wirtschaftsliberale (neoliberale)Konzeption
Republikanisch-liberale Konzeption
Konzept der Person
Mensch als präsoziales Wesen (sozial desinteressierter Eigennutzenmaximierer) „Ich rechne, also bin ich“
Mensch als soziales Wesen (legitimitäts- und selbst interessiert) „Ich fühle Sympathie, also bin ich“
Freiheits-begriff
Bedingtes wechselseitiges Interesseprimär negative Freiheit (Unantastbarkeit der Privatautonomie gegen Ansprüche anderer: Abwehrrechte)
Unbedingte wechselseitige Achtung und Anerkennungprimär positive Freiheit (öffentlicher Vernunftsgebrauch unter mündigen Bürgern: Beteiligungsrechte
Konzept des Bürgers
Besitzbürger: „Ich habe Privateigentum, also bin ich“
Staatsbürger: „Ich partizipiere an der Republik, also bin ich“
Modus der Vergesell-schaftung
Vorteilsaustausch (macht und interessensbasiert) – Gesellschaft als Marktzusammenhang
Gleiche allgemeine Bürgerrechte (gerechtigskeitsbasiert) – Gesellschaft als Rechts- und Solidarzusammenhang
Wirtschafts-ordnung
„freie“ Marktwirtschaft (entgrenzt und entfesselt) – totale Marktgesellschaft
Soziale Marktwirtschaft (embedded economy)– lebensdienliche Marktwirtschaft
Thiele & Güntert 2014: 5
Einführung in die Gesundheitsökonomie
• Zwei zentrale Ziele der Gesundheitsökonomie
• Was ist Effizienz?
• Das optimale Verhältnis von Ertrag und Aufwand…
• Was ist Ertrag?
• Zielerreichungsgrad • Wirksamkeit• Präferenz• …
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Was ist Effizienz?
www.schoenheitsgebot.de
Was ist Effizienz?
Hier werden alle gleich (schlecht) behandelt…
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Einführung in die Gesundheitsökonomie
• Was ist Effizienz? Städtisches Krankenhaus, oder….
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Einführung in die Gesundheitsökonomie
• Was ist Effizienz?
• Sie möchten von Graz nach Paris reisen…
• und viel Gepäck mitnehmen…
• und möglichst viel Zeit vor Ort verbringen…
• und möglichst wenig Geld ausgeben…
• und während des Aufenthalts möglichst mobil sein…
• und die Umwelt möglichst wenig belasten…
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in Anlehnung an Uwe Reinhardt 2004
Einführung in die Gesundheitsökonomie
• Zwei zentrale Ziele der Gesundheitsökonomie• 1. Effizienz• 2. Verteilungsfragen / Gerechtigkeit
• Verteilung von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft
• Verteilung von Bildung in einer Gesellschaft
• Verteilung von Gesundheit in einer Gesellschaft
• Verteilung von Chancen in einer Gesellschaft
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Einführung in die Gesundheitsökonomie
„Geschichte“
• Geburtsstunde der Gesundheitsökonomie: Artikel „Uncertainty and the welfareeconomics of medical care“ von Kenneth Arrow 1963
• Charakterisierung der Unsicherheit als herausragendem Bestimmungsfaktor von Entscheidungen, der Marktstruktur und von Institutionen in der Gesundheitsversorgung
• „...the failure of the market to insure against uncertainties has created manysocial institutions in which the usual assumptions are to some extendcontradicted. ... The logic and limitations of ideal behavior under uncertaintyenforce us to recognize the incomplete discription of reality supplied by theimpersonal price system.“ (Arrow, 1963, p. 967)
• Plädoyer für eine soziale Krankenversicherung
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Einführung in die Gesundheitsökonomie
„Geschichte“
• Arrow‘s Plädoyer für eine soziale Krankenversicherung wurde von Kenneth Pauly (1968) aufgegriffen, in dem er die „Folgen“ der sozialen Krankenversicherung skizzierte und hier vor allem auf das „Problem Moral Hazard“ hinwies
• In der Folge entstand eine lange anhaltende Diskussion über die Vor- und Nachteile von sozialen Krankenversicherungen, die bis heute anhält
• Einerseits allgemeine Absicherung von Krankheitsrisiken zum Nutzen der Gesamtgesellschaft
• Andererseits „Ausnutzen“ des Versicherungssystems (Moral Hazard)
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Einführung in die Gesundheitsökonomie
„Geschichte“
• Andere Autoren nennen andere „Geburtsstunden“:
• Publikationen der American Economic Association 1951
• „Economics of medical care“
• Verbreitung der Angebotsstrukturen
• Bereits 1944 existierte an der University of Michigan ein Büro „Public HealthEconomics“ (Institutspublikationen)
• Zeitschriftenthemen: staatliche Gesundheitsprogramme, Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens und der Krankenhausleistungen
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Leidl 1994, Ahrens 2005
Einführung in die Gesundheitsökonomie
• Geschichte der Gesundheitsökonomie im deutschsprachigen Raum…?
• Anfang der 70er Jahre: Diskussionen über Kostenexplosion und Kostendämpfung• 1978: Erste Gesundheitsökonomie-Konferenz in Deutschland
• 1992: Erste nachvollziehbare Einflüsse von Gesundheitsökonomen auf die Gesetzgebung in D: Kostendämpfung und Budgetierung
• Zwei disziplinäre Wurzeln der Gesundheitsökonomie:• Wirtschaftswissenschaften: Volkswirtschafts- bzw. Betriebswirtschaftslehre• Sozialmedizin und Gesundheitswissenschaften
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Schulenburg 2008
Einführung in die Gesundheitsökonomie• Zwischenzeitlich kann man die Gesundheitsökonomie als etabliertes Fach
bezeichnen, das sich auch schon bereits in verschiedene Teilgebiete ausdifferenziert hat.
• Zu nennen sind hier als Subdisziplinen z. B. • die mikroökonomisch basierte Entscheidungstheorie, welche sich u. a. mit dem Verhalten
von Versicherten, Ärzten und Krankenversicherungen beschäftigt, • die ökonomische Evaluationsforschung und Pharmakoökonomie, • die betriebswirtschaftlich orientierte Krankenhausökonomie und • die mit der Versorgungsforschung und der Public Health Forschung verwandte
ökonomische Gesundheitssystemforschung.
• Insbesondere die gesundheitsökonomische Evaluationsforschung hat in den letzten Jahren an Bedeutung hinzugewonnen
• Institutionen, wie z.B. das englische NICE, das deutsche IQWiG und das Österreichische GÖG, wurden gegründet, welche u.a. zur Aufgabe haben, die Nutzen und Kosten von medizinischen Leistungen zu evaluieren
• immer häufiger wird die Frage gestellt, ob die zusätzlichen Kosten von z.B. innovativen Arzneimitteln durch deren zusätzliche Nutzen gerechtfertigt sind.
