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Dr. med. Christa Scheidt-Nave, M.P.H., Uni Heidelberg, Med. Klinik und Poliklinik, Abt. für Klin. Sozialmedizin Tel.: 56-8755; e-mail: [email protected] Skript zum Seminar Epidemiologie zur Vorlesung Sozialmedizin Dr.med.Christa Scheidt-Nave M.P.H. Einführung in die Epidemiologie für Mediziner Seminar im Rahmen des Ökologischen Kurses Gliederung: 1. Übersicht ............................................................................................................................ 1 2. Epidemiologische Studiendesigns ................................................................................. 2 2.1 Vergleichende Bewertung epidemiologischer Studiendesigns .......................... 4 3. Maßzahlen in der deskriptiven Epidemiologie ............................................................... 8 3.1 Prävalenz (Krankenstand) ........................................................................................ 8 3.2 Inzidenz (Neuerkrankungswahrscheinlichkeit) ....................................................... 9 3.3 Zusammenhang zwischen Prävalenz und Inzidenz............................................. 13 3.4 Weitere, häufig benötigte Maßzahlen der deskriptiven Epidemiologie ........... 15 4. Validität von Maßzahlen in der deskriptiven Epidemiologie - Fehlerquellen ............ 23 5. Altersstandardisierung von Häufigkeitsmassen ........................................................... 26 5.1 Direkte Altersstandardisierung ............................................................................ 27 5.2 Indirekte Altersstandardisierung .......................................................................... 29 6. Maßzahlen der deskriptiv-analytischen Epidemiologie zur Beschreibung eines Zusammenhangs zwischen dem Auftreten von Erkrankungen / Todesfällen und assoziierten Faktoren - Kausalitätskriterien................................................................. 32 6.1 Allgemeines zum Messen von Risiko .................................................................. 32 6.2 Relatives Risiko (RR) versus Attributables Risiko (AR) .................................... 33 6.3 Weitere Maßzahlen zur Beschreibung von Effekten von Risikofaktoren .......... 35 6.4 Relatives Risiko (RR) versus Odds Ratio (Kreuz-Produkt-Quotient): .............. 37 7. Evidenz-Bewertung der medizinischen Literatur und Empfehlungsgrad für die Praxis ................................................................................................................................ 39 8. Weiterführende Literatur: ................................................................................................ 41

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Dr. med. Christa Scheidt-Nave, M.P.H., Uni Heidelberg, Med. Klinik und Poliklinik, Abt. für Klin. Sozialmedizin Tel.: 56-8755; e-mail: [email protected]

Skript zum Seminar Epidemiologie zur Vorlesung Sozialmedizin Dr.med.Christa Scheidt-Nave M.P.H.

Einführung in die Epidemiologie für Mediziner

Seminar im Rahmen des Ökologischen Kurses

Gliederung:

1. Übersicht ............................................................................................................................1 2. Epidemiologische Studiendesigns .................................................................................2

2.1 Vergleichende Bewertung epidemiologischer Studiendesigns ..........................4 3. Maßzahlen in der deskriptiven Epidemiologie...............................................................8

3.1 Prävalenz (Krankenstand)........................................................................................8 3.2 Inzidenz (Neuerkrankungswahrscheinlichkeit) .......................................................9 3.3 Zusammenhang zwischen Prävalenz und Inzidenz............................................. 13 3.4 Weitere, häufig benötigte Maßzahlen der deskriptiven Epidemiologie........... 15

4. Validität von Maßzahlen in der deskriptiven Epidemiologie - Fehlerquellen............23 5. Altersstandardisierung von Häufigkeitsmassen...........................................................26

5.1 Direkte Altersstandardisierung............................................................................ 27 5.2 Indirekte Altersstandardisierung.......................................................................... 29

6. Maßzahlen der deskriptiv-analytischen Epidemiologie zur Beschreibung eines Zusammenhangs zwischen dem Auftreten von Erkrankungen / Todesfällen und assoziierten Faktoren - Kausalitätskriterien.................................................................32 6.1 Allgemeines zum Messen von Risiko .................................................................. 32 6.2 Relatives Risiko (RR) versus Attributables Risiko (AR) .................................... 33 6.3 Weitere Maßzahlen zur Beschreibung von Effekten von Risikofaktoren.......... 35 6.4 Relatives Risiko (RR) versus Odds Ratio (Kreuz-Produkt-Quotient): .............. 37

7. Evidenz-Bewertung der medizinischen Literatur und Empfehlungsgrad für die Praxis................................................................................................................................39

8. Weiterführende Literatur: ................................................................................................41

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1. ÜBERSICHT

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1

1. Übersicht

Die Epidemiologie (EPI-DEMOS, wörtlich: „was auf dem Volke liegt“) befasst sich mit

der Untersuchung der Verteilung von Krankheiten, physiologischen Variablen und sozia-

len Krankheitsfolgen in menschlichen Bevölkerungsgruppen sowie mit den Faktoren, die

diese Verteilung beeinflussen. Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen liefern

manche Wissensgrundlage für ärztliches Handeln in der Praxis. Beispiele hierfür sind

bevölkerungsbezogene Untersuchungen zur Häufigkeit von Erkrankungen in bestimmten

Bevölkerungsgruppen und zur Abschätzung der damit verbundenen Krankheitslast (di-

rekte, indirekte und intangible Kosten); Fall-Kontroll-Studien und Kohortenstudien zur

Identifizierung von Krankheitsursachen bzw. Risikofaktoren als Grundlage für vorbeu-

gende Maßnahmen; Wirksamkeits-Prüfungen von Therapien in randomisierten und kon-

trollierten Studien (RCTs=randomized controlled trials); Untersuchungen zur Qualitätssi-

cherung in der Medizin (Erstellung Evidenz-basierter Handlungsleitlinien; Evaluationen

von Vorsorge-Programmen; Studien zur Identifizierung von Unter- und Überversorgung).

Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Epidemiologie nahezu ausschließlich

mit der Seuchenbekämpfung befasst, da übertragbare Krankheiten das hauptsächliche

medizinische Problem darstellten. Aus dieser Zeit stammt auch die enge Verknüpfung

epidemiologischer Methodik mit der Sozialmedizin, da viele der krankheitsauslösenden

oder – fördernden Faktoren mit den Wohn-, Arbeits- und Ernährungsbedingungen der

Bevölkerung zu tun hatten (z.B. schlechte Wasserqualität und Cholera-Ausbrüche - John

Snow, London 1854; Sozialepidemiologie - Rudolf Virchow, Deutschland und William

Farr, England Mitte des 19. Jahrhunderts). Heute stehen neben Infektionskrankheiten,

die noch nicht unter Kontrolle sind, bzw. neu hinzu getreten sind (Tuberkulose, AIDS,

Tropenkrankheiten wie Malaria, Ebola, Lassa-Fieber) vor allem auch nicht-übertragbare

chronische Erkrankungen (Koronare Herzkrankheit; Osteoporose, COPD, Diabetes

mellitus) im Mittelpunkt epidemiologischer Untersuchungen. Mehr und mehr setzt sich

dabei die Erkenntnis durch, dass Infektionen auch als Auslöser oder Promotoren chro-

nischer nicht-übertragbarer Erkrankungen eine Rolle spielen (Beispiel: Herzinfarkt;

Schlaganfall; bestimmte Krebserkrankungen). Hinzu treten genetische Dispositionen,

verhaltensbasierte Faktoren, Umweltnoxen und – nach wie vor aktuell - soziale und psy-

chosoziale Faktoren.

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2. EPIDEMIOLOGISCHE STUDIENDESIGNS

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2. Epidemiologische Studiendesigns

Zur Erfassung epidemiologischer Zusammenhänge ist man auf bestimmte Methoden

angewiesen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Studiendesigns, ihrer Fragestel-

lungen und Zielgrößen ist in Anlage 1 gegeben. Vereinfachend kann gesagt werden,

dass es der deskriptiven Epidemiologie in erster Linie um die Dokumentation und

Quantifizierung von Gesundheitsproblemen (z.B. Häufigkeit des Auftretens bestimmter

Krankheiten innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen und Zeiträume) geht. Zu den

systematischen querschnittlichen Studien zählen z.B. der Bevölkerungs-Survey (sys-

tematische Untersuchungen in repräsentativen Stichproben der Bevölkerung zur Häufig-

keit bestimmter Gesundheitsprobleme, gesundheitlicher Einstellungen, Lebensbedin-

gungen, Risikofaktoren etc.) und die Filter- oder Screening-Untersuchung in ausgewähl-

ten Zielpopulationen (z.B. Reihenuntersuchungen bei Schulkindern zur Aufdeckung von

Haltungsschäden; Röntgen-Reihenuntersuchung in einer Zufallsstichprobe über

50jähriger Frauen und Männer zur Einschätzung der Häufigkeit osteoporotischer Wirbel-

frakturen; hautärztliche Ganzkörperuntersuchung in ausgewählten Stichproben der Be-

völkerung zur Abschätzung der Häufigkeit des malignen Melanoms und seiner Vorstu-

fen). Zielgröße ist hier in der Regel die Prävalenz (Krankenstand, s. Punkt 3.) Fallstu-

dien oder Fallserien sind zwar selbst keine systematischen oder repräsentativen Unter-

suchungen, aber wichtige Vorläufer. Sie kommen meist aus der Praxis von Klinikern

oder niedergelassenen Ärzten und machen erstmals auf wichtige und neue Gesund-

heitsprobleme aufmerksam, die rasches Handeln erfordern und die Grundlage für weite-

re Untersuchungen bilden (z.B. Beschreibung der ersten AIDS-Fälle in Los Angeles und

New York 1980-81 und Meldung an das Center of Disease Control (CDC) in Atlanta).

Außerordentlich wichtig sind auch längsschnittliche deskriptive Untersuchungen in

Form sog. Monitoring- oder Surveillance-Untersuchungen etwa auf der Basis von Fall-

registern. Zielgrößen sind Inzidenz (Neuerkrankungsrate) und/oder Mortalität (Sterbe-

ziffer), evtl. noch Letalität (Wahrscheinlich des tödlichen Ausgangs), s. Punkt 3. Ent-

scheidend hierbei ist, dass bestimmte Erkrankungen bzw. Todesursachen nach genau

definierten und reproduzierbaren Kriterien für eine ebenfalls klar definierte Zielpopulati-

on über längere Zeiträume möglichst komplett erfasst werden. Anhand der so über Jah-

re sorgfältig erhobenen Daten lassen sich wichtige Trendwenden erkennen, die Hinwei-

se auf veränderte oder neu hinzu getretene Krankheitsursachen geben können (z.B. an-

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hand von Daten des saarländischen Krebsregisters 1970-94: Abnahme der Inzidenz

von Magen und Zervix-Karzinom, Zunahme der Inzidenz von Darm- und Lungenkarzino-

men). Auch lässt sich die Effektivität von durchgeführten Interventionen am Rückgang

von Inzidenz und Mortalität untersuchen (s. 3.4 Ergebnisse der MONICA-Studie (MONI-

CA=monitoring trends and determinants of cardiovascular diseases).

Ziel der analytischen Epidemiologie ist das Aufdecken von Krankheitsursachen sowie

die Überprüfung von Methoden zu ihrer wirksamen Verhütung oder Heilung. Wir unter-

scheiden Beobachtungsstudien (Fall-Kontroll-Studien, Kohortenstudien) und expe-

rimentelle Studien (RCTs). Maßzahlen zur Beschreibung eines Zusammenhangs zwi-

schen Krankheiten und möglichen Einflussgrößen sind das Relative Risiko (RR) und

die Odds Ratio (OR), die auch Kreuz-Produkt-Quotient genannt wird (s. u. und Punkt

6). Ob ein beobachteter Zusammenhang als kausal bewertet werden kann hängt dabei

nicht allein von der Stärke des Zusammenhangs ab (s. Anlage 4).

In der Fall-Kontroll-Studie identifizieren wir eine Gruppe sicher Erkrankter (Fälle) und

vergleichen sie mit einer (zur Optimierung der statistischen Mächtigkeit) meist doppelt

bis dreifach höheren Zahl von "Kontrollen", d. h. Vergleichspersonen, die die unter-

suchte Krankheit sicher nicht haben. In beiden Gruppen wird im Nachhinein (retro-

spektiv) nach einem vermuteten Risikofaktor gefahndet (Anlage 2), z. B. durch Erfra-

gen, durch Durchsehen alter Krankenakten usw. Aus den erhobenen Größen wird eine

Vierfeldertafel erstellt, aus der die Odds Ratio als Schätzer für das Relative Risiko er-

rechnet wird (Anlagen 2 + 3).

