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Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik

Prof. Dr. Andreas Haufler

SoSe 2018

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 0-1 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Gliederung

I. Wohlfahrtsokonomische Grundlagen

1. Einfuhrung2. Soziale Wohlfahrt3. Der Staat in der Marktwirtschaft

II. Politische Okonomie

4. Mehrheitswahl und Abstimmungsgleichgewicht5. Konkurrenz der Parteien6. Interessengruppen und rent-seeking7. Burokratieverhalten und der Leviathan-Staat

III. Anwendungsbereiche

8. Privatisierung9. Staatliche Umverteilung10. Einkommensverteilung und Wirtschaftspolitik11. Staatswachstum und Wirtschaftsentwicklung

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Organisatorisches

Vorlesung: Dienstag 10 - 12 Uhr (Beginn: 10. April)Schellingstr. 3, Raum R 051

Ubungen (Beginn: 18. April)Ubungsleiter: Daniel Gietl, M.Sc.

I Mi, 12-14 Uhr, HGB M 105

I Mi, 14-16 Uhr, HGB M 105

Voraussichtlicher Klausurtermin:Dienstag, 17. Juli 2018, 16:30-18:00 UhrAnmeldezeitraum: 15.05. - 15.06.2018 in LSF

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Lehrbucher:

1. Nicola Acocella (1998): The Foundations of Economics Policy,Cambridge University Press

2. Friedrich Breyer / Martin Kolmar (2014): Grundlagen derWirtschaftspolitik, 4. Aufl., Mohr-Siebeck, Tubingen

3. Dennis C. Mueller (2003): Public Choice III, CambridgeUniversity Press

– erganzendes Lehrbuch: Charles Blankart (2011): OffentlicheFinanzen in der Demokratie, 8. Aufl., Vahlen, Munchen.

– zusatzliche Literatur in Vorlesungsteilen II und III(siehe Erganzende Literatur)

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Erganzende LiteraturI Giacomo Corneo und Hans-Peter Gruner (2002): Individual preferences for

political distribution, Journal of Public Economics 83(1), 83-107.

I Oliver Hart, Andrei Shleifer und Robert Vishny (1997): The proper scopeof government, Quarterly Journal of Economics 112 (4), 1127-161.

I Knabe, Andreas, Ronnie Schob und Marcel Thum (2014): Derflachendeckende Mindestlohn, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 15 (2),133-157.

I Wolfgang Leininger (1993): The Fatal Vote: Berlin vs. Bonn,FinanzArchiv/Public Finance Analysis 50 (1), 1-20.

I Torsten Persson und Guido Tabellini (2000): Political Economics. MITPress.

I Eytan Sheshinski und Luis Lopez-Calva (2003): Privatization and itsBenefits: Theory and Evidence, CESifo Economic Studies 49(3), 429-459.

weitere Literatur in den jeweiligen Kapiteln

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1. Einfuhrung Breyer/Kolmar, Kap. 1; Acocella, Kap. 82. Soziale Wohlfahrt Acocella, Kap. 43. Staat und Marktwirtschaft Breyer/Kolmar, Kap. 3

Acocella, Kap. 5 und 64. Mehrheitswahl und Mueller, Kap. 5, Leininger (1993)

Gleichgewicht5. Konkurrenz der Parteien Mueller, Kap. 11,6. Interessengruppen und rent seeking Mueller, Kap. 157. Burokratieverhalten und Leviathan Mueller, Kap. 168. Privatisierung Breyer/Kolmar, Kap. 10.1.2;

Sheshinski/Lopez-Calva (2003)Hart/Shleifer/Vishny, 1997

9. Staatliche Umverteilung Acocella, Kap. 11; Corneo/Gruner (2002)Persson/Tabellini, Kap. 3.1;

10. Einkommensverteilung und Knabe/Schob/Thum (2014)Wirtschaftspolitik

11. Staatswachstum Mueller, Kap. 21 und 22

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Teil I

WohlfahrtsokonomischeGrundlagen

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1. Einfuhrung

1.1. Gegenstand der Theorie der Wirtschaftspolitik

Die Theorie der Wirtschaftspolitik analysiert die Begrundungen undAuswirkungen staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen.Analysebereiche fur die Theorie der Wirtschaftspolitik sind z.B.:

I Wettbewerbspolitik (z.B. Regulierung desTelekommunikationsmarktes)

I Steuerpolitik (z.B. Struktur der Einkommensteuer)

I Sozialpolitik (z.B. Rentenreform)

I Arbeitsmarktpolitik (z.B. Mindestlohn)

I Bildungspolitik (z.B. Studiengebuhren)

I Industriepolitik (z.B. Kohle- und Airbussubventionen)

I Geld- und Fiskalpolitik (Verschuldungspolitik)

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Die Theorie der Wirtschaftspolitik ist eng mit derFinanzwissenschaft (FiWi I und FiWI II) verbunden.

Haufige Abgrenzung in Deutschland:

I Finanzwissenschaft analysiert diejenigen Bereiche staatlicherAktivitat, welche die Einnahmen- und Ausgabenseite desStaatshaushaltes betreffen.

I Wirtschaftspolitik betrifft staatliche Interventionen bei denenfiskalische Belange untergeordnet sind (z.B.Wettbewerbspolitik)

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Aber: Diese Abgrenzung ist nicht scharf.Beispiel: Die Sozialversicherung kann der Finanzwissenschaft undder Wirtschaftspolitik zugeordnet werden. Es werden nicht-fiskalische Ziele verfolgt, die Sozialversicherungsbeitrage wirkenjedoch steuerahnlich. So sind in Danemark dieSozialversicherungsbeitrage vollkommen durch Steuern ersetzt.

In der angelsachsischen Literatur gibt es keine klare Unterscheidungzwischen Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik. Beide gehorenzum Bereich der public economics.

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Definition des Staates:

I In einem weiten Sinne umfasst der Staat alle Aktivitaten zurSchaffung, Interpretation und Durchsetzung von Regeln, diedas menschliche Zusammenleben organisieren.

I In einem engeren Sinne umfasst der Staat die durch dieseRegeln geschaffenen Aufgabenbereiche und ihreFunktionstrager (unterteilt in Legislative, Exekutive undJurisdiktion).

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Markt- vs. StaatsversagenIn einer Marktwirtschaft mussen alle wirtschaftspolitischenEingriffe aus verschiedenen Formen des Marktversagensbegrundet werden.

Zentrale Formen des Marktversagens sind

I allokatives Marktversagen (ineffiziente Ressourcenallokationdurch den Markt)

I distributives Marktversagen (gesellschaftlich”unerwunschte“

Einkommensverteilung)

Allokatives Marktversagen wird in der VorlesungRessourcenallokation und Wirtschaftspolitik behandelt. Dortwird mit dem – unkontroversen – Pareto Kriterium gearbeitet.

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In dieser Vorlesung geht es auch um distributives Marktversagen,also um eine

”gerechte Einkommensverteilung“. Hier kann per

Definition das Pareto Kriterium nicht mehr angewandt werden.(Warum?)

Mit dem Konzept der Sozialen Wohlfahrtsfunktion konnen wirunterschiedliche Einkommensverteilungen bewerten und denZielkonflikt zwischen einer gleichmaßigen Einkommensverteilungund einer effizienten Ressourcenallokation analytisch handhaben.Dieses Konzept ist aber unter Okonomen umstritten.

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Modellierung des Staates

Sowohl bei allokativem als auch bei distributivem Marktversagenwurde der Staat in der wirtschaftspolitischen Analyse lange alsbenevolenter Diktator modelliert.

Seit den 1970er Jahren wird in polit-okonomischen Modellen desStaates die personliche Nutzen- oder Gewinnmaximierung auch aufstaatliche Entscheidungstrager angewandt bzw. in den politischenRaum ubertragen (Lobbyismus, Korruption). Hieraus entstehenErgebnisse des staatlichen Entscheidungsprozesses, die von derMaximierung des Gemeinwohls abweichen (

”Staatsversagen“).

Mit der Etablierung der Politischen Okonomie entsteht derKonsens, dass die Frage Markt oder Staat die Imperfektionenbeider Organisationsformen berucksichtigen muss.

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Fur eine Theorie der Wirtschaftspolitik sind grundlegendeKenntnisse sowohl der Marktallokation als auch des politischenProzesses notwendig.

Diese Kenntnisse zu vermitteln und die Studierenden in die Lagezu versetzen, zu einem ausgewogenen und kritischen Urteil zu derFrage nach dem richtigen Verhaltnis von Markt und Staat in einerVolkswirtschaft zu kommen ist Ziel dieser Vorlesung.

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1.2. Grundfragen der Wohlfahrtsokonomie

positive vs. normative Analyse der sozialen Praferenzen

positiver Ansatz: Ableitung der Praferenzen aus den beobachtetenWahlhandlungen der PolitikProblem: Wessen Praferenzen werden durch beobachtbarePolitikentscheidungen offenbart? (Politiker, Lobbyisten oderGesamtbevolkerung?)

normativer Ansatz: Ableitung der Praferenzen auf der Basisethischer Postulate uber das

”Gemeinwohl“

=⇒ Wohlfahrtsokonomie verfolgt normativen Ansatz

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direkte vs. indirekte Reihung sozialer Zustande

direkte Reihung: Vergleich zweier Zustande auf der Basis direktbeobachtbarer Indikatoren (z.B. BIP, Gini Koeffizient)

indirekte Reihung: Vergleich zweier Zustande auf der Basis derindividuellen Nutzen aller Individuen (methodologischerIndividualismus)=⇒ (neoklassische) Wohlfahrtsokonomie verwendet indirekteReihung

Drei aufeinander aufbauende Grundfragen der neoklassischenWohlfahrtsokonomie:

1. Sind Nutzen nur ordinal oder auch kardinal messbar?

2. bei kardinaler Messbarkeit: sind Nutzen auch interpersonellvergleichbar?

3. bei kardinaler Messbarkeit und interpersonellerVergleichbarkeit: wie sollen individuelle Nutzen zuGesamtwohlfahrt aggregiert werden?

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ordinale Messbarkeit:

I Nutzenfunktion ist invariant gegenuber positiver monotonerTransformation: gilt fur ein Individuum i : ui (b) > ui (a), danngilt auch f [ui (b)] > f [ui (a)]=⇒ Reihung der Alternativen bleibt erhalten, aber nicht dieIntensitat der Praferenz

kardinale Messbarkeit:

I keine Transformation der Nutzenfunktion: Nutzeneinheitenwerden als quantitativ bestimmbare Großen (englisch:

”utils“)

aufgefasst, analog zu produzierten Mengen in derProduktionstheorie=⇒ Intensitat der Praferenzen kann abgebildet werden

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gesellschaftliche Reihung unterschiedlicher Allokationen

I Fehlt kardinale Messbarkeit und interpersonelleVergleichbarkeit, konnen zwei unterschiedliche Allokationennur mit dem Pareto Kriterium verglichen werden.

I Interpersonelle Vergleichbarkeit impliziert auch kardinaleMessbarkeit (der Gegenschluss gilt aber nicht).

I fur ein eindeutiges gesellschaftliches Ranking zwischen zweiunterschiedlichen Verteilungszustanden muss Nutzen kardinalmessbar und interpersonell vergleichbar sein

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Beispiel: drei Allokationen A, B und C mit folgendenNutzenindizes fur die Individuen 1 und 2

A B C

Individuum 1 10 9 9

Individuum 2 2 5 6

Summe 12 14 15

I Pareto Kriterium reiht B vs. C, aber nicht A vs. B und A vs. C

I A vs. B und A vs. C kann gereiht werden, wenn Nutzenkardinal messbar und interpersonell vergleichbar ist und alsAggregationsregel (z.B.) die Summe der individuellen Nutzengewahlt wird

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1.3. Dogmengeschichtliche Einordnung

Klassische Wohlfahrtstheorie

I Jeremy Bentham (1748-1832); John Stuart Mill (1806-1873):Utilitarismus (

”großtes Gluck der großten Zahl“)

I Kardinale Messbarkeit und interpersonelle Vergleichbarkeitwerden angenommen=⇒ Theorie enthalt Aussagen uber

”wunschbare“

Einkommensverteilung

I wiederaufgenommen im Konzept der sozialenWohlfahrtsfunktion (→ Kapitel 2)

Paretianische Wohlfahrtstheorie

I Begrundung durch Vilfredo Pareto (1848-1923)

I Annahmen: kardinale Messbarkeit und interpersonelleVergleichbarkeit von Nutzen sind nicht gegeben=⇒ Beschrankung auf Aussagen uber Allokationseffizienz:Aggregation von Nutzen nur moglich, wenn keineInteressenkonflikte vorliegen

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Pareto Kriterium: eine Gruppe von Individuen praferiert Zustandb gegenuber Zustand a, wenn zumindest ein Individuum in b einenhoheren Nutzen hat und niemand in b schlechter gestellt ist als ina.Das Pareto Kriterium reprasentiert ein (reines) Effizienzkriterium;deshalb heisst ein Zustand, der von keinem anderen dominiertwird, auch Pareto effizient (oder

”Pareto optimal“)

Pareto Effizienz impliziert drei Teilkriterien:

1. Effizienz im Konsum

2. Effizienz in der Produktion

3. Gesamteffizienz (Effizienz im Produktmix)

Behandlung in Mikrookonomie I + II und in Finanzwissenschaft I

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”Neue Wohlfahrtsokonomik“

I Arbeiten von N. Kaldor, J. Hicks, T. Scitovsky, K. Arrow imZeitraum 1930-1960

I verschiedene Versuche, die Beschrankungen des paretianischenAnsatzes zu lockern, ohne die starken Annahmen derklassischen Wohlfahrtstheorie zu ubernehmen

Arrows Unmoglichkeitstheorem (1951)Kenneth Arrow (1951) versucht, auf axiomatischem Wege zu einervollstandigen Reihung verschiedener Zustande zu kommen, ohnekardinale Messbarkeit und interpersonelle Vergleichbarkeit desNutzens anzunehmen.

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Funf wichtige Axiome

1. Einstimmigkeit (Pareto Kriterium): Praferenz einesIndividuums setzt sich durch, wenn kein anderes Individuumgegensatzliche Interessen hat.

2. kein Diktator: keiner kann seine Praferenzen grundsatzlichgegen gegensatzliche Interessen der anderen durchsetzen.

3. Transitivitat: Praferiert eine Gesellschaft A gegenuber B undB gegenuber C, dann praferiert sie auch A gegenuber C.

4. uneingeschrankter Wertebereich: keine Einschrankungindividueller Praferenzordnungen.

5. Unabhangigkeit von irrelevanten Alternativen: die Praferenzzwischen zwei Zustanden hangt nicht von der Existenzweiterer Alternativen ab.

Ergebnis: Arrow zeigt, dass es keine allgemeine Ordnung derZustande gibt, die alle diese Bedingungen erfullt. (Arrow’schesUnmoglichkeitstheorem; Arrow-Paradox)

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I Intuition: das Problem sind mehrgipfelige individuellePraferenzen, die aber die Anforderungen der Nutzentheorieerfullen

I Beispiel: Individuen 1, 2, 3 stimmen uber drei Niveaus einesoffentlichen Gutes ab (x= niedrig; y= mittel; z= hoch) (→Abbildung 1.1)

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-

6

Menge

Nutzen

ZZZZZZZZZZZZZZZ V1

x y z

s

s

s

ZZZZZZZZ

s

s

s V3cccccccs

s

sV2

Abbildung 1.1: Mehrgipflige Praferenzen und zyklischesAbstimmungsverhalten

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I mehrgipfelige Praferenzen von Individuum 2, die aber dieEigenschaft der Transitivitat individueller Praferenzen erfullen,fuhren bei paarweiser Abstimmung zu x > y > z > x

=⇒ intransitive gesellschaftliche Praferenzordnung

I dieses Problem ist auch zentral fur die Politische Okonomie(→ Kapitel 5)

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Fazit:

I ohne Einschrankung individueller Praferenzen (Axiom 4) kannes zu zyklischen gesellschaftlichen Praferenzen kommen, dieTransitivitat verletzen (Axiom 3). Ausweichen in Diktatur istdurch Axiom 2 nicht moglich=⇒ Arrows Ansatz erlaubt keine Ausweitung der Aussagendes Pareto Kriteriums, wenn nicht mindestens eines der(schwachen) Axiome aufgeben wird!

I Arrows Unmoglichkeitstheorem zeigt, dass der Versuch, einenmittleren Weg zwischen dem restriktiven Pareto-Kriteriumund den starken Annahmen der klassischen Wohlfahrtstheorie(kardinale Nutzenmessung und interpersonelleVergleichbarkeit) zu finden, zum Scheitern verurteilt ist.

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2. Die Soziale Wohlfahrtsfunktion

I zentrale Annahme der sozialen Wohlfahrtstheorie: der Staatals einheitlicher Akteur, der sich verhalt wie ein sozialer Planerbzw. ein benevolenter Diktator

”Herrschen aber soll die kleinste der Gruppen, die Weisen,

Lehrer und Philosophen, denn sie allein verstehen es, dieanderen Gruppen durch ihre Vernunft zu lenken. Wohl demStaate, in dem die Weisen Konige und die Konige Weisesind.“ Platon, Der Staat

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2.1. Das Konzept der Sozialen Wohlfahrtsfunktion

I auf Grund der Beschrankungen des Pareto Prinzips (→Kap. 1) werden die Annahmen von kardinaler Nutzenmessungund interpersoneller Vergleichbarkeit in Teilen derWohlfahrtstheorie gemacht

I Abram Bergson (1938) und Paul Samuelson (1947)begrundeten das Konzept der Sozialen Wohlfahrtsfunktion(SWF)

I allgemeine Form der SWF mit Individuen i = 1, 2, ...H

W (u1, u2, ......, uH), ∂W /∂ui ≥ 0 ∀ i

wobei der Nutzen jedes Individuums nicht-negativ in die SWFeingeht (methodologischer Individualismus)

I mit Hilfe der SWF wird der optimale Punkt auf derNutzenmoglichkeitsgrenze (Menge aller Pareto-effizientenAllokationen) bestimmt

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-

6

u1

u2

Abbildung 2.1: Maximierung der sozialen Wohlfahrt

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NMG: Nutzenmoglichkeitsgrenze: Menge aller Allokationen, die(fur variable Produktionsplane) durch Effizienz im Tausch,Effizienz in der Produktion und Gesamteffizienz gekennzeichnetsind.

SIK: soziale Indifferenzkurve: die Menge aller Kombinationen vonu1 und u2, die die gleiche soziale Wohlfahrt ergeben (formalanalog zur Indifferenzkurve eines Individuums, aber hiergesellschaftliche Aggregation uber individuelle Nutzen, anstattindividueller Aggregation uber verschiedene Guter).