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Ethische Betrachtungen in der Gesundheitsökonomik
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Fallstudie Ethik in der Gesundheitsökonomie
Allokation knapper Ressourcen• Sie sind AssistentIn der Ethik-Kommission des Klinikums Graz. Zu Ihren
Aufgaben gehört es, Entscheidungen der Ethik-Kommission vorzubereiten. Die Ethik-Kommission wird regelmäßig angefragt, z.B. bei Fragen der Zulassung von Studien oder insbesondere auch bei Fragen der Zuteilung knapper Ressourcen, hier insbesondere Spenderorgane.
• Aufgrund eines schweren Verkehrsunfalls in der Nähe stehen verschiedene Spenderorgane zur Verfügung, u.a. auch eine Leber.
• Zur Vereinfachung der Fallstudie bleiben nationale und internationale „Spielregeln“ der Organtransplantation hier unbeachtet. Es gibt keine europäischen Melderegister und auch keine Wartelisten, sondern jedes Krankenhaus bzw. jede Region versucht, dieses Rationierungsproblem bestmöglich zu lösen.
• Aus den verschiedenen Abteilungen des Krankenhauses werden vier Bedarfsfälle gemeldet, die für eine Transplantation der Leber infrage kämen. Die medizinischen Untersuchungen haben ergeben, dass alle vier Patienten die Voraussetzungen für die Organtransplantation erfüllen.
Dieter Ahrens 32
Fallstudie Rationierung
• Fall A: Bei der Patientin A handelt es sich um ein 10-jähriges Mädchen, das aufgrund einer unklaren Hepatitis-Infektion ein starkes Leberleiden bekommen hat. Das Organ des Mädchens ist schwer beeinträchtigt und sie benötigt dringend eine neue Leber.
• Fall B: Der Patient B ist 45 Jahre alt und seit etwa zehn Jahren arbeitslos. Die genauen Ursachen seines Leberleidens sind nicht vollständig bekannt. Die behandelnden Ärzte vermuten aber übermäßigen Drogen-konsum als Teilursache. Auch hier ist höchste Dringlichkeit angezeigt.
• Fall C: Die Patientin C ist ebenfalls 45 Jahre alt und Mutter dreier Kinder im Alter von 10, 12 und 15 Jahren. Bei ihr ist das Leberversagen ebenfalls auf eine Hepatitis-Infektion zurückzuführen, die sie nach eigenen Angaben im Krankenhaus erlitten hat. Genauere Untersuchungen zur Ursache der Infektion stehen noch an.
• Fall D: Patient D ist ein angesehener Unternehmer in der Steiermark, 50 Jahre alt, und Inhaber und Geschäftsführer eines großen Unternehmens mit etwa 400 Beschäftigten. Er verfügt über ganz spezifisches Wissen der Biotechnologie. Seit seiner Erkrankung ist die wirtschaftliche Entwicklung seines Unternehmens beeinträchtigt. Die Leberzirrhose ist unklaren Ursprungs und auch dieser Patient benötigt dingend ein neues Organ.
Aufgabe:• Diskutieren Sie eine mögliche Rangfolge der PatientInnen und formulieren Sie einen
begründeten Lösungsvorschlag.• Welche weiteren Verfahren der Rationierung wären denkbar und sinnvoll?
Dieter Ahrens33
Umgang mit knappen Ressourcen
Dieter Ahrens 34
Hagen Kühn 1991
Umgang mit knappen Ressourcen
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Hagen Kühn 1991
Umgang mit knappen Ressourcen
Behandlungs-maßnahme
Erwarteter Nettonutzen der Behandlung
Erwartete Dauer des Nutzens (J)
Kosten ($)
Prioritäts-grad
Prioritäts-rang
Zahnkrone 0,08 4 38,10 117,6 371Behandlung einer ektopen Schwangerschaft
0,71 48 4015 117,8 372
Kiefergelenks-schienen
0,16 5 98,51 122,2 376
Entfernung des Blinddarms
0,97 48 5744 122,5 377
Prioritätsgrad =
Erwarteter Nutzen × Dauer des Nutzens
Kosten der Behandlungsmaßnahme
Dieter Ahrens 36
Beispiel: Erste Prioritätenliste des Oregon Health Plan 1989
Marckmann 2006
Lebenserwartung nach monatlichem Bruttoeinkommen (Euro) in Deutschland
71.1
75.576.5
77.880
78.4
83.585
8687.2
70
75
80
85
90
<1500 1500-2500 2500-3500 3500-4500 >4500
Männer Frauen
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IGKE 2006
Eine weitere Frage der Ethik: Müssen Arme früher sterben?
…sie müssten vielleicht nicht, aber sie tuns…
Ethische Fragen in der Gesundheitsökonomik
• Ethische Fragen in der Mittelaufbringung• z.B. sollen Menschen in Österreich pro Kopf die gleichen Beiträge zahlen oder
im Verhältnis zu ihren jeweiligen Einkommen?• z.B. sollen nur Einkommen aus abhängiger Beschäftigung einbezogen werden
oder auch Einkommen aus anderen Quellen (Vermietung, Kapital usw.)?
• Ethische Fragen in der Mittelverwendung• z.B. sollen alle Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Berufsstatus,
Krankenversicherung usw. die gleichen Gesundheitsleistungen erhalten oder sind bestimmte Menschen zu bevorzugen?
• Ist es vertretbar, dass Menschen aus der obersten Sozialschicht in Österreich etwa zehn Jahre länger leben als Menschen aus der untersten Sozialschicht?
• z.B. wie ist zu entscheiden, wenn gesundheitsbezogene Interventionen sowohl erwünschte als auch unerwünschte Wirkungen aufweisen?
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Reflexdimensionen der Medizinethik für Ärzte und Manager
Dieter Ahrens39
Was darf und soll geschehen, damit Krankheiten geheilt und Leiden gelindert werden?
Was soll geschehen, weil es gut ist?
ManagerIst mein Verhalten moralisch vertretbar?Unterstützt mein Verhalten die medizinethische Dimension ärztlichen Handelns?Was ist ethisch in der Medizin zu rechtfertigen?Bis zu welchem Grad habe ich die Pflicht, mich für die Realisierung einzusetzen?
ArztIst mein Handeln moralisch vertretbar?Was ist ethisch in der Medizin zu rechtfertigen?Unterstützt mein Handeln die wirtschaftsethische Dimension?Sind die Mittel zur Durchsetzung legitim?
Legitimität Legalität
Effizienz
Wie ist zu handeln, damit rechts-staatliche Normen eingehalten werden?
ManagerIst mein Managementhandeln legal?
ManagerIst mein Managementhandeln wirtschaftlich sinnvoll?
ArztIst mein ärztliches Handeln wirtschaftlich sinnvoll?
ArztIst mein ärztliches Handeln legal?
Heinemann & Miggelbrink 2012: 111
Ethische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften
Was ist Ethik?