Die Kohortenstudie ist eine prospektive Beobachtungsstudie, in der eine für die Be-

völkerung repräsentative Gruppe von Gesunden hinsichtlich der Präsenz eines vermute-

ten Risikofaktors untersucht und über einen längeren Zeitraum auf das Eintreten eines

Ereignisses (Auftreten einer bestimmten Krankheit, Tod) hin beobachtet werden (Anla-

ge 2). Zu Anfang steht immer die Erst- oder Basiserhebung, die im Sinne einer

querschnittlichen Filteruntersuchung feststellt, wer bereits eingangs erkrankt ist. Präva-

lente Fälle werden für den weiteren Verlauf der Studie ausgeschlossen. Am Ende einer

(bei chronischen Krankheiten oft mehrjährigen) Weiterbeobachtungs- oder Follow-up-

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Phase wird wiederum in Form einer Vierfeldertafel die Inzidenzrate bei Personen mit

und ohne Risikofaktor bestimmt (Anlagen 2 + 3) und daraus das Relative Risiko er-

rechnet (s. Punkt 6). Von einer „historischen Kohortenstudie“ spricht man, wenn man

nachträglich auf früher erhobene Daten zurückgreift, um eine bestimmte Hypothese zur

Krankheitsentstehung zu prüfen. Dies kommt zustande, wenn sich nach Abschluss der

eigentlichen Studie weitere Hypothesen zu möglichen Risikofaktoren ergeben, und man

zum Zeitpunkt der Erst- oder Basiserhebung vorausschauend zusätzlich Daten hierzu

erhoben hat.

Im Gegensatz zu den kontrollierten Beobachtungsstudien stellt die Therapiestudie oder

klinische Prüfung eine experimentelle Situation dar, in der eine therapeutische Inter-

vention stattfindet, um Rückschlüsse auf die Wirksamkeit dieser Therapien zu ziehen.

Patienten mit einer bestimmten Krankheit oder Risikokonstellation (z.B. Hypercholeste-

rinämie) werden verschiedenen Therapieformen ("Therapiearmen") zugeführt oder auch

in eine Therapiegruppe und eine Placebo- bzw. Kontrollgruppe zum Vergleich aufgeteilt.

Im Anschluss an bzw. unter Therapie findet eine Weiterbeobachtung mit definiertem

Zielkriterium (Remission, Progression oder tödlicher Ausgang der Erkrankung) statt.

Wichtig für die Validität (Gültigkeit) der Ergebnisse von Therapiestudien ist hierbei die

zufällige Zuordnung zu den Therapie- und Vergleichsgruppen (Randomisierung), um

Unterschiede zwischen den Patienten in den einzelnen Gruppen von vornherein zufällig

zu halten, also die bewusste oder unbewusste Selektion bestimmter Patienten in be-

stimmten Therapiegruppen zu vermeiden. Wenn möglich, werden zusätzlich sowohl die

Studienpatienten als auch die betreuenden Ärzte in Unkenntnis über die zugeführte Be-

handlungsform (Doppelblind-Verfahren) gelassen, um subjektive Einflüsse auf den

Therapieausgang möglichst gering zu halten, die sich aus dem Glauben an die Wirk-

samkeit bzw. aus der bevorzugten Haltung gegenüber der einen oder anderen Thera-

pieform ergeben könnten.

2.1 Vergleichende Bewertung epidemiologischer Studiendesigns Deskriptive Studiendesigns werden gegenüber analytischen oft abwertend beurteilt.

Grund dafür ist, dass rein deskriptive Studien niemals Beweise für die Kausalität eines

Zusammenhangs erbringen können. Eine erste vergleichende Beschreibung von Krank-

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heitshäufigkeiten (vorzugsweise Inzidenzen) nach demographischen, zeitlichen und

geographischen Unterschieden kann jedoch wichtige Hinweise auf kausale Zusammen-

hänge liefern und helfen, Hypothesen zu generieren, die dann allerdings in Fall-Kontroll-

Studie und Kohortenstudien weiter überprüft werden müssen. Von einem ökologi-

schen Studien-Design spricht man, wenn Zusammenhänge zwischen bestimmten Er-

krankungen und mutmaßlichen Risikofaktoren auf der Basis aggregierter Daten korrela-

tiv untersucht werden (z.B. durchschnittliche Sterblichkeit am Mamma-Ca und durch-

schnittlicher Pro-Kopf-Konsum an tierischen Fetten in den europäischen Ländern). Hier

liegen den Korrelationen zwischen Zielgröße (Erkrankung / Sterblichkeit an Mamma-Ca)

und Risikofaktor (Konsum tierischer Fette) also Sammelstatistiken und keine Daten in-

dividueller Studienteilnehmer zugrunde. Entsprechend sind Ergebnisse solcher ökologi-

scher Studien immer mit Vorsicht zu betrachten und erfüllen niemals kausale Kriterien

(Anlage 4). Allerdings können auch sie auf durchaus bedeutsame Zusammenhänge

aufmerksam machen und Hypothesen für analytische Studien liefern (berühmtes Bei-

spiel: die Seven-Countries-Studie zum Zusammenhang zwischen Fettgehalt der Nah-

rung, Serum-Cholesterinspiegel und Koronarer Herzkrankheit (Keys et al. Am J Epide-

miol 124: 903-15, 1986) .

Unter den analytischen Studiendesigns wird im Hinblick auf die Erfüllung von Kausali-

tätskriterien der RCT am höchsten und die Fall-Kontroll-Studie am niedrigsten einge-

stuft. Allerdings ist eine gut durchgeführte Fall-Kontroll-Studie natürlich besser als eine

schlechte Kohortenstudie. Die gut geplante und durchgeführte Fall-Kontroll-Studie ist

insbesondere bei seltenen Krankheiten die Methode der Wahl, den Zusammenhang

zwischen einer Krankheit und einem vermuteten auslösenden Faktor zu überprüfen

(Beispiele: Vaginal-Karzinom bei jungen Frauen und Stilböstrol-Einnahme der Mutter

während der Schwangerschaft, Herbst et al. N Engl J Med 284: 878-881, 1971; Ovarial-

Carcinom und Anwendung von Intimpuder, Cook et al., Am J Epidemiol 145: 459-65,

1997). Im Hinblick auf den Nachweis eines kausalen Zusammenhanges hat die Fall-

Kontroll-Studie gegenüber der sehr viel aufwendigeren Kohortenstudie den Nachteil,

dass sie retrospektiv und nicht prospektiv ist, also der Risikofaktor erst nachträglich bei

bereits Erkrankten und einer gesunden Vergleichsgruppe erhoben wird. Damit ist ein

wichtiges Kausalitätskriterium, die klare zeitliche Vorschaltung der Exposition zum Auf-

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treten der Erkrankung (Anlage 4), nicht gegeben. Das Design der Fall-Kontroll-Studie

ist anfällig für bestimmte Formen der Verzerrung des untersuchten Zusammenhanges

(Bias); hierzu zählt in erster Linie der sog. „Recall-Bias“, d.h. „Fälle“ erinnern sich auf-

grund der Auseinandersetzung mit ihrer meist schweren Krankheit vergleichsweise häu-

figer an lang zurückliegende Expositionen als „Kontrollen“. Dies führt natürlich zu einer

Überwertung des untersuchten Zusammenhanges. Andererseits kann auch das Gegen-

teil eintreten (Informations-Bias), wenn der Expositionsfaktor bei Eintreten der Krankheit

verändert wird und die Erinnerung an das frühere Verhalten schlecht ist (z.B. Verände-

rung der Essgewohnheiten nach Auftreten eines Herzinfarktes). Die wichtigste Heraus-

forderung der Fall-Kontroll-Studie besteht in der richtigen Zuordnung von „Fällen“ und

„Kontrollen“, da vom Vergleich beider Gruppen das ganze Ergebnis der Studie abhängt.

Nicht immer ist die Unterscheidung zwischen krank und gesund eindeutig zu treffen, ins-

besondere, wenn Krankheitsvorstufen klinisch stumm verlaufen (z.B. Patienten mit Os-

teoporose aber ohne bisherige Knochenbrüche). Besonders kritisch ist auch, eine Se-

lektion der beiden Vergleichsgruppen hinsichtlich der Exposition zu vermeiden. Ein be-

kanntes Beispiel ist der Vergleich von Pankreas-Ca-Patienten mit „gesunden“ Kontroll-

Patienten (kein Pankreas-Ca) hinsichtlich ihres zurückliegenden Kaffeekonsums. Der

Genuss von Kaffee erwies sich eindeutig als Risikofaktor für das Auftreten von Pankre-

as-Karzinomen. Das Ergebnis musste jedoch in Frage gestellt werden, als klar wurde,

dass die Kontrollen auch über die gastroenterologische Abteilung rekrutiert worden wa-

ren, und es sich bei der Mehrzahl um langjährige Ulkus-Patienten handelte, die ihren

Kaffeekonsum aus gutem Grunde schon lange reduziert hatten. Eine elegante Umge-

hung dieser Probleme bietet die in eine Kohortenstudie integrierte Fall-Kontroll-Studie

(„nested case control study“). Hier werden am Ende einer Kohortenstudie alle Erkrank-

ten und eine ausreichende Zahl von nicht erkrankten Vergleichspersonen in die Studie

eingeschlossen und im Hinblick auf eingangs ohnehin bei allen erhobene, mögliche Ex-

positionsfaktoren verglichen. Das Studiendesign bleibt hierdurch prospektiv. Vorteile

von Fall-Kontroll- und Kohorten-Studie sind hier in einem Design verbunden.

Nur die Kohortenstudie und der RCT sind geeignet, das relative Risiko direkt zu be-

rechnen, da es auf der Grundlage von Daten zur Inzidenz bei Personen mit und ohne

den Expositionsfaktor berechnet wird. In Fall-Kontroll-Studien lässt sich das Relative

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Risiko nicht direkt berechnen, sondern nur über die Odds Ratio (OR) schätzen (s.

Punkt 6).

Die randomisierte kontrollierte Studie (RCT) wird aufgrund ihres experimentellen

Designs wiederum höher bewertet als die prospektive Beobachtungsstudie. Dass dies

auch durchaus sinnvoll ist haben die jüngsten Erfahrungen zur Rolle der hormonellen

Ersatztherapie bei Frauen in der Postmenopause im Hinblick auf die Verhütung kardio-

vaskulärer Erkrankungen und Todesfälle gezeigt. Nachdem zahlreiche prospektive Be-

obachtungsstudien einen protektiven Effekt (RR=0.5) übereinstimmend belegt hatten,

und zahlreiche Hinweise aus Tierexperimenten und Zellkulturstudien zur biologischen

Plausibilität dieser Beobachtung vorliegen, erbrachte der bislang einzige RCT ein dra-

matisch anderes Ergebnis (Hulley et al., JAMA 280: 605-13, 1998). Unter Östrogen-

Gestagen-Kombinationstherapie (eine Tablette 0.625 mg konjugiertes Östrogen + 2,5

mg Medroxy-Progesteron-Azetat täglich) gegen Placebo war über 5 Jahre Laufzeit ins-

gesamt kein protektiver Effekt zu verzeichnen. Im ersten Jahr wurde sogar ein signifikant

höheres Risiko für koronare und thromboembolische Ereignisse in der Behandlungs-

gruppe im Vergleich zur Placebogruppe beobachtet, dass sich schrittweise über die

nächsten Jahre zurückbildete, ohne jedoch in den protektiven Bereich zu gelangen. Da

für die Studie ein sekundär-präventiver Ansatz gewählt wurde (Studienpopulation von

Frauen mit koronarer Herzkrankheit), werden die Ergebnisse eines derzeit laufenden

primär-präventiven multizentrischen RCTs (WHI=Women’s Health Initiative) mit Span-

nung erwartet, die allerdings erst 2008 nach insgesamt 10 Jahren vorliegen werden

(The Women’s Health Initiative Study Group. Controlled Clin Trials 19: 61, 1998). Es gibt

jedoch auch viele Hinweise darauf, dass die Ergebnisse von Beobachtungsstudien zur

Wirkung hormoneller Ersatztherapie entscheidend durch den ‚Healthy User-Effect’ ver-

zerrt worden sind, d. h. Frauen, die Hormonersatzpräparate einnehmen, von vorneherein

eine Selektion von sozioökonomisch besser gestellten, gesundheitsbewussteren und

auch objektiv gesünderen Frauen darstellen. Die Vor- und Nachteile der verschiedenen

Studiendesigns der analytischen Epidemiologie sind noch einmal in Anlage 5 zusam-

mengefasst. Die wichtigsten Stellen zur Original- und Übersichtsliteratur zum Thema

hormonelle Ersatztherapie sind in Anlage 6 zu finden.