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2.2. Spezielle Soziale Wohlfahrtsfunktionen

konkretere Aussagen sind (nur) mit einer genau spezifizierten SWFmoglich=⇒ verbleibende Frage nach der Aggregationsregel, d.h.alternativen Formen der Sozialen Wohlfahrtsfunktion

Additive Soziale Wohlfahrtsfunktion

I auch als utilitaristische oder Bentham’sche SWF bezeichnet,nach dem Begrunder des Utilitarismus Jeremy Bentham(1748-1823)

I einfachste Regel: Summierung der Nutzen

I prinzipiell unterschiedliche Gewichte der Individuen moglich; inder Regel aber gleiche Gewichte (von 1)

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I sind ui (x) die individuellen Nutzen der Individuen im Zustandx , dann ist die soziale Wohlfahrt W (x)

W (x) =H∑i=1

ui (x) (2.1)

I graphisch entspricht das einer vollstandigen Substituierbarkeitder Nutzen verschiedener Individuen

aber: Nutzen ist i.d.R. eine konkave Funktion desindividuellen Einkommens!

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6

u1

u2

Abbildung 2.2: Additive SWF

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Multiplikative Soziale Wohlfahrtsfunktion

I dem Mathematiker und Okonomen John Nash (*1928)zugeordnet und daher auch als Nash-SWF bezeichnet

I alternativer Operator: Multiplikation individueller Nutzen

W (x) =H∏i=1

ui (x) (2.2)

I graphisch: unvollstandige Substituierbarkeit der Nutzenverschiedener Individuen

starkere Betonung einer gleichmaßigen Nutzenverteilung als beiutilitaristischer SWF. Beispiel:

Zustand A: u1 = 2, u2 = 3

Zustand B: u1 = 1, u2 = 5

=⇒ bei multiplikativer SWF wird Zustand A praferiert, beiadditiver SWF Zustand B

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 2-8 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

u1

u2

Abbildung 2.3: Multiplikative SWF

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 2-9 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Rawls’sche Soziale Wohlfahrtsfunktion

I benannt nach John Rawls (1921-2002; Hauptwerk:”A Theory

of Justice“, 1971)

I nach Rawls werden Individuen unter dem”Schleier der

Ungewissheit“ den Nutzen des am schlechtesten gestelltenIndividuums maximieren

I soziale Wohlfahrt ist dann

W = min(ui ) i ∈ {1, 2, ...H} (2.3)

I graphisch: keine Substituierbarkeit der Nutzen verschiedenerIndividuen (limitationale soziale Indifferenzkurven)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 2-10 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

u1

u2

Abbildung 2.4: Rawls’sche (Maximin) SWF

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Beispiel:

In einer Okonomie gibt es nur zwei Individuen. Individuum 1arbeitet, wobei der Lohnsatz w = 1 ist und das Arbeitsangebotgemaß der Formel L = 10− at vom proportionalen Steuersatzt ≥ 0 abhangt. Das Nettoeinkommen nach Steuern diesesIndividuums ist

Y1 = (10− at)(1− t)

Das gesamte Aufkommen der Lohnsteuer kommt Individuum 2 zu,das arbeitslos und ohne eigenes Einkommen ist. DasTransfereinkommen dieses Individuums ist

Y2 = (10− at)t

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 2-12 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Der Nutzen jedes Individuums entspricht dem erzieltenNettoeinkommen nach Steuern und Transfers: Ui = Yi ∀ i .Wie hoch ist der optimale Einkommensteuersatz t, wenn dersoziale Planer

(a) eine utilitaristische soziale WohlfahrtsfunktionW = U1 + U2 maximiert?

W = (10− at)(1− t + t) = (10− at)→ t∗ = 0

(b) eine Rawls’sche soziale WohlfahrtsfunktionW = min{U1,U2} maximiert?

(1) max Y2 = 10t − at2 → t = 5/a

(2) Y1 ≥ Y2 → (1− t) ≥ t → t ≤ 0.5

(3) t∗ = min{0.5, 5/a}

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 2-13 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Zusammenfassung: Kritische Evaluation der SWF

I Einigung uber Form der SWF denkbar bei grundsatzlicher,konstitutioneller ex-ante Entscheidung der Gesellschaft untereinem

”Schleier der Ungewissheit“ (John Rawls, A Theory of

Justice, 1971).

I Der”Schleier der Ungewissheit“ bedeutet dabei, dass die

Beteiligten nicht wissen, ob sie selbst am Markt okonomischerfolgreich sind und daher von einer umverteilenden Politikgewinnen oder verlieren.

I Kein Konsens uber die”richtige“ Form der SWF bei

politischen Tagesentscheidungen. Grund: hier keine ex ante,sondern ex-post Entscheidung nach Realisierung einerbestimmten Einkommensverteilung. Daher kommt es zugegensatzlichen Interessen.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 2-14 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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I Verwendung alternativer SWF sinnvoll, um die Robustheit vonPolitikempfehlungen gegenuber der genauen Aggregationsregelzu uberprufen (z.B. optimale Einkommensbesteuerung;→Kap. 9).

I In den letzten Jahren Kritik am BIP (einfache utilitaristischeSWF) als Maß fur Wohlfahrt

I Berucksichtigung von subjektivem Gluck (”National Happiness

Indicator“)I Capability Approach (Amartya Sen): Menge eines Gutes und

der dadurch generierte Nutzen sind inadaquate Indikatoren furdie Wohlfahrt eines Individuums oder einer Gruppe; nicht dieAusfuhrung ist entscheidend, sondern die Befahigung(capability) etwas ausfuhren zu konnen (aber weder zu mussennoch in der Tat zu tun) ist zentral

I z.B. Frankreich (2008): Bildung einer Kommission unterVorsitz von Joseph Stiglitz und Amartya Sen, die ein neuesWohlfahrtsmaß entwickeln soll

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 2-15 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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3. Der Staat in der Marktwirtschaft

3.1. Staat und Eigentumsordnung

I Ein wichtiger Beitrag des Staates in der Marktwirtschaftbesteht aus staatlich gesetzten Rahmenbedingungen wieEigentumsschutz und Vertragssicherheit (vgl. Kap. 1).

I In diesem Abschnitt sollen die Effizienzwirkungen dieserstaatlichen Rahmenbedingungen analysiert werden. DieAnalyse erfolgt mit einfachen Variationen mikrookonomischerGrundmodelle des Konsums und der Produktion.

Annahme einer Robinson-Okonomie

I Robinson (Individuum A) produziert Gut 1 mit einemInputfaktor (spezifische Arbeit), wobei im Produktionsprozesseine Inputeinheit in eine Outputeinheit transformiert wird. DieProduktionsmenge ist y1.

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I Die Konsummenge von Robinson ist x1. DieProduktionsanstrengung (Arbeitsleid) verringert denKonsumnutzen von Robinson in additiver Form.

I die Nettonutzenfunktion von Robinson (uAn ) ist dann gegebendurch

uAn (xA1 , y1) = uA(xA1 )− cA(y1) (3.1)

I Optimierung im Autarkiefall mit xA1 = y1 ergibt

maxy1

uAn =⇒ ∂uA

∂xA1=∂cA

∂y1(3.2)

Grenznutzen = Grenzkosten (Grenzleid) der Arbeit

=⇒ die vollstandige Aneignung des Ertrags fuhrt zu einemeffizienten Arbeitsangebot

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Hinzunahme von Freitag

I Freitag (Individuum B) produziert Gut 2 mit dem spezifischenInputfaktor 2; seine Produktionsmenge ist y2

I die Nettonutzenfunktion von Freitag ist

uBn (xB2 , y2) = uB(xB2 )− cB(y2) (3.3)

I Optimierung im Autarkiefall mit xB2 = y2 ergibt

∂uB

∂xB2=∂cB

∂y2(3.4)

Grenznutzen = Grenzkosten (Grenzleid) der Arbeit

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 3-3 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Pareto-effizienter TauschZusammentreffen von Robinson und Freitag → eine Paretoeffiziente Allokation kann durch folgendes Optimierungsproblemermittelt werden:

L = uA(xA1 , xA2 )− cA(xA1 + xB1︸ ︷︷ ︸

y1

)

+ λ[uB(xB1 , xB2 )− cB(xA2 + xB2︸ ︷︷ ︸

y2

)− uBn ]

FOCs fur die Konsummengen xA1 , xA2 , x

B1 , x

B2 :

∂L∂xA1

=∂uA

∂xA1− ∂cA

∂y1= 0 (3.5)

∂L∂xA2

=∂uA

∂xA2− λ ∂c

B

∂y2= 0 (3.6)

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∂L∂xB1

= λ∂uB

∂xB1− ∂cA

∂y1= 0 (3.7)

∂L∂xB2

= λ∂uB

∂xB2− λ ∂c

B

∂y2= 0 (3.8)

I Gl. (3.5) und (3.8) entsprechen (3.2) und (3.4)=⇒ Produktionseffizienz

I Gl. (3.5) bis (3.8) implizieren

GRSA =∂uA/∂xA1∂uA/∂xA2

=∂uB/∂xB1∂uB/∂xB2

= GRSB (3.9)

=⇒ Effizienz im Konsum

Ergebnis: das Modell reproduziert die ublichen Bedingungen furPareto Effizienz in einem sehr einfachen Rahmen.

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Anarchie (Eigentumsunsicherheit)

I Anarchie als Zustand ohne jede staatliche Ordnung (ThomasHobbes:

”Krieg aller gegen alle“)

I Operationalisierung im Modell: Individuum A kann sichBruchteil α < 1 der eigenen und der fremden Produktionaneignen; Individuum B erhalt den Anteil (1− α) der eigenenund der fremden Produktion

I Maximierungsproblem von Individuum A wird zu

maxy1

uA(αy1︸︷︷︸xA1

, αy2︸︷︷︸xA2

)− cA(y1)

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I FOCs fur Individuen A und B werden dann zu

α∂uA

∂xA1=∂cA

∂y1(3.10)

(1− α)∂uB

∂xB2=∂cB

∂y2(3.11)

=⇒ gegenuber dem Pareto Optimum wird jetzt weniger Arbeitangeboten (gleiche Kosten, geringerer Ertrag)

=⇒ Anarchie schafft Ineffizienz in der Produktion

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-

6

xA1 , y1

(cA)′, (uA)′

Abbildung 3.1 Produktionsanreize bei Anarchie

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Zusammenfassung

1. Eine fundamentale allokative Funktion des Staates liegt in derDefinition und Durchsetzung von Eigentumsrechten. Nur diesstellt effiziente Anreize zur Produktion sicher, da jedesIndividuum sich das Ergebnis der eigenen Arbeit in vollemUmfang aneignen kann.

2. Prinzipiell ware der staatliche Eigentumsschutz durch impliziteKoordination moralischer Individuen substituierbar (keinDiebstahl, Einhaltung aller Abmachungen). Die Rolle desStaates ergibt sich durch das zumindest teilweise unmoralische(egoistische) Verhalten der einzelnen.

3. Die Verbesserung von Institutionen und der positive Effektvon “guten” Institutionen auf Wachstum stehen imMittelpunkt von zahlreichen Analysen in derEntwicklungspolitik und -okonomie.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 3-9 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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3.2. Marktwirtschaft und Marktversagen

I Abschnitt 3.1 behandelte grundlegende Funktionen desStaates wie die Schaffung von Eigentums- undVertragssicherheit (Ordnungspolitik)

I Abschnitt 3.2 analysiert dagegen direkte staatliche Eingriffe ineinzelne Markte (Prozesspolitik).

I Zuerst jedoch der Referenzfall, unter denen eineMarktwirtschaft keinerlei staatliche Interventionen benotigt.

I Dies wird ausgedruckt im:

1. Hauptsatz der WohlfahrtsokonomikBei vollstandiger Konkurrenz und vollstandigen Markten ist jedesMarktgleichgewicht ein Pareto Optimum.

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intuitive Begrundung: Bedingung fur Pareto Optimum (Abschnitt3.1)

GRSAx ,y = GRSB

x ,y = GRTx ,y (3.12)

In einer Marktwirtschaft mit zwei Konsumenten (A,B), zweiGutern (x , y) und zwei Faktoren (g1, g2) gilt:

1. Tauscheffizienz: Aus Nutzenmaximierung der Konsumentenfolgt:

∂uA/∂x

∂uA/∂y= GRSA

x ,y =pxpy

= GRSBx ,y =

∂uB/∂x

∂uB/∂y. (3.13)

Da sich alle Konsumenten dem gleichen Preisvektor gegenubersehen, gleichen sich auch die GRSx ,y zwischen allen Individuenan.

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2. Produktionseffizienz: optimale Inputentscheidunggewinnmaximierender Unternehmen bei Konkurrenz aufFaktormarkten

px∂x

∂gi= wgi = py

∂y

∂gi∀ i (3.14)

Da sich alle Produzenten den gleichen Faktorpreisen gegenubersehen, gleichen sich auch die Wertgrenzprodukte beiderFaktoren gi uber die verschiedenen Sektoren (und Firmen) an.

3. Gesamteffizienz: aus (4.3.) ergibt sich durch einfacheUmformung

pxpy

=(∂y/∂gi )

(∂x/∂gi )=

GKx

GKy= GRTx ,y (3.15)

Aus (3.13) und (3.15) folgt: da sich Produzenten undKonsumenten dem selben Guterpreisvektor gegenuber sehen,gleichen sich GRSx ,y und GRTx ,y an.

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Diese Argumentation kann fur beliebig viele Konsumenten, Guterund Faktoren verallgemeinert werden.

einfache Erweiterungen:

1. intertemporale Okonomie: betrachte ein Gut zu verschiedenenZeitpunkten als unterschiedliche Guter;

2. Okonomie mit Risiko: definiere einen Markt fur jedenmoglichen Umweltzustand und betrachte ein Gut inunterschiedlichen Umweltzustanden als verschiedene Guter.

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Diskussion der Bedingungen:

vollstandige Konkurrenz: sichert, dass Produzentenpreise dietatsachliche Knappheit der Produktionsfaktoren und dieProduktionstechnologien wiedergeben

vollstandige Markte:

I keine ExternalitatenI Rivalitat im Konsum (sonst: offentliche Guter)I symmetrische Information (uber bekannte

Wahrscheinlichkeiten)I rationale (souverane) Konsumenten

Nicht-Gultigkeit dieser Bedingungen → Grunde fur allokativesMarktversagen

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Allokatives Marktversagen

1. Unvollstandige Konkurrenz

I jede Abweichung von perfekter Konkurrenz fuhrt zuAuseinanderfallen von Preis (= Grenznutzen imKonsumentenoptimum) und Grenzkosten(=volkswirtschaftliche Opportunitatskosten desRessourceneinsatzes) eines Gutes.

I Beispiele: Netzindustrien (Telekommunikation, Bahn, Stromund Gas)

I Staatliche Gegenmaßnahmen: Ubernahme des Sektors durchden Staat oder staatliche Korrektur durch Preisregulierung(→ Wettbewerbs- und Regulierungspolitik)

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2. Externe Effekte

I Die Produktion eines Gutes verursacht Kosten, die uber dieKosten fur die Bezahlung der Produktionsfaktorenhinausgehen und daher vom Produzenten nicht berucksichtigtbzw. internalisiert werden.

I Beispiele: CO2 Ausstoß bei der Verbrennung in Motoren undHeizungen, Umweltverschmutzung durch giftige Chemikalien,FCKW, Grundwasserverunreinigung etc.

I Staatliche Gegenmaßnahmen: Besteuerung desumweltschadigenden Gutes (Pigou-Steuer) oder Handel mitUmweltzertifikaten (→ Umweltpolitik)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 3-16 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Diskussion:

1. Das generelle Prinzip, das staatliche Eingriffe rechtfertigt, isteine unvollstandige Internalisierung der Nutzen und Kosteneigener Handlungen durch den Verursacher (externe Effektefur die Gesellschaft). Dieses Prinzip unterliegt letztlich allenFormen des Marktversagens.

2. Unvollstandige Konkurrenz und unvollstandige Markte sind invielen Bereichen der Wirtschaft anzutreffen. Daher gibt eseine Reihe grundsatzlicher allokativer Argumente fur staatlicheEingriffe in einzelne Markte. Diese werden in der VorlesungRessourcenallokation und Wirtschaftspolitik ausfuhrlichanalysiert und diskutiert.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 3-17 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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3. Nach dem Coase Theorem (1960) konnten staatliche Eingriffeprinzipiell durch private Tauschhandlungen ersetzt werden,wenn die Eigentumsrechte klar definiert sind. Das CoaseTheorem abstrahiert aber von Transaktionskosten.

Private Verhandlungen fuhren jedoch zu hohenTransaktionskosten, wenn die Zahl der betroffenenWirtschaftssubjekte sehr groß wird. In dieser Perspektive sindstaatliche Eingriffe deshalb wohlfahrtserhohend, weil sie zurSenkung der Transaktionskosten beitragen, mit denen eineeffiziente Ressourcenallokation erreicht wird.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 3-18 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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4. Mehrheitswahl und Abstimmungsgleichgewicht

4.1. Einfuhrung und Grundlagen

Die Politische Okonomie (Public Choice) liegt im Schnittpunkt vonNationalokonomie und Politikwissenschaft

I inhaltlich befasst sie sich mit dem Gebiet der politischen(Wahl-) entscheidungen

I methodisch verwendet sie den okonomischenMaximierungsansatz und wendet ihn auf den Bereich derpolitischen Entscheidungen an

dieser methodische Ansatz fuhrt zu einer kritischeren (weniger

”naiven“) Sicht auf den politischen Entscheidungsprozess als die

konventionelle Wohlfahrtstheorie (Kapitel 1 bis 3), die im Staateinen monolithischen, benevolenten Diktator sieht.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 4-2 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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grundlegende Arbeiten der modernen politischen Okonomie

I zentrales Modell des politischen Wettbewerbs zwischenParteien durch Anthony Downs (1957)

I kritische Analyse der Ergebnisse des Parteienwettbewerbsdurch Buchanan/Tullocks Calculus of Consent (1962)

grundlegende Trennung:

1. Modelle der direkten Demokratie, in denen die Burgerpolitische Entscheidungen unmittelbar fallen (→ Kap. 4)

2. Modelle der reprasentativen (indirekten) Demokratie, indenen die Burger Parteien bzw. Politiker wahlen, die dannpolitische Entscheidungen treffen (→ Kap. 5)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 4-3 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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in beiden Demokratieformen erfolgt die politische Entscheidungmeist durch die einfache Mehrheitsregel:

I Eine einfache Mehrheit (50.01%) ist mindestens notwendig,um zu verhindern, dass gleichzeitig eine Politik (P) und ihrGegenteil (−P) angenommen wird.

I Die einfache Mehrheitsregel hat geringere Entscheidungs- undTransaktionskosten, als wenn eine breitere Mehrheit verlangtwird.

I Die einfache Mehrheitsregel hat aber hohe Ausschlusskosten,da potenziell fast die Halfte der Bevolkerung ihren Willennicht bekommt.