• Prinzipien der Medizin-Ethik
• Die persönliche Selbstbestimmung des Einzelnen achten und schützen (respect for autonomy) und
• nach größtmöglichem Nutzen (beneficence),
• geringstem Schaden (non-maleficence) sowie nach
• Gerechtigkeit (justice) streben(Beauchamp & Childress 1994. Principles of Medical Ethics)
Dieter Ahrens 40
Bittner & Heller 2012. Ethik in den Gesundheitswissenschaften. In: Hurrelmann et al. (Hg.). Handbuch Gesundheitswissenschaften. Weinheim, Juventa
Ethische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften
Was ist Ethik?
• Medizin-Ethik versus Public Health-Ethik
• Aufgrund der unterschiedlichen Handlungssituationen ergeben sich unterschiedliche ethische Implikationen
• Die Nutzen-Schaden-Abwägung ist aufgrund der Tatsache, dass wir nur sehr wenig über den Nutzen gesundheitsbezogener Interventionen wissen in der Medizin-Ethik relativ
• Der behandelnde Arzt ist zur Behandlung verpflichtet, nicht zuletzt deshalb, weil der Patient dies wünscht
Dieter Ahrens 41
Ahrens 2004. Prioritätensetzung im Gesundheitswesen… In: Ahrens & Güntert. Gesundheitsökonomie und Gesundheitsförderung. Baden Baden, Nomos
Zum Problem der „Nutzen-Schaden-Abwägung“Exkurs: Verteilung von „Evidenz“ und „Konsens“ für Gesundheitsleistungen
Evidenz: Umfang und Qualität vorhandener NachweiseKonsens: Grad der Übereinstimmung unter Experten
• Nur etwa 4 % aller Leistungen, die täglich erbracht werden, genügen dem Anspruch auf belastbare Evidenz
• Etwa 45 % liegen im „Mittelfeld“, d.h. entweder ist die Qualität der Nachweise nur schwach gegeben oder aber es herrscht Uneinigkeit unter den Experten
• Für ca. 51 % der erbrachten Leistungen fehlt jeglicher wissenschaftlicher Nachweis im engeren Sinne, d.h. durch qualitativ hochwertige Studien belegt
• Andere Schätzungen beziffern den Anteil „harter Evidenz“ auf 4 – 20 %• Studienergebnisse variieren je nach Fachgebiet bzw. Intervention zwischen 11
(Kinderchirurgie) und 82 % (Laparoskopie)
Quelle: Field & Lohr; Insitute of Medicine USA (1992), Neises & Windeler, ZaeFQ 2001, 95-104Booth 2002. www.shef.ac.uk/~scharr/ir/percent.html
Dieter Ahrens 42
Welche gesundheitsbezogenen Interventionen sind wirksam, unwirksam, gefährlich…?
Dieter Ahrens43
Maynard 2012
• 2. Teil: Der Gesundheitsmarkt
Dieter Ahrens 44
Dieter Ahrens45
Der klassische Gesundheitsmarkt
Payer Provider
Patient
Dieter Ahrens46
Entscheid Kosten
Nutzen
Health Professionals
Kranken-versicherung
Patienten / Angehörige
Der Markt im Gesundheitswesen (Sozialversicherungssystem)
Güntert 2004
Das Problem, wenn es drei Beteiligte gibt…
Dieter Ahrens47
Dieter Ahrens 48
Meine Hausärztin hat mir erzählt, dass sie nun mit meiner Krankenkasse einen Selektivvertrag abgeschlossen hat. Die Versicherungen wollen doch nur Geld sparen...
Dieter Ahrens49
Märkte und Akteure im Gesundheitswesen (Sozialversicherungssystem)
Kranken-versicherung
Bevölkerung/Patienten
Leistungsanbieter(Krankenhäuser u.a.)
Leistungsmarkt
Experten-markt
Krankenversicherungs-markt
Güntert 2004
Vom theoretischen zum tatsächlichen Gesundheitsmarkt:Primär- und Sekundärnachfrage
Verordnung von Leistungen (Arzneimittel, Krankenhaus, Reha, Pflege)
Dieter Ahrens50
Nachfrager• niedergelassene Ärzte
• andere Leistungsanbieter
Anbieter• niedergel. Ärzte• Pflegeeinrichtungen• Krankenhäuser• Reha-Kliniken• etc.
Leistungseinkäufer• Krankenversicherungen• Staatu.a.
VersicherteSteuern, Beiträge
GesundheitsleistungenNachfrager• Patienten
Sekundärnachfrage ist für ca. 80 % der Gesundheitsausgaben verantwortlich
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
• Im Gesundheitswesen geht es, wie in anderen Bereichen einer Volkswirtschaft auch, um die Produktion, den Konsum und den Austausch von Gütern
• Die Frage ist, wie der Austausch zu organisieren ist, wie dafür zu sorgen ist, welche Leistungen wann an welche Patienten kommen und wie viel dafür zu zahlen ist
• Eine nahe liegende Antwort wäre, wie in anderen Sektoren auch, über den Markt
• Erstaunlicherweise gibt es in keiner entwickelten Industrienation einen reinen Markt im Gesundheitswesen
• Was könnte der Grund dafür sein?
Dieter Ahrens 51
Markttheorie
Voraussetzungen für einen funktionierenden Markt:
• Viele Anbieter und viele Nachfrager, so dass niemand den Markt beherrschen kann
• Keine Zugangsbeschränkungen
• Vollkommene Transparenz• Alle Marktteilnehmer sind über Preise und Qualität der Produkte vollständig
informiert
• Unabhängigkeit der Anbieter und Nachfrager• Kosten und Nutzen fallen nur bei Verkäufern und Käufern an und nicht bei
Dritten• Keine Transaktionskosten (Marktzugangskosten, Informationskosten)
Dieter Ahrens52
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Hajen et al. 2004
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Die Bedeutung der Unsicherheit
• Sowohl auf Krankenversicherungs- als auch Leistungserbringer-Märkten herrscht Unsicherheit
• Unbestimmtheit des Versicherungs-Vertrages: Einerseits unvermeidliches Risiko der Erkrankung, andererseits ein gewisse Abhängigkeit vom Verhalten des Versicherten (ABER: keine exakten Kausalketten für Krankheit)
• Individuen können Krankheit weder vorhersehen noch kalkulieren, d.h. sie würden sich immer zu niedrig, zu hoch oder gar nicht versichern
• Krankenversicherer wissen wenig über das individuelle Krankheitsrisiko• Zwar können sie aufgrund von Risikoprofilen
Erkrankungswahrscheinlichkeiten ermitteln, dies reicht allerdings nicht aus, um individuelle Versicherungsverträge zu kalkulieren
Dieter Ahrens53
Hajen et al. 2004
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Die Bedeutung der Unsicherheit / Adverse Selektion
• Auf „freien“ Krankenversicherungsmärkten würden Versicherungen zunächst allen Versicherten eine Krankenversicherung anbieten
• Versicherte, die glauben, ein sehr geringes Erkrankungsrisiko zu haben, würden sich allerdings nicht versichern, was die Kosten (und die Prämien) für die Versicherung aufgrund der fehlenden Risikomischung erhöhen würde
• Dies führt zu weiteren Nicht-Versicherten, denen die Prämie zu hoch erscheint• Zudem würden Krankenversicherer Personen ab einem bestimmten Alter oder
mit bekannten Risikofaktoren (Bluthochdruck, Diabetes usw.) keine Krankenversicherung bzw. eine Versicherung mit sehr hohen Prämien anbieten
Dieter Ahrens54
Hajen et al. 2004
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Die Bedeutung der Unsicherheit / Moral Hazard
• Arrow u.a. plädieren für die Einführung bzw. Beibehaltung der Krankenversicherungspflicht, um die negativen Auswirkungen des Wettbewerbs um „gesunde Risiken“ zu vermeiden
• Andere Gesundheitsökonomen (z.B. Pauly) weisen auf zwei negative Aspekte der Krankenversicherung hin. (moralisches Risiko)
• Patienten würden mehr Leistungen in Anspruch nehmen, als sie tatsächlich benötigen.