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3. MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE

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3. Maßzahlen in der deskriptiven Epidemiologie

3.1 Prävalenz (Krankenstand) Beschreibt die Häufigkeit, mit der Personen in der untersuchten Bevölkerung an einer

bestimmten Krankheit leiden.

NK

)P(ävalenzPr =

Punktprävalenz:

Anzahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Krankheit leidenden

Personen (K), bezogen auf die Gesamtzahl aller Personen in der untersuchten Bevölke-

rung (N) zu diesem Zeitpunkt.

Periodenprävalenz:

Anzahl der innerhalb eines definierten Zeitraums an einer bestimmten Krankheit leiden-

den Personen (K), bezogen auf die Gesamtzahl aller Personen in der untersuchten Be-

völkerung (N) innerhalb dieses Zeitraums.

Studientyp: Querschnittliche Beobachtungsstudie, z.B. Bevölkerungs-Survey, Filterun-

tersuchung

Anwendung: Erfassung der Krankheitslast, d.h. der Verbreitung einer bestimmten

Krankheit. Liefert nützliche Informationen für die Planung oder Neustruktu-

rierung von Gesundheitsleistungen, wenn bislang wenig über die Verbrei-

tung der betreffenden Krankheit bekannt war.

• Die Prävalenz spielt praktisch keine Rolle für ätiologische Fragestel-

lungen (Ursachenforschung) - einzige Ausnahme: Prävalenz angebore-

ner Missbildungen bei Neugeborenen.

• Bei chronischen Krankheiten ist Punktprävalenz ≈ Periodenprävalenz.

Punktprävalenz spielt theoretisch bei akuten, leicht zu diagnostizieren-

den Krankheiten (Schnupfen, Grippe, Kopfschmerzen) eine Rolle, ist

aber von geringer praktischer Bedeutung.

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3. MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE

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• Prävalenz ist eigentlich eine Proportion (Anteil der Kranken an der un-

tersuchten Gesamtheit) und daher dimensionslos (Werte zwischen 0

und 1, oft auch ausgedrückt in %). Man findet aber auch die Angabe

von Prävalenzraten, z.B. die Anzahl der Kranken pro 1000 der unter-

suchten Bevölkerung.

Beispiel: Im Rahmen der europäischen Osteoporose-Studie wurde in der Gemein-

de Eppelheim bei Heidelberg zwischen dem 1.1.1992 und dem

31.3.1993 eine Screeninguntersuchung von 283 Frauen und 297 Männern

im Alter von 50-79 Jahren durchgeführt. Dabei wurde bei 21 Frauen und

15 Männern eine manifeste Wirbel-Osteoporose (Einbruch eines oder

mehrerer Wirbelkörper) diagnostiziert:

07.028321

ävalenzPr == bei Frauen

05.029715

ävalenzPr == bei Männern

Leidig-Bruckner et al. Osteoporosis Int 11: 102-119, 2000

3.2 Inzidenz (Neuerkrankungswahrscheinlichkeit) Beschreibt die Häufigkeit, mit der Personen in der untersuchten Bevölkerung an einer

bestimmten Krankheit neu erkranken.

Kumulierte Inzidenz (Inzidenzrisiko) :

Risiko“„unter Personender AnzahlgszeitraumBeobachtun im sfälleErkrankungneuer Anzahl

IC =

Mit „unter Risiko“ sind Personen in der untersuchten Bevölkerung gemeint, die von der betreffenden

Krankheit zu Beginn des Beobachtungszeitraums noch nicht betroffen sind, diese aber prinzipiell entwi-

ckeln können.

Inzidenzrate (Inzidenzdichte) :

Risiko“„unter hrePersonenjader AnzahlgszeitraumBeobachtun im sfälleErkrankungneuer Anzahl

IC =

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3. MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE

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Mit „Anzahl der Personenjahre unter Risiko“ ist die Summe der Beobachtungsjahre (evtl. auch -monate) für

die Population unter Risiko gemeint. Sie erhält man durch Aufsummierung der Zeiträume (dt), über die jedes

Mitglied (m) der untersuchten Population mit der Größe n beobachtet wurde:

∑=

=n

1mmdthrePersonenja

Studientyp: Längsschnittliche Beobachtungsstudien (z.B. bevölkerungsbezogene Ko-

hortenstudien wie Framingham oder Rotterdam, Trendanalysen auf der

Basis von Krankheitsregistern, z.B. MONICA-Studie)

Anwendung: Erfassung der Krankheitsdynamik. Inzidenzdaten erlauben eine direkte

Schätzung der Erkrankungswahrscheinlichkeit und bilden damit die

Grundlage für die Planung und Evaluation von Präventionsmaßnahmen

Daten zur Inzidenz bilden auch die Voraussetzung für ätiologische Frage-

stellungen (s. Punkt 6: Schätzung von Effekten, Kausalitätskriterien).

• Nur für seltene Krankheiten oder kurze Beobachtungszeiträume gilt IC

≈ I (s. Rothman, S. 29-31). In allen anderen Fällen ist die Inzidenzdich-

te (I) das genauere Maß zur Erfassung der Neuerkrankungswahr-

scheinlichkeit. Die kumulierte Inzidenz (IC) ist im Vergleich ein Durch-

schnittsmaß und streng genommen keine Rate, sondern ein Proporti-

onsmaß (Anteil einer definierten Bevölkerung, der in einem bestimm-

ten Zeitintervall krank wird). Die IC hat daher auch keine Dimension

(Werte zwischen 0 und 1, oft ausgedrückt in %). Die Angabe der IC

ohne Angabe des Beobachtungszeitraumes ist völlig wertlos und

macht Vergleiche von Ergebnissen unterschiedlicher Studien zum

gleichen Thema unmöglich. So kann eine IC von 0.1 (10%) viel oder

wenig sein, je nachdem ob sich die Daten auf den Beobachtungszeit-

raum von 1 Jahr oder 10 Jahren beziehen.

• Wenn sich der genaue Beobachtungszeitraum nicht bestimmen lässt,

kann man keine Personenjahre für die Population „at risk“ und damit

keine Inzidenzdichte (I) berechnen. Mögliche Gründe:

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Bei schleichend verlaufenden, chronischen Krankheiten (z.B. Krebs,

osteoporotische Wirbeleinbrüche) ist der genaue Erkrankungszeit-

punkt nicht zuzuordnen. Hier muss man auf den Zeitpunkt der Erstdi-

agnose ausweichen oder IC statt I berechnen. In Studien offener Po-

pulationen, die auf zentralen Datenquellen (Register, Stat. Bundes-

amt) beruhen, lassen sich Fluktuation durch Zuwanderung oder Weg-

zug, Tod nicht individuell zuordnen. Um eine etwas präzisere Schät-

zung der jährlichen Inzidenz zu erhalten, wird dann die Größe der Po-

pulation zu Ende oder zur Mitte des Jahres als Bezugsgröße (Nenner)

verwandt. Angenommen wird dabei wiederum, dass die Neuerkran-

kungsrate über das Jahr konstant ist, was natürlich nicht unbedingt der

Fall ist (z.B. Grippeepidemien).

• Wesentlich für die Errechnung von Inzidenz ist der Ausschluss von

prävalenten Krankheitsfällen in der Bezugspopulation (Population „at

risk“ im Nenner) zu Beginn der Studie sowie von Personen, die die

Krankheit gar nicht entwickeln können (z.B. Frauen nach operativer

Entfernung von Gebärmutter und Eierstöcken in Studien zur Inzidenz

von Cervix-, Corpus-, und Ovarialcarcinom).

• Bei der Dokumentation von neuen Krankheitsfällen ist auf die Erstma-

nifestation zu achten, was nicht immer einfach ist (z.B. Doppelterfas-

sung von Fällen mit 2. Oberschenkelhalsfraktur in Studien zur Inzidenz

von Schenkelhalsfrakturen).

Beispiel 1: Von 1982-1992 wurden dem damaligen BGA aus den deutschen Epizent-

ren der AIDS-Epidemie folgende Zahlen für AIDS-Neuerkrankungen ge-

meldet und die kumulierte Inzidenz errechnet:

Ort Durchschnittliche EW-Zahl

im Beobachtungszeitraum

Neue AIDS-Fälle IC (1982-1992)

[in %]

Berlin-West 2 Mio. 1859 0,09

Frankfurt 640.000 409 0,06

Hamburg 1,6 Mio. 786 0,05

München 1,2 Mio. 544 0,04

Köln/Düsseldorf 1,5 Mio. 382 0,03

Bremen 680.000 149 0,02

Quelle: Stat. Bundesamt, Wiesbaden, Stat. Jahrbuch 1997

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3. MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE

Skript zum Seminar Epidemiologie zur Vorlesung Sozialmedizin Dr.med.Christa Scheidt-Nave M.P.H.

12

Beispiel 2: Im Laufe des Jahres 1995 wurden in Deutschland 12198 neue

Tuberkulosefälle gemeldet, bei einer Bevölkerungsgröße von rund 82 Mio.

am 31.12. 1995. Für die kumulierte Tuberkulose-Inzidenz des Jahres 1995

je 100.000 Einwohner ergab sich nach Geschlecht und Staatsbürgerschaft

folgendes Bild:

Staatsbürgerschaft /

Geschlecht

N (Mio.) Zahl neuer Fälle IC (1995)

je 100.000 EW

Deutsche 74,6 8666 11,6

Frauen 38,8 3304 8,5

Männer 35,8 5362 15,0

Ausländer 7,2 3532 49,1

Frauen 3,2 1275 39,8

Männer 4,0 2257 56,4

Gesamt 81,8 12198 14,9

Quelle: Stat. Bundesamt, Wiesbaden, Stat. Jahrbuch 1997

Beispiel 3: In einer niederländischen epidemiologischen Langzeitstudie (Rotterdam-

Studie) wurden 1990-1994 bei 4220 Frauen und 2826 Männern im Alter

von über 55 Jahren folgende Daten zur Inzidenzrate von Demenz erhoben:

Frauen Männer

Alters-gruppe

Personen jahre „at risk“

Anzahl neuer Fälle

Inzidenzrate(I) per 1000 Personenjahre

Personenjahre „at risk“

Anzahl neuer Fälle

Inzidenzrate (I) per 1000 Personenjahre

55-59 988 0 0.0 707 1 1.4

60-64 1611 2 1.2 1142 1 0.9

65-69 1591 3 1.9 1269 1 0.8

70-74 1683 6 3.6 1110 5 4.5

75-79 1404 25 17.8 813 12 14.8

80-84 1031 26 25.2 479 12 25.1

85-89 695 35 50.4 210 6 28.6

90-94 263 18 68.3 67 2 29.6

>= 95 63 7 111.5 9 0 0.0

Gesamt 9329 122 13.1 5806 40 6.9

Ott et al. Am J Epidemiol 147: 574-580, 1998

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13

3.3 Zusammenhang zwischen Prävalenz und Inzidenz

Unter der Annahme, dass der Bevölkerungsrahmen (N) stabil bleibt, also ein Gleichge-

wicht zwischen Zu- und Abwanderung besteht und das Verhältnis zwischen Geburten-

und Sterberate sich nicht verändert, wird das Verhältnis von krank und „gesund“ in der

Bevölkerung durch Inzidenz und durchschnittliche Krankheitsdauer bestimmt (s.

Rothman S. 32-34).

P = Prävalenz = Wahrscheinlichkeit krank zu sein

1-P = Wahrscheinlichkeit nicht krank zu sein

DIP1

P•=

Wenn P sehr klein ist, dann gilt: DIP •=

Die Krankheitsdauer wird (wiederum unter Stabilitätsannahme für alle anderen Fakto-

ren, die den Bevölkerungsrahmen beeinflussen) durch die Heilungschancen und die

Letalität der Erkrankung (Wahrscheinlichkeit, an der Krankheit zu sterben, s. 3.4) be-

einflusst. Eine niedrige Prävalenz im Vergleich zur Inzidenz ist somit für Erkrankungen

mit hoher Letalität („big killers“), aber auch für harmlose Erkrankungen mit rascher Aus-

heilung (Schnupfen) zu erwarten. Umgekehrt sind viele chronische Krankheiten nicht

auszuheilen ohne unmittelbar lebensbedrohlich zu sein („big cripplers“). Hier wird die

Prävalenz weit höher liegen als die Inzidenz. Die Prävalenz reflektiert also im Gegensatz

zur Inzidenz niemals nur das Erkrankungsrisiko. Sich für die Untersuchung kausaler Zu-

sammenhänge auf Prävalenzdaten zu verlassen, kann somit zu großen Trugschlüssen

führen. Schon einfache Rückschlüsse, z.B. auf geschlechtsspezifische Unterschiede im

Erkrankungsrisiko können einer Verzerrung (Bias) unterliegen, wenn sie nur auf der

Grundlage von Prävalenzdaten beruhen.