=⇒ die einfache Mehrheitsregel ist gut fur politischeTagesentscheidungen geeignet, aber nicht fur grundlegende(Verfassungs-) Entscheidungen der Gesellschaft.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 4-4 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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4.2. Zyklische Mehrheiten und Medianwahlertheorem

I die Moglichkeit zyklischer Mehrheiten, d.h. die Nicht-Existenzeines eindeutigen Wahlgleichgewichts, ist ein zentrales Themain der Public Choice Literatur. Es taucht erstmals beimMarquis de Condorcet (1785) auf und wird systematisch beiDuncan Black (1948) und Kenneth Arrow (1951) behandelt.(→ vgl. Kap. 1.3)

I Zentrale Aussage: wenn die Praferenzen von mindestenseinem Wahler (V ) mehrgipfelig sind, kann Mehrheitswahl zuzyklischen (nicht eindeutigen) Mehrheiten fuhren.

I Beispiel: Individuen 1, 2, 3 stimmen uber drei Niveaus einesoffentlichen Gutes ab (x= niedrig; y= mittel; z= hoch) →Abbildung 4.1

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 4-5 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

Menge

Nutzen

Abbildung 4.1: Mehrgipfelige Praferenzen und zyklischesAbstimmungsverhalten

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I mehrgipfelige Praferenzen von Wahler 2, die aber dieAnnahmen an die Transitivitat der individuellen Praferenzenerfullen, fuhren bei paarweiser Abstimmung zu x > y > z > x .

=⇒ Es ergibt sich eine intransitive soziale Praferenzordnung: Jenachdem, in welcher Reihenfolge die Alternativen zur Abstimmunggestellt werden, ergibt sich eine andere mehrheitlich gewahltePolitik.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 4-7 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Das Medianwahlertheorem (D. Black, 1948)

Wenn (i) die Abstimmung uber ein eindimensionales Problemerfolgt und (ii) alle Wahler eingipfelige Praferenzen in Bezug aufdiese Dimension haben (transitive soziale Praferenzordnung), danngibt es ein eindeutiges Abstimmungsgleichgewicht bei der Positiondes Medianwahlers.

Interpretation:

I Bedingung (i) bedeutet, dass die Alternativen auf einerGerade gereiht werden konnen. Bedingung (ii) bedeutet, dassder Nutzen mit zunehmender Entfernung vom Optimalpunktmonoton sinkt. (→ Abbildung 4.2)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 4-8 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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I Dann gilt, wegen der Definition des Medianwahlers (V3), dasssein Optimalpunkt m von mindestens der Halfte aller Wahlergegenuber jedem Punkt x < m vorgezogen wird. Analog wirdm auch von mindestens der Halfte der Wahler gegenuberjedem y > m vorgezogen.=⇒ Der Optimalpunkt des Medianwahler setzt sich durchund ist ein Gleichgewicht, da er unabhangig von derAbstimmungsreihenfolge gegen keinen anderen Punkt verlierenkann.

I Warum gilt dies nicht mehr, wenn ein Wahler mehrgipfeligePraferenzen hat? Gibt es dann grundsatzlich keinWahlgleichgewicht? (→ Abb. 4.3)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 4-9 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Nutzen

-Menge des offentlichen Gutes

Abbildung 4.2: Medianwahler und Wahlgleichgewicht

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-

6

Menge

Nutzen

Abbildung 4.3: Mehrgipfelige Praferenzen ohne zyklischesAbstimmungsverhalten

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4.3. Zwei-dimensionale Entscheidungen und Stimmentausch

Beispiel: mehrere Wahler haben jeweils ein starkes Interesse aneinem bestimmten Projekt (z.B. Transrapidstrecke in einembestimmtem Ballungsgebiet).

Wahler Projekt X Projekt Y

A –2 –2B 5 –2C –2 5

Summe +1 +1

I bei separater Mehrheitsabstimmung uber jedes Projekt werdenX und Y nicht durchgefuhrt

I wenn B und C (implizit)”Stimmen tauschen“ konnen, werden

X und Y durchgefuhrt: B und C gewinnen auf Kosten von A

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I im Beispiel ist der Stimmentausch effizienzerhohend, wenn dieAuszahlungsmatrix kardinal messbare und interpersonellvergleichbare Nutzenanderungen angibt

I genauso gut kann Stimmentausch aber effizienzsenkend sein.Alternative Annahme: die Auszahlungen seien -3 fur alleWahler, die nicht von einem Projekt X und Y profitieren!

Ergebnis (Bernholz, 1973):

Eine Situation mit Anreizen zum Stimmentausch existiert nur beieiner intransitiven gesellschaftlichen Praferenzordnung.

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Wie ist die Bewertung von Projektpaaren durch die Wahler?

Paar Projekte Wahler A Wahler B Wahler C

1 (X,Y) –4 +3 +32 (X, –Y) –2 +5 –23 (–X, –Y) 0 0 0

I Paar 1 (X, Y) gegen Paar 2 (X, –Y): Wer gewinnt?

I Paar 2 (X, –Y) gegen Paar 3 (–X, –Y): Wer gewinnt?

I Paar 3 (–X, –Y) gegen Paar 1 (X,Y): Wer gewinnt?

Fazit: Der Grund fur eine intransitive soziale Praferenzordnungliegt hier in der Mehrdimensionalitat des Entscheidungsproblems.Ein eindeutiges Abstimmungsgleichgewicht kommt nicht zuStande, obwohl die Praferenzen eingipfelig sind (letzteres muss beinur 2 Bewertungszustanden immer gelten).

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4.4. Alternativen zur Mehrheitswahl

Wahlverfahren fur die Wahl zwischen wechselseitig ausschließbarenAlternativen (z.B. Kandidaten fur ein offentliches Amt)

Mehrheitswahl: Wahl des Kandidaten, der von einer Mehrheit derWahler auf den 1. Platz gesetzt wird.

Mehrheitswahl mit 2. Wahlgang: Ausscheidungswahl zwischen denbeiden Erstplatzierten des 1. Wahlgangs. Im 2. Wahlgangentscheidet großere Zahl der Stimmen.

Pluralitatswahl: Der Kandidat, der von den meisten Wahlern aufden 1. Platz gesetzt wird, gewinnt.

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Condorcet Kriterium: Wahl des Kandidaten, der in paarweiserAbstimmung gegen alle Konkurrenten eine einfache Mehrheitder Stimmen erhalt (gibt es keinen Kandidaten, der sich inpaarweiser Abstimmung gegen alle anderen durchsetzt, gibt eskeinen Condorcet Sieger)

Borda-Punktesystem: Jeder Wahler reiht die Kandidaten ordinalund vergibt 1, 2, ...,m Punkte an m Kandidaten. Der Kandidatmit der hochsten Punktezahl gewinnt.

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Pluralitatswahl vs. Condorcet-Kriterium

5 Wahler erstellen Reihenfolge uber 4 Alternativen (X,Y,Z,W)

Rang V1 V2 V3 V4 V5

1 X X Y Z W2 Y Y Z Y Y3 Z Z W W Z4 W W X X X

I Wer gewinnt bei Pluralitatswahl?

I Wer gewinnt nach dem Condorcet-Kriterium?

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Condorcet-Kriterium vs. Borda-Punktwertung

5 Wahler entscheiden zwischen 3 Alternativen (X,Y,Z)

Rang V1 V2 V3 V4 V5

1 X X X Y Y2 Y Y Y Z Z3 Z Z Z X X

I Wer ist der Condorcet-Sieger?

I Wer gewinnt nach dem Borda-Punktesystem?

Fazit: Entscheidungsregeln sind wichtig!

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Fallbeispiel: W. Leininger (1993): The Fatal Vote: Berlin vs.Bonn, FinanzArchiv/Public Finance Analysis 50 (1), 1-20.

I 1991 stimmten die Abgeordneten des Deutschen Bundestagsfur einen Umzug des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin

I Insgesamt 5 Antrage mit 3 Alternativen zur Wahl:I A: Konsensantrag Berlin/Bonn: Bundestag in Berlin,

Regierungssitz in BonnI B: Bundestag und Regierungssitz in BerlinI C: Bundestag und Regierungssitz in Bonn

I Kein Fraktionszwang und namentliche Abstimmung=⇒ Praferenzen lassen sich rekonstruieren

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I Abstimmungsverlauf:

1. Abstimmung uber Antrag A2. Abstimmung zwischen Antrag B und C

I Durch Anlegen von Konsistenzkriterien an die tatsachlichenStimmentscheidungen lassen sich die Praferenzen derAbgeordneten rekonstruieren

I Es gibt sechs Moglichkeiten Praferenzen uber A, B und C zubilden (ohne Indifferenz)

Profil I A � B � C Profil IV B � C � AProfil II A � C � B Profil V C � A � BProfil III B � A � C Profil VI C � B � A

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Rekonstruktion der Praferenzprofile:

Hypothese 1: Ein Abgeordneter, welcher fur Option A inAbstimmung 1 gestimmt hat, muss A gegenuber allen anderenAlternativen praferieren (weil bei Annahme von A dieAbstimmung beendet gewesen ware).

Hypothese 2: Ein Abgeordneter, welcher Option A in Abstimmung1 abgelehnt hat, muss alle anderen Alternativen gegenuber Apraferieren.

Hypothese 3: Ein Abgeordneter, welcher sich in Abstimmung 1enthalt, muss der Alternative A den zweiten Rang geben (aufRang 1 hatte er fur Antrag A gestimmt, auf Rang 3 dagegen).

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I Aus H 1 und H2 ergibt sich, dass Abgeordnete welche fur A inAbstimmung 1 gestimmt haben und fur B (C) in Abstimmung3, das Profil I A � B �C (Profil II A � C � B) haben.

I Abgeordnete, welche in Abstimmung 1 gegen Antrag Agestimmt haben und in Abstimmung 2 B (C) wahlen, habendas Profil IV B � C � A (Profil VI C � B � A).

I Aus H 3 ergeben sich die ubrigen Praferenzprofile B � A � C(Profil III) und C � A � B (Profil V).

Praferenzprofil Praferenzordnung Anzahl Abgeordneter

I A � B � C 116II A � C � B 30III B � A � C 81IV B � C � A 140V C � A � B 140VI C � B � A 150

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Wahlausgang bei verschiedenen Wahlsystemen

Mehrheitswahl: Hier kommt es zu keinem eindeutigen Gewinner:A:

146

B:

221

C:

290

Mehrheitswahl mit zweitem Wahlgang: Es kommt zur Stichwahlzwischen B und C (die Realitat kam diesem System amnachsten)B:

337

C:

320

Pluralitatswahl: Hier hatte Alternative C gewonnen:

290 > 221 > 146

Condorcet Kriterium: Drei paarweise Abstimmungen

A gegen B A: 286 B: 371 B gewinntB gegen C B: 337 C: 320 B gewinntA gegen C A: 227 C: 430 C gewinnt

=⇒ Es gibt einen eindeutigen Condorcet-Gewinner, namlichBerlin!

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Fur das Bordaverfahren benotigen wir die Haufigkeiten dereinzelnen Range:

1. Rang 2. Rang 3. Rang

A 146 221 290B 221 266 170C 290 170 197∑

657 657 657

Borda-Punktesystem: 3 Punkte fur den hochsten Rang, 2 fur denzweithochsten und 1 fur den dritten Rang

A: 146 x 3 + 221 x 2 + 290 x 1 = 1170B: 221 x 3 + 266 x 2 + 170 x 1 = 1365C : 290 x 3 + 170 x 2 + 197 x 1 = 1407

=⇒ Unter dem Borda-Punktesystem hatte Bonn gewonnen!

Ergebnis: Je nach Entscheidungsmodus hatte aus den Praferenzender Bundestagsabgeordneten sowohl Bonn als auch Berlin alsSieger hervor gehen konnen!

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Die Einstimmigkeitsregel

Bei der Einstimmigkeitsregel wird die Zustimmung aller Wahlergefordert. Dies bedeutet maximale Verhandlungskosten, aber auchbreitestmogliche Akzeptanz des Vorschlags.Analogie zum Pareto Kriterium: Einstimmigkeitserfordernis(Vetorecht) bedeutet, dass es bei dem Vorschlag (oder der Reform)keine Verlierer geben darf.

Beispiel: n1 Raucher und n2 Nichtraucher im Zug mussenentscheiden, ob das Rauchen erlaubt oder verboten ist.

Fall A: Der Zug besteht aus nur 1 Wagon.

I Konfliktsituation: keine Einstimmigkeit und keine”dritte

Alternative“ moglich

I ungefahr gleiche Intensitat der Praferenzen

=⇒ Mehrheitswahl dominiert

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Fall B: Der Zug besteht aus 2 Wagons.

I Einstimmigkeit moglich, da”dritte Alternative“ existiert: je

ein Wagen fur Raucher und fur Nichtraucher

I Mehrheitswahl kann zu”Tyrannei der Mehrheit“ fuhren, da die

Mehrheit ein Interesse hat, sich auf beide Wagons zu verteilen

=⇒ Mehrheitswahl kann”kreative“ Losungen verhindern, die

(vermutlich) die soziale Wohlfahrt erhohen. Einstimmigkeitsregeldominiert!

Fazit: Mehrheitswahl und Einstimmigkeit konnen in jeweilsunterschiedlichen Situationen die bessere Entscheidungsregel sein.

Anwendung der Einstimmigkeitsregel: UN-Sicherheitsrat, EU(Verfassung, Steuern)

Diskussion: Umfang der Einstimmigkeitsregel in der EU?

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5. Konkurrenz der Parteien

I indirekte (reprasentative) Demokratie: Burger stimmen nichtdirekt uber einzelne Politikentscheidungen ab

I hier zu untersuchen: Wahl von Parteien durch Burger unterder einfachen Mehrheitsregel

I zentrale Hypothese zum Verhalten politischer Parteien(Anthony Downs, 1957):

”parties formulate policies, in order

to win elections, rather than win elections in order toformulate policies“

I Ergebnisse und Probleme aus Kap. 4 (Medianwahlertheorem,zyklische Mehrheiten) auch hier relevant

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5.1. Deterministische Parteienwahl mit einer Dimension: DasMedianwahlertheorem

Annahme 1: Wahler bevorzugen Partei, deren Programm(”platform“) am nachsten an ihrer eigenen Position liegt

Annahme 2: Bedingungen des Medianwahlertheorems erfullt (vgl.Abschnitt 4.2): (i) nur eine Dimension der Wahl; (ii)eingipfelige Praferenzen aller Wahler

Ergebnis (Downs, 1957): im Gleichgewicht wahlen beideParteien das Programm, das der Medianwahler favorisiert

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-

6

Stimmenzahl

Positionen

Abbildung 5.1 (a): Wettbewerb im Zwei-Parteien-Modell

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Erlauterung des Gleichgewichts:

1. Startpunkt: wir nehmen an, zwei Parteien L und R vertretenunterschiedliche ideologische Positionen und wahlen zunachstdie Positionen (Programme) PL (links) und PR (rechts).

2. Position PX : Trennungslinie zwischen Wahlern von L und R;Position PM : Position des Medianwahlers;

3. liegt PX links von PM , dann gewinnt Partei R die Wahl.

4. aber: Partei L kann Stimmen gewinnen, wenn sie sich auf PX

zubewegt. Damit verschiebt sie gleichzeitig PX in Richtungder Position des Medianwahlers (PM).

5. Analog gewinnt Partei R an Stimmen, wenn sie sich auf PX

zubewegt.

=⇒ es gibt nur ein Wahlgleichgewicht, in dem beide Parteien diePosition des Medianwahlers einnehmen: PL = PR = PM

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Ausnahmen vom Medianwahlerergebnisein anderes Ergebnis stellt sich nur ein, wenn beide der folgendenBedingungen erfullt sind:

1. die Verteilung der Wahlerstimmen ist asymmetrisch [→Abbildung 5.1 (b)] oder bimodal [→ Abbildung 5.1 (c)];

2. ein”Entfremdungseffekt“ ist wirksam, der zu Wahlenthaltung

fuhrt, wenn eine kritische Distanz zwischen der eigenenPosition und der Position der

”nachstgelegenen“ Partei

uberschritten wird

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-

6

Stimmenzahl

Positionen

Abbildung 5.1 (b): Wettbewerb im Zwei-Parteien-Modell mitasymmetrischer Verteilung und Entfremdungseffekt

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Abbildung 5.1 (b): eine Partei wird nur von den Wahlerninnerhalb des schraffierten Bereichs gewahlt

I Partei mit Programm in M uberlegt Wechsel zum ProgrammX (X liegt links von M): dadurch verliert sie Wahler rechts vonM, aber gewinnt (mehr) Wahler links von X

=⇒ Verschiebung des Gleichgewichts in Richtung auf den Modus(dichtester Wert) der Verteilung

Abbildung 5.1(c): bei Existenz eines Entfremdungseffektes kannein Gleichgewicht entstehen, in dem die beiden dichtesten Wertejeweils von einer Partei besetzt werden

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-

6

Stimmenzahl

Positionen

Abbildung 5.1 (c): Wettbewerb im Zwei-Parteien-Modell mitbimodaler Verteilung und Entfremdungseffekt

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Ergebnis: Modell des Parteienwettbewerbs”erklart“ die

abnehmende Bedeutung von ideologischen Positionen und dieAnnaherung der Programme der Volksparteien

I in Deutschland: Abkehr der SPD von sozialistischenTraditionen und Entwicklung zur Volkspartei im GodesbergerProgramm (1959); erst danach wird sie zum ersten Malstarkste Partei im Bundestag (1972)

I USA: Prasidentschaftswahl war weitgehend Personenwahl,unabhangig von Parteizugehorigkeit der Kandidaten; neuesteEntwicklung: wieder ‘ideologische’ Positionen

I Personenwahl (statt Programmwahl) auch in Deutschlandzunehmend wichtig; dies zeigt sich an dominierender Rolle derSpitzenkandidaten im Wahlkampf

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Empirische Evidenz fur das Medianwahlertheorem

Gerber und Lewis (2004): Beyond the Median: Voter Preferences,District Heterogeneity, and Political Representation, Journal ofPolitical Economy 112 (6), S. 1364-1383.

I Ermittlung der Position des Medianwahlers aus 2,3 Mio.abgegeben Stimmzetteln im Los Angeles County fur Wahlenauf Staats- und Bundesebene sowie Referenden zuSachthemen

I Ideologie des Abgeordneten wird durch Stimmverhalten imParlament bestimmt

I Effekt der Position des Medianwahlers hat signifikantenEinfluss auf Stimmverhalten des Abgeordneten in homogenenWahlkreisen (Spalte 3 in Tabelle 5.1).