• Versicherten fehle zudem jeglicher Anreiz zu „gesundheitsbewusstem Verhalten“, da sie die finanziellen Folgen des Verhalten nicht tragen müssten
Dieter Ahrens55
Hajen et al. 2004
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Die Bedeutung der Unsicherheit
• Unsicherheit auf Leistungserbringer-Märkten
• Patienten sind gezwungen, im Falle von Krankheit, auf die positiven Effekte von Interventionen zu vertrauen, da sie selbst im Regelfall keine Erfahrungen haben und jede Intervention nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit positive Effekte zeigt
• Ohne Krankenversicherung wären sie also gezwungen, für Leistungen einen Preis zu zahlen, deren Nutzen für sie nur wahrscheinlich ist
Dieter Ahrens56
Hajen et al. 2004
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Exkurs: Verschiedene Güterarten
• Search goods: wesentliche Eigenschaften des Gutes erschließen sich durch unmittelbare Anschauung bzw. sind nach dem Konsum bekannt (z.B. CD-Player, Heftpflaster)
• Experience goods: Eigenschaften des Gutes können nach dem Kauf erfahren werden (z.B. Restaurantessen am Urlaubsort, Antibiotika)
Bei erneutem Konsum reduziert sich das Informationsdefizit
• Credence goods: Qualität der Leistung kann durch den Käufer erst nach dem Kauf oder erst viel später beurteilt werden (z.B. Nahrungsergänzungsmittel, Immobilienfond, Blutdruckbehandlung, Präventionsleistungen)
Dieter Ahrens57
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Wettbewerbs- und MarktversagenInformationsasymmetrien• Ärztliche Leistungen sind i.d.R. credence goods, vor allem
• wenn es sich um erstmalige und seltene Erkrankungen handelt• das Krankheitsbild sehr komplex ist• Therapien überdurchschnittlich auf das Individuum abgestimmt werden
müssen, Erfahrungen anderer Patienten also wenig informativ sind• wenn der Arzt-Patienten-Kontakt erstmalig stattfindet, Erfahrungswerte hier
ebenso fehlen• wenn der Erfolg der Leistungserbringung erst nach längerer Zeit eintritt
(insbesondere Präventionsleistungen)• wenn unerwünschte Wirkungen nicht unmittelbar spürbar sind• wenn Therapiekonzepte sehr neu sind• wenn Angebotsvergleiche zeitlich problematisch sind
Dieter Ahrens58Hajen et al. 2000
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
Wettbewerbs- und Marktversagen
• Informationsasymmetrien
• Patienten geben oft die Entscheidungssouveränität ab, weil sie Angst vor Fehlentscheidungen haben
• Second-opinion-Programme helfen nur teilweise, insbesondere dann nicht, wenn die Zweitmeinung von der ersten abweicht
• Umgekehrt gibt es auch Informationsasymmetrien:• Patient verschweigt wichtige Informationen• Arzt kann nicht überblicken, ob Patient die Therapieempfehlung
einhält
Dieter Ahrens59
Hajen et al. 2000
Wettbewerbs- und Marktversagen?
• Externe Effekte und öffentliche Güter• Aktivität eines Individuums, einer Institution hat positive bzw. negative
Einflüsse auf andere Individuen, für die diese kein Entgelt zahlen bzw. bekommen
• Positiv: z.B. Schutzimpfungen, Hygienemaßnahmen
• Negativ: z.B. Umweltverschmutzung zum eigenen Nutzen aber zu Lasten der Gesellschaft
• Medizin als Erfahrungswissenschaft: jeder behandelte Patient erhöht das „Wissen“ der Therapeuten und erhöht somit den Nutzen für zukünftige Patienten
• Wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten zur Grundversorgung der Bevölkerung (Vorhaltung bestimmter Kapazitäten, Wasserversorgung, Luftreinhaltung)
Dieter Ahrens60
Hajen et al. 2004, Rice 2004
Was nun?
Dieter Ahrens 61
Markt & Wettbewerb im Gesundheitswesen
3. Teil: Entwicklung der Gesundheitsausgaben
• Gruppenarbeit: Entwicklung der Gesundheitsausgaben
Dieter Ahrens 62
Gesundheitsausgaben im Vergleich
Dieter Ahrens63
Quelle: OECD Health Data 2003, Hofmarcher & Rack: European Observatory 2006
Ausgaben in % BIP Ausgaben pro Kopf US$Land 1990 1995 2003 1990 1995 2000 2003Österreich 7,1 8,6 9,6 1.204 1.831 2.233 2.951 Deutschland 8,5 10,6 10,9 1.600 2.263 2.780 2.817Schweiz 8,0 10,0 11,2 1.836 2.555 3.160 3.446Niederlande 8,0 8,4 8,8 1.333 1.787 2.348 2.564Großbritann. 6,0 7,0 7,7 977 1.330 1.813 2.160USA 11,9 13,3 14,1 2.738 3.654 4.540 4.995Schweden 8,2 8,1 9,2 1.492 1.680 2.195 2.512
Sind Gesundheitsausgaben ein Abbild der Nachfrage? Sind Amerikaner kränker als Österreicher?
Dieter Ahrens64
Alle Gesundheitssysteme der Industriestaaten werden durch öffentliche und private Quellen finanziert, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen
Dieter Ahrens 65
Entwicklung der Gesundheitsausgaben im intern. Vergleich
2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010Gesundheitsausgaben als Anteil am Bruttoinlandsprodukt
Deutschland 10,8 10,6 10,7 10,6 10,5 10,7 11,6 k.A.Niederlande 9,8 10,0 9,8 9,7 9,7 9,9 12,0 k.A.
Schweiz 11,3 11,3 11,2 10,8 10,6 10,7 11,4 11,6USA 15,7 15,7 15,7 15,8 16,0 16,4 17,4 k.A.
Großbritannien 7,8 8,0 8,2 8,5 8,4 8,8 9,8 k.A.Schweden 9,3 9,1 9,1 8,9 8,9 9,2 10,0 k.A.Finnland 8,2 8,2 8,4 8,4 8,1 8,4 9,2 8,9
Gesundheitsausgaben in aktuellen Preisen (US$, kaufkraftbereinigt)Deutschland 3.097 3.170 3.364 3.565 3.724 3.963 4.218 k.A.Niederlande 3.097 3.309 3.450 3.613 3.944 4.241 4.914 k.A.