Beispiel: Prävalenz- und Inzidenzdaten zur Koronaren Herzkrankheit (KHK) der Fra-

mingham Studie (1948 in der Gemeinde Framingham bei Boston initiierte

Langzeitstudie zu Häufigkeit und Risikofaktoren chronischer Krankheiten,

insbesondere KHK und Schlaganfall mit zweijährlichen Follow-up-

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Untersuchungen; Kohorte: N=5209 Frauen und Männer im Alter von damals

30-60 Jahren; seit 1971 Framingham Nachkommen-Studie mit N=5124).

KHK-Prävalenzrate bei Framingham-Erstuntersuchung

Männer Frauen M / F

Alters-

gruppe

N Fälle

mit KHK

Prävalenzrate

per 1000

N Fälle

mit KHK

Prävalenzrate

per 1000

30-44 1083 5 5 1317 7 5 1.0

45-62 941 43 46 1128 21 19 2.4

Gesamt 2024 48 2445 28

Dawber at al. Am J Public Health 41: 279, 1951

KHK-Inzidenz über 8 Jahre, Framingham-Studie 1948-1956

Männer Frauen M / F

Alters-

gruppe

N Fälle

mit KHK

Inzidenzrate

per 1000

N Fälle

mit KHK

Inzidenzrate

per 1000

30-39 825 20 24,2 1036 1 1,0 24,2

40-49 770 51 66,3 955 19 19,9 3,3

50-59 617 81 131,3 792 53 66,9 2,0

Gesamt 2212 152 2783 73

Die prävalenten Fälle bei Erstuntersuchung sind hier ausgeschlossen. Dass N trotzdem höher ist als bei

der Erstuntersuchung, liegt am Einschluss von 740 freiwilligen Teilnehmern, die nicht über die offizielle

Stichprobenziehung in die Studie gelangt waren, in die längsschnittliche Auswertung. Dawber at al. Ann NY Acad Sci 107: 593, 1963

Die großen Unterschiede zwischen Prävalenz- und Inzidenzdaten (vor allem bezüglich

der KHK-Erkrankungswahrscheinlichkeit im jüngeren Lebensalter) lassen sich dadurch

erklären, dass sich KHK bei jüngeren Frauen überwiegend symptomatisch als Angina

pectoris und weniger als akuter Herzinfarkt manifestiert. Aufgrund des weniger lebens-

bedrohlichen und damit längeren Krankheitsverlaufs bei jüngeren Frauen ergeben sich

bei Frauen und Männern vergleichbare Prävalenzraten, trotz eines viel höheren Erkran-

kungsrisikos beim männlichen Geschlecht. Natürlich muss man hier auch die diagnosti-

schen Instrumente hinterfragen. Erfasst die Angabe von Angina pectoris, also „Brust-

schmerzen“ bei Männern und Frauen wirklich das, was sie erfassen soll, nämlich KHK ?

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Die in der Framingham-Studie zuerst beobachtete, viel höhere KHK-Erkrankungs-

wahrscheinlichkeit bei Männern im Vergleich zu Frauen und die Abnahme dieses Ge-

schlechtsunterschiedes mit dem Lebensalter ist inzwischen in vielen anderen prospekti-

ven, epidemiologischen Studien bestätigt worden.

3.4 Weitere, häufig benötigte Maßzahlen der deskriptiven Epidemiologie

Geburtenrate

Anzahl der Lebendgeburten in einem Jahr = X 1000 Gesamtbevölkerung zur Jahresmitte

Fertilitätsrate

Anzahl der Lebendgeburten in einem Jahr = X 1000 Zahl der Frauen im Alter 15 - 44 J. im Bezugsjahr Mortalität (Sterblichkeit, Sterbeziffer) Gesamtzahl der Todesfälle in einem Jahr = X 1000 Gesamtbevölkerung zur Jahresmitte Mortalität und Geburtenrate sind Maßzahlen, die den Bevölkerungsaufbau bestim-

men. Eine verlängerte Lebenserwartung und rückläufige Geburtenrate, sowie Geburten-

ausfälle in den beiden Weltkriegen haben den Bevölkerungsaufbau in Deutschland und

anderen Industriestaaten im 20. Jahrhundert einschneidend verändert.

In Deutschland werden jährlich rund 900.000 Todesfälle registriert, wobei sich die Sterb-

lichkeit über alle Altersgruppen zusammen seit den 50er Jahren nicht wesentlich verän-

dert hat. Die Geburtenrate ist seit 1950 um mehr als 40% zurückgegangen.

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Entwicklung der Sterblichkeit und Geburtenrate in Deutschland (Jahresdurch-

schnitt)

Jahr Bevölkerung

Lebend-

geborene

Geburtenrate

(je 1000 EW)

Gestorbene Sterblichkeit

(je 1000 EW)

Überschuss

Geborene (+)

Gestorbene (-)

1950 68.377.000 1.116.701 16,3 748.329 10,9 + 368.372

1960 72.674.000 1.261.614 17,3 876.721 12,0 + 384.893

1970 77.709.000 1.047.737 13,5 975.664 12,6 + 72.073

1980 78.275.000 865.789 11,0 952.371 12,1 - 86.582

1990 79.365.000 905.675 11,4 921.445 11,6 - 15.770

1995 81.661.000 765.221 9,4 884.588 10,8 - 119.367

Quelle: Stat. Bundesamt, Wiesbaden, Stat. Jahrbuch 1999

Ursachenspezifische Mortalität (Sterblichkeit, Sterbeziffer) Anzahl der Todesfälle an einer bestimmten Ursache in einem Jahr = X 1000 Gesamtbevölkerung zur Jahresmitte Ursachenspezifische Sterblichkeit in Deutschland für die 5 häufigsten Todes-

ursachen 1995

Bevölkerung

Todesursache Gestorbene Sterblichkeit

(je 1000 EW)

81.661.000 Krankheiten

des Kreislaufsystems 429.407 5,3

Bösartige

Neubildungen 218.597 2,7

Krankheiten der

Atmungsorgane 53.898 0,7

Krankheiten der

Verdauungsorgane 41.821 0,5

Verletzungen und

Vergiftungen 39.367 0,5

Quelle: Stat. Bundesamt, Wiesbaden, Stat. Jahrbuch 1997

Krankheiten des Kreislaufsystems (vor allem Herzinfarkt, Schlaganfall, Arteriosklerose)

und bösartige Neubildungen sind die häufigste Todesursache in den industrialisierten

Ländern der Erde.

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Letalität Anzahl der Todesfälle an einer bestimmten Ursache in einem def. Zeitabschn.

= Anzahl Personen, die in diesem Zeitraum von dieser Ursache betroffen sind

Ursache steht hier für Erkrankung, Unfälle, Vergiftungen etc.

Beispiel für die Bedeutung von Inzidenz, Sterblichkeit und Letalität::

Die MONICA-Studie (MONICA=monitoring trends and determinants of cardiovascular

diseases) ist das klassische Beispiel einer Registerstudie (Herzinfarktregister in 37

Studienpopulationen weltweit, darunter drei deutsche: Augsburg, Bremen, Berlin (Ost)).

In zehnjähriger Dokumentationsarbeit wurden nach standardisierten Kriterien alle In-

farktereignisse bei 35-64jährigen Frauen und Männern registriert und alle Patienten für

28 Tage weiterbeobachtet. Infarktereignisse wurden in tödliche (Tod innerhalb 28 Ta-

gen) und nicht-tödliche (Überleben bis Tag 28) eingeteilt. Infarktrate (tödliche und nicht-

tödliche Infarkte zusammen), Sterblichkeit (nur tödliche Infarkte) und Letalität (Anteil der

tödlichen Infarkte) wurden einer Trendanalyse unterzogen, um folgende Frage zu beant-

worten: Ist der seit Ende der 70er Jahre in den U.S.A. beobachtete Rückgang der

Sterblichkeit an koronarer Herzkrankheit zu verifizieren ? Wenn ja, geht dies auf eine

rückläufige Neuerkrankungsrate oder auf eine abnehmende Letalität zurück ? Die Be-

antwortung dieser Frage war von zentraler Bedeutung für die Bewertung bisheriger Prä-

ventionsstrategien (primäre Prävention durch Erkennung und Behandlung von bekann-

ten Krankheitsursachen wie Bluthochdruck und Cholesterinspiegel; sekundäre Präventi-

on durch frühe und optimale Versorgung von Herzinfarktpatienten inner- und außerhalb

der Klinik).

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Herzinfarktrate, Sterblichkeit und Letalität in ausgewählten Zentren der MONI-

CA-Studie: deutsche Studienzentren und Zentren mit höchster und niedrigster

Infarktrate:

Männer

Zentrum /

Land

Beobachtungs-

zeitraum

Anzahl

aller Infark-

te

Anzahl

tödl. Infark-

te

Mittlere

Infarktrate

(per 1000)

Mittlere

Sterblichkeit

(per 1000)

Letalität

(in %)

Nordkarelien/

Finnland

1983-92 2728 1309 8,4 4,0 48,0

Augsburg/

Deutschland

1985-94 3159 1734 2,9 1,6 54,9

Bremen/

Deutschland

1985-92 3136 1542 3,6 1,8 49,2

Berlin/

ehem. DDR

1985-93 3882 1930 3,7 1,9 49,7

Peking/

China

1984-93 1167 683 0,8 0,5 58,5

Frauen

Zentrum /

Land

Beobachtungs-

zeitraum

Anzahl

aller Infark-

te

Anzahl

tödl. Infark-

te

Mittlere

Infarktrate

(per 1000)

Mittlere

Sterblichkeit

(per 1000)

Letalität

(in %)

Glasgow/

Schottland

1983-92 2143 1018 2,7 1,2 47,5

Augsburg/

Deutschland

1985-94 764 496 0,6 0,4 64,9

Bremen/

Deutschland

1985-92 808 429 0,8 0,4 53,1

Berlin/

ehem. DDR

1985-93 983 632 0,8 0,5 64,3

Catalanien/

Spanien

1984-93 732 336 0,4 0,2 45,9

Tunstall-Pedoe et al., Lancet 353: 1547-57, 1999

Infarktrate und Sterblichkeit lassen sich nicht aus den Angaben der Tabelle errechnen, da die Bezugs-

größe der Population nicht angegeben ist (in der Publikation nur für Männer und Frauen gemeinsam zu

finden).

Die Letalität lässt sich direkt aus den in der Tabelle angegebenen Daten errechnen. Diese „rohe“ Letalität

weicht leicht von den in der Publikation zu findenden Werten ab (s. dort, Tab. 2 u. Tab. 3), da sie dort zu

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besseren Vergleichbarkeit der Zentren untereinander auf die Verteilung der Infarktereignisse nach Alters-

gruppen standardisiert wurde. So beträgt die standardisierte Letalität für Augsburger Frauen z.B. 64,6 %.

Von Inzidenz (statt Infarktrate) kann man hier nicht sprechen, da alle Infarktereignisse gezählt wurden,

also auch Doppeltregistrierungen (bei Reinfarkten) enthalten sind.

Die Trendanalysen in der MONICA-Studie ergaben, dass die Infarktraten in den meisten

Ländern (28 von 37 Studienpopulationen bei Männern, 22 von 35 Populationen bei

Frauen) tatsächlich rückläufig sind (im Durchschnitt um - 2,7% pro Jahr bei Männern und

- 2,1% bei Frauen). Vor allen in Ländern mit bislang besonders hohen Infarktraten (Finn-

land, USA) war ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Zunehmende Raten waren in

den osteuropäischen Populationen und in China zu beobachten. Ähnliches war für die

Letalität des Herzinfarkts zu beobachten. Der Rückgang der Sterblichkeit an Herzinfarkt

schien im Durchschnitt zu etwa einem Drittel auf die Abnahme der Letalität, zu zwei Drit-

teln auf eine Abnahme der Infarktrate zurückzugehen.

Durchschnittliche Lebenserwartung in Jahren

Durchschnittliche Anzahl zu erwartender Lebensjahre zum Zeitpunkt der Geburt für eine

Kohorte von Neugeborenen.

Summe der für die gesamte Kohorte zu erwartenden Lebensjahre = Anzahl der Kohortenmitglieder Beruht auf Sterbetafel-Berechnungen auf der Grundlage der im Bezugsjahr beobachteten Sterblichkeit in

der betreffenden Bevölkerung. Die Präzision der Voraussage wird dadurch limitiert, dass die Lebenser-

wartung für Neugeborene z.B. des Jahres 2000 auf der Grundlage der Sterblichkeit für das Jahr 2000

berechnet wird, obwohl sich die Sterblichkeit über die Jahre, wenn diese Kohorte altert, verändern wird.