I In heterogenen Wahlkreisen wird der Effekt der Position desMedianwahlers kleiner; der Abgeordnete orientiert sich nichtmehr am Medianwahler, sondern an seiner Fraktionslinie

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 5-10 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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OLS Schatzung (N = 55)Abhangige Variable: Stimmverhalten des Abgeordneten

Erklarende Variable (1) (2) (3) (4)

Praferenz des 0.87 0.09 0.75 0.86Medianwahlers (0.15) (0.07) (0.28) (0.31)Position der Fraktion 1.12 1.07 1.22

(0.06) (0.06) (0.19)Praferenz d. Median -0.29 -0.30x Varianz (0.12) (0.12)Position der Partei -0.12

(0.15)Konstante -0.49 -0.07 -0.14 -0.13

(0.09) (0.04) (0.05) (0.05)R2 0.37 0.92 0.93 0.93

Tabelle 5.1.

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Erweiterung: Mehrparteiensysteme

I Existenz eines gleichgewichtigen Vektors von Parteipositionenist in Modellen mit mehr als zwei Parteien sehr schwer zuzeigen. Das zusatzliche Problem ist die Stabilitat derKoalitionsbildung: die Partei, die von der Regierungausgeschlossen wird, hat einen Anreiz, die Position zuwechseln, um dann

”koalitionsfahig“ zu sein.

I Eine Losung ist, teilweise ideologische Parteien anzunehmen,die einen zusatzlichen Nutzen daraus haben, wenn sie

”ihre“

Wahler bedienen. Dann ergeben sich Gleichgewichte, in denenpotenziell viele Parteien das politische Spektrum abdecken.

I Die Gleichgewichte sind in diesen Modellen typischerweisenicht eindeutig, weil es mehrere Koalitionen gibt, die eineMehrheit erreichen konnen.

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Mehrheits- vs. Verhaltniswahlrecht (vgl. Public Choice III, Kap.13)

I Die Ergebnisse in diesem Kapitel gelten fur ein reinesMehrheitswahlrecht, das in der Regel zu Zwei-ParteienSystemen fuhrt (USA, UK). Das Verhaltniswahlrecht(Kontinentaleuropa) fuhrt in der Regel zu mehr als zweiParteien und damit zum zusatzlichen Problem derKoalitionsbildung.

I Die empirische Evidenz zeigt, dass Zwei-Parteiensystemestabiler im Sinne langerer durchschnittlicher Regierungszeitensind (1100 Tage vs. 620 Tage). Dies kann mit denzusatzlichen Instabilitaten erklart werden, die durch dieNotwendigkeit einer Koalitionsbildung entstehen.

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I Dagegen ist die Wahlbeteiligung in Staaten mitVerhaltniswahlrecht hoher. Dies kann mit einemEntfremdungseffekt erklart werden, der in einem2-Parteien-System entsteht, wenn Wahler an den Randern despolitischen Spektrums bzw. mit speziellen Interessen sich vonkeiner Partei ausreichend reprasentiert fuhlen.

=⇒ keine klare Uberlegenheit von Verhaltnis- oderMehrheitswahlrecht

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5.2. Deterministische Parteienwahl mit mehrerenDimensionen: Zyklen

I in Abschnitt 5.1: Annahme von eingipfeligen Praferenzen undeines eindimensionalen Entscheidungsproblems

I jetzt: Erweiterung auf mehrdimensionalesEntscheidungsproblem

Beispiel: 3 Wahler, 3-dimensionales Programm3 Politikentscheidungen, die jeweils einige Wahler begunstigen(positive Netto-Auszahlung) und von den anderen bezahlt werdenmussen (negative Netto-Auszahlung)Beispiele: I. Kindergeld, II. Mindestlohn, III. Zuschusse fur diePflegeversicherung

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Wahler A Wahler B Wahler C

Thema I 4 –2 –1Thema II –2 –1 4Thema III –1 4 –2

es sei: J=Ja, N=nein

1. Ausgangspunkt: erste Partei hat zu Themen (I,II,III) dasProgramm (JJJ).

2. Wer siegt, wenn Partei (JJJ) gegen Partei (JJN) antritt?

3. Wer siegt, wenn Partei (JJN) gegen Partei (JNN) antritt?

4. Wer siegt, wenn Partei (JNN) gegen Partei (NNN) antritt?

5. Wer siegt, wenn Partei (NNN) gegen Partei (JJJ) antritt?

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Fazit:

I Mehrdimensionalitat fuhrt zu zyklischemAbstimmungsverhalten, analog zur direkten Demokratie(Kap. 4.3)

I einziger Unterschied: Zyklus kann nur in aufeinanderfolgendenWahlen auftauchen, wenn bei jeder Wahl nur zwei Parteienantreten

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grafische Darstellung der Instabilitat bei deterministischemWahlverhalten (→ Abbildung 5.2)

I zwei-dimensionales Entscheidungsproblem mit Politikfeldern Xund Y

I drei Wahler haben Idealpunkte A, B, C; Indifferenzkurven inKreisen um diese Maxima

I Nutzen fallt in jeder Dimension monoton bei steigenderDistanz zum Idealpunkt → eingipfelige Praferenzen in jederDimension

I Mittelpunkt M (Medianposition im 2-dimensionalen Fall) wirdvon jedem Punkt in den drei Linsen besiegt, da immer 2Individuen besser gestellt werden. Dies gilt sogar fur Punkteaußerhalb des Dreiecks ABC (Punkt N).

I Ausgehend von Punkt N konnen neue Kombinationen (X,Y)gefunden werden, die mindestens 2 Wahler besser stellen →Zyklus!

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X

Y

Abbildung 5.2: Zyklische Abstimmung bei 2-dimensionalenPolitikentscheidungen

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Methodisches Fazit:

I Im 2-dimensionalen Politikraum gibt es bei deterministischerWahl kein eindeutiges Gleichgewicht. Dies gilt selbst dann,wenn die Praferenzen aller Wahler in jeder Dimensioneingipfelig sind.

=⇒ Wie in Modellen der direkten Demokratie kann dasMedianwahlertheorem nicht generell verallgemeinert werden,sondern ist auf Entscheidungen uber eine Dimension beschrankt.

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Politikimplikationen des deterministischen Modells

I wenn Regierungspartei an ihr Programm gebunden ist, wird esimmer eine Oppositionspartei geben, die sie in der nachstenWahl besiegt=⇒ Modell sagt regelmaßige Abwahl der Regierung insolchen Situationen voraus

I empirische Evidenz fur (z.B.) die USA zeigt aber, dass imlangjahrigen Durchschnitt 75% aller Gouverneurswahlen vomAmtsinhaber bzw. seiner Partei gewonnen werden=⇒ Frage, warum Regierungen haufig stabil sind, d.h.mehrere Wahlperioden im Amt bleiben

I =⇒ deterministisches Modell ist aus theoretischer und ausempirischer Sicht unbefriedigend

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5.3. Probabilistische Wahlmodelle

I ein instabiles Wahlgleichgewicht tritt im mehrdimensionalenFall auf, weil in deterministischen Modellen kleine Anderungenin den Abstanden zu einem kompletten

”Stimmenumschwung“

fuhren=⇒ Einfuhrung von stochastischen Wahlmodellen, um hohereStabilitat des politischen Prozesses zu erklaren

Allgemeine Zielfunktion von Kandidat 1 (mit Konkurrent 2):

expected vote: EV1 =n∑

i=1

π1i (5.1)

wobei π1i die Wahrscheinlichkeit ist, dass Wahler i fur Kandidat 1stimmt (bei Gesamtzahl von n Wahlern).

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Bei deterministischer Wahl sind die π1i nicht kontinuierlich:

π1i = 1 wenn U1i > U2i ,

π1i = 0.5 wenn U1i = U2i ,

π1i = 0 wenn U1i < U2i , (5.2)

wobei U1i bzw. U2i der Nutzen von Wahler i bei Wahl desKandidaten 1 bzw. 2 ist.

Jetzt: kontinuierliche Wahrscheinlichkeiten

π1i = π1i (U1i ,U2i ), π2i = 1− π1i

∂π1i

∂U1i> 0,

∂π1i

∂U2i< 0. (5.3)

D.h. ein hoherer Nutzen von Wahler i unter dem Programm vonKandidat 1 (Kandidat 2) fuhrt zu hoherer (niedrigerer)Wahrscheinlichkeit, dass der Wahler fur Kandidat 1 stimmt.

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Annahme einer konkaven Zunahme der Wahlwahrscheinlichkeit:

∂2π1i

∂U21i

≤ 0,∂2π1i

∂U22i

≥ 0. (5.4)

mit kontinuierlichen und konkaven Wahrscheinlichkeitsfunktionen[(5.3) und (5.4)] sind die Bedingungen fur die Existenz eineseindeutigen Nash-Gleichgewichts erfullt

Ergebnis: beide Kandidaten bieten das gleiche Programm an. Diesentspricht einem verallgemeinerten Medianwahlertheorem=⇒ in stochastischen Wahlmodellen existiert auch immehrdimensionalen Fall ein Gleichgewicht, das analog zumMedianwahlertheorem im eindimensionalen Fall ist.

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Verbindung zu sozialen Wohlfahrtsfunktionen

genauere Spezifikation der Wahlwahrscheinlichkeitπ1i = π1i (U1i ,U2i ):

Fall 1: Nutzendifferenz π1i = π1i [Ui (y1i )− Ui (y2i )]wobei y1i und y2i die Netto-Einkommen von Individuum i beimProgramm von Kandidat 1 bzw. 2 sind

Der Kandidat kann ein gegebenes Gesamteinkommen Y auf dieWahler verteilen. Sein Maximierungsproblem ist:

L =n∑

i=1

π1i [Ui (y1i )− Ui (y2i )] + λ

(Y −

∑i

y1i

)

Dies ergibt als Bedingung erster Ordnung:

π′1i U′i = λ = π′1j U

′j (5.5)

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Im politischen Optimum des Kandidaten 1 muss gelten, dass dererwartete marginale Stimmenzuwachs aus der Zuteilung von 1 Eurofur zwei beliebige Wahler i und j der gleiche ist.

Wenn im symmetrischen Gleichgewicht alle Wahler in ihrerWahlentscheidung in gleicher Weise auf die mit den verschiedenenWahlprogrammen verbundene Nutzendifferenz reagieren, giltπ′1i = π′1j . Dann vereinfacht sich die Optimalbedingung (5.5) zu

U ′i = U ′j

d.h. die Grenznutzen des Einkommens mussen bei allen Individuengleich sein.Dies entspricht der Optimalbedingung bei der Maximierung eineradditiven sozialen Wohlfahrtsfunktion (→ Kap. 2.2)

W = U1 + U2 + ...+ Ui + ...+ Un

mit konkaven individuellen Nutzenfunktionen Ui (yi ).

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Fall 2: Nutzenquotient π1i = π1i (U1i/U2i )Hier ist die Bedingung erster Ordnung, wenn nach dem Ableitenein identisches Parteiprogramm beider Politiker eingesetzt wird(U1i = U2i = Ui )

π′1i (U ′i /Ui ) = λ = π′1j (U ′j/Uj). (5.6)

Wenn die Wahler im symmetrischen Gleichgewicht wieder ingleicher Weise auf Nutzenquotienten reagieren, gilt im Optimumder Politiker

U ′i /Ui = U ′j/Uj

d.h. der relative Nutzenzuwachs ist bei allen Wahlern gleich.

=⇒ dies entspricht der Optimalbedingung bei Verwendung einermultiplikativen sozialen Wohlfahrtsfunktion

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Optimalbedingung einer multiplikativen SWF:

W = U1 × U2 × ...× Ui × ...× Un bzw.

W = lnU1 + lnU2 + ...+ lnUi ...+ lnUn

maxy1,y2W = lnU1 + lnU2 + λ(Y − y1 − y2)

→ U(Y1)′

U1= λ =

U(Y2)′

U2

Ergebnis: mit probabilistischen Wahlmodellen ergeben sicheindeutige Gleichgewichte der Parteienkonkurrenz, die (unter derAnnahme π′1i = π′1j ) analog sind zur Maximierung konventionellersozialer Wohlfahrtsfunktionen

=⇒ politischer Wettbewerb fuhrt zu stabilen Ergebnissen, die mitder vom sozialen Planer gewahlten Allokation ubereinstimmen.Das politische Kalkul der Kandidaten fuhrt also nicht per se zuVerzerrungen.

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6. Interessengruppen und rent-seeking

6.1. Wahlkampfausgaben und Spenden

Erweiterung des probabilistischen Wahlmodells aus Kap. 5.3:

(a) Wahlkampfausgaben konnen Wahrscheinlichkeit eines Erfolgeserhohen:

V i1 = f (P1,P2,C1,C2) mit

∂V i1

∂C1> 0,

∂V i1

∂C2< 0

mit P1 als Programm und C1 als Wahlkampfausgaben vonKandidat 1 und analog fur den Konkurrenten 2

(b) Wahlkampfausgaben mussen mit Spenden (S1) finanziertwerden, wobei Budgetbeschrankung C1 = S1 gilt.Geldgeber konnen

I Programm des Kandidaten in eine gewunschte Richtungandern: P1(S1)

I Wahrscheinlichkeit eines Erfolges des praferiertenKandidaten erhohen: (∂V i

1/∂C1) (∂C1/∂S1)︸ ︷︷ ︸=1

> 0

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Schlussfolgerungen:

I Mit dieser Modellerweiterung konnen sich Gleichgewichteergeben, in denen (finanzstarke) Geldgeber einen Kandidatendurchsetzen, der ihre Interessen vertritt bzw. sein Programman ihre Interessen anpasst.

=⇒ im Unterschied zu Kap. 5.3 kann der politische Prozess hierzu einem

”verzerrten“ Ergebnis fuhren, das von einer Maximierung

der sozialen Wohlfahrt abweicht

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Evidenz zu Wahlkampfausgaben

I zahlreiche Arbeiten fanden eine positive Korrelation zwischenWahlkampfausgaben und Siegchancen des Herausforderers;geringere Ausgaben und geringere Korrelation von Ausgabenund Erfolg fur den Amtsinhaber

I Postulierte Erklarung: wichtige Funktion vonWahlkampfausgaben ist Erhohung des Bekanntheitsgrades;diese ist weniger relevant fur Amtsinhaber

I Problem: fur die intrinsische Qualitat der Kandidaten wirdnicht kontrolliert,

”gute“ Kandidaten erhalten mehr Stimmen

und mehr Spenden die sie ausgeben konnen, dies verzerrt dieErgebnisse

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Stephen D. Levitt (1994): Using Repeat Challengers to Estimatethe Effect of Campaign Spending on Election Outcomes in theU.S. House, Journal of Political Economy 102 (4), 777-798.

I Levitt (1994) betrachtet daher Amtsinhaber-HerausfordererPaare, die mehrfach gegeneinander antreten (in aufeinanderfolgenden Wahlen) um fur die intrinsische Qualitat derKandidaten kontrollieren zu konnen

I Er findet wenig signifikante Effekte von Wahlkampfausgaben,weder fur Kandidaten noch Herausforderer.

I Warum tatigen Politiker dann uberhaupt Wahlkampfausgabenund werben Gelder dafur ein? Levitt (1994) schlagt geringeOpportunitatskosten beim Einwerben von Spenden oder‘Irrationalitat’ seitens der Politiker vor.

I → unbefriedigende Erklarungen!

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Die Rolle der Fernsehwerbung

I Politiker (insbesondere in den USA) geben viel Geld furFernsehwerbung aus. Letztere wird fur effektiv befunden(Kaid, 2004).

I Stratmann (2009, Public Choice) kommt zu dem Ergebnis,dass Ausgaben fur Fernsehwerbung einen positiven Einflussauf das Wahlergebnis von Herausforderern und Amtsinhabernhaben, auch dann wenn man fur intrinsische Qualitat derKandidaten kontrolliert.

I Folgerung: (Fernseh-) Werbeausgaben sind entscheidend;Gesamtausgaben im Wahlkampf sind nur ein kruder Proxy furdiese Variable.

I aber: Warum geben Politiker dann so viel Geld fur andereZwecke im Wahlkampf aus?

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Das Tullock ParadoxonTullock (1972) bemerkte als erster, dass uberraschend wenig Geldan Politiker gespendet wird, gemessen an der Hohe des potentiellenErtrags

I Alle Parteien im Deutschen Bundestag bekamen 2010Spenden i.H.v. ca. 45 Mio. Euro, diese entscheiden uberAusgaben i.H.v. 325 Mrd. Euro (in 2010)

I Stratmann (1991) betrachtet die Verlangerung einerAgrarsubvention in den USA; Spenden von $ 212,000 derZuckerlobby fuhrten zu einer Verlangerung der Subvention,welche der Zuckerindustrie $ 1,1 Mrd. im Jahr einbrachte,eine immens hohe Rendite

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Chamon und Kaplan (2013): The Iceberg Theory of CampaignContributions: Political Threats and Interest Group Behavior,American Economic Journal: Economic Policy 5 (1), S. 1-31.

I Gesamtsumme der Spende einer Lobbygruppe (special interestgroup) ist nicht nur die tatsachliche Spende an einenKandidaten, sondern auch die Drohung, an seinenGegenkandidaten zu spenden

I Beispiel: Eine Spende an Kandidat A i.H.v. $ 2000 und dieDrohung, an den Gegenkandidaten B $ 10,000 zu spenden istgleichbedeutend mit einer Spende von $ 12,000 an Kandidat A

I Das Modell wird in einer empirischen Analyse bestatigt,special interest groups spenden stets nur an einen Kandidatenje Wahlkreis, aber unterstutzen durchaus Kandidatenverschiedener Parteien im ganzen Land. General interestgroups spenden nur an Kandidaten einer Partei und vor allemin umkampften Wahlen.

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Bombardini und Trebbi (2011): Votes or money? Theory andevidence from the US Congress, Journal of Public Economics 95,S. 587-611.

I Entscheidend fur Politiker ist es, Wahlen zu gewinnen, nichtmoglichst viele Spenden einzuwerben (Spenden sind Mittelzum Zweck, um Wahlen zu gewinnen).

I Viele Lobbygruppen konnen nicht nur Geld spenden, sondernvertreten auch zahlreiche Wahler.

I Zusammenhang folgt einem umgekehrten U: bis zu einemgewissen Punkt spenden Lobbygruppen mehr, wenn sie mehrWahler vertreten (da es fur sie wichtiger wird, die Politik zubeeinflussen), wenn sie hingegen sehr viele Wahler vertreten,mussen sie nicht mehr so viel spenden, da sie Politik durchihre hohe Zahl an Wahlerstimmen beeinflussen konnen.

I Bombardini und Trebbi schatzen, dass eine zusatzlichessichere Stimme einen Politiker $ 145 kostet. Berucksichtigtman dies, kommt man zu Lobbying-Renditen von etwa 12cent je $ 1 Spende, eine deutlich realistischere Große.

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Zusammenfassung: Tullocks Paradoxon

I Auf den ersten Blick scheinen Lobbygruppen zu wenig zuspenden.