Schweiz 3.777 3.936 4.015 4.150 4.469 4.930 5.144 5.344USA 5.986 6.336 6.700 7.073 7.437 7.720 7.960 k.A.
Großbritannien 2.317 2.540 2.735 3.006 3.051 3.281 3.487 k.A.Schweden 2.832 2.954 2.963 3.193 3.432 3.644 3.722 k.A.Finnland 2.251 2.452 2.589 2.764 2.910 3.158 3.226 3.282
Dieter Ahrens66
OECD 2011, 2012
Interpretation von Statistiken zum Thema Gesundheitsausgaben
• Häufig werden Gesundheitsausgaben in % des Bruttoinlandsprodukts angegeben
• Da gerade in den letzten 10 Jahren in vielen Industriestaaten die Wirtschaftsleistung
(ausgedrückt in BIP) auch rückläufig war, hat sich dadurch der relative Ausgabenanteil für
das Gesundheitswesen erhöht.
• Gesundheitsausgaben sind zum Großteil Personalausgaben, diese verlaufen i.d.R. relativ
konstant
• Merke:
Die Darstellung der Gesundheitsausgaben als „Ausgaben pro Kopf – kaufkraftbereinigt“
ist aussagekräftiger als die Angabe „in % BIP“
Dieter Ahrens 67
Dieter Ahrens 68
Traue keiner Statistik, die du nicht selbst…
Dieter Ahrens 69
Dieter Ahrens 70
Diese Konzentration eines Großteils der Ausgaben auf vergleichsweise wenige Versicherte wurde durch zahlreiche internationale Studien immer wieder bestätigt
Dieter Ahrens71
Kocher 2011
Keine statistische Auswertung verschiedener Einflussfaktoren, sondern
eine Beobachtung von mehr oder weniger plausiblen Vermutungen
Dieter Ahrens72
Gründe für die Ausgabensteigerung im (Schweizer) Gesundheitswesen
Kocher 2011
Dieter Ahrens73
Gründe für die Ausgabensteigerung im (Schweizer) Gesundheitswesen
Kocher 2011
Dieter Ahrens 74
Gründe für die Ausgabensteigerung im (Schweizer) Gesundheitswesen
Kocher 2011
Dieter Ahrens75
Gründe für die Ausgabensteigerung im (Schweizer) Gesundheitswesen
Kocher 2011
Nie genannt (aber lt. Kocher auch relevant):
• Schlechtes Management in Gesundheitseinrichtungen oder Krankenversicherungen
• Ungenügende Versorgungsforschung
• Ungenügende Politikberatung
• Keine Ziel- und Strategiediskussionen
• Lobbying
• Parallelstrukturen und Schnittstellenprobleme
• Kommerzialisierung mit Kostentreibern wie überflüssigen Leistungen und
(zu) teuren Medikamenten
• Marketing und Medikalisierung im sog. 2. Gesundheitsmarkt
• Zu schwache Prävention
Entwicklung der Gesundheitsausgaben in den USA
• Die Entwicklung der Ausgaben in den USA kann nicht durch höhere Qualität bzw. gesteigerter Lebenserwartung begründet werden.
• Folgende Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung werden diskutiert:
• Hoher Verwaltungsaufwand
• Hohe Diagnosekosten und Versicherungskosten aufgrund des rigiden Haftungsrechts
• Ärzteeinkommen
• Selbstmedikation
• Technisches Niveau der Krankenhausmedizin
Nach Reinhardt (2005) ist der einzig zuverlässige Prädiktor für die Entwicklung der Gesundheitsausgaben der Wohlstand einer Gesellschaft
Dieter Ahrens76
(The Public Interest, 2001, SGGP-GPI 03/01, S. 9)
• „Moralisches Risiko“ eines Vertragspartners
• Im Regelfall wird der engl. Begriff verwendet, da die Übersetzung eher unzureichend den Zusammenhang erklärt
• Moral Hazard tritt auf...
• wenn der Umfang der Leistung eines Vertragspartners (z.B. Versicherung) auch von der Mitwirkung des anderen Vertragspartners (z.B. Versicherter) abhängt, etwa durch Beachtung von Sorgfaltspflichten oder durch Risikominimierung
• wenn das Ausmaß dieser Mitwirkung dem Vertragspartner nicht bekannt ist und
• der Preis für die Leistung nicht von der Mitwirkung abhängt
Dieter Ahrens77
Hajen et al. 2004
Nachfrage auf Gesundheitsmärkten und Moral Hazard
Nachfrage auf Gesundheitsmärkten und Moral Hazard
Beispiele:
• Mietwagen (Kunde könnte den Mietwagen nicht so fahren wie seinen eigenen Wagen)
• Haftpflichtversicherung (Versicherter könnte sich riskanter verhalten, weil er weiß, dass der von ihm potenziell verursachte Schaden von der Versicherung übernommen wird)
• Krankenversicherung: Versicherte könnten Krankenversorgungsleistungen vermehrt in Anspruch nehmen, weil ihnen hierdurch keine direkten Kosten entstehen; sie könnten sogar Leistungen in Anspruch nehmen, weil sie der Meinung sind, schließlich Krankenversicherungsprämien gezahlt zu haben
Dieter Ahrens78
Hajen et al. 2004
Nachfrage auf Gesundheitsmärkten und Moral Hazard
• Einige Ökonomen halten Moral Hazard und „Null-Kosten-Mentalität“ wenn nicht für die einzige, so doch für die herausragende Ursache aller Steuerungsprobleme im Gesundheitswesen
• Wenn nur die Patienten angemessen an den Kosten beteiligt würden, würden sie
• sorgsamer mit der eigenen Gesundheit umgehen• nicht mehr Krankenversorgungsleistungen in Anspruch nehmen als unbedingt
notwendig• die erhaltenen Versorgungsleistungen optimal nutzen, z.B. keine
Medikamente verschwenden
• selbst darauf achten, dass im Zweifel die wirtschaftlichere Therapie gewählt wird
Dieter Ahrens79
Breyer & Zweifel 1997, zit. nach Hajen et al. 2004
Nachfrage auf Gesundheitsmärkten und Moral Hazard
• Ob Moral Hazard tatsächlich für eine nennenswerte Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen verantwortlich ist, konnte bislang empirisch nicht überzeugend nachgewiesen werden
• Wer nimmt schon gerne Operationen und andere aufwendige und riskanten Interventionen in Anspruch, nur weil deren Konsum für einen selbst keine oder nur wenig Kosten verursacht
• Trotzdem bilden diese Annahmen die Grundlage für verschiedenen Zuzahlungs-und Selbstbeteiligungsregelungen in internationalen Gesundheitssystemen, die die Eigenverantwortung von Versicherten und Patienten einfordern
Dieter Ahrens 80
Hajen et al. 2004
Als Hauptgründe für die permanente Diskussion um mehr Eigenbeteiligung der Patienten an den von ihnen verursachten Gesundheitsausgaben lassen sich identifizieren (Schlander 1999, Rau 1992):
• der Versuch, eine zusätzliche Finanzierungsquelle für das Gesundheitswesen zu erschließen,
• die Erwartung, dass Patienten das Gesundheitssystem weniger stark in Anspruch nehmen, wenn dies mit direkten Kosten für sie verbunden ist,
• die Hoffnung, dass Patienten Gesundheitsleistungen selektiver nachfragen, d.h. dass sie zwischen notwendigen und nicht-notwendigen Leistungen diskriminieren, was zur Folge hätte, dass eine etwaige Ausgabenreduzierung mit einer Qualitätsverbesserung einher ginge.
