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Einführung in die Europäische Ethnologie

Teil 3

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Semiotischer Kulturbegriff• Nach den Cultural Studies soll als nächstes ein

semiotischer Kulturbegriff diskutiert werden.• Die Definition von Kultur ist ein schwieriges Un-

terfangen, weil es nahezu unendlich viele Defini--tionen von Kultur gibt. 1952 etwa haben Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn in ihrem Buch „Culture“ 175 Definitionen von Kultur aufgezählt.

• Nicht alle Definitionen unterscheiden sich aller-dings vollständig.

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• Danach ist Kultur „jenes komplexe Ganze, wel-ches Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sit-te und Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, welche der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat“.

• Diese umfassende Definition hat zwei Probleme, dass nämlich erstens alles Kultur ist und zwei-tens der Verweis auf das, was der Mensch er-worben hat, zu wenig auf den aktiven und ge-stalterischen Anteil des Menschen eingeht.

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• Zweitens gab es in diesen frühen Definitionen so etwas wie eine mentalistische Betrachtungswei-se, nach der Kultur ein ideenbildendes oder ge-dankliches System ist, ein System von gemein-samen Wissensinhalten und Glaubensvorstellun-gen, mit Hilfe derer Menschen ihre Wahrneh-mungen und Erfahrungen ordnen und Entschei-dungen treffen und in deren Sinne sie handeln.

• Kultur ist demnach ein System von sozial ver-teilten Ideen, eine Art von gedanklichem Code, dessen sich die Menschen bedienen, um sich selbst und die Welt zu interpretieren und ihre Handlungen auszudrücken.

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• Kultur ist also eher ein System von Regeln oder ein Muster für das Verhalten als ein wahrge-nommenes Muster des Verhaltens.

• Auch hier bleiben zwei Probleme – nämlich die Frage nach der Veränderbarkeit der Regeln oder des Codes und die Frage nach der jeweiligen Praxis, ob nämlich und in welcher Form sich diese Codes und Regeln im Verhalten wirklich niederschlagen.

• Es stellt sich überhaupt die Frage, wie genau Kultur definiert werden muss und ob nicht locke-re Umschreibungen für Arbeitsfelder oder allge-meine Verständnisbegriffe ausreichen (Gerndt).

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• Einer der erfolgreichsten Versuche, Kultur zu fassen, stammt von dem amerikanischen Kultur-anthropologen Clifford Geertz, der sich auf einen semiotischen Kulturbegriff bezieht:

• „Der Kulturbegriff, den ich vertrete, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstge-sponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wo-bei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“

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Clifford Geertz (1926-2006)

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• Um eine Wissenschaft zu verstehen, so Geertz, müsse man sich ansehen, was diese Wissen-schaftler tun.

• In der Kulturanthropologie arbeiten die Praktiker ethnografisch und nach der Darstellung in den Lehrbüchern bedeutet ethnografisch zu arbeiten folgendes: die Herstellung einer Beziehung zu den Untersuchten, die Auswahl von Informanten, die Transkription von Texten, die Niederschrift von Genealogien, das Kartographieren von Fel-dern, das Führen eines Tagebuchs und so fort.

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• Aber nicht diese Techniken und Verfahrens-weisen, die diese Forschungsarbeit bestimmen, sind entscheidend, sondern es sei die besondere geistige Anstrengung, die hinter allem steht, das komplizierte intellektuelle Wagnis der „dichten Beschreibung“.

• Dichte Beschreibung ist jener Begriff, der heute mit Geertz assoziiert wird, obwohl er ihn von dem britischen Philosophen Gilbert Ryle (1900-1976) entliehen hat.

• Ryle bringt ein gutes Beispiel dichter Beschrei-bung: das Zwinkern.

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• Stellen wir uns zwei Knaben vor, die blitzschnell das Lid des rechten Auges bewegen. Beim einen ist es ein ungewolltes Zucken, beim anderen ein heimliches Zeichen an seinen Freund. Als Bewe-gungen sind die beiden Bewegungen identisch.

• Es besteht jedoch ein gewichtiger Unterschied zwischen Zucken und Zwinkern. Das weiß jeder, der irrtümlicher Weise etwa ein Zucken für ein Zwinkern hält.