I Aber: Lobbygruppen konnen durch die Drohung,Gegenkandidaten zu beeinflussen, mehr Einfluss ausuben alsihre tatsachlich geleisteten Spenden auf den ersten Blickvermuten lassen.

I Interessengruppen vertreten auch Wahler, die fur Politikerentscheidend sind (Wahlkampfspenden lassen sich nur furWahlkampfe ausgeben).Berucksichtigt man zusatzlich Wahlerstimmen, werden dieRenditen auf Wahlkampfspenden deutlich realistischer.

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6.2. Individuelle Anreize und organisierte InteressenRichtungsweisende Arbeit zu Interessengruppen durch MancurOlson: The Logic of Collective Action (1965)

I Ausgangspunkt fur Olsons Theorie ist, dass free riding auchbei der Organisation von Interessen eine wichtige Rolle spielt,d.h. potenzielle Mitglieder versuchen, von Lobbying zuprofitieren, ohne selbst Beitrage zu leisten

I Dadurch sind die Grundzuge der Theorie Offentlicher Guterauch auf die Bereitstellung der Dienstleistung

”Lobbying“

anwendbar. Speziell stellt sich das free-riding Problem, wennI die von der Interessenvertretung betroffene Gruppe groß istI ein Ausschluss der Nicht-Mitglieder von den Ergebnissen des

Lobbying nicht moglich ist

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Beispiel: free riding bei Industrielobbying:

I vier Firmen unterschiedlicher Große produzierenx1 = 4.000.000 Autos, x2 = 2.000.000 Autosx3 = 1.000.000 Autos, x4 = 500.000 Autos

I Lobbying fur die Nicht-Einfuhrung einer Umweltmaßnahmespart Kosten von $1 pro Auto

I Lobbying hat sinkende Grenzertrage: jedes Lobbying-Burokostet $250.000. Die Wahrscheinlichkeit, dieUmweltmaßnahme zu verhindern ist p1 = 0.25 bei einemBuro, p2 = 0.4 bei zwei Buros, p3 = 0.5 bei drei Buros,p4 = 0.55 bei vier Buros. Jede Firma kann nur einLobbying-Buro eroffnen

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Firma 1: Kosten und eigener Nutzen fur das 1. Buro:

Kosten ($ 250.000) geringer als Nutzen ($ 4 Mio. × 0.25 =$ 1 Mio.) → 1. Buro wird eroffnet

Firma 2: Kosten und eigener Nutzen fur das 2. Buro, gegeben dassFirma 1 ein Buro eroffnet:

Kosten ($ 250.000) geringer als Nutzen ($ 2 Mio. × 0.15 =$ 300.000) → 2. Buro wird eroffnet

Firma 3: Kosten und eigener Nutzen fur das 3. Buro gegeben dassFirma 1 und 2 ein Buro eroffnen:

Kosten ($ 250.000) hoher als eigener Nutzen ($ 1 Mio. × 0.1 =$ 100.000) → 3. Buro wird nicht eroffnet

Wie viele Buros sollten aus der kollektiven Sicht der Autoherstellereroffnet werden?

kollektiver Nutzen des 3. Buros ist großer als dessen Kosten($ 7.5 Mio × 0.1 = 750.000 > 250.000)=⇒ ineffizient niedrige Zahl von Lobbying-Buros

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Produzenten- vs. Konsumenteninteressen

eine wichtige Anwendung von Olsons Theorie ergibt sich beimVergleich der Organisierbarkeit von Produzenten- vs.Konsumenteninteressen. Hier ist grundsatzlich davon auszugehen,dass Produzenteninteressen besser organisierbar sind.Grunde:

1. Die Zahl der Produzenten eines Gutes ist geringer als die Zahlder Konsumenten.

2. Die Interessen der Produzenten sind konzentrierter, weil eineSpezialisierung in der Produktion, aber nicht im Konsumerfolgt. Die (politische) Anderung eines einzelnen Preises hatdaher einen großen Einfluss auf das Budget der Produzentendieses Gutes, aber nur einen geringen Einfluss auf das Budgetjedes Konsumenten.

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Daraus folgt, dass das zu Grunde liegende free riding Problem aufder Produzentenseite sehr viel geringer ist als auf derKonsumentenseite.

=⇒ Dies bietet eine Erklarung fur die empirische Beobachtung,dass Produzenten sehr viel mehr Lobbying betreiben alsKonsumenten. Dieses asymmetrische Lobbying fuhrt wiederumdazu, dass in der praktischen Wirtschaftspolitik verzerrteEntscheidungen zu Gunsten der Produzenten getroffen werden(Subventionspolitik, Zollpolitik)

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6.3. Monopolrenten und Regulierung

I Literatur zum rent-seeking: beschreibt die Anreize vonAkteuren, sich okonomische Renten zu verschaffen und diesezu erhalten (Tullock, 1967; Krueger, 1974)

I im einfachsten Fall erreicht eine Firma, dass sie von derRegierung die alleinige Lizenz zum Verkauf eines Produktes zueinem regulierten Preis PR oberhalb der Grenzkosten k erhalt(reguliertes Monopol)

I Konsumentenrente bei Grenzkostenpreis PC : K+R+L

I Konsumentenrente bei reguliertem Preis PR : K

I wohlfahrtstheoretische Betrachtung betont die Verzerrungdurch zu geringen Output (Harberger-Dreieck L), wahrend Rein reiner Transfer ist (von Konsumenten zum Produzenten)

I rent seeking Literatur befasst sich mit der Rente R

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-

6

Output

P

Abbildung 6.1: Wohlfahrtsverluste durch Regulierung

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zugrundeliegendes (Auktions-) Kalkul:

1. (Monopol-) Rente R ist ein Gewinn (prize), den man mitAusgaben (Ressourcen) erhalten kann. Diese Ausgaben lohnensich, bis sie (fast) so hoch sind wie die Rente.

2. Bei kompetitiven Annahmen (freier Eintritt, Symmetrie)werden von allen Teilnehmern der

”Auktion“ Ressourcen in

Hohe der individuell erwarteten Monopolrente eingesetzt. ImGleichgewicht entsprechen die aggregierten Ressourcenkostender Rente R.

3. Ressourcen bestehen zum Teil aus Transfers (anRegierungsbeamte; Korruption), zum Teil aus direktunproduktiven Ausgaben (Lobbyismus).

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4. Bestechungsgelder fuhren zu unproduktivem Verhalten beiBeamten: Wettbewerb um Positionen, in denen man solcheZahlungen erhalt.

5. Im Endergebnis geht ein großer Teil der Monopolrente derGesellschaft verloren, da die unproduktiven Tatigkeiten keineVersorgung der Gesellschaft mit Gutern und Dienstleistungendarstellen. Der Wohlfahrtsverlust aus dem Monopols ist(annahernd) R + L.

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Regulierung und rent-seekingStigler (1971): klassischer Aufsatz zur Regulierung naturlicherMonopole: Regulierung folgt nicht der Minimierung des excessburden, sondern reagiert auf politischen Druck von Produzentenund Konsumenten

Formalisierung durch Peltzman (1976)

I Analyse im gleichen Rahmen wie in Abbildung 6.1: DieRegierung entscheidet uber den Preis eines regulierten Gutes,dessen Grenzkosten konstant sind.

I Die Regierung erhalt Stimmen aus dem Nutzen vonProduzenten (UR) und Konsumenten (UC ). Die politischeUnterstutzungsfunktion (political support function) derRegierung ist

V = V (UR ,UC ) mit∂V

∂UR> 0,

∂V

∂UC> 0 (6.1)

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I Die Nutzen der beiden Gruppen werden vereinfachend den vonihnen erzielten Renten gleichgesetzt

UR = R, UC = K − R − L (6.2)

dabei ist R: Monopolrente; K : Konsumentenrente beiGrenzkostenpreis; L: toter Verlust (deadweight loss)

I dann ergibt sich im Optimum fur den Politikparameter P(Preis des regulierten Gutes):

dV

dP=

∂V

∂UR

dR

dP+

∂V

∂UC

(−dR

dP− dL

dP

)= 0 (6.3)

I bei Erhohung von P sind die Verluste der Konsumenten um Lhoher als Gewinne der Produzenten;aber: die Gewichte der beiden Gruppen in der Nutzenfunktionder Regierung konnen unterschiedlich sein

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I bessere Organisation der Produzenteninteressen (→Kap. 6.2) fuhrt zu ∂V /∂UR > ∂V /∂UC → der Zusatzverlustfur die Konsumenten (L) wird im Optimalkalkul desRegulierers (Politikers) abgewogen gegen den großerenpolitischen Einfluss der Produzenten

=⇒ es ergibt sich ein Preis oberhalb der Grenzkosten, obwohl derGrenzkostenpreis effizient ware

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Beispiel zum Peltzman Modell (vgl. Abbildung 6.1)

I lineare Nachfragefunktion: X = a− P

I konstante Grenzkosten: k

I Produzentenrente: UR = (P − k)X = (P − k) (a− P)

I Konsumentenrente: UC = (a− P)X/2 = (a− P)2/2

I konstanter marginaler Nutzen der Regierung aus politischerUnterstutzung jeder Gruppe:

∂V

∂UR= ωR ,

∂V

∂UC= ωC

dann ergibt sich bei Annahme einer additiven Form der politischenUnterstutzungsfunktion:

V = ωR (P − k)(a− P)︸ ︷︷ ︸Prod .rente

+ ωC (a− P)2/2︸ ︷︷ ︸Kons.rente

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 6-22 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Ableiten nach dem fur die Regierung optimalen Preis ergibt

P =a(ωR − ωC ) + ωR k

2ωR − ωC

I bei gleichem politischen Gewicht beider Interessengruppen(ωR = ωC ) ergibt sich P = k , d.h. der regulierte Preisentspricht dem effizienten Grenzkostenpreis (dies maximiertdie Summe aus Produzenten- und Konsumentenrente)

I wird nun, ausgehend von ωR = ωC , das politische Gewicht derProduzenten erhoht, ergibt sich ein steigender regulierter Preisim politischen Optimum (Achtung: Erst ableiten, dann erstSysmmetrieannahme einsetzen!):

∂P

∂ωR

∣∣∣∣ωR=ωC

=(a− k)

ω> 0

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Fazit: die politisch einflussreichere Gruppe bewegt das politischeGleichgewicht in die von ihr praferierte Richtung. Nur wenn diepolitischen Gewichte aller Interessengruppen gleich groß sind undsich dadurch gegenseitig neutralisieren, ergibt sich das unverzerrte(effiziente) Ergebnis.

Verbleibende Frage: warum wird ein Sektor mit konstantenDurchschnittskosten uberhaupt reguliert?

In vielen kompetitiven Dienstleistungsbereichen wird derMarktzutritt aus unterschiedlichen Grunden beschrankt (z.B.Arzte, Notare, Taxiunternehmen). Dadurch entstehen fur dieInhaber einer knappen

”Lizenz“ Monopolrenten. Diese

Monopolrenten werden von den Inhabern uber politischen Druckverteidigt, selbst wenn der ursprungliche Grund fur dieMarktzutrittsbeschrankung entfallen ist.

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Beispiel: Gesundheitswesen

I gegenwartiges System in Deutschland kombiniert gesetzlicheund private Krankenversicherung (GKV und PKV). Dabei sinddie Abrechnungssatze fur Privatpatienten viel hoher als furKassenpatienten.

I Zahl der Arztpraxen, die mit GKV abrechnen konnen, ist ineiner Gemeinde begrenzt, um eine Uberversorgung mitGesundheitsleistungen auf Kosten der Krankenkassen zuvermeiden.

=⇒ Arztpraxen in reichen Gemeinden mit hoher Zahl vonPrivatpatienten und Spezialisten mit hoher GKV-Vergutung (z.B.Radiologen) erhalten Renten; gleichzeitig stehen ineinkommensschwachen Gebieten Allgemeinarztpraxen leer, weil sieviel Arbeit bei geringer Entlohnung (GKV-Satze) bedeuten.

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7. Burokratieverhalten und der Leviathan-Staat

hohe Zuwachsraten bei den Beschaftigten in der offentlichenVerwaltung

Jahr Vollzeitbeschaftigte Wohnbevolkerungin 1000 Index in Mio. Index

1913 902 100 65 1001930 1207 134 65 1001950 1328 147 69 1061960 1803 200 73 1121970 2273 252 78 1201980 2805 311 78 1201990 2841 315 80 1231995 3745 415 82 1262000 3195 354 82 1262005 2698 299 82 126

Quelle: Blankart (2011), Kap. 23, Tabelle 23.1

Tabelle 7.1: Beschaftigte in den Verwaltungen der Gebietskorper-schaften (West- und Ostdeutschland, ohne Staatsunternehmen)

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7.1. Budgetmaximierende Burokraten

I Nach den politischen Entscheidungstragern werden jetzt dieAkteure in der politischen Exekutive (Behorden) genauerbetrachtet.

I Einfluss der Behorden bzw. ihrer Leiter auf die Bereitstellungvon offentlichen Gutern und Dienstleistungen ergibt sich durchasymmetrische Information uber das Kosten-NutzenVerhaltnis von alternativen Umsetzungsmoglichkeiten fur einbeschlossenes Programm (Gesetz).

I Erste systematische Untersuchung des Verhaltens vonBurokratien durch Niskanen (1971).

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 7-2 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Basismodell:

Die Behorde erhalt ein Budget B, das den Nutzen desAuftraggebers (Parlament) widerspiegelt und mit dem Output Qunterproportional steigt:

B = B(Q), B ′ > 0, B ′′ < 0. (7.1)

Die Kostenfunktion ist linear im Output und dem Auftraggebernicht bekannt:

C = C (Q), C ′ > 0, C ′′ = 0. (7.2)

Die Behorde hat ein Interesse daran, ein moglichst hohes Budgetzu erhalten, da dies ihren Einfluss erhoht. Ohne Restriktionendurch den Geldgeber (Prinzipal) ist die einzige Restriktion fur dieBehorde (Agent), dass die Gesamtkosten gedeckt werden:

L = B(Q) + λ[B(Q)− C (Q)]. (7.3)

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Das ergibt als Bedingung erster Ordnung fur Q:

B ′(Q) =λ

1 + λC ′(Q) (7.4)

I der Pareto effiziente Output ist durch B ′(Q) = C ′(Q)(Grenznutzen gleich Grenzkosten von Q) gegeben

I da λ > 0 ist, muss im Optimum der Behorde gelten:B ′(Q) < C ′(Q)

=⇒ ineffiziente Ausweitung staatlicher Programme

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Grafische Analyse (Abbildung 7.1):

I effizienter Output in Q0: hier gilt B ′(Q) = C ′(Q)

I Behorde wahlt Output Q∗: hier gilt B = C (Flache unter B ′

= Flache unter C ′)

I Konsumentenrente E in Q0 wird durch ineffizient hohenOutput zwischen Q0 und Q∗ mit Wohlfahrtsverlust Fkomplett aufgezehrt

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-

6

Q

B ′,C ′

Abbildung 7.1: Uberangebot staatlicher Programme

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Empirische Evidenz

1. Kostenvergleich privater und offentlicher Anbieterca. 50 Studien, viele davon zur Mullbeseitigung. Beivergleichbarem Service deutlich hohere Kosten (15-50%) deroffentlichen Unternehmen.=⇒ starke empirische Evidenz fur zu hohen Personalbestandund X-Ineffizienz (Leibenstein, 1966) im offentlichen Sektor=⇒ diese Ergebnisse liegen der Privatisierung und demoutsourcing von Leistungen zugrunde (offentlicheBereitstellung, aber private Produktion) → Kapitel 9

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 7-7 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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2. Beispiel fur take-it-or-leave-it Angebot:Oregons Schulbehorde kann Wahler zwischen zwei alternativenNiveaus von Ausgaben fur offentliche Schulen wahlen lassen→ Abbildung 7.2.Das optimale Niveau ist Gm. Durch zu niedrige Wahl derAlternative GL kann Zustimmung des Medianwahlers zumuberhohten Niveau GH gesichert werden.=⇒ Macht durch agenda setting; geschatzte Ausweitung desSchulbudgets: 16-44% uber Gm (Romer and Rosenthal, 1978)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 7-8 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Nutzen des

Medianwahlers

G

Abbildung 7.2: Behorde als agenda setter

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Geben Politiker/Burokraten mehr Geld aus, als derMedianwahler will?Sam Peltzman (1992): Voters as Fiscal Conservatives, TheQuarterly Journal of Economics 107 (2), 327-361

I Peltzman (1992): Studie zeigt empirisch, dass Wahler wenigerGeld ausgeben wollen als Politiker dies tun, da sie Politikernach ubermaßig großem Ausgabenwachstum abwahlen

I Direkte Demokratie konnte das Prinzipal-Agenten Problembeheben, da hier die Wahler die Entscheidung nicht delegieren.

I Studien zum Beispiel der Schweiz:I Lars P. Feld / John G. Matsusaka (2003): Budget

Referendums and Government Spending: Evidence from SwissCantons, Journal of Public Economics 87 (12), 2703-2724.

I Patricia Funk / Christina Gathmann (2011): Does DirectDemocracy Reduce the Size of Government? New Evidencefrom Historical Data, 1890-2000, The Economic Journal 121,1252-1280

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 7-10 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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I Durch Referenden und Initiativen konnen die SchweizerBurger auf der Kantonsebene uber Ausgaben mitentscheiden.

I Referenden sind oberhalb einer bestimmte Ausgabenhohe inmanchen Kantonen zwingend erforderlich.Initiativen sind deutschen Volksbegehren vergleichbar und sindin allen Kantonen moglich.

I Kantone mit zwingend erforderlichen Referenden habenniedrigere Staatsausgaben als solche ohne.

I Je niedriger die Zahl der erforderlichen Unterschriften fur eineInitiative (d.h. je geringer die Kosten), desto niedriger sind dieStaatsausgaben.

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7.2. Der Staat als Leviathan

Begriff”

Leviathan“:

I im Alten Testament: im Meer lebendes Schlangenmonster mitmehreren Kopfen

I bei Thomas Hobbes (1651): absolutes Gewaltmonopol desStaates, das “Krieg aller gegen alle” verhindert (Eindruck desDreißigjahrigen Krieges, 1618-1648, und des englischenBurgerkriegs, 1642-1649)

I negatives Bild des staatlichen Leviathan in Geoffrey Brennanund James Buchanan (1980): The Power to Tax. Staat ist aufstandige Ausweitung seiner Tatigkeit bedacht; Kontrolle durchpolitische Konkurrenz zu schwach=⇒ konstitutionelle Beschrankungen des Umfangsstaatlicher Aktivitat notwendig

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 7-12 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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The power to tax (1980):

Grundidee ist, der Politik den Zugriff auf Steuergelder zuerschweren=⇒ teilweise entgegengesetzte Empfehlungen zur Steuerpolitikgegenuber der wohlfahrtstheoretischen Analyse

Beispiel: breite vs. selektive Steuerbasis: Vorschlag von Brennanund Buchanan, die Regierung verfassungsmaßig auf ineffizienteSteuern zu beschranken=⇒ Okonomische Verzerrung wird akzeptiert, um einer politischenVerzerrung (

”Staatsversagen“) entgegenzuwirken

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Relevanz in der Praxis:

Schweiz: Einfuhrung der Mehrwertsteuer in der Schweiz wird 1990durch Volksabstimmung verhindert, weil die MwSt als ein

”zu

effizientes“ Steuerinstrument gesehen wird und steigendeSteuersatze befurchtet werden. (Die Einfuhrung erfolgt abereinige Jahre spater.)