Obwohl meist auf den Zeitpunkt der Geburt bezogen, kann die Lebenserwartung auch von jedem anderen

beliebigen Alter ausgehend als ‘noch verbleibende zu erwartende Lebensjahre’ errechnet werden.

Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den Industriestaaten hat sich

vor allem durch den Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit verlängert. Ab der

Mitte des Lebens kommt der Gewinn an Lebenserwartung weitaus weniger zum Tragen,

da hier die Sterblichkeit an altersassoziierten Erkrankungen wie Krebs und KHK ins

Gewicht fällt.

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3. MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE

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Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung der Neugeborenen in

Jahren:

Deutsches Reich

Jahr männlich weiblich

1870 35,6 38,5

1900 44,8 48,3

1930 59,9 62,8

Deutschland

Jahr männlich weiblich

1950* 64,6 68,5

1970* 67,4 73,8

1995 73,0 79,5

1997 73,6 80,0

* nur früheres Bundesgebiet Quelle: Stat. Bundesamt, Wiesbaden, Stat. Jahrbuch für das Ausland , S. 211

Durchschnittliche Lebenserwartung der Neugeborenen des Jahres 1997 in Jah-

ren im internationalen Vergleich:

Land Männer Frauen

Japan 76,8 83,2

Schweden 76,7 81,8

Schweiz 76,1 82,2

Australien u. Ozeanien 75,2 81,1

Griechenland 75,1 81,4

Italien 74,9 81,3

Niederlande 74,7 80,3

Spanien 74,4 81,5

Großbritannien u. Nordirland 74,3 79,5

Frankreich 74,2 82,1

Österreich 74,2 80,5

Belgien 73,8 80,5

Deutschland 73,6 80,0

Dänemark 73,1 78,2

Finnland 73,3 80,3

Luxemburg 73,3 79,9

Irland 73,3 78,7

U.S.A. 72,8 79,5

Portugal 71,4 78,7

Tschechische Republik 70,5 77,5

Ukraine 59,9 71,9 nach durchschnittl. Lebenserwartung bei Männern in absteigender Reihenfolge geordnet

Quelle: Stat. Bundesamt, Wiesbaden, Stat. Jahrbuch für das Ausland 1999

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Die mittlere Lebenserwartung von Neugeborenen wird oft als ein Indikator für den Ent-

wicklungsstand eines Landes und die Qualität seines Gesundheitssystems herangezo-

gen (nur bedingt nützlich, da auch andere Faktoren eine Rolle spielen). Deutschland

nimmt innerhalb der OECD-Staaten nur einen mittleren Platz ein.

Säuglingssterblichkeit Anzahl der Todesfälle von unter 1-jährigen innerhalb eines Jahres = X 1000 Anzahl der Lebendgeburten im Bezugsjahr

Man unterscheidet ferner bei der Säuglingssterblichkeit die Früh- (bis 7 Tage nach der Geburt), Spät- (7-27 Tage) und Nachsterblichkeit (28-364 Tage)

Perinatale Sterblichkeit Anzahl der Totgeborenen (ab 28. SSW) + in den ersten 7 Tagen Verstorbene = X 1000 Anzahl der Lebendgeburten +Totgeburten im Bezugsjahr Müttersterblichkeit Anzahl der mütterlichen Todesfälle unter Geburt innerhalb eines Jahres = X 1000 Anzahl der Lebendgeburten im Bezugsjahr Säuglings- , Perinatal-, und Müttersterblichkeit sind wichtige Indikatoren für die Qua-

lität der gesundheitlichen Versorgung einer Bevölkerung.

In den alten Bundesländern lag die Säuglingssterblichkeit 1960 noch bei 3400 pro

100.000 Lebendgeborene,1990 bei rund 700. Der deutlichste Rückgang erfolgte Mitte

bis Ende der 70er Jahre, nachdem 1965 die Schwangerenvorsorge und 1971 die Früh-

erkennungsuntersuchungen für Kleinkinder (U1-U8, Geburt bis 66. Lebensmonat) einge-

führt wurden. Seit 1990 ist die Rate weiter leicht rückläufig, in den neuen Bundesländern

noch leicht höher als in den alten. Vergleichbare Raten zur Säuglingssterblichkeit wer-

den aus Frankreich, Luxemburg, Österreich und der Schweiz berichtet; noch bessere

Raten (um 600 je 100.000 Lebendgeborene) finden sich in Japan und in den skandina-

vischen Ländern.

Ein Ziel der WHO bis zum Jahr 2000, eine Säuglingssterblichkeit von < 1500 je 100.000

Lebendgeborene zu erzielen, wird in vielen Ländern weiterhin nicht erreicht.

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3. MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE

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Säuglingssterblichkeit (je 100.000 Lebendgeborene) in ausgewählten Drittwelt-Ländern:

Äthiopien (1990/95): 11.900, Peru (1997): 7010, Brasilien ohne indianische Bevölke-

rung (1996): 4369.

Die Müttersterblichkeit betrug in Deutschland im Jahre 1995:

41 / 765.221 Lebendgeburten x 1000 = 0.05.

Die Sterblichkeit an Komplikationen der Schwangerschaft, bei Entbindung und im Wo-

chenbett je 1000 Frauen betrug in Deutschland 1995: 0.001.

Quellen: Stat. Bundesamt, Stat. Jahrbuch 1999; Stat. Bundesamt, Gesundheitsbericht für Deutschland,

Metzler und Poeschel 1998

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4. VALIDITÄT VON MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE - FEHLERQUELLEN

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4. Validität von Maßzahlen in der deskriptiven Epidemiologie - Fehlerquellen

Cave: Datenquellen ! Daten zur Inzidenz (z.B. von Krebserkrankungen) beruhen auf Krankheitsregistern und

sind nur dann auf die Allgemeinbevölkerung zu übertragen, wenn vollständige Erfassung

möglich ist.

Beispiel: Krebsinzidenzdaten in Deutschland kommen aus dem einzigen vollständigen

Register im Saarland, sind also nicht auf die deutsche Gesamtbevölkerung

übertragbar !. Ein gesamtdeutsches Register existiert noch nicht.

Mortalitätsdaten (Gesamtsterblichkeit, ursachenspezifische Sterblichkeit) werden in

Deutschland jährlich im Statistischen Jahrbuch vom Statistischen Bundesamt, Wiesba-

den veröffentlicht. Sie beruhen auf den auf dem Totenschein vermerkten Haupttodesur-

sachen (Totenschein geht ans Standesamt è Erfassung und Codierung nach ICD( Ma-

nual for the International Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death, bis-

her 9. Revision, ab 2000 10. Revision bei den Statistischen Landesämtern è zentrale

Erfassung und Auswertung beim Statistischen Bundesamt).

Bias: Systematische Verzerrung von epidemiologischen Daten zur Häufigkeit von

Krankheiten bzw. von Daten zur Assoziation zwischen einem Expositionsfaktor

(E) und einer Krankheit (K).

Beispiele für häufige Quellen von Bias:

• Studienpopulation

– Selektions-Bias bias (z.B. ‘Healthy worker effect’ = in einer Stichprobe der arbei-

tenden Bevölkerung (z.B. Betriebsuntersuchung) wird die Häufigkeit der untersuch-

ten Krankheit wahrscheinlich unterschätzt, da diejenigen, die schwer erkrankt oder

bereits an der Krankheit verstorben sind, längst aus dem Krankheitsprozess aus-

geschieden sind;

– Response Bias = selektive Beteiligung an epidemiologischen Studien, z.B. an Fil-

teruntersuchungen beteiligen sich erfahrungsgemäß mehr Gesunde im Vergleich

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4. VALIDITÄT VON MAßZAHLEN IN DER DESKRIPTIVEN EPIDEMIOLOGIE - FEHLERQUELLEN

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zu bereits Erkrankten, aber auch Personen mit bekannten Risikofaktoren, die be-

unruhigt sind, die Krankheit evtl. zu haben oder zu bekommen („worried well“);

– Attritions-Bias = selektive Verluste während des Follow-ups einer Kohorte; da we-

niger Gesunde durch Krankheit oder Tod wegfallen, werden in späteren Untersu-

chungen der Restpopulation Krankheitshäufigkeiten oder auch Zusammenhänge

zwischen Krankheit und untersuchten Risikofaktoren unterschätzt;

• Datenerhebung

– Missklassifikations-Bias = die Kriterien zur Diagnose bzw. Definition der unter-

suchten Erkrankung sind nicht valide, so dass Gesunde als krank und Kranke als

gesund eingestuft werden; der Zusammenhang zwischen bestimmten Expositions-

faktoren und der Erkrankung (gemessen an der Odds Ratio in Fall-Kontroll-

Studien, am Relativen Risiko in Kohortenstudien) wird dadurch verwischt, also un-

terschätzt;

– Interviewer Bias = unbewusste Suggestivfragen vonseiten des Interviewers können

die Ergebnisse einer Untersuchung beeinflussen, wenn z.B. Personen, die er für

krank hält, anders befragt werden als diejenigen, die ihm gesund erscheinen; aus

diesem Grunde sind standardisierte Interviews mit vorgegebenen Antwortmög-

lichkeiten wichtig;

• Datenauswertung, Dateninterpretation

– Unzulässiges Verallgemeinern der Ergebnisse = von den Ergebnissen einer Fil-

teruntersuchung in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (z.B. Prävalenz abklä-

rungsbedürftiger Hautbefunde in einem Melanom-Screening bei 20-60jährigen

männlichen Arbeitnehmern eines bestimmten Betriebes) lässt sich nicht auf die

Allgemeinbevölkerung rückschließen;

– "Confounding" (in Bezug auf deskriptive Daten) = ein beobachteter Zusammen-

hang zwischen einer Erkrankung Y und einem Faktor X ist in Wirklichkeit durch

den Einfluß eines ganz anderen Faktors oder auch mehrerer anderer Faktoren

(F1.....Fn) zustande gekommen, die sowohl mit der Krankheit Y als auch mit dem

Faktor X zusammenhängen.

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Beispiel für deskriptive Studien: Alter ist ein sehr wichtiger „confounder“ (konfundierte

Variable); beim Vergleich der Krebsmortalität in Deutschland in zwei Regionen mit völ-

lig unterschiedlicher Altersstruktur (z.B. Stadt-Land; Ost-West) müssen die beobachte-

ten Mortalitätsraten (Sterbeziffern) für diese Altersunterschiede korrigiert werden (s.

Punkt 5 Altersstandardisierung).

Beispiel für analytische Studien: Der beobachtete Zusammenhang zwischen Rauchen

und Leberzirrhose geht auf erhöhten Alkoholkonsum bei Rauchern zurück. Alkohol steckt

also als Ursache hinter dem beobachteten Zusammenhang; korrigiert man für den „Con-

founder“ Alkohol, wird der Zusammenhang verschwinden.

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5. ALTERSSTANDARDISIERUNG VON HÄUFIGKEITSMASSEN

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5. Altersstandardisierung von Häufigkeitsmassen

Grundproblem: Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit sind stark altersabhängig. Um

Unterschiede in der Krankheitshäufigkeit (Inzidenz, Prävalenz) oder Mortalität zwischen

zwei Gruppen mit unterschiedlicher Alterszusammensetzung vergleichen zu können,

müssen die beobachteten Raten für den Einfluß des Alters „korrigiert“ werden.

Prinzip: Hierzu gibt es zwei Möglichkeiten: a) altersspezifische Häufigkeiten zu berechnen und zu verglei-

chen b) altersstandardisierte Gesamtraten zu berechnen und zu ver-

gleichen Vorteile Nachteile unstandardisierte Raten reell, einfach eingeschränkte Vergleichbarkeit

altersspezifische Raten vergleichbare und

sinnvolle Detailin-formation

viele Subgruppen

altersstandardisierte Raten vergleichbare Ge-samtraten

Informationen über Subgruppen gehen verloren; Ergebnis abhängig vom gewähl-ten Standard

Insbesondere, wenn viele Vergleiche anstehen (z.B. Krebsmortalität zwischen west- und

osteuropäischen Staaten), ist die Berechnung altersstandardisierter Gesamtraten nütz-

lich, um den Überblick zu behalten und um statistische Tests auf signifikante Unter-

schiede zu erlauben. Ansonsten ist es oft sinnvoller, altersspezifische Raten zu verglei-

chen, d.h. die Raten innerhalb bestimmter Jahrgänge (Geburtskohorten) oder Alters-

gruppen.