• Wenn also jemand zwinkert und nicht zuckt, dann teilt er etwas auf ganz präzise und besondere Weise mit:

1. richtet er sich absichtlich

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2. an jemand Bestimmten, um3. eine bestimmte Botschaft zu übermitteln, und

zwar4. nach einem gesellschaftlich festgelegten Code,

ohne dass5. die übrigen Anwesenden eingeweiht sind.• Es ist nun nicht so, dass der Zwinkerer zwei

Dinge tut – nämlich sein Augenlid bewegt und zwinkert, während der Zuckende nur sein Au-genlid bewegt. Erst durch den öffentlichen Co-de, demzufolge das absichtliche Bewegen des Augenlids als geheimes Zeichen gilt, wird das Zucken zum Zwinkern.

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• Wie resümiert Geertz: Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt: ein bisschen Verhalten, ein wenig Kultur und – voilà – eine Gebärde.

• Geertz und Ryle führen das Beispiel weiter und zeigen, dass man dabei auch nachahmen, parodieren oder proben kann.

• Und wenn der erste Knabe gar nicht gezwinkert hätte, würden sich alle nachfolgenden Aspekte ebenfalls verschieben.

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• Wichtig ist nun, so Geertz, dass zwischen einer „dünnen Beschreibung“ dessen, was diese Kna-ben tun (nämlich schnell das Augenlid bewe-gen) und einer „dichten Beschreibung“ dieser Tätigkeit (z.B. so tun, als ob man zwinkerte, um jemanden Glauben zu machen, es sei eine ge-heime Verabredung in Gang) der Gegenstand der Ethnographie angesiedelt ist: „eine ge-schichtete Hierarchie bedeutungsvoller Struktu-ren, in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Paro-dien produziert, verstanden und interpretiert werden“.

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• Wie wir am Beispiel des Zwinkerns deutlich erkennen konnten, ist die volkskundliche und ethnologische Forschung keine Sache der Beobachtung (so wichtig die Beobachtung als Methode sein mag), sondern eine der Interpretation.

• Eine Wissenschaft wie die Volkskunde oder die Ethnologie versucht, das Beobachtete zu analy-sieren. Nach Geertz geht es bei der Analyse um das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen und das Bestimmen der gesellschaftlichen Grundlagen und Tragweite dieser Bedeutungs-strukturen.

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• Für ihn ist die Ethnographie dichte Beschreibung und der Ethnograph oder die Ethnographin hat mit einer Vielfalt komplexer, oft übereinander gelager-ter oder ineinander verwobener Vorstellungsstruk-turen zu tun. Diese sind fremdartig, ungeordnet, verborgen und sie müssen zu fassen versucht werden.

• Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen, das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwür-digen Verbesserungen und tendenziösen Kom-mentaren ist, aber nicht in konventionellen Laut-zeichen, sondern in vergänglichen Beispielen ge-formten Verhaltens geschrieben ist.

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• Geertz wendet sich gegen verschiedene eth-nologische Ausrichtungen, vor allem aber gegen die kognitive Anthropologie, derzufolge „Kultur sich aus psychologischen Strukturen zusammen setzt, mit deren Hilfe einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen ihr Verhalten lenken“.

• Will man auf diese Weise Kultur beschreiben, so braucht man nur ein System von Regeln aufzustellen, denen ein Mensch gehorchen muss, um als „Eingeborener“ zu gelten

• Aber, das ist das Entscheidende, die Regeln sind nicht die Kultur.

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• Kultur ist öffentlich, weil Bedeutung etwas Öf-fentliches ist. Man kann nicht zwinkern, ohne zu wissen, was man unter Zwinkern versteht, aber das Wissen über das Zwinkern ist nicht das Zwinkern selbst.

• Wenn wir also sagen, Kultur besteht aus sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen, in deren Rahmen Menschen sich zuzwinkern, um damit etwas zu signalisieren, so folgt daraus nicht, dass es sich dabei um ein psychologisches oder mentales Phänomen handelt.

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• Was uns behindert andere (oder auch die eige-ne) Kultur zu verstehen, ist nicht die Unkenntnis darüber, wie Erkennen vor sich geht, sondern der Mangel an Vertrautheit mit der Vorstellungs-welt, innerhalb derer die Handlungen von Men-schen Zeichen sind.

• Mit Ludwig Wittgenstein argumentiert Geertz, das Problem beim Verständnis anderer Men-schen liege nicht an fehlender Sprachkenntnis, sondern daran, dass wir uns nicht in sie finden können.

• Genau das sei das schwierige oder sogar ent-mutigende Unterfangen der Kulturanthropologie.

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• Und in dem Versuch festzuhalten, auf welcher Grundlage wir uns in sie gefunden zu haben meinen, besteht die ethnologische Schriftstellerei als wissenschaftliches Projekt.