U.S.A.: Bis heute keine MwSt; stattdessen ineffizienteEinzelhandelsumsatzsteuer mit niedrigen Satzen und vielenAusnahmen.

EU: bisher keine EU-weite Harmonisierung derKorperschaftsbesteuerung, trotz deutlicher Reduktion derSteuersatze

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8. Privatisierung

8.1. Entwicklung der Privatisierung

I grundsatzliches Argument fur staatlicheUnternehmenskontrolle: vermeidet uberhohte Preisegewinnmaximierender Unternehmen in naturlichenMonopolmarkten (insbes. Netzindustrien: Eisenbahn,Telekommunikation, Energie) → Kap. 3.2

I aber: bei staatlichem Management geringere Anreize zueffizientem Produktions- und Investitionsverhalten(→ Kap. 8.2)

I seit 1980 werden diese Nachteile staatlichen Managementszunehmend sichtbar und zunehmend thematisiert

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-2 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Konsequenz: Privatisierung ehemaliger Staatsunternehmen

1. Fur die EU-Lander ergibt sich in den Jahren von 1980 bis1992 eine deutliche Reduktion der Aktivitat staatlicherUnternehmen (als Anteil am Privatsektor) von 16% auf 12%.

2. In weniger entwickelten Landern ist der Ruckgang nochdeutlicher: Anteil der Produktion staatlicher Unternehmen amBIP bis zu 15% im Jahr 1980, aber nur noch 3-4% im Jahr1999 (Sheshinski und Lopez-Calva, 2003, Table 1).

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-3 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Grunde fur Privatisierung

Quelle: Sheshinski and Lopez-Calva (2003): Privatization and itsbenefits. CESifo Economic Studies 49, 429-459.

1. Politische Ziele in Staatsunternehmen

I Manager staatlicher Unternehmen verfolgen neben demGewinnziel haufig noch andere Ziele bzw. sie unterliegenzusatzlichen Nebenbedingungen.

I Setzen von Beschaftigungszielen aus sozialen oderstabilisierungspolitischen Grunden=⇒ Zu hoher Personalbestand in offentlichenUnternehmen (Deutsche Bahn; Deutsche Post vor derPrivatisierung).

I Eine hohere Beschaftigung dient auch den Eigeninteressenund dem Prestige der staatlichen Manager bzw.Burokraten (empire building → Kap. 7).

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-4 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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2. Weiche Budgetbeschrankung

I Verluste (z.B. durch uberhohte Personalkosten) fuhren beiStaatsunternehmen nicht zum Konkurs, sondern werdendurch steuerfinanzierte Zuschusse aufgefangen.

I Erklarung mittels der Politischen Okonomie: Der Konkurstrifft eine klar definierte Gruppe (die Beschaftigten imStaatsunternehmen; z.B. bei Banken auch die Kunden)und hat daher hohere politische Kosten als dieFinanzierung des Defizits uber Steuergelder, die alleBurger in geringem Umfang treffen (→ Kap. 6).

I Durch diese”Versicherung“ gegen Konkurs (bail-out

Garantie) werden die Anreize staatlicher Manager zueffizienter Produktion reduziert (→ Mikrookonomie II)

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3. Unvollstandige Leistungskontrolle der ManagerAuch bei positiven Ertragen sind die Anreize der Manager instaatlichen Unternehmen gegenuber Managern im Privatsektorreduziert, da wichtige Elemente der Leistungskontrolle fehlen(z.B. sinkender Aktienkurs bei Fehlentscheidungen; Ubernahmedurch andere Firmen).

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Empirische Evidenz (LaPorta und Lopez-De-Silanes, 1999):

Studie von 218 Unternehmen in Mexiko, die zwischen 1983 und1991 privatisiert wurden.Ergebnisse:

1. das Gewinn/Umsatz-Verhaltnis erhoht sich durchPrivatisierung um durchschnittlich 24 Prozentpunkte.

2. Faktorenanalyse fur die hohere Gewinnspanne zeigt, dasshohere Gewinne nicht vorwiegend durch hohere Preise erzieltwerden (10% durch hohere Guterpreise, 33% durchReduzierung des Personalbestandes, 57% durchProduktivitatsgewinne)

3. privatisierte Betriebe werden vom Subventionsempfanger zurSteuerquelle

insgesamt robuste empirische Evidenz fur Effizienzgewinne durchPrivatisierung

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8.2. Staatliche vs. private Bereitstellung

I Modell von Hart, Shleifer und Vishny (1997): The properscope of government. Quarterly Journal of Economics 112 (4),1127-1161 (vereinfachte Version)

I Grundproblem unvollstandiger Vertrage wird aufInvestitionsentscheidungen angewandt und in den beidenRegimes staatlichen vs. privaten Managements verglichen

Modellannahmen:

I Regierung (als Vertretung der Burger) fragt ein Gut nach, dasentweder staatlich oder privat hergestellt wird

I das Gut hat Basisqualitat B0 und Stuckkosten von C0

I ohne Innovationen bezahlt die Regierung dem Managementeinen Preis von p0 (Kaufpreis bei privatem Management,Gehalt bei staatlichem Management)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-8 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Das (private oder staatliche) Management kann zwei Arten vonInnovationen durchfuhren:

1. Verfahrensinnovationen Iv reduzieren Produktionskosten umc(Iv ), verschlechtern aber auch die Produktqualitat um b(Iv ).Eigenschaften: c ′ > 0, c ′′ < 0, b′ > 0.

2. Produktinnovationen Iq erhohen Produktqualitat uberQualitatsgewinn β(Iq) (mit β′ > 0, β′′ < 0).

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-9 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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I Die Ertrage aus einer Verfahrensinnovation konnen beiprivatem Management vollstandig internalisiert werden, abernicht bei staatlichem Management.

I Die Ertrage einer Qualitatsinnovation mussen immer ex postvon der Regierung (Finanzminister)

”genehmigt“ werden. Dies

erfolgt durch einen Preis/Lohn, der uber dem Basispreis p0

liegt.

I lineare Funktionen fur Produktqualitat und Kosten:

B = B0 − b(Iv ) + β(Iq),

C = C0 − c(Iv ) (8.1)

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First best Losung:

I volkswirtschaftlicher Bruttoertrag der Investitionen:Uberschuss der Qualitat uber die Produktionskosten (B − C )

I volkswirtschaftlicher Nettoertrag: W = B − C − Iv − IqI Einsetzen von (8.1) ergibt Zielfunktion

maxIv ,Iq

B0 − b(Iv ) + β(Iq)− C0 + c(Iv )− Iv − Iq

I Bedingungen erster Ordnung:

c ′(I ∗v )− b′(I ∗v ) = 1, β′(I ∗q ) = 1. (8.2)

Grenznutzen = Grenzkosten der Investition (fur Iv und Iq)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-11 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Privates Management

I Management tragt alle Investitionskosten (Iv + Iq)

I bei Verfahrensinnovationen konnen alle Ertrage(Kosteneinsparungen) realisiert werden; die negativenQualitatsruckwirkungen werden nicht berucksichtigt

I bei Produktinnovationen kann nur der (ex post)nachverhandelte Teil der Ertrage realisiert werden

I solche Verhandlungssituationen werden in der Regel in einemNash-Verhandlungsspiel gelost. Hier wird aber vereinfachendangenommen, dass das private Management genau die Halfteder Rente aus den Produktinnovationen β(Iq) in Form einesPreisaufschlags erhalt.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-12 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Die Auszahlung fur das private Management ist dann:

πP = p0 + 0.5 β(Iq)− C0 + c(Iv )− Iv − Iq

Bedingungen erster Ordnung:

c ′(IPv ) = 1; 0.5 β′(IPq ) = 1. (8.3)

Vergleich mit First-Best (8.2) ergibt bei privatem Management:

1. zu hohe Investitionen in Verfahrensinnovationen;

2. zu geringe Investitionen in Produktinnovationen.

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Staatliches Management

I auch staatliches Management muss alle Investitionskostenselbst tragen: zusatzlicher Arbeitseinsatz und Brechen vonWiderstanden gegen Reformen

I Ertrage aus Produktinnovationen (hohere Qualitat) undVerfahrensinnovationen (niedrigerer Preis) sind vonZustimmung der Regierung abhangig: nachtraglicheVerhandlung uber Lohn/Gehalt

I staatlicher Manager internalisiert auch die (Qualitats-) Kostenvon Verfahrensinnovationen

I bei Entlassung des Managements verbleibt ein Anteil (1− λ)des durch Innovationen gesammelten know-hows in derBehorde, d.h. ein staatlicher Manager kann nur damit drohen,den Anteil λ < 1 des know-hows aus der Behorde abzuziehen.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-14 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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I Daher wird jetzt angenommen, dass der staatliche Managerden Anteil (λ/2) an den gesamten Nettoertragen derQualitats- und Verfahrensinnovationen bekommt. DieseNettorente ist β(Iq) + c(Iv )− b(Iv ).

Die Auszahlung fur den staatlichen Manager ist dann:

πS = p0 − C0 + (λ/2)[β(Iq) + c(Iv )− b(Iv )]− Iv − Iq

Bedingungen erster Ordnung:

(λ/2) [c ′(I Sv )− b′(I Sv )] = 1;

(λ/2) β′(I Sq ) = 1. (8.4)

Vergleich mit First-Best (8.2) ergibt bei staatlichem Management:

1. jetzt zu geringe Verfahrensinnovationen Iv ;

2. Produktinnovationen Iq noch geringer als bei privatemManagement.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-15 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

I

β′

Abbildung 8.1: Qualitatsinnovationen

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-16 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

I

b′, c ′

Abbildung 8.2: Verfahrensinnovationen

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-17 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Vergleich der Losungen:

Privates Management dominiert, wenn

1. die Regierung sich im Konfliktfall einen großen Teil derErtrage aus den Innovationen des staatlichenManagements aneignen kann (λ ist gering)=⇒ Unterinvestition in Produktinnovationen wird beistaatlichem Management verstarkt

2. die negativen Qualitatseffekte von Prozessinnovationennicht gravierend sind (b′ ist gering)=⇒ Niveau der Verfahrensinvestitionen ist bei privatemManagement annahernd effizient

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-18 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Staatliches Management dominiert, wenn

1. Drohpunkt des Staates bei Staatseigentum und beiPrivateigentum ahnlich ist (λ → 1)=⇒ Unterinvestition in Produktinnovationen ist in beidenRegimes ahnlich

2. Qualitatsruckwirkungen der Prozessinnovationenbedeutend sind (b′ ist groß)=⇒ Uberinvestition in Verfahrensinnovationen beiprivatem Management ist gravierender als Unterinvestitionbei staatlichem Management

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-19 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Anwendung auf einzelne Privatisierungsbereiche

Modell liefert einen Argumentationsrahmen fur die Entscheidungzwischen offentlicher und privater Produktion, aber keinequantitative Abwagung der gegenlaufigen Effekte

Beispiele:

(a) Gefangnisse

I begrenzter Umfang von QualitatsinnovationenI Verfahrensinnovation: Kostenersparnis durch weniger

qualifiziertes Personal hat negative Ruckwirkungen aufBetreuungsqualitat. Dies hat potenziell hohe sozialeKosten (Ausbruche; Kriminalitat im Gefangnis)

=⇒ Privatisierung zumindest problematisch

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-20 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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(b) Schulen

I Qualitatsinnovationen (neue Lernmethoden) wichtigI Verfahrensinnovationen: Einsparungen bei Personal durch

großere Klassen hat negativen Effekt auf LernqualitatI aber: Lernerfolg gut beobachtbar und vergleichbar→ Konkurrenz zwischen Anbietern kann zur Einbeziehungvon Qualitatsmerkmalen fuhren.

=⇒ Privatisierung moglich und potenziell erfolgreich

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 8-21 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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9. Staatliche Umverteilung

9.1. Umverteilung im Sozialplanermodell

I Fur einen sozialen Planer folgt ein Umverteilungsmotiv aus dersozialen Wohlfahrtsfunktion, wenn sie Ungleichheitsaversionimpliziert (vgl. Kap. 2.2). Selbst bei einer additiven sozialenWohlfahrtsfunktion folgt ein Umverteilungsziel dann, wennalle Individuen die gleiche Nutzenfunktion haben und derGrenznutzen des Einkommens sinkt.

I Aber: Umverteilung mit Einkommensteuern und Transfersfuhrt zu Effizienzverlusten durch Steuervermeidung(Substitution von unbesteuerter Freizeit fur besteuertenKonsum). Dies gilt sowohl fur Nettozahler als auch furNettoempfanger des staatlichen Umverteilungsplans.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-1 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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I =⇒ Dadurch ergibt sich fur den sozialen Planer einZielkonflikt zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit(equity-efficiency trade-off).A. Okun (1975): Bild des ‘Eimers mit Loch’ (leaky bucket):beim Transport/Transfer geht etwas verloren

I Die formale Losung dieses Problems erfolgt in der Theorie deroptimalen (umverteilenden) Einkommensbesteuerung(Mirrlees, 1971). Hier werden nur der Ansatz und dieErgebnisse vorgestellt.

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Theoretisches Modell

(Acocella, Kap. 11.4, vereinfachte Version)

I zwei Individuen i ∈ {1, 2} mit unterschiedlichenBruttolohnsatzen w1 < w2 und Bruttoeinkommen y i = w i l i

I reines Umverteilungsziel des Staates: lineare Einkommensteuermit Steuersatz t finanziert einheitlichen Transfer g fur jedesIndividuum → Abbildung 9.1 (a)

2-stufige Maximierung (Losung durch Ruckwartsinduktion):

1. Sozialplaner maximiert soziale Wohlfahrtsfunktion und legtoptimalen Steuersatz t und damit (uber Budgetausgleich desStaates) pro-Kopf-Transfer g fest

2. beide Individuen maximieren Nutzen uber Freizeitkonsumf i = 1− l i und Guterkonsum c i = ωi l i + g mitωi ≡ w i (1− t) als Nettolohn → Abbildung 9.1 (b)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-3 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Abbildung 9.1 (a): Linearer Einkommensteuertarif

6

-

T i (y i )

y iT i = 0

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Abbildung 9.1 (b): Arbeitsangebot fur unterschiedliche Lohnsatze

6

-

ω2: Hocheinkommensbezieher

ω1: Niedrigeinkommensbezieher

c i

(1− l i )Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-5 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Ergebnis: Der Steuersatz und der Transfer sind hoch, wenn

1. der soziale Planer eine hohe Ungleichheitsaversion hat

2. die Nettolohnelastizitat des Arbeitsangebots bei beidenIndividuen gering ist (geringes excess burden)→ Abbildung 9.2.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-6 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

-

6

l

l

Abbildung 9.2 Excess burden der Besteuerung

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-7 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Empirische Evidenz

Tabelle 9.1 (aus Haufler, Klemm, Schjelderup, 2009) zeigt:

1. Weitgehend konstante Belastung des durchschnittlichenArbeitseinkommens.

2. Stark reduzierte Steuersatze auf Kapitaleinkommen.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-8 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Regelsteuersatz Steuerkeilfur Unternehmen auf Arbeit∗

∗D

urc

hsc

hn

ittl

ich

erS

teu

ersa

tza

uf

da

sd

urc

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eE

inko

mm

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ozi

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un

gsb

eitr

ag

eu

nd

Lo

hn

sum

men

steu

er

Land 1980 2004 1980 2004Australien 50.0 30.0 18.3 22.9Belgien 48.0 34.0 41.6 44.9Danemark 40.0 30.0 36.9 35.7Deutschland 62.2 38.3 36.1 41.5Finnland 60.2 29.0 37.4 40.3Griechenland 43.4 35.0 17.4 34.9Großbritannien 52.0 30.0 31.4 24.6Irland 45.0 12.5 27.9 14.9Italien 36.3 37.3 43.6 41.0Japan 52.6 39.7 14.3 25.2Kanada 44.8 35.6 18.3 27.6Luxemburg 45.5 30.4 29.1 20.6Niederlande 48.0 34.5 43.8 38.9Osterreich 61.3 34.0 29.9 36.8Schweden 60.4 28.0 46.7 44.6Spanien 33.0 35.0 34.6 34.8Vereinigte Staaten 49.6 39.3 29.4 23.0OECD Durchschnitt 49.0 32.5 31.6 32.5

Tabelle 9.1 Besteuerung in der OECD: Kapital vs. Arbeit

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-9 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Grunde fur diese Entwicklung:

I Hohe internationale Mobilitat des Faktors Kapital.Steuerwettbewerb um die Ansiedlung von Unternehmen fuhrtzu stark sinkenden Korperschaftsteuersatzen.

I Geringe internationale Mobilitat des Faktors Arbeit.Gegenlaufige Entwicklungen: Versuch der steuerlichenEntlastung, um Arbeitslosigkeit zu senken, aber gleichzeitighoher Finanzierungsbedarf des Staates.

=⇒ Diese Entwicklungen sind mit dem Sozialplanermodellgut zu beschreiben, da die Elastizitat der Kapitalsteuerbasisgestiegen ist (→ Abbildung 9.2).

I Es ergeben sich aber potenziell negative Ruckwirkungen aufdie Homogenitat der Einkommensverteilung(→ Kapitel 10)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-10 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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9.2. Umverteilung im Medianwahlermodell

Theoretisches Modell

(Persson/Tabellini, Political Economics, 2002, Ch. 3.1)

I Die Gesellschaft besteht aus einem Kontinuum von Burgern,die sich im Einkommensniveau y i unterscheiden. AlleEinkommen sind in diesem Modell exogen.

I Die Gesamtbevolkerung ist auf n ≡ 1 normiert.

I Der Staat erhebt eine lineare Einkommensteuer mit Satz τund verwendet die Einnahmen fur ein offentliches Gut g , dasvon allen Burgern im gleichen Umfang genutzt wird.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-11 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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I Alle Individuen haben die gleiche Nutzenfunktion

ui = c i + ln g (9.1)

I Die individuelle Budgetbeschrankung ist

c i = (1− τ)y i (9.2)

I Die Einkommensverteilung ist durch f (y i ) mit derkumulativen Verteilungsfunktion F (y i ) gegeben.

I Der Medianwahler ist durch das Einkommen ym bezeichnetund implizit durch F (ym) = 1/2 definiert.