Für die Altersstandardisierung stehen zwei unterschiedliche Methoden zur Verfügung :

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5. ALTERSSTANDARDISIERUNG VON HÄUFIGKEITSMASSEN

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5.1 Direkte Altersstandardisierung

= Bezug der beobachteten „Roh“-Raten auf eine Standard- oder Kunst-

population Die in den beiden Studienpopulationen beobachteten Mortalitäts-/ Inzidenzraten werden

auf einen gemeinsamen Standard bezogen, d.h. auf eine Standard- oder Kunstpopula-

tion mit vorgegebener Alterszusammensetzung. Multiplikation der in der jeweiligen Al-

tersklasse der Studienpopulation beobachteten Rate mit dem Anteil der Probanden der

gleichen Altersklasse in der Standardpopulation ergibt die gewichtete Rate, und die

Summe der gewichteten Raten über alle Altersklassen ergibt die altersstandardisierte

Rate.

Üblicherweise verwendete Standardpopulationen sind (je nachdem,

welche Studienpopulationen miteinander verglichen werden sollen):

Altersklasse

(in Jahren)

Welt-Standard-

population

Europa-Standard-

population

BRD-Standard-

population 1987

0-4 12.000 8.000 4.887 5-9 10.000 7.000 4.796 10-14 9.000 7.000 4.894 15-19 9.000 7.000 7.189 20-24 8.000 7.000 8.721 25-29 8.000 7.000 8.044 30-34 6.000 7.000 7.062 35-39 6.000 7.000 6.886 40-44 6.000 7.000 6.161 45-49 6.000 7.000 8.043 50-54 5.000 7.000 6.654 55-59 4.000 6.000 5.920 60-64 4.000 5.000 5.438 65-69 3.000 4.000 4.338 70-74 2.000 3.000 3.801 75-79 1.000 2.000 3.646 80-84 500 1.000 2.251 85+ 500 1.000 1.269 Gesamt 100.000 100.000 100.000 Quelle: Waterhouse J, Muir CS, Correa P, Powell J, eds. Cancer incidence in five continents. Lyon:

IARC, 1976: 465.

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5. ALTERSSTANDARDISIERUNG VON HÄUFIGKEITSMASSEN

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Beispiel: Direkte Altersstandardisierung

Einfache („rohe“) und standardisierte Sterblichkeit an Krankheiten der Verdauungsor-gane (ICD-Gruppe 520-579, ICD 9. Revision) für Frauen in Deutschland Altersklasse

(in Jahren)

Gestorbene Frau-

en 1997

(ICD 520-579)

Weibliche Be-

völkerung 1997

„Rohe“

Mortalität

je 100.000

Frauen

Weibliche Bevölkerung

1987

N (Anteil)

Alters-

standardisierte

Mortalität

je 100.000

Frauen

< 1 12 391.500 3,065 412.000 (0,010) 0,031 1-4 3 1.547.600 0,194 1.592.400 (0,039) 0,008 5-9 2 2.236.700 0,089 1.987.700 (0.049) 0,004 10-14 4 2.214.900 0,181 1.904.200 (0,047) 0,009 15-19 7 2.202.600 0,318 2.699.900 (0,067) 0,021 20-24 10 2.205.900 0,453 3.260.400 (0,081) 0,036 25-29 43 3.003.900 1,431 3.052.500 (0,075) 0,108 30-34 132 3.506.000 3,765 2.743.300 (0,068) 0,255 35-39 257 3.263.400 7,875 2.605.000 (0,064) 0,506 40-44 467 2.891.700 16,150 2.278.700 (0,056) 0,909 45-49 521 2.678.600 19,451 3.035.200 (0,075) 1,459 50-54 668 2.277.900 29,325 2.541.100 (0,063) 1,842 55-59 1.072 2.994.700 35,796 2.312.900 (0,057) 2,044 60-64 1.180 2.477.400 47,630 2.396.800 (0,059) 2,820 65-79 1.367 2.158.900 63,319 2.046.600 (0,051) 3,204 70-74 1.999 2.105.500 94,941 1.848.200 (0,046) 4,339 75-79 2.459 1.630.700 150,795 1.867.700 (0,046) 6,952 80-84 3.247 1.135.900 285,859 1.188.900 (0,029) 8,404 85-89 3.780 808.300 467,641 535.900 (0,013) 6,173 90+ 2.358 330.400 713,624 173.100 (0,004) 3,069 Gesamt 19.588 42.062.600 46,569 40.482.500 (1.000) 42,193

Quelle: Stat. Bundesamt, Gesundheitswesen, Fachserie 12, Todesursachen in Deutschland 1997

Zur Standardisierung von Raten verwendet das Stat. Bundesamt erst seit einiger Zeit die gesamtdeut-

sche Population von 1987. Zugrunde liegen die Ergebnisse der Volkszählung 1987 in den alten Bundes-

ländern und Volkszählungen in der ehemaligen DDR. Wichtig zu bemerken ist, dass die Raten für Frau-

en auf die weibliche Bevölkerung, die Raten für Männer auf die männliche Bevölkerung von 1987 bezogen

werden. Aufgrund der unterschiedlichen Altersverteilung bei Frauen und Männern (Frauenüberschuss in

den höheren Altersgruppen) sind sowohl „rohe“ als auch wie oben standardisierte Raten zwischen Frauen

und Männern nicht vergleichbar.

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Fazit: Die 1997 bei Frauen in Deutschland beobachtete ursachenspezifische Mortalität an Erkrankungen der Verdauungsorgane (ICD 520-579) beträgt 46,569 je 100.000 Frauen. Bezogen auf die Altersstruktur der weiblichen Bevölkerung in Deutschland 1987, liegt die altersstandardisierte ursachenspezifische Mortalität um einiges niedriger (42,193 je 100.000 Frauen). Da die Mortalität für diese Er-krankungen mit zunehmendem Lebensalter ansteigt und die Bevölkerung 1987 noch „jünger“ war, führt die Gewichtung der beobachteten altersspezifischen Ra-ten auf die Altersstruktur 1987 zu einer niedrigeren altersstandardisierten Ge-samtrate. Letztere reflektiert jetzt nicht mehr die aktuellen Verhältnisse (Zahl der Todesfälle bezogen auf die Gesamtbevölkerung des Bezugsjahres), erlaubt aber einen Vergleich mit Ergebnissen früherer Jahre, also z.B. eine Beurteilung, ob bei Frauen die Mortalität an Erkrankungen der Verdauungsorgane seit 1987 tat-sächlich angestiegen ist, unabhängig von der Veränderung der Altersstruktur.

5.2 Indirekte Altersstandardisierung

= Bezug von bekannten „Standard“-Raten auf die untersuchte Population

und Berechnung der Standardmortalitätsratio (SMR)

Diese Methode ist dann hilfreich, wenn altersspezifische Mortalitätsraten für die unter-suchte Population erst gar nicht berechnet werden können (z.B. in Entwicklungsländern aufgrund von Lücken in der demographischen Erfassung) oder wenn die beobachteten altersspezifischen Raten aufgrund zu kleiner Fallzahlen wenig stabil sind. Eine häufige Anwendung findet man in der Arbeits- und Umwelt-Epidemiologie: die in einer Risiko-population (z.B. bestimmte Berufsgruppe) beobachteten Mortalitätsraten sollen mit den entsprechenden Raten einer Gruppe mit durchschnittlichem Risiko (Allgemeinbevölke-rung) verglichen werden.

Im Gegensatz zur Übertragung von tatsächlich beobachteten altersspezifischen Raten

auf eine Standardpopulation (sog. direkte Altersstandardisierung) dienen hier umge-

kehrt bereits bekannte, als verlässlich einzustufende Raten als Bezugsstandard. Diese

werden auf die Studienpopulation mit der gegebenen Altersverteilung übertragen. Al-

tersspezifische Raten einer bekannten Population (z.B. aus der Mortalitätsstatistik für

die Allgemeinbevölkerung im vergleichbaren Zeitraum) werden so durch die Alterszu-

sammensetzung der Studienpopulation gewichtet, d.h. mit dem Anteil an Studienperso-

nen in der jeweiligen Altersgruppe multipliziert. Die Summe der so gewichteten alters-

spezifischen Rate ergibt die erwartete Mortalitäts- oder Inzidenzrate. Das Verhältnis von

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beobachteter und erwarteter Gesamt-Mortalitätsrate in der Studienpopulation ist die

Standardmortalitätsratio (SMR). Sie gibt Aufschluss darüber, ob die Mortalität bzw.

Inzidenz in der Studienpopulation bei gegebener Alterszusammensetzung höher (SMR

> 1) oder niedriger (SMR < 1) liegt als in einer Population mit bekanntlich stabilen al-

tersspezifischen Mortalitäts-/ Inzidenzraten und durchschnittlichem Sterbe-/ bzw. Erkran-

kungsrisiko. Auf die statistische Signifikanz dieser Unterschiede muss mittels eines

geeigneten Testverfahrens getestet werden.

Cave: Es ist hier immer nur ein Vergleich möglich, d.h. der Vergleich zwischen der be-

obachteten und der (anhand der externen Standradraten) zu erwartenden Inzidenz bzw.

Mortalität. Die SMR zweier oder mehrerer unterschiedlicher Studienpopulationen mit-

einander zu vergleichen wäre unzulässig, da die Altersverteilung der Studienpopulation

als Grundlage für die Berechnung der erwarteten Häufigkeiten eingeht. Eine Ausnahme

wäre natürlich dann gegeben, wenn die Altersverteilung in den verschiedenen Studien-

populationen exakt gleich ist.

Beispiel: Indirekte Altersstandardisierung

Vergleich der Sterblichkeit an Herz-Kreislauferkrankungen (ICD-Code: 390-459) zwi-

schen Deutschland und einem Entwicklungsland (Mexiko). Die alterspezifischen Raten

für Mexiko sind nicht bekannt.

Altersklasse

(in Jahren)

Bevölkerung

Mexiko 1995

N (Anteil)

Todesfälle

Krankheiten des

Kreislaufsystems

(ICD-Code

390-459)

Mexiko 1994

Beobachtete

(„Rohe“)

Mortalität

je 100.000

in Mexiko

Alters-

spezifische

Mortalität

je 100.000

Deutschland

1997

Erwartete

Mortalität

je 100.000

in Mexiko

< 15 32.356.000 (0.355) ? ? 1,28 0,45

15-44 44.233.000 (0.485) ? ? 13,75 6,69

45-64 10.656.000 (0.117) ? ? 200,10 23,41

65+ 3.901.000 (0.043) ? ? 2873,13 123,54

Gesamt 91.146.000 (1.000) 97.344 106,80 154,09

SMR = 106,80 / 154,09 = 0,69

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Fazit: Gewichtet man die bekannten, altersspezifischen Sterberaten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen in

Deutschland anhand der Bevölkerungsstruktur von Mexiko, erhält man die für Mexiko erwartete

Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Quotient aus der in Mexiko tatsächlich be-

obachteten und der erwarteten Sterblichkeit ist die Standardmortalitätsratio (SMR). Sie beträgt

hier SMR=0,69, d.h. die beobachtete Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen liegt in Mexi-

ko um 31% niedriger als anhand der deutschen Sterberaten zu erwarten wäre. Sinnvollerweise

würde man diese Daten zusätzlich nach Geschlecht aufschlüsseln, da die Mortalität an Herz-

Kreislauf-Erkrankungen nicht nur vom Alter, sondern auch vom Geschlecht ( M > F) abhängt.

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6. MAßZAHLEN DER DESKRIPTIV-ANALYTISCHEN EPIDEMIOLOGIE ZUR BESCHREIBUNG EINES ZUSAMMENHANGS ZWISCHEN DEM AUFTRETEN VON ERKRANKUNGEN / TODESFÄLLEN UND ASSOZIIERTEN FAKTOREN - KAUSALITÄTSKRITERIEN

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6. Maßzahlen der deskriptiv-analytischen Epidemiologie zur Be-schreibung eines Zusammenhangs zwischen dem Auftreten von Erkrankungen / Todesfällen und assoziierten Faktoren - Kausalitätskriterien

6.1 Allgemeines zum Messen von Risiko Das Relative Risiko (RR) ist ein Maß für die Assoziation zwischen einer dichotomen*

Zielgröße (Krankheit/Tod) und einem vermuteten ebenfalls dichotomen* Einflussfaktor

(Exposition, Risikofaktor). Soll der Einfluss eines bestimmten Faktors X (Exposition

oder vermuteter Risikofaktor) auf eine Variable Y (Krankheit, Tod) untersucht werden,

wird ganz allgemein auch von X als unabhängiger und Y als abhängiger Variablen

gesprochen.

dichotom = mit nur zwei möglichen Ausprägungen, also das Ereignis tritt ein oder tritt nicht ein, im Ge-gensatz zu einer ordinalen Variablen, die mehrere Ausprägungen im Sinne einer Bewertungsskala (z.B. subjektive Bewertung des eigenen Gesundheitsstatus als sehr gut (1), gut (2), befriedigend (3), schlecht (4), sehr schlecht (5)) hat oder einer kontinuierlichen oder stetigen Variablen, die theoretisch unendlich viele Ausprägungen annehmen kann (z.B. Körpergewicht, Blutdruck etc.)