Dieter Ahrens 81
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Ahrens 2004
• RAND-Health-Insurance-Experiment (bis heute m.W. die einzige kontrollierte Studie zu den Effekten von Selbstbeteiligungsregelungen)
• Der Versuchsaufbau war wie folgt (Manning et al. 1987, Rau 1992):
• Zwischen Nov 74 und Feb 77 wurden insgesamt 7.708 Versuchspersonen in definierten Regionen der Bundesstaaten Massachusetts, Ohio, South Carolina und Washington jeweils für 3 bis 5 Jahre zu diesem Experiment eingeladen.
• Ihnen wurde nach einem Randomisierungsschlüssel die Teilnahme an der Studie angeboten.
• Auswahl eines von 15 verschiedenen Krankenversicherungsmodellen, die sich nach Höhe der prozentualen Zuzahlung (zwischen 25 und 95 %) sowie verschiedener Zuzahlungshöchstgrenzen (zwischen 5 und 15 % des Einkommens sowie pauschal zwischen 150,- und $1.000,-) differenzierten.
Dieter Ahrens82
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Darstellung des RAND-HIE-Exeriments
• Personen über 61 Jahre, Kranke, Personen mit einem Jahreseinkommen über $ 61.000,- (1985) sowie generell Medicaid-Versicherte waren von der Studie ausgeschlossen.
• Die Selbstbeteiligungsregelungen wurden 5.814 Personen angeboten, von denen 20 % eine Teilnahme ablehnten.
• Zur Motivation der Teilnehmer wurden jährliche Transferzahlungen gewährt, die ihre geschätzten finanziellen Einbußen im Vergleich zum vorherigen Versicherungsstatus ausgleichen sollten.
• Die RAND-Autoren gaben jedoch an, dass diese Zahlungen keinen Einfluss auf gezeigten Effekte hätten, sondern von den Probanden eher als zusätzliches Einkommen angesehen wurden (Rau 1992)
Dieter Ahrens83
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
• Darstellung des RAND-HIE-Exeriments (Anzahl der Teilnehmer pro Region)
Plan Dayton Seattle Fitch-burg
Franklin County
Georgetown
Teiln. total
Teiln. angeboten
Kostenlos 301 431 241 264 359 1.596 1.893
25 % 260 253 125 146 201 985 1.137
50 % 191 0 56 26 52 325 383
95 % 280 253 113 146 166 958 1.120
Selbstbehalt 105 285 188 196 282 1.056 1.276
total 1.137 1.222 723 778 1.060 4.920 5.809
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Quelle: Manning et al. 1987, Osmers & Vauth 2004, eigene Berechnung
Dieter Ahrens
Evaluation des RAND-HIE-Exeriments• Für einen Zeitraum von 3 bis 5 Jahren wurden folgende Daten zur Evaluation
erhoben (Newhouse et al. 1993):
• Verbrauch medizinischer Leistungen (einschließlich Zahl der Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte und die daraus entstandenen Gesamtausgaben).
• Auf ein Personenjahr bezogene Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.
• Die Angemessenheit erbrachter medizinischer Leistungen wurde nach vorbestimmten Kriterien von einem unabhängigen Ärzteteam bewertet.
• Zusätzlich wurde der Gesundheitszustand vor, während und nach der Studie anhand vorgegebener Parameter bestimmt.
Dieter Ahrens85
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Ergebnisse des RAND-HIE-Exeriments (Newhouse et al. 1993, Noll 2003)
• Selbstbeteiligungen führen zu einer geringeren Inanspruchnahme und niedrigeren Kosten für medizinische Versorgung.
• Die pro-Kopf-Ausgaben im Versicherungsplan ohne Selbstbeteiligung waren 45 % höher als die im Versicherungsplan mit 95 % Selbstzahlung. Die Ausgaben bei geringerer Selbstbeteiligung lagen zwischen diesen Werten. Dieser Effekt ist umso größer, je geringer das Einkommen der Versicherten ist.
Dieter Ahrens86
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
• Ergebnisse des RAND-HIE-Exeriments
Plan Arzt-besuche
Kosten amb.
Kosten stat.
Wahrsch. med. Versorg.
Wahrsch. stat.
Gesamt US$
Kostenlos 4,55 340 409 86,8 10,3 750
25 % 3,33 260 373 78,8 8,4 617
50 % 3,03 224 450 77,2 7,2 573
95 % 2,73 203 315 67,7 7,9 540
Selbstbehalt 3,02 235 373 72,3 9,6 630
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Quelle: Manning et al. 1987, Osmers & Vauth 2004
Dieter Ahrens
Ergebnisse des RAND-HIE-Exeriments (Newhouse et al. 1993, Noll 2003)
• Selbstbeteiligungen führen vor allem zu einer Verringerung der Krankheitsepisoden. Leistungen während einer Behandlungsepisode sind dagegen kaum beeinflusst.
• Vor allem sind Ausgabenreduktionen auf eine geringere Frequenz ambulanter medizinischer Einrichtungen zurück zu führen. Die Ausgaben für ambulante medizinische Leistungen ohne Selbstzahlung lagen um 67 % höher als in der Gruppe mit 95 % Kostenanteil, korrespondierend dazu war auch die Anzahl der Arztbesuche um 66 % reduziert.
Dieter Ahrens88
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Ergebnisse des RAND-HIE-Exeriments (Newhouse et al. 1993, Noll 2003)
• Insbesondere für weniger ernste Symptome werden medizinische Leistungen in Anspruch genommen.
• Die verminderte Inanspruchnahme hat im Allgemeinen nur einen geringen Einfluss auf den Gesundheitszustand. Hiervon ausgenommen sind die Personen aus unteren sozialen Schichten. Bei diesen wurden vor allem stärkere Seh-Beeinträchtigungen und ein höherer Blutdruck festgestellt.