I Die Einkommensverteilung ist linkssteil, so dass ym < y gilt,wobei y das Durchschnittseinkommen ist. (Dies ist einweltweites

”stilisiertes Faktum“.)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-12 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

y i

f (y i )

Abbildung 9.3: Linkssteile Einkommensverteilung

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-13 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Die Budgetbeschrankung der Regierung ist

τ y n = τ y = g (9.3)

Einsetzen von (9.2) und (9.3) in (9.1) ergibt

v i (g) = (y − g)y i

y+ ln g ∀ i (9.4)

das optimale Niveau von g fur Individuum i ist dann

∂v i

∂g= −y i

y+

1

g= 0 =⇒ g =

y

y i∀ i (9.5)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-14 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Interpretation von Gleichung (9.5):

∂v i

∂g= −y i

y+

1

g= 0 =⇒ g =

y

y i∀ i

1. Je hoher das Einkommen von Individuum i ist, umso geringerist das praferierte Niveau von g und damit auch derSteuersatz τ . Reiche Burger praferieren also einen

”kleinen“

Staat, arme Burger einen”großen“ Staat.

2. Diese Praferenz ergibt sich hier, weil reiche Burger einenhoheren absoluten Steuerbetrag bezahlen, wenn derSteuersatz steigt. Dagegen sind die Praferenzen fur dasoffentliche Gut bei allen Burgern gleich (und der Grenznutzenvon g ist abnehmend).

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-15 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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3. Wenn der Medianwahler die Politikentscheidung bestimmtund ym < y gilt, dann ergibt sich das politisch gewahlteNiveau von g aus (9.5) zu

g =y

ym> 1 (9.6)

Dieses Niveau von g ist hoher, als es sich bei einerGleichverteilung aller Einkommen ergeben wurde (bzw. wennder Medianwahler das Durchschnittseinkommen besitzt) :g = y/y = 1.

4. Dieses Ergebnis ergibt sich sowohl im Grundmodell derdirekten Demokratie als auch im Standardmodell derindirekten (reprasentativen) Demokratie. Letzteres gilt, weilzwei stimmenmaximierende Parteien beide die Position desMedianwahlers zum Programm erheben werden.(→ Kapitel 4 und 5)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-16 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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-

6

g

u′(g)

y i/y

Abbildung 9.4: Grenznutzen und Grenzkosten offentlicher Guter furIndividuen mit unterschiedlichem Einkommen y i

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-17 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Fazit:

Unterschiedliche Grunde fur umverteilende Steuerpolitik:

I beim Sozialplaner ist es der hohere soziale Grenznutzen armerIndividuen (selbst dann, wenn es nicht mehr arme als reicheIndividuen gibt)

I im Medianwahlermodell gibt dagegen die großere Zahl armerIndividuen den Ausschlag.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-18 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Empirische Evidenz

I Corneo und Gruner (2002) uberprufen die Hypothesen desMedianwahlermodells anhand von Umfragedaten zurEinstellung gegenuber Umverteilung.

I Zentrale Fragestellung: gibt es einen systematischenZusammenhang zwischen der Hohe des eigenen Einkommensund der Einstellung gegenuber Umverteilung?Vorhersage des Medianwahlermodells: Gleichung (9.5)

I In Studien, die mehrere Lander umfassen, kann dieseHypothese nicht bestatigt werden.=⇒ landerspezifische Effekte dominieren.

I So ist die Ungleichheit in den USA deutlich großer als inDeutschland und dieser Effekt musste dazu fuhren, dass inUSA die Forderung nach Umverteilung starker ist als inDeutschland. Das Gegenteil ist aber der Fall. → Tabelle 9.2

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-19 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Antworten auf die Frage (%): “It is the responsibility of thegovernment to reduce differences in income.”

(strongly) neither agree (strongly)agree nor disagree disagree

Australien 43 20 37Deutschland (West) 65 15 20Deutschland (Ost) 89 5 6USA 38 20 42Ungarn 75 14 11Norwegen 60 16 24Polen 76 11 13Russland 65 10 25Neuseeland 53 16 31Kanada 48 21 31

Quelle: Corneo und Gruner, 2002, Tabelle 1

Tabelle 9.2: Zustimmung zu Umverteilung: InternationalerVergleich

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-20 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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In Studien innerhalb eines Landes wird die Hypothese aberbestatigt.

I In Deutschland ist die Forderung nach Umverteilung negativund signifikant mit dem eigenen Einkommen korreliert.

I Die Forderung nach Umverteilung ist geringer fur Manner alsfur Frauen und geringer fur Westdeutsche als fur Ostdeutsche.

I Die Zustimmung gegenuber Umverteilung hat zwischen 1992und 1999 signifikant abgenommen.

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-21 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Schatzergebnisse (Logit) fur die Forderung nachEinkommensumverteilung: Gesamtdeutschland, 1992-1999

Koeffizient Standardabweichung

Einkommen -0.434*** 0.082Ausbildungsjahre -0.016*** 0.005Mann -0.226** 0.089Alter 0.003 0.003Verheiratet -0.049 0.085Beschaftigt 0.073 0.112Frage in 1999 -0.645*** 0.102Ostdeutsche(r) 1.271*** 0.133Ost × 1999 -0.229 0.193

*, **, *** = signifikant zum 10%, 5%, 1% Niveau

Quelle: Corneo, 2004, Tabelle 7

Tabelle 9.3: Determinanten der Forderung nach Umverteilung:Deutschland

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 9-22 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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10. Einkommensverteilung und Wirtschaftspolitik

10.1. Entwicklung der Einkommens- undVermogensverteilung

I Gini-Koeffizient als Maß: dieser wird aus der Lorenz-Kurveabgeleitet

I minimaler Wert: 0 (vollstandige Gleichverteilung allerEinkommen), maximaler Wert: 1 (vollstandigeUngleichverteilung)

I Gini Koeffizienten der OECD im Durchschnitt um 0.3, hoherin UK und USA, niedriger in Skandinavien; deutlich hohereGini Koeffizienten in anderen Landern (z.B. Russland um 0.5)

I Entwicklung seit 1960: Abnahme des durchschnittlichenweltweiten Gini Koeffizienten von 1960-1980;(Wieder-) Zunahme der Ungleichheit seit 1980

I Abbildungen 10.1-10.4 und Tabellen 10.1.-10.2

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-1 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Abbildung 10.1: Lorenzkurve fur Einkommen und Vermogen

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-2 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Gini Koeffizient 1960 1970 1980 1990 2000

Zahl der Lander 49 61 68 76 155Durchschnittswert 0.432 0.416 0.394 0.409 0.411Maximum 0.640 0.619 0.632 0.623 0.643Minimum 0.253 0.228 0.210 0.227 0.247Standardabweichung 0.100 0.094 0.092 0.101 0.095

Quelle: K. Caminada and K. Goudswaard (2001): International trends in

income inequality and social policy, International Tax and Public

Finance 8 (4), 395-416; OECD StatExtracts Income Distribution (for

2000).

Tabelle 10.1: Weltweite Entwicklung der Gini Koeffizienten furEinkommen

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-3 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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country year of Gini top 10%/ top 20%/survey coefficient bottom 10% bottom 20%

Japan 1993 24.9 4.5 3.4Sweden 2000 25.0 6.2 4.0Germany 2000 28.3 6.9 4.3Austria 1997 30.0 7.6 4.7India 2000 32.5 7.0 4.7Switzerland 1992 33.1 9.9 5.8Italy 2000 36.0 11.6 6.5U. Kingdom 1999 36.0 13.8 7.2Turkey 2000 40.0 13.3 7.7United States 2000 40.8 15.9 8.4China 2001 44.7 18.4 10.7Russian Fed. 2000 45.6 20.3 10.5Argentina 2001 52.2 39.1 18.1

Quelle: United Nations (2004): Human Development Report, Table 13

Tabelle 10.2: Einkommensungleichheit im weltweiten Vergleich

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-4 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Abbildung 10.2: Zunehmende Ungleichheit derEinkommensverteilung (Nettoeinkommen)

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-5 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Abbildung 10.3: Einkommensanteil des reichsten Perzentils

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-6 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Abbildung 10.4: Umverteilung durch staatliches Steuer- undTransfersystem

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-7 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Grunde fur den Anstieg der Ungleichheit seit 1980

I Zunehmende Lohndifferentiale zwischen qualifizierter undeinfacher Arbeit (wage gap). Zwei exogene Schocks:

I Arbeitssparender technischer Fortschritt reduziert Nachfragenach einfacher Arbeit.

I”Globalisierung“ (=Integration der Transformations- und

Schwellenlander in die Weltwirtschaft) erhoht Angebot aneinfacher Arbeit.

I Diese Schocks fuhren entweder zu redzierten Lohnen oder zuhoherer Arbeitslosigkeit, je nachdem, wie der Markt fureinfache Arbeit organisiert ist

I → Abbildungen 10.5(a) und 10.5(b)

I Zunehmende Bedeutung der Kapitaleinkommen (sehr ungleichverteilt; vgl. Abb. 10.1): 15% des durchschnittlichenEinkommens im Jahr 2010 (8% im Jahr 1985)→ Abbildung 10.6

I Soziale Faktoren: Trend zu Paaren aus gleicherEinkommensgruppe; steigende Scheidungsquoten verscharfenArmutsproblem fur Alleinerziehende

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-8 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Abbildung 10.5(a): Angebots- und Nachfrageschocks bei flexiblemArbeitsmarkt

6

-

Lohnsatz

einfache Arbeit

Einfuhrung in die Wirtschaftspolitik 10-9 Prof. Dr. Andreas Haufler (SoSe 2018)

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Abbildung 10.5(b): Angebots- und Nachfrageschocks bei fixiertemLohn

6

-

Lohnsatz

einfache Arbeit

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Abbildung 10.6 : Entwicklung der Privatvermogen in Deutschland

Quelle: Statistisches Bundesamt auf Basis EVS

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10.2. Wirtschaftspolitische Maßnahmen

I Wirtschaftspolitische Maßnahmen, die eine Erhohung der(relativen) Nachsteuereinkommen von Geringverdienernbedeuten, stehen grundsatzlich vor dem gleichen Zielkonfliktwie die (progressive) Einkommenmsbesteuerung in Kapitel 9.

I Ein hoheres Nachsteuereinkommen von Geringverdienern kannauf zwei Arten erfolgen:

I Hoheres Bruttoeinkommen fur gering qualifizierte Arbeit→ Mindestlohn.

I Hoheres Nettoeinkommen durch Vermogens- oderErbschaftsbesteuerung der Reichen und Umverteilung derSteuereinnahmen.

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10.2.1 Mindestlohn

I langjahrige Politik: Tarifautonomie; Lohnverhandlung durchTarifparteienaber: abnehmender Anteil der Arbeitnehmer, deren Lohnedurch Tarifvertrage bestimmt werden (in 2012: ca. 60% inWestdeutschland und 30% in Ostdeutschland)

I 2010-2015: branchenspezifische Mindestlohne in zunehmenderZahl von Branchen (u.a. Baugewerbe, Gebaudereinigung,Pflegebranche, Zeitarbeit);Mindestlohne zwischen 7,50 Euro und 11 Euro in Westdt. undzwischen 6,50 Euro und 10 Euro in Ostdt.

I Koalitionsvereinbarung 2013: allgemeiner gesetzlicherMindestlohn von 8,50 Euro ab Januar 2015(seit 2017: 8,84 Euro)

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Hintergrund: Arbeitsmarktreform in Deutschland

I Agenda 2010: 2003-2005 von Kanzler Schroder (SPD)eingefuhrt

I Kernpunkt: Arbeitslosengeld (ALG 1) nur noch fur 12 Monate(uber 50-jahrige: gestaffelt bis zu 24 Monate) danach ALG 2(‘Hartz IV’) auf Hohe des Sozialhilfesatzes: 416 Euro plusMietzuschuss in ahnlicher Hohe fur Alleinstehende;Kurzung von ALG 2, wenn Arbeit nicht aktiv gesucht wird

I Forderung der Zeitarbeit (Leiharbeit): von ca. 300.000Beschaftigten in 2000 auf 1.000.000 Beschaftigte in 2015;Lohne der Zeitarbeiter in der Regel geringer als die derStammbelegschaft

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Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen

I geringere Absicherung der Arbeitslosen ist ein Grund furLohnzuruckhaltung der Gewerkschaften (zusammen mit denauslosenden Angebots- und Nachfrageschocks)

I von 1985 bis 2010 nur ein jahrliches Reallohnwachstum von0.1% fur das unterste Einkommendezil, dagegen +1.6%/Jahrfur das oberste Einkommensdezil

I =⇒ Entwicklung zu flexiblem Arbeitsmarktmodell→ Abbildung 10.4(a)

I großer Erfolg der Reform in Bezug auf die Entwicklung derArbeitslosenquote → Abbildung 10.7

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Abbildung 10.7: Arbeitslosenquote in Deutschland 2000-2015

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Mindestlohn: Erfahrungen in anderen Landern

Land Mindestlohn

Frankreich 9,40 Euro (bei 35-Stunden-Woche)Niederlande 8,90 Euro (haufige Anpassungen)Belgien 8,75 EuroVerein. Konigreich 6,30 GBP (ca. 7,50 Euro)

geringer fur unter 25-jahrigeVereinigte Staaten 7,25 USD (ca. 6,50 Euro)

I Vereinigtes Konigreich: vorsichtige Einfuhrung, zunachst mitniedrigem Lohn (GBP 3,60 in 1999) und nur fur kleinereGruppen; Anhebung erst nach Evidenz fur ‘Unschadlichkeit’→ eher gute Erfahrungen

I Frankreich: negative Arbeitsmarktwirkungen werden mithohen staatlichen Subventionen abgefedert (ca. 20 Mrd.Euro/Jahr) → eher schlechte Erfahrungen

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Geringer Nettolohnzuwachs durch Mindestlohn(Knabe, Schob und Thum, 2014)

Alleinverdiener vor Einfuhrung des Mindestlohns:

Bruttoverdienst (160 Stunden zu 5 Euro) + 800 EuroArbeitnehmerbeitrage zur Sozialvers. – 160 EuroALG II (‘Aufstocker’) + 350 Euro

Nettoeinkommen/Monat: 990 Euro

Alleinverdiener nach Einfuhrung des Mindestlohns:

Bruttoverdienst (160 Std. zu 8,50 Euro) + 1360 EuroArbeitnehmerbeitrage und Steuern – 310 Euro

Nettoeinkommen/Monat: 1050 Euro

I Zuwachs des Nettogehalts: + 6%;Zuwachs der Bruttolohne (Arbeitskosten): + 70%

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Mindestlohn: Erfahrungen seit 2015

I seit 2015 keine sichtbar negativen Auswirkungen desgesetzlichen Mindestlohnes auf die Beschaftigung geringQualifizierter

I aber: robuste Konjunkturentwicklung in Deutschland seit2015; allgemeines Sinken der Arbeitslosenquote von 6.7%(2014) auf 5.7% (2017)=⇒ noch hohere Beschaftigungsgewinne ohne Mindestlohn?

I DIW Studie vom Dez 2017: 1.8 Mio. Beschaftigte geben an,wegen unbezahlter Mehrarbeit/Uberstunden effektiv wenigerals den Mindestlohn zu bekommen (Hochrechnung auf Basisder Angaben im SEOP=Soziookonomisches Panel). Dies giltinsbesondere fur Frauen und Arbeitnehmer in Ostdeutschland.Aber: dies bedeutet noch nicht, dass der Mindestlohn indiesen Fallen aktiv umgangen wird.

I Insgesamt noch wenig Evidenz uber die Arbeitsmarkteffektedes Mindestlohns.

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10.2.2 Vermogensbesteuerung

Thomas Piketty: Capital in the 21st century (2014)einflussreichstes Wirtschaftsbuch der letzten Jahre

I Ungleichheit steigt, wenn die Kapitalrendite schneller wachstals die Wirtschaft insgesamt (r > g)

I Kapitalbesitz ist stark bei den Vermogenden konzentriertI Vermogende konnen ihr Kapital mit hoheren Renditen anlegen

(Aktien!)I → Kapitalrendite kommt vor allem den Reichen zu Gute

I generell ist r > g seit dem 18. Jahrhundert meistens erfullt;die Nachkriegszeit 1945-1980 als historische Ausnahme(hohes Wachstum nach den Kriegszerstorungen)

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Vermogensteuervorschlag von Thomas Pikettyprogressive Vermogensteuer als zentrales Instrument zur Reduktionvon Einkommensungleichheit

I 0 - 200.000 Euro: keine Besteuerung200.000 - 1 Million Euro: 1% pro Jahrab 1 Million Euro: 2% pro Jahr

I Problem 1: Vermogensumschichtung ins Ausland beinationaler Vermogensteuer

I Problem 2: gleichmaßige Besteuerung aller Vermogensarten

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Vermogensteuer in Deutschland

I in Deutschland zuletzt 1996 erhoben: 1% Steuersatz aufVermogen uber Freibetrag von 120.000 DM/Personerbrachte 1996 ca. 9 Mrd. DM

I Verfassungsgerichtsurteil 1995: fordert Gleichbehandlung vonGrundstucks- und Geldvermogen, was durch niedrigehistorische Ansatze (Einheitswerte) der Grundstuckswertenicht gegeben ist=⇒ fuhrt 1997 zur vollstandigen Abschaffung derVermogensteuer

I Fazit: Wiedereinfuhrung der Vermogensteuer nur gerecht undfiskalisch ergiebig bei Bewertung von Immobilien zumVerkehrswert.

I Probleme: (1) Ermittlung des Verkehrswertes; (2) in einigenFallen (wie vielen?) fehlende Liquiditat zur Bezahlung einersolchen ‘Substanzsteuer’.

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10.2.3 Erbschaftsteuer

Erbschaftsteuer in Deutschland

I geringer fiskalischer Ertrag: Aufkommen ca. 6-7 Mrd. Euro proJahr (ca. 1% des Gesamtsteueraufkommens)

I Reform 2008: ausgelost durch BVerfG-Entscheidung zurGleichbehandlung von Immobilien- und anderem Vermogen

I Neuerung 1: Bewertung von Immobilien zum Verkehrswert,aber Steuerfreiheit bei Vererbung an Ehepartner oder Kinder,wenn diese die Immobilie mindestens 10 Jahre bewohnen

I Neuerung 2: Schonung des Betriebsvermogens: 85% desBetriebsvermogen werden von ErbSt verschont, wennLohnsumme im Betrieb funf Jahre lang annahernd konstantbleibt (mindestens 80% der Ausgangssumme).