Risiko : Maß für den Zusammenhang zwischen einem Expositionsfaktor (E) und dem Auftreten

einer Erkrankung (K) -

beschreibt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person, die einem bestimmten Faktor

ausgesetzt ist, in einem definierten Zeitraum an der untersuchten Krankheit erkrankt.

Abhängige Variable :

Zielgröße (Y), Inzidenz- oder Mortalitätsrate einer bestimmten Erkrankung oder eine

biomedizinische Messgröße (z.B. Blutdruck).

Unabhängige Variable :

Vermutete Krankheitsfaktoren (X1...Xn) (Risikofaktoren), Determinanten medizinischer

Messgrößen.

Beispiel: In einer Kohortenstudie soll die Hypothese getestet werden, ob hormonelle

Substitutionstherapie (X) bei postmenopausalen Frauen zu verringerter

KHK-Mortalität (Y) führt.

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6. MAßZAHLEN DER DESKRIPTIV-ANALYTISCHEN EPIDEMIOLOGIE ZUR BESCHREIBUNG EINES ZUSAMMENHANGS ZWISCHEN DEM AUFTRETEN VON ERKRANKUNGEN / TODESFÄLLEN UND ASSOZIIERTEN FAKTOREN - KAUSALITÄTSKRITERIEN

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Grundlage für die Berechnung von Maßzahlen zur Beschreibung von Risiko liefert die

Vierfeldertafel zur Inzidenz der Erkrankung bei Personen mit Risikofaktor (Expo-

nierte) und Personen ohne Risikofaktor (Nicht-Exponierte).

Krank Gesund

Exponiert A B A + B

Nicht Exponiert C D C + D

N

A / (A+ B) = Inzidenz bei Exponierten C / (C + D) = Inzidenz bei Nicht-Exponierten

Als Maß für den Zusammenhang zwischen X und Y errechnet man in erster Linie das

Relative Risiko (RR) als Verhältnis zwischen der Inzidenz bei Exponierten und

der Inzidenz bei Nicht-Exponierten :

( )( )DC

CBA

ARR

+

+=

RR = 1 è der Risikofaktor hat keinen Einfluß (Inzidenz bei Exponierten und Nicht-

Exponierten gleich)

RR > 1è der Risikofaktor hat schädlichen Einfluß auf die Entwicklung der Krankheit

(Inzidenz bei Exponierten > Inzidenz bei Nicht-Exponierten)

RR < 1è der Risikofaktor hat schützenden Einfluß auf die Entwicklung der Krankheit

(Inzidenz bei Exponierten < Inzidenz bei Nicht-Exponierten)

6.2 Relatives Risiko (RR) versus Attributables Risiko (AR) Relatives Risiko (RR)

= relativer Effekt

Attributables Risiko (AR)

= absoluter

= Überschussrisiko

RR = Ie / Iu AR = Ie - Iu

Maß für die Stärke der Assoziation

zwischen Risikofaktor (Exposition) und

Zielgröße (Erkrankung/Tod)

Maß für die Bedeutung der As-

soziation zwischen Risikofaktor

(Exposition) und Zielgröße in abso-

luten Zahlen

Ie = Inzidenz bei Exponierten Iu = Inzidenz bei Nicht-Exponierten (unexposed)

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Beispiel für den Gebrauch von RR und AR:

Jährliche Mortalitätsrate (Sterblichkeit) an KHK und Lungenkrebs bei britischen Ärzten

pro 100.000.

Koronare Herzkrankheit

(KHK)

Lungenkrebs

Raucher 599 / 100.000 166 / 100.000

Nichtraucher 422 / 100.000 7 / 100.000

RR: 599 / 422 = 1.4 166 / 7 = 23.7

AR: 599 - 422 = 177 (pro 100.000)

166 - 7 = 159 (pro 100.000)

Doll und Hill: Second report on the mortality of British doctors. BMJ 2: 1071, 1956

• RR ist dimensionslos (Verhältnis); AR ist eine Rate (je 100.000, je 1.000 etc.)

• Wie aus dem angeführten Beispiel hervorgeht, ist das Rauchen für die Entstehung

von Lungenkrebs als einzelner Risikofaktor bedeutsamer als für die Entstehung von

KHK. Das Risiko bei Rauchern im Vergleich zu Nichtrauchern ist im Hinblick auf die

Entstehung von Lungenkrebs fast 24-fach höher, im Hinblick auf die Entstehung von

KHK 1.4-fach (anders ausgedrückt kann man auch von einer Erhöhung um 24% bzw.

40% sprechen, ausgehend von 0% bei RR=1).

• Relative Effekte (RRs) für chronische, multifaktorielle Erkrankungen liegen oft in der

Größenordnung um RR=2 bzw. RR=0,5 (bei protektivem Faktor), d.h.:

RR=2 è Exponierte haben ein doppelt so hohes Risiko wie Nicht-Exponierte

(Beispiel: männliches versus weibliches Geschlecht im Hinblick auf die

Entstehung von Herzinfarkt; weibliches versus männliches Geschlecht im

Hinblick auf die Entstehung der Oberschenkelhalsfraktur).

RR=0,5 è Exponierte haben 50% des Risikos von Nicht-Exponierten (Beispiel:

Hormonelle Ersatztherapie und KHK-Mortalität bei Frauen nach der Me-

nopause nach Ergebnissen von Beobachtungsstudie!).

• Auch wenn der Relative Effekt (RR) klein ist, kann der absolute Effekt (AR) bedeut-

sam sein (s.o., vergleichbare absolute Effekte für KHK und Lungenkrebs). Dies ist

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6. MAßZAHLEN DER DESKRIPTIV-ANALYTISCHEN EPIDEMIOLOGIE ZUR BESCHREIBUNG EINES ZUSAMMENHANGS ZWISCHEN DEM AUFTRETEN VON ERKRANKUNGEN / TODESFÄLLEN UND ASSOZIIERTEN FAKTOREN - KAUSALITÄTSKRITERIEN

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immer der Fall, wenn der Faktor als Risikofaktor für die Entstehung der Krankheit

nicht allein bedeutend ist, sondern nur mitwirkt, die Erkrankung insgesamt aber sehr

häufig vorkommt.

6.3 Weitere Maßzahlen zur Beschreibung von Effekten von Risikofaktoren Attributables Risiko unter Exponierten (ARE) = attributable risk percent, attributable proportion, etiologic fraction

RR1RR

RR1

1AREI

IIe

ue −=−=

−=

Maß für den Anteil an der Krankheit, der unter Exponierten auf den Expositionsfaktor zurückgeht.

Ie = Inzidenz bei Exponierten Iu = Inzidenz bei nicht Exponierten (unexposed)

(exposed) RR = relatives Risiko

Populationsattributables Risiko (PAR) = population attributable risk

( )( ) 11RR

1RR

1

1PAR

PIpIpIIpIp

III

tutet

uutet

t

ut

−+−

=−+

−−+=

−=

Maß für den Anteil an der Krankheit (K), der in der Gesamtbevölkerung auf den Expositionsfaktor (E) zurückgeht. Ie = Inzidenz bei Exponierten(exposed) Iu = Inzidenz bei Nicht-Exponierten (unexposed) It = Inzidenz in der Gesamtbevölkerung (total population) pt = Prävalenz von E in der Gesamtbevölkerung RR = relatives Risiko Beispiel für den Gebrauch von ARE und PAR:

Untersuchung zum Zusammenhang zwischen Rauchen und Mortalität an Koronarer

Herzkrankheit (KHK) und Lungenkrebs in einer Bevölkerung von N=30.000.

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6. MAßZAHLEN DER DESKRIPTIV-ANALYTISCHEN EPIDEMIOLOGIE ZUR BESCHREIBUNG EINES ZUSAMMENHANGS ZWISCHEN DEM AUFTRETEN VON ERKRANKUNGEN / TODESFÄLLEN UND ASSOZIIERTEN FAKTOREN - KAUSALITÄTSKRITERIEN

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Koronare Herzkrankheit (KHK) Lungenkrebs

+ - Gesamt + - Gesamt

Rauchen

+ 60 9.940 10.000 17 9.983 10.000

- 84 19.916 20.000 2 19.998 20.000

Gesamt 144 29.856 30.000 19 29.981 30.000

Me= Mortalität bei Exponierten : 60 / 10.000 17 / 10.000 Mu= Mortalität bei Nicht-Exponierten : 42 / 10.000 1 / 10.000 Mt= Ursachenspezische Mortalität i. d. Gesamtbevölkerung : 48 / 10.000 6 / 10.000

Relatives Risiko (RR) = Me / Mu : 60 / 42 = 1,4 17 / 1 = 17

Attributables Risiko (RR) = Me - Mu :

(60 - 42) / 10.000 = 18 /10.000 (17 - 1) / 10.000 = 16 /10.000

Attributables Risiko unter Exponierten

(ARE) = (Me - Mu) / Me

18 / 60 = 0,30 16 / 17 = 0,94

Populationsattributables Risiko

(PAR) = (Mt - Mu) / Mt

6 / 48 = 0,13 5 / 6 = 0,83

Fazit:

Hinsichtlich der Stärke der Assoziation ist Rauchen ein bedeutenderer Risikofaktor für

den Lungenkrebs (RR=17) als für KHK (RR=1,4). Unter Exponierten (Rauchern) gehen

94% der Lungenkrebsfälle auf das Rauchen zurück (ARE=0,94), im Vergleich zu 30%

der KHK-Fälle (ARE=0,30). Bezogen auf die Gesamtbevölkerung gehen 83% der Lun-

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genkrebsfälle (PAR=0,83) und 13% der KHK-Fälle (PAR=0,13) auf das Rauchen zu-

rück.

6.4 Relatives Risiko (RR) versus Odds Ratio (Kreuz-Produkt-Quotient): Das Relative Risiko (RR) errechnet sich aus dem Verhältnis von Inzidenzrate bzw.

Mortalitätsrate bei Personen mit dem untersuchten Einfluss (Risikofaktor/Therapie) und

der Inzidenzrate bzw. Mortalitätsrate bei Personen ohne diesen Faktor. Studiendesigns,

die geeignet sind, das Relative Risiko direkt zu berechnen, sind daher nur solche, die

Daten zur Inzidenz liefern: als Beobachtungsstudie die bevölkerungsbezogene Ko-

hortenstudie, als Experiment die randomisierte, kontrollierte Therapiestudie (RTC).

Im Falle seltener Erkrankungen lässt sich in Kohortenstudien das RR ohne größere

Verzerrung auch durch die sog. Odds Ratio (Kreuz-Produkt-Quotient) ausdrücken,

weil sich die Nenner dann unwesentlich voneinander unterscheiden. Die Odds Ratio

(OR) stellt den Quotienten aus der Erkrankungschance (Odds) bei Personen mit Risiko-

faktor (Exponierte) und der Erkrankungschance (Odds) bei Personen ohne diesen Risi-

kofaktor (Nicht-Exponierte) dar. Odds bedeutet "Chance", d. h. das Verhältnis der

Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt zu der Wahrscheinlichkeit,

dass dieses Ereignis nicht eintritt.

Krank Gesund

Exponiert A B A + B

Nicht-Exponiert C D C + D

N

( )( )DCC

BAARR

++

=

( )( )

( )( )

CBDA

DCBA

DCDDCC

BABBAA

OR××

==

++

++

=

• Wenn die Erkrankung selten ist , gilt: OR ≈ RR.

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Das Beispiel in Anlage 7 demonstriert, warum in Fall-Kontroll-Studien keine direkte

Abschätzung des Relativen Risikos möglich ist. Während die Kohortenstudie ein unver-

zerrtes Bild der tatsächlichen Zahlenverhältnisse zwischen Risikofaktor und Krankheit in

der Studienpopulation gibt, ist das Verhältnis von Kranken und Gesunden in der Fall-

Kontroll-Studie willkürlich festgelegt und weicht in der Regel stark von der "Wirklichkeit"

ab. Oft ist es durchaus möglich, einen großen Anteil der tatsächlich vorkommenden Fäl-

le mit in die Studie einzubeziehen; der Anteil an Vergleichspersonen entspricht jedoch

in der Regel nur einem geringen Bruchteil des in der Bevölkerung tatsächlich vorkom-

menden Anteils an Gesunden. Dieser Verzerrungsfaktor verhindert eine direkte

Berechnung des Relativen Risikos. Das Ergebnis würde von dem aus einer Kohor-

tenstudie abgeleiteten RR abweichen (s. RR=2,57 versus RR=4.00 in Anlage 7).