• Teilnehmer des Vollversicherungsmodell hatten insgesamt einen geringeren Blutdruck als Teilnehmer der anderen Gruppen, mittel- und langfristig hat dies Mortalitätseffekte (Osmers & Vauth 2004)
Dieter Ahrens89
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Ergebnisse des RAND-HIE-Exeriments (Newhouse et al. 1993, Kaiser 2003)
• Sowohl effektive als auch weniger effektive medizinische Leistungen sind von der Reduktion der Inanspruchnahme betroffen
• „hoch effektiv“ eingeschätzte Leistungen wurden insbesondere von „armen“ Kindern nicht in Anspruch genommen
• Bei weniger dringenden Diagnosen nimmt die Notfallambulanzen um 47 % ab, bei dringenden Diagnosen allerdings auch um 23 %; auch Notfallaufnahmen, die zu einer stationären Aufnahme führen würden, waren reduziert
• Es wurde keinerlei Effekt der Selbstbeteiligungen auf das Gesundheitsverhalten festgestellt; auch präventive Maßnahmen wurden weniger in Anspruch genommen, wenn eine Selbstbeteiligung gezahlt werden musste
Dieter Ahrens90
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Bewertung des RAND-HIE-Exeriments
• Bzgl. der externen Validität des Experiments werden verschiedene Zweifel genannt:• Das Experiment fand in sechs, überwiegend ländlichen Orten der USA statt,
diese sind geprägt durch eine geringere Versorgungsdichte• da bekannt ist, dass die Inanspruchnahme auch von der Verfügbarkeit abhängt,
sind die Ergebnisse in dieser Form nicht übertragbar• zwar lassen sich Aussagen zu den Wirkungen von Selbstbeteiligungen ablesen;
Aussagen zu daraus resultierenden Einsparungen sind hingegen nahezu unmöglich
Dieter Ahrens91
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
(Rice 2004)
Bewertung des RAND-HIE-Exeriments
• Bzgl. der externen Validität des Experiments werden verschiedene Zweifel genannt:
• Das Experiment ist ca. 30 Jahre alt; ob heute ähnliche Effekte zu erzielen wären, ist unklar: Bedeutung der medizinischen Versorgung, Werbung
• Einige der Teilnehmer hatten vor dem Experiment eine schlechtere Absicherung ihres Krankheitsrisikos als während des Experiments, d.h. dass bei diesen Probanden die Wirkung der Selbstbeteiligung nicht so stark ist wie angenommen
Dieter Ahrens92
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
(Rice 2004)
• offensichtlich sind Patienten unfähig, selbst adäquat zu entscheiden, wann ein Arztbesuch angezeigt ist (sowohl notwendige als auch unangemessene Konsultationen wurden durch die Selbstbeteiligung reduziert und es wurden keine signifikanten Unterschiede mehr gefunden, sobald die Patienten sich in ärztlicher Behandlung befanden) (Schlander 1999).
• Diese letztgenannte Beobachtung stellt die Qualität von Patientenentscheidungen grundsätzlich in Frage. Es ist jedoch eine Grundannahme der liberalen gesundheitsökonomischen Theorie, dass Patienten als autonome Subjekte und informierte Konsumenten dem Arzt als ebenbürtige Vertragspartner gegenüber stehen (Schlander 1999).
Dieter Ahrens93
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
• Selbstbeteiligungsregelungen im Gesundheitswesen verstärken die eh schon vorhandenen Benachteiligungen von sozial schwachen Bevölkerungsschichten
• Betrachtet man zusätzlich die Verteilung von Krankheiten und Krankheitskosten innerhalb der Krankenversicherungen, so zeigt sich, dass die wesentlichen Ausgabenanteile durch chronisch Kranke verursacht werden, die wiederum vor allem zu den sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten zählen.
• Zudem ist die Selbstbeteiligung als Steuerungsinstrument in der medizinischen Versorgung auch konzeptionell fragwürdig. Denn sie setzt am Patienten an, obwohl die Leistungen in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle anbieterbestimmt sind und der Einfluss von Patienten hier deutlich eingeschränkt ist
Dieter Ahrens94
Steuerungswirkung von Eigenbeteiligung bzw. Zuzahlung
Ahrens 2004
Out of pocket im Vergleich
Dieter Ahrens95
Markt und Marktversagen im Gesundheitswesenvon der falschen Nachfragesteuerung zur
richtigen (weil dringend notwendigen!) Angebotssteuerung
Empirische Befunde zum Krankenversorgungsmarkt
• Sollte der Krankenversorgungsmarkt „funktionieren“, würde man annehmen, dass die Versorgung „gleicher Krankheiten“ in allen Regionen Deutschlands bzw. weltweit gleich erfolgt
• Krankheiten gelten also Ausdruck der Nachfrage nach Behandlung!
Dr. Dieter Ahrens MPH96
Es war einmal in Amerika…
Ausgangspunkt war die Beobachtung von John Wennberg, einem der Begründer der
„small area Analysen“, dass der Anteil der Kinder, denen bis zum 15. Lebensjahr die
Rachenmandeln entfernt waren, im Schulbezirk seiner Kinder 20 % und im
benachbarten Schulbezirk 70 % betrug. Offensichtlich ist bei diesem Beispiel, dass
unterschiedliche Krankheitshäufigkeiten eher wenig zur Erklärung dieses
Unterschiedes beitragen.
Versorgungsvariationen
John E. Wennberg über ungerechtfertigte Variationen:
„Variation that cannot be explained on the basis of
illness, medical evidence, or patient preference“
Von einer Versorgungsvariation ist die Rede, wenn die Abweichungen der
Untersuchungen, Behandlungen und Inanspruchnahmen von medizinischen Leistungen
nicht auf sachgerechte Begründungen oder auf die individuellen Präferenzen der
Patienten zurückzuführen sind.
Quelle: Fakencheck Gesundheit, Wennberg J 2010
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
100
Exkurs: John E. Wennberg
• Begründer des Dartmouth Atlas of Health Care
• Entwickler eines theoretischen Ansatzes, welcher die ungerechten
Versorgungsleistungen in drei Kategorien einteilt, analysiert, erklärt und
verständlicher macht:
„effective care“
„preference-sensitive care“
„supply-sensitive care“
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
101
John E. Wennberg, M.D, MPH(Quelle: http://tdi.dartmouth.edu/)
Arten von Versorgungsleistungen nach Wennberg
Leistungen, deren Nutzen den Schaden deutlich überwiegeneffektive Versorgung
•Beispiel: Defibrillation bei Kammerflimmern, Beta-Blocker nach Herzinfarkt etc.
• Gefahr: Unterversorgung
Interventionen, bei denen die Evidenzlage mehrere Möglich-keitenaufzeigt (auch: Nicht-Behandlung)
präferenzsensitive Versorgung
•Beispiel: Stabile KHK, bei der die Indikation für eine Operation lediglich für die Schmerzlinderung des Patienten zugute kommt.
•Gefahr: Überversorgung
Anpassung der Indikationsstellung an die vorhandenen Kapazitäten durch die Ärzte
angebotssensitive Versorgung
•Beispiel:Bei wenigen Intensivbetten wird die Indikation zur Aufnahme vergleichsweise strenger, als bei einer großen Anzahl von Intensivbetten.