I deutlich hohere Freibetrage in allen Steuerklassen(Steuerklasse I vor 2008: 300.000 Euro fur Ehepartner und200.000 Euro fur Kinder)

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Freigrenzen und Tarif

Steuersatze gelten fur das gesamte steuerpflichtige Vermogen!(mit Harteregeln; anders als bei der ESt)

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Erbschaftsteuerreform 2016

BVerfG Entscheidung Dez 2014: zu starke Bevorzugung desBetriebsvermogens. Anpassungen als Reaktion:

I Großvermogen: bei Betriebsvermogen von uber 26 MilllionenEuro muss Erbe nachweisen, dass ihn die Zahlung der ErbStuberfordern wurde und dazu sein Privatvermogen offen legen.Alternativ muss 1 Prozentpunkt Erbschaftsteuer fur je 750.000Euro Betriebsvermogen uber 26 Millionen bezahlt werden.(Also z.B. bei 41 Millionen Euro Betriebsvermogen: 20% auf15 Mill. = 3 Mill. Euro.)

I Nachweispflicht fur Arbeitsplatzerhalt entfallt bei Betriebenmit bis zu 5 Mitarbeitern (ErbStG 2008: bis zu 20 Mitarbeiter)

I Steuertricks: uberschreitet das (nicht begunstigte)Verwaltungsvermogen 90 % des Betriebsvermogens, ist dieVerschonung von Erbschafts- und Schenkungssteuerausgeschlossen

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Erbschaftsteuer in Deutschland: Diskussion

I Grundsatzliche Berechtigung einer Steuer auf denVermogensubergang innerhalb der Kernfamilie?

I Insgesamt haben Reformen seit 2008 eher zu Verringerung derErbschaftsbesteuerung gefuhrt.Gleichzeitig: keine Vermogensteuer → insgesamt sehrbegrenzte Besteuerung des (ererbten) Vermogens alsErganzung der Einkommensteuer. In Zeiten steigenderUngleichheit und tendenziell sinkender Einkommenbesteuerung(Steuerwettbewerb um Gutverdiener) gerechtfertigt?

I Spezielle Abwagung zwischen Besteuerung vonBetriebsvermogen und Arbeitsplatzerhalt: auch mit Gesetz2016 klar zu Gunsten des Arbeitsplatzerhaltes gelost.Gerechtfertigt? Manipulationsmoglichkeiten?

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11. Staatswachstum und Wirtschaftsentwicklung

11.1. Das Wachstum des Staates

I langfristiger Wachstumstrend der staatlichen Ausgaben alsAnteil am BIP in allen Landern: OECD Durchschnitt steigtvon 19% (1920) auf 42% (2006)

I starkes Staatswachstum insbesondere in der Zeit von1960-1980: Anteil am BIP steigt im OECD Durchschnitt von28% (1960) auf 43% (1980)

I seit 1980 weitgehende Stabilisierung: geringes Staatswachstumin den meisten Landern, deutliche Ruckfuhrung desStaatsanteils in Belgien, Irland, Holland, Schweden

I immer noch große Bandbreite der Staatsanteile am BIP: imJahr 2006 zwischen 34% (Irland) und 53% (Frankreich)

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Land 1920 1960 1980 2006

Australien 19.3 21.2 34.1 33.3Belgien 22.1 30.3 57.8 48.6Deutschland 25.0 32.4 47.9 45.3Frankreich 27.6 34.6 46.1 53.0Großbritannien 26.2 32.2 43.0 44.2Irland 18.8 28.0 48.9 34.2Italien 30.1 30.1 42.1 48.5Japan 14.8 25.4 32.0 36.2Kanada 16.7 28.6 38.8 39.2Niederlande 13.5 33.7 55.8 45.5Neuseeland 24.6 26.9 38.1 39.0Norwegen 16.0 29.9 43.8 40.0Osterreich 14.7 35.7 48.1 49.1Schweden 10.9 31.0 60.1 52.7Schweiz 17.0 17.2 32.8 33.5Spanien 8.3 18.8 32.2 38.4Vereinigte Staaten 12.1 27.0 31.4 36.0

Durchschitt 18.7 28.4 43.1 42.2Quelle: Tanzi and Schuknecht (2000, Table 1.1); OECD Annual National Accounts.

Tabelle 11.1: Staatliche Ausgaben als Anteil am BIP

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Fragen aus diesen Entwicklungen:

1. Grunde fur starken Anstieg in der Nachkriegszeit?

2. Grunde fur Ende dieser Entwicklung seit 1980?

3. Grunde fur große Unterschiede zwischen OECD Landern?

Mogliche Erklarungsansatze

I Hohere Nachfrage nach offentlichen Gutern

II Hohere Nachfrage nach Umverteilung

III Interessengruppen und Burokratie

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Erklarungsansatz I: Hohere Nachfrage nach offentlichenGutern

I auf Basis des Medianwahlertheorems konnen die Grunde furdas Wachstum des Staates im Nachfrageverhalten desMedianwahlers gesehen werden.

I Annahmen:I zwei-Guter Rahmen mit offentlichem Gut G , privatem Gut XI zugehorige Preise Pg und Px

I Einkommen Ym

I Vektor von Praferenzparametern Z

I Gleichung zum Schatzen der Nachfrage nach offentlichenGutern:

lnG = a + α ln

(Pg

Px

)+ β lnYm + γZ + µ.

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Ein hoherer Anteil des offentlichen Konsums am BIP (G/Y ) ergibtsich bei:

A. Anderung im Praferenzvektor Z

B. steigenden Einkommen und uberproportionaler Nachfrage nachoffentlichen Gutern (β > 1) → G/Y ↑

C. steigenden Preisen fur staatliche Guter und Leistungen, relativzu privaten Gutern (Pg/Px ↑) und inelastischer Nachfragenach offentlichen Gutern (−1 < α < 0)→ (PgG )/Y ↑

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A. Anderung der Praferenzen

Verstadterung: Zusammenhang zwischen Bevolkerungsdichte undNachfrage nach offentlichen Gutern (Polizei, Justiz, Parks etc.)ist plausibel (z.B.

”Brecht’sches Gesetz“; Einwohnerveredelung

fur Stadtstaaten im deutschen Finanzausgleich). Aber: wenigempirische Evidenz dafur (Deacon 1977, Borcherding 1985).

Schwachung des Familienverbundes: Altenpflege uber denoffentlichen Sektor statt in der Familie; steigendeScheidungsquoten, verbunden mit Bedurftigkeit eines Partners

Fazit: Faktoren leisten gewissen Erklarungsbeitrag, quantitativeBedeutung aber schwer abzuschatzen.

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B. Offentliche Guter als Luxusgut

die meisten Schatzungen der Einkommenselastizitat der Nachfragenach offentlichen Gutern ergeben Werte fur den Koeffizienten β,die in der Nahe von 1 oder darunter liegen. Ein steigender Anteilder Staatsausgaben am BIP kann also durch dieses Argument nichterklart werden.

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C. Der Baumol-EffektWilliam J. Baumol (1967): Macroeconomics of unbalanced growth:The anatomy of urban crisis. American Economics Review 57,415-426.

I Viele offentliche Dienstleistungen haben ein geringes Potentialfur Produktivitatssteigerungen (Bildung, Polizei, Justiz)

I Die Lohne im offentlichen Sektor mussen mit den Lohnen imPrivatsektor konkurrieren=⇒ Relativer Preis pro Einheit des offentlichen Gutes steigt

I Dies fuhrt zu einem hoheren Ausgabenanteil am BIP, wenn dieNachfrage nach offentlichen Gutern unelastisch aufPreisanderungen reagiert.

I Robuste Evidenz fur inelastische Nachfrage nach offentlichenGutern: Preiselastizitat der Nachfrage wird auf -0.5 geschatzt(Borcherding, 1977, 1985).

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I Relativ starke und robuste Evidenz fur den”Baumol-Effekt“ in

einer Reihe von Landern. Z.B. Lybeck (1986) findet Evidenzin 9 von 12 untersuchten OECD Landern. Ferris und West(1996) ordnen zwei Drittel des Ausgabenwachstums (alsAnteil am BIP) in den USA im Zeitraum 1959-1984 demBaumol Effekt zu.

I Ein Maß fur die quantitative Bedeutung des Baumol Effektsist das Wachstum des Regierungskonsums (v.a.Personalausgaben) als Anteil am BIP. Dieser Anteil ist von1960 bis 1995 im OECD Durchschnitt um ca. 35% gestiegen(von 12.5% auf 17.4% des BIP).→ Tabelle 11.2

beachte: geringere Produktivitatssteigerung im offentlichen Sektormuss nicht technologisch bedingt sein (wie von Baumol, 1967angenommen), sondern sie kann auch durch Ineffizienz desStaatssektors hervorgerufen werden.

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Land 1960 1974 1985 1995

Australien 11.1 15.6 18.5 17.3Belgien 12.4 14.7 17.0 14.8Deutschland 13.7 19.8 20.5 19.5Frankreich 14.2 15.4 19.4 19.3Großbritannien 16.4 20.5 21.1 21.3Irland 11.9 16.5 17.8 14.7Italien 12.3 14.0 16.7 16.3Japan 8.0 9.1 9.6 9.8Kanada 13.4 18.1 20.1 19.6Niederlande 12.2 15.7 15.8 14.3Neuseeland 10.5 14.7 16.2 14.3Norwegen 12.4 17.7 18.2 21.1Osterreich 13.1 15.9 19.3 20.2Schweden 16.1 23.5 27.9 25.8Schweiz 9.6 12.7 14.5 15.0Spanien 8.4 9.9 14.7 16.6Vereinigte Staaten 16.6 17.6 17.8 15.8

Durchschnitt 12.5 16.0 17.9 17.4Quelle: OECD Economic Outlook: Historical Statistics, 1960-1995, p.70.

Tabelle 11.2: Anteil des Staatskonsums am BIP

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Erklarungsansatz II: Hohere Nachfrage nach Umverteilung

I Ansatzpunkt: Praferenz des Medianwahlers fur Umverteilung→ Kapitel 9.2.

I Analyse von Meltzer und Richard (1981): Ausweitung desWahlrechts hat zu geringeren Medianeinkommen gefuhrt →fuhrt zu hoherem Niveau an Umverteilung im politischenGleichgewicht

I der gleiche Effekt ergibt sich bei zunehmenderUngleichverteilung der Einkommen (Einkommen desMedianwahlers nimmt relativ zum Durchschnittseinkommenab)

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I offene Fragen:

1. Warum lasst der Medianwahler eine Ausweitung desWahlrechtes zu, die ihn schlechter stellt?

2. keine Evidenz fur stetig zunehmende Ungleichverteilung derEinkommen seit 1945 (→ Kapitel 9.3)

I aber: dennoch zeigen die Daten, dass steigende Transfer- undSozialversicherungsausgaben einen signifikanten Teil desStaatswachstums seit 1960 ausmachen. → Tabelle 11.3

I Dies hat demographische, technologische und gesellschaftlicheGrunde:

I Alterung der GesellschaftI medizinischer FortschrittI Verlagerung der Pflege in Heime

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Land 1960 1970 1980 1995

Australien 6.6 10.5 16.7 19.0Belgien 12.7 20.7 30.0 28.8Deutschland 13.5 12.7 16.8 19.4Frankreich 11.4 21.0 24.6 29.9Großbritannien 9.2 15.3 20.2 23.6Irland - 18.8 26.9 24.8Italien 14.1 17.9 26.0 29.3Japan 5.5 6.1 12.0 13.5Kanada 9.0 12.4 13.2 14.9Niederlande 11.5 29.0 38.5 35.9Neuseeland - 11.5 20.8 12.9Norwegen 12.1 24.4 27.0 27.0Osterreich 17.0 16.6 22.4 24.5Schweden 9.3 16.2 30.4 35.7Schweiz 6.8 7.5 12.8 16.8Spanien 1.0 6.7 12.9 25.7Vereinigte Staaten 6.2 9.8 12.2 13.1

Durchschnitt 9.7 15.1 21.4 23.2

Quelle: Tanzi and Schuknecht (2000, Table 2.4).

Tabelle 11.3: Anteil staatlicher Transferausgaben und Subventionen am BIP

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Erklarungsansatz III: Interessengruppen und Burokratie

Interessengruppen:

I Existenz von Interessengruppen fuhrt zu vielen Programmen,die Partikularinteressen bedienen und damit den Staatssektor(uber das vom Medianwahler gewunschte Ausmaß hinaus)

”aufblahen“ (→ Kapitel 7)

I gewisse empirische Evidenz fur Hypothese: Zahl derInteressengruppen ist positiv mit Staatswachstum korreliert(Mueller and Murell, 1985); in Schweden ist Staatswachstumpositiv korreliert mit Zahl organisierter Arbeiter (Lybeck,1986)

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Burokratieverhalten:

I Niskanen Modell: Eigeninteresse der Burokratie fuhrt zuAusweitung des Staatssektors (→ Kapitel 8)

I insgesamt recht geringe Evidenz fur quantitative Erhohungdes staatlichen Outputs durch die Entscheidungsspielraumeder Burokratie

I aber: Wechselwirkung mit dem Baumol-Effekt: staatlicheBereitstellung eines gegebenen Umfangs von Gutern undDienstleistungen fuhrt zu geringerer Produktivitat und damithoheren Kosten (X-Ineffizienz)

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Zusammenfassung

I alle Erklarungsansatze liefern Teile einer Erklarung fur dasstarke Wachstum des Staatsanteils am BIP im 20.Jahrhundert und insbesondere in der Zeit von 1960-1980.

I Die wichtigsten Effekte scheinen zu sein

1. steigende relative Preise fur offentliche Guter undDienstleistungen, in Verbindung mit einer unelastischenNachfrage nach diesen Gutern (Baumol Effekt). Die geringereProduktivitat des offentlichen im Vergleich zum privaten Sektorist nur z.T. technologisch bedingt, z.T. spiegelt sie fehlendeAnreize zur Produktivitatserhohung wider (→ Kapitel 10)

2. steigende Nachfrage nach Versicherung und Umverteilung, z.T.auch als Folge einer unsicherer werdenden Welt(Globalisierung, steigende Arbeitslosigkeit, Alterung, geringererFamilienzusammenhalt)

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I alle Erklarungsmuster fur steigende Staatsanteile werdenverstarkt durch sinkende Transaktionskosten bei der Erhebungvon Steuern und Beitragen durch eine ausgebauteSteuerverwaltung und durch bessere Steuerinstrumente(Quellenabzug von Lohnsteuer undSozialversicherungsbeitragen, Mehrwertsteuer).

=⇒ bei geringeren (Zusatz-) Kosten der Besteuerung ist einehohere Bereitstellung offentlicher Guter optimal(Grenznutzen= Grenzkosten offentlicher Guter)

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11.2. Staatsanteil und Wirtschaftswachstum

mogliche Grunde fur negativen Effekt einer hohen Staatsquote aufdas Wirtschaftswachstum:

1. Effizienzkosten der Besteuerung (deadweight loss) steigenuberproportional zum Steuersatz (→ Kapitel 9.1)

2. hohere Steuern fuhren ceteris paribus (bei gleicherSteuermoral) zu steigendem Umfang der Schattenwirtschaft(Schneider und Enste, 1998)

3. Evidenz fur geringere Produktivitat des offentlichen Sektors(→ Kapitel 10.1)

4. geringere Innovationsbereitschaft im offentlichen Sektor (→Kapitel 10)

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I neben wachstumshemmenden gibt es auchwachstumsfordernde Effekte eines großeren Staatssektors:Bildung; Rechtssicherheit durch Justiz und Polizei (Kapitel 3).

I empirisch ergibt sich in weltweiten Vergleichsstudien ein

”umgekehrtes U“ fur den Zusammenhang zwischen

Staatsanteil und Wachstum (Grossman 1987, 1988):produktive Rolle des Staates bei geringen Staatsquoten, abernegative Effekte dominieren bei hoher Staatsquote→ Abbildung 11.1

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-

6

Gt/Yt

(Yt+1/Yt)− 1

Abbildung 11.1. Staatsanteil und Wirtschaftswachstum

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International vergleichende Studie von Barro (QJE 1991):

1. geringeres Wachstum der reichen Lander.Konvergenzhypothese: armere Lander sind weiter vonTechnologiegrenze entfernt und konnen daher durchUbernahme der neuesten Technologie hohere Wachstumsratenerzielen.

2. signifikant positive Rolle von Bildungsindikatoren (Anteil derBevolkerung, die eine Schule besucht)

3. negativer Effekt des Regierungskonsums (ohneBildungsausgaben, d.h. Ausgaben fur Lehrer)

4. politische Instabilitat wirkt sich negativ aufWirtschaftswachstum aus→ Tabelle 11.4

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Koeffizient Standardabweichung

Konstante 0.0345** (0.0067)reales BIP pro Kopf -0.0068** (0.0009)Anteil Kinder in weiterfuhrender Schule 0.0133* (0.0070)Anteil Kinder in Grundschule 0.0263** (0.0060)Dummy fur Afrika -0.0114** (0.0039)Dummy fur Lateinamerika -0.0129** (0.0030)Staatsausgaben/BIP (ohne Lehrerkosten) -0.094** (0.026)Revolutionen pro Jahr -0.0167** (0.0062)Politische Attentate pro 1 Mio. Einwohner -0.0201 (0.0131)

R2 = 0.62 n=98Source: Barro, 1991, Table 1.

Tabelle 11.4: Wachstumsraten pro Kopf der Bevolkerung und

Staatsanteil, 1960-1985

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Zusammenfassung

I empirische Evidenz von Barro und anderen, dass inentwickelten Landern eine erhohte Staatsquote zu geringeremWirtschaftswachstum fuhrt

I außerdem Evidenz fur die OECD Lander, dass im Zeitraum1960-1990 eine hohere Staatsquote gleichzeitig mitgeringerem Wachstum und mehr Arbeitslosigkeit verbundenwar (Tanzi und Schuknecht, 2000: Public Spending in the20th Century, Kapitel V)

=⇒ dies fuhrt am Ausgang des 20. Jahrhunderts zu einemKonsens, dass eine Reduktion der staatlichen Aktivitat okonomischsinnvoll ware

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I die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 hat aber wiedereinen Beweis fur die Bedeutung von Marktversagen und furdie Wichtigkeit staatlicher Regulierung (des Finanzsektors)erbracht→ dies zeigt, dass das Verhaltnis von Markt und Staat immerwieder neu austariert werden muss

I neben der absoluten Hohe der Staatsquote ist auch dieZusammensetzung der staatlichen Ausgaben entscheidend:

I Breiter Konsens unter Okonomen in Deutschland (undanderswo), dass starkere staatliche Investitionen, insbesonderein den Bildungssektor entscheidend waren, wahrendgleichzeitig Verwaltungskosten, Subventionen und einigeTransfers (z.B. Zuschusse zur Renten- undKrankenversicherung) tendenziell gekurzt werden sollten.

I Aber: Politokonomisches Kalkul: heutige Staatsausgabenkommen klar abgegrenzten und gut organisiertenInteressengruppen (i.w.S.) zu Gute, Investitionen in Bildungbringt zwar hohe Rendite, dies aber erst in der Zukunft und furdie gesamte Gesellschaft

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