Selbst wenn der Verzerrungsfaktor bekannt wäre (in der Regel ist er das natürlich nicht,

da Fall-Kontroll-Studien aufgrund ihrer leichteren und rascheren Durchführbarkeit fast

immer vor Kohortenstudien durchgeführt werden), wäre eine unverzerrte Berechnung

des RR nicht möglich. Im Beispiel der Anlage 7 wird das dadurch deutlich, dass sich

die Verzerrungsfaktoren (f1) und (2) bei der Berechnung des Relativen Risikos nicht

wegkürzen lassen. Das Zurückgreifen auf die OR als Schätzer des RR ermöglicht je-

doch gerade dies: (f1) und (2) fallen nach Kürzung bei der Berechnung der OR weg. Bei

tatsächlich bekannten Verzerrungsfaktoren würde sich ein mit dem Ergebnis einer Ko-

hortenstudie identisches Ergebnis (OR=4.06) ergeben. Die Schätzung des Relativen

Risikos durch die Odds Ratio (Kreuz-Produkt-Quotient) aus den vorgegebenen Zahlen-

verhältnissen der Fall-Kontroll-Studie führt zwar nicht zu einem identischen, aber doch

recht nahe kommenden Ergebnis von OR=3.75.

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7. EVIDENZ-BEWERTUNG DER MEDIZINISCHEN LITERATUR UND EMPFEHLUNGSGRAD FÜR DIE PRAXIS

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7. Evidenz-Bewertung der medizinischen Literatur und Empfeh-lungsgrad für die Praxis

Die Bewertung epidemiologischer Studienergebnisse im Hinblick auf die wissenschaft-

liche Evidenz eines kausalen Zusammenhangs oder therapeutischen Effektes wird zu-

meist nach Kriterien der US Agency for Health Care Policy and Research (AHCPR

publication No. 92-0023, 1993, p. 107) vorgenommen.

EEvviiddeennzz--LLeevveell VVoorrhhaannddeennee SSttuuddiieenn EEmmppffeehhlluunnggssggrraadd II MMeettaa--AAnnaallyyssee ooddeerr ssyysstt.. RReevviieeww AA vvoonn RRCCTTss ooddeerr mmiinndd.. 11 RRCCTT IIII MMiinndd.. 11 kkoonnttrroolllliieerrttee BBeeoobbaacchhttuunnggssssttuuddiiee BB ((FFaallll--KKoonnttrroollll--,, KKoohhoorrtteenn--SSttuuddiieenn)) IIIIII NNiicchhtt--kkoonnttrroolllliieerrttee BBeeoobbaacchhttuunnggssssttuuddiieenn,, BBzz..BB.. FFaallllsseerriieenn,,

KKoorrrreellaattiioonnssssttuuddiieenn

IIVV EExxppeerrtteennmmeeiinnuunngg;; KKoonnsseennssuusskkoonnffeerreennzz CC ((kkeeiinnee SSttuuddiieenn vvoorrhhaannddeenn)) Bitte beachten: die o.g. Einteilung ist insofern vereinfacht, als dass Untergruppen Ia, Ib usw. weggelas-

sen sind, die sich durch die Anzahl und die Qualität der Arbeiten mit dem jeweiligem Studientyp erge-

ben.

Die Ergebnisse nicht randomisierter Studien (Beobachtungsstudien) reichen nicht aus,

um einen kausalen Zusammenhang zu beweisen, somit ist auch der Empfehlungsgrad

hinsichtlich einer Umsetzung in der Praxis, z.B. in Form präventiver Maßnahmen gerin-

ger (B). Für einen stärkeren Empfehlungsgrad werden die Ergebnisse randomisierter

und kontrollierter Studien (RCTs) benötigt. Ideal ist es, wenn mehrere solcher RCTs vor-

liegen, und die Ergebnisse aufgrund vergleichbarer Rahmenbedingungen (z.B. Alter,

Geschlecht, Einschlusskriterien der Studienpopulation; Zusammensetzung, Dosis, Ap-

plikationsmodus der Medikation) auf ihre Konsistenz und Stärke hin verglichen werden

können (Meta-Analyse). Die Beobachtungseinheit für die Auswertung der Ergebnisse

ist hier die einzelne Studie und nicht der einzelne Patient. Ist ein direkter Vergleich zwi-

schen verschiedenen Studien und damit eine gemeinsame Auswertung auf Studien-

ebene nicht möglich, hilft eine Übersichtsarbeit (Review), die jedoch unbedingt systema-

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7. EVIDENZ-BEWERTUNG DER MEDIZINISCHEN LITERATUR UND EMPFEHLUNGSGRAD FÜR DIE PRAXIS

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tisch sein muss, d.h. alles vorhandene Datenmaterial, möglichst auch noch nicht publi-

ziertes, sollte enthalten sein.

Versteckt in dieser Evidenz-Bewertung des vorhandenen Studienmaterials sind auch

die allgemeinen wissenschaftlichen Kriterien, die zum Nachweis eines kausalen Zu-

sammenhangs angelegt werden (Anlage 4).

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8. WEITERFÜHRENDE LITERATUR:

Skript zum Seminar Epidemiologie zur Vorlesung Sozialmedizin Dr.med.Christa Scheidt-Nave M.P.H.

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8. Weiterführende Literatur:

Rothman K, Modern Epidemiology Little, Brown and Company. Boston, Toronto 1986, Kap. 1-5 Kleinbaum DG, Kupper LL, Morgenstern H, Epidemiological Research, Van Nostrand Reinhold, New York, 1982, Kap. 2-5 Stat. Bundesamt, Gesundheitsbericht für Deutschland, Metzler und Poeschel 1998

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Anlage 1

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EPIDEMIOLOGISCHE STUDIEN-DESIGNS

Deskriptiv Analytisch

Frage Beschreibung eines Gesundheitsproblems Was ? Wann ? bei Wem ? Wie häufig ?

Aufdecken der Ursachen Warum ? Wie zu verhindern ?

Studientyp Fallstudie/ -serie Bevölkerungs-Survey Filteruntersuchung Trendstudien (Register) Migrationsstudien

Fall-Kontroll-Studien Kohortenstudien RCTs

Zielgröße Prävalenz Inzidenz Mortalität

Rel. Risiko (RR), Odds Ratio (OR) Attributables Risiko (AR) Kausalitätskriterien

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Anlage 2

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Kohortenstudie Fall - Kontroll - Studie prospektiv retrospektiv

"historisch"

Krank Risikofaktor +

Risikofaktor +

(Exponierte)

Risikofaktor -

Fälle

Gesund

Risikofaktor +

Population

von

Gesunden

Risikofaktor -

(nicht Exponierte) Krank Risikofaktor -

"Kontrollen"

Krank Gesund Krank Gesund

Exponiert A B A + B Exponiert A B A + B

Nicht Exponiert C D C + D Nicht Exponiert C D C + D

N N

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Anlage 3

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Kohortenstudie Fall - Kontroll - Studie

Krank Gesund Krank Ge-

sund

Exponiert A B A + B Exponiert A B A + B

Nicht Exponiert C D C + D Nicht

Exponiert C D C + D

N N

Relatives Risiko Odds Ratio (OR)

Kreuz-Produkt-Quotient

A / (A+B)

C / (C+D)

A / (A*B) / B / (A+B) A / B A x D

C / (C+D) / D /(C+D)

=

C / D

=

B x C

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Anlage 4

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Kausalitätskriterien Ein kausaler Zusammenhang zwischen einer Krankheit (K) und einem Expositionsfaktor (E) wird gestützt durch:

• Stärke der Assoziation (gemessen an RR, OR)

• Zeitliche Kohärenz (E vor K)

• Konsistenz der Assoziation(übereinstimmende Ergeb-nisse verschiedener Studien)

• Biologische Plausibilität

• Biologischer Gradient (Dosis-Wirkungs-Beziehung)

• Experimenteller Nachweis (selten möglich)

• (Spezifität der Assoziation) - gilt nur bedingt, da ein Faktor mehrere Krankheiten mitbeeinflussen kann, z.B. Rauchen - Lungenkrebs, KHK, COPD

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Anlage 5

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EPIDEMIOLOGISCHE STUDIEN-DESIGNS

Vorteile Nachteile

Fall-Kontroll-

Studie

kostengünstig, schnell, kleine Studienpopulation, geeignet für seltene Krankheiten

retrospektive Erhebung von Ex-positionsdaten, Auswahl von Kontrollen kritisch, keine Inzidenz

Kohorten-

Studie

zeitliche Kohärenz zwischen Expositionsfaktor und Zielgröße, Inzidenzdaten

aufwendig, teuer, langwierig, nicht geeignet für seltene Krank-heiten

Randomisierte klinische Thera-pie-Studie (RTC=Ranomized cli-nical trial)

experimentelles Design teuer, Ergebnisse nicht unbedingt übertragbar, Einflüsse auf Kontrollgruppe nicht immer kalkulierbar, ethische Grenzen

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Anlage 6

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HHoorrmmoonneellllee SSuubbssttiittuuttiioonn iinn ddeerr PPoossttmmeennooppaauussee –– WWoohhllttaatt ooddeerr RRiissiikkoo ??

KKoohhoorrtteennssttuuddiieenn éMamma-Ca Colditz et al., NEJM 332: 1589, 1995 êColon-Ca Newcomb et al., J Natl Cancer Inst 87: 1067, 1995 êFrakturen Cauley et al., Ann Intern Med 122: 9, 1995 êKHK-Risiko Grodstein et al., NEJM 335: 453, 1996 êGesamtmortalität Grodstein et al., NEJM, 336: 1769, 1997 éKognitive Funktion Yaffe et al., JAMA 279: 688, 1998

TThheerraappiieessttuuddiieenn êWirbelfrakturen Lufkin et al. Ann Intern Med117: 1, 1992 èKardiovaskuläre Ereign. Hulley et al. JAMA 280: 605,1998 êKardiovaskuläre Risikofaktoren Writing Group for

the Postmenopausal Estrogen/Progestin Intervention (PEPI) Trial, JAMA 273. 199, 1995 ÜÜbbeerrssiicchhttssaarrbbeeiitteenn

? Kardiovaskuläre Ereign., Mamma-CA, Demenz The Women's Health Initiative (WHI) Study Group, Controlled Clin Trials 19:61-80, 1998

Clinical Synthesis Panel on HRT. Lancet 354: 152-55, 1999

The European Women's International Study of Long Duration Oestrogen after Menopause (WISDOM)

Barrett-Connor E. Journal of Women‘s Health 7: 839-847, 1998

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Anlage 7

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Kohortenstudie Fall - Kontroll - Studie Relatives Krank Gesund Krank Gesund

Risiko (RR) Exponiert A B A + B Exponiert 18 24 42

A / (A+B) Nicht Ex-poniert C D C + D

Nicht Expo-niert 4 20 24

C / (C+D) 22 44 66

Krank Gesund 18 / 42

Exponiert 20 980 1000 RR =

4 / 24 2.57

Nicht Ex-poniert 5 995 1000 Bruchteil der Erkrankten (f1): 22 / 25 = 0.888

25 1975 2000 Bruchteil der Gesunden (f2): 46 / 3004 = 0.022

Inzidenzrate bei Exponierten: 20/1000 Anteil der Fälle bei Exponierten: 20(f1) / [20 (f1) +980 (f2)]

Inzidenzrate bei Nicht-Exponierten

5/1000 Anteil der Fälle bei nicht Exponierten: 5(f1) / [5 f(1) + 995 (f2)]

20 / 1000 RRkorrigiert = 2.68

Relatives Risiko (RR) =

5 / 1000 = 4.00

Odds ‚ein Fall zu sein’ unter Exponierten 20 (f1) /980 (f2)

20 / 1000 Odds ‚ein Fall zu sein’ unter nicht Exponierten 5 (f1) / 995 (f2) Odds für Erkrankung bei Exponierten

= 980/1000

= 20 / 980

5 / 1000 20 (f1) / 980 (f2) 20 / 980

Odds für Erkrankung bei nicht Exponierten

= 995/1000

= 5 / 995

Odds Ratio (OR)= 5 (f1) / 995 (f2)

= 5 /995

= 4.06

20 / 980 18 / 24 Odds für Erkrankung bei nicht Exponierten

= 5 / 995

= 4.06

Odds Ratio (OR)= 4 / 20

= 3.75

Cornfield J: A method of estimating comparative rates from clinical data. Applications to cancer of the lung, breast and cervix. Oxford University Press: New York, Oxford, 1982, pp 32-40. Schlesselman JJ: Case -Control Studies. Design, Conduct, Analysis. JNCI 11: 1269-75, 1951.