•Gefahr: ÜberversorgungVersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter Ahrens
Jessica Selzer 102
Ergebnisse für die Unterschiede in der Versorgung
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
103
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
104
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VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
105
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011
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
106
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
107
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
108Quelle: OECD, 2011
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
109
Kaiserschnittrate im internationalen Vergleich
Quelle: OECD 2014
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
110
Que
lle: C
arin
ciet
al 2
014
“If you are a woman living in the south of Italy, your likelihood of having a caesarean section is remarkably higher
than average: the map clearly shows how the more than six fold variation found between the highest and the lowest
rate (664 vs 111 per 1,000 live births) is largely attributable to the difference between the north and the south. “
Kaiserschnittraten in Italien
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
111Quelle: Srivastava et al 2014
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
112Quelle: OECD Health alt a Glance 2012
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
113
Que
lle: O
rand
Verb
oux
2014
“The rate of knee replacement in France is lower (135 per 100 000) than in Australia,
Switzerland, Finland, Canada and Germany (above 200 per 100 000 population over 15-years
old). Within countries, knee replacement rates often vary by two-to three-fold, but they vary by
more than five-fold in Canada, Portugal and Spain.”
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
114
“A patient in the North East of England is two times more likely to have a knee replacement
(above 250 per 100 000) than in parts of London (below 100 per 100.000 population).”
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
115
VersorgungsvariationenProf. Dr. Dieter AhrensJessica Selzer
116Quelle: OECD Health at a Glance, 2012
Gesundheitsökonomie und Public Health
Dieter Ahrens117
Gesundheitsökonomie und Public Health
• Was ist Public Health?• Nach Brand & Stöckel (2002) ist „Public Health die öffentliche Sorge um die
Gesundheit aller“. • Schaeffer, Moers & Rosenbrock (1994) definieren die Disziplin etwas ausführlicher:
„Public Health ist Theorie und Praxis der auf Gruppen bzw. Bevölkerungen bezogen-en Maßnahmen und Strategien der Verminderung von Erkrankungs- und Sterbewahr-scheinlichkeiten durch Senkung von Risiken und Stärkung von Ressourcen. Public Health analysiert und beeinflusst hinter den individuellen Krankheitsfällen epidemio-logisch fassbare Risikostrukturen, Verursachungszusammenhänge und Bewälti-gungsmöglichkeiten“.
• Während in dieser Definition eher allgemein auf Krankheits- und Gesundheitsdeter-minanten abgezielt wird, konkretisiert Schwartz (1998) die Disziplin, indem er verschiedene Interventionsfelder und Kriterien nennt: „Public Health umfasst alle Analysen und Management-Ansätze, die sich vorwiegend auf ganze Populationen oder größere Subpopulationen beziehen und zwar organisierbare Ansätze bzw. Systeme der Gesundheitsförderung, der Krankheitsverhütung und der Bekämpfung unter Einsatz kulturell und medizinisch angemessener, wirksamer, ethisch und ökonomisch vertretbarer Mittel“.
Dieter Ahrens118Ahrens 2009
• Michelsen (2009) betont darüber hinaus die staatliche Regulierung bzw. die kollektiven Entscheidungen. Nach seiner Auffassung besteht aber keine ausdrückliche Vorrangstellung von Gesundheitsförderung und Prävention gegenüber der Kuration. Zudem sei die Kuration dann Teil der Disziplin Public Health, wenn sie einer staatlichen Regulierung unterliege (ebd.).
• Rolf Rosenbrock fasst den Anspruch von Public Health wie folgt zusammen: „Public Health ist wissenschaftliche und gesundheitspolitisch ein anspruchsvolles Programm. Wer es ernst nimmt mit dem Anspruch, Lebensverhältnisse zu die in ihnen – verborgen oder offen – wirkenden Verhaltensanreize so zu gestalten, dass die Wahrscheinlichkeit des Gesundbleibens steigt, wird sich in den meisten Fällen inmitten gesellschaftlicher Konfliktfelder wiederfinden“ (2001, S. 1)
Dieter Ahrens119
Gesundheitsökonomie und Public Health
Gesundheitsökonomik und/oder Public Health
• Im Gegensatz zu Public Health ist Gesundheitsökonomik in der derzeitig vorzufindenden überwiegenden Lehrmeinung unpolitisch
• „Unpolitisch“ meint, dass staatliche Eingriffe auf ein Mindestmaß akzeptiert werden
• Neo-Liberalismus ist allerdings auch politisch…
• Im Gegensatz zu Public Health ist (die typische) Gesundheitsökonomik eher wenig empirisch orientiert
• Ausnahmen: Gesundheitssystemvergleich und gesundheitsökonomische Evaluation• Ausnahme: Thomas Rice. The economics of health reconsidered (dt. Stichwort
Gesundheitsökonomie)
Dieter Ahrens120
Gesundheitsökonomik und/oder Public Health
• Gesundheitsökonomik und Public Health haben einen gemeinsamen Betrachtungsgegenstand (das Krankenversorgungssystem)
• Sie unterscheiden sich zentral hinsichtlich der Perspektive• Public Health -> Gesamtsystem (einschl. Prävention und
Gesundheitsförderung• Gesundheitsökonomik -> überwiegend mikroökonomische
Marktbetrachtung, d.h. Angebot- und Nachfragesteuerung
Dieter Ahrens121
Dieter Ahrens122
Orte im Gesundheitssystem Österreichs,in denen Gesundheitsökonomen „leben“
Gesundheit Österreich GmbH www.goeg.at ->Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen -> Arbeitsbereich HTA Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessmenthttp://hta.lbg.ac.at Hauptverband der Sozialversicherungsträger www.hauptverband.at verschiedene Institute an Universitäten und Fachhochschulen Beratungsunternehmen
Akteure der Gesundheitsökonomie in Österreich?
Dieter Ahrens 123
Entscheid Kosten
Nutzen
Health Professionals
Kranken-versicherung
Patienten / Angehörige
Der Markt im Gesundheitswesen (Sozialversicherungssystem)
Güntert 2004
Akteure der Gesundheitsökonomie in Österreich?
Ist es ein Problem, wenn es viele Beteiligte gibt…?
Dieter Ahrens124
Hofmarcher & Rack 2006
Akteure der Gesundheitsökonomie in Österreich?Das können Sie viel besser beurteilen!
Dieter Ahrens 125
Ärztekammer?Sozial-versicherungen?
Patienten?
Bund/Bundesländer?
Stehen Patienten im Vordergrund, im Mittelpunkt oder im Weg?
Literaturhinweise:
• Hajen et al. (2008). Gesundheitsökonomie. Stuttgart, Kohlhammer-Verlag• Lauterbach et al. (2010). Gesundheitsökonomie, Management und Evidence-based
Medicine. Schattauer-Verlag• Rice T. (2004). Stichwort: Gesundheitsökonomie. Kompart-Verlag
• Drummond M. (2008). Methods for the Economic Evaluation of Health Care Services. Oxford University Press
• Für zwischendurch:• Jörn Klare (2010). Was bin ich wert? Suhrkamp-Verlag• Jörg Blech (2006). Heillose Medizin. Fischer-Verlag• Hartmut Reiners (2010). Mythen der Gesundheitspolitik. Huber Verlag
Dieter Ahrens 126