• Wenn wir kulturelle Phänomene untersuchen, wollen wir mit den Untersuchten nicht gleich werden und wir wollen sie auch nicht nachah-men. Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kom-men, uns mit ihnen austauschen, und zwar in jenem weiteren Sinn des Wortes, der mehr als nur Reden meint. So betrachtet ist ein Ziel – neben anderen Zielen – der Ethnologie die Erweiterung des Diskursuniversums. Dafür eignet sich ein semiotischer Kulturbegriff besonders.

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• Als ineinandergreifende Systeme analysierbarer Zeichen ist Kultur ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich beschreibbar ist.

• Das Verstehen der Kultur eines Volkes (einer Gruppe, eines Milieus) führt dazu, seine Norma-lität zu enthüllen, ohne dass seine Besonderheit dabei zu kurz käme.

• Die Schwierigkeit, die Perspektive Handelnder einzunehmen oder eine emische Analyse zu be-treiben, liegt in der ethnologischen Interpretation. Ethnologische Schriften sind immer Interpretatio-nen und zwar solcher zweiter und dritter Ordnung. (Nur ein „Eingeborener“ liefert Informationen erster Ordnung – es ist seine Kultur).

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• Ethnologische Schriften sind Fiktionen, und zwar in dem Sinn, dass sie etwas Gemachtes sind, ‚etwas Hergestelltes’, nicht in dem Sinne, dass sie falsch wären oder nicht den Tatsachen entsprächen.

• Kultur gibt es sozusagen in der Welt, Ethnologie nur in den Repräsentationen.

• Die Fähigkeit des Ethnologen liegt nun darin, ob er – um auf das Ausgangsbeispiel zurückzu-kommen – Zwinkern von Zucken und wirkliches Zwinkern von parodiertem Zwinkern unterschei-den kann.

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• Nicht Kohärenz ist der Gültigkeitsbeweis für die Beschreibung einer Kultur, obwohl kulturelle Systeme ein Mindestmaß an Kohärenz benö-tigen. Die Gültigkeit von Interpretationen liegt nicht in ihrer zusammengefügten Stringenz. Eine gute ethnologische Interpretation „versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“.

• Es gibt – nach Geertz – vier Merkmale ethno-graphischer Beschreibung:1. sie ist deutend2. was sie deutet, ist der Ablauf des sozialen Diskurses

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3. das Deuten besteht darin, das „Gesagte“ ei-nes solchen Diskurses dem vergänglichen Au-genblick zu entreißen4. sie sind mikroskopisch.

• „Das soll nun nicht heißen, daß es keine groß angelegten ethnologischen Interpretationen ganzer Gesellschaften, Zivilisationen, Welt-ereignisse usw. geben könne.“

• Wir nähern uns umfassenden Interpretationen allerdings von der „intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen“.

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• „Der Angelpunkt des semiotischen Ansatzes liegt, wie bereits gesagt, darin, daß er uns einen Zu-gang zur Gedankenwelt der von uns untersuchten Subjekte erschließt, so daß wir – in einem weite-ren Sinn des Wortes – ein Gespräch mit ihnen führen können.“

• „Die Spannung zwischen dieser Notwendigkeit, ein fremdes Universum symbolischen Handelns zu durchdringen, und den Erfordernissen eines technischen Fortschritts in der Kulturtheorie, zwi-schen der Notwendigkeit zu verstehen und der Notwendigkeit zu analysieren, ist demzufolge not-gedrungen groß und unaufhebbar zugleich.“

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• Wichtige theoretische Beiträge finden sich daher immer in konkreten Untersuchungen, weshalb ei-ne „reine Kulturtheorie“ nur sehr scher zu erbrin-gen ist.

• „Es wird also unterschieden zwischen dem Fest-halten der Bedeutung, die bestimmte soziale Handlungen für die Akteure besitzen, und der möglichst expliziten Aussage darüber, was das so erworbene Wissen über die Gesellschaft, in der man es vorfand, und darüber hinaus über das soziale Leben im allgemeinen mitteilt.“

• Die Theorie der Ethnographie soll ein Vokabular bereit stellen, um das Wissen über die Rolle der Kultur im menschlichen Leben auszudrücken.

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• Für Geertz ist die Untersuchung von Kultur ihrem Wesen nach unvollständig. Und je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie.

• Verschiedentlich wurde Kritik an Geertz geübt, weil seine „Dichte Beschreibung“ definitorische Unsicherheiten aufweise, ja sogar auf theore-tische Konzepte verzichte, weil sie – in philo-sophisch-hermeneutischer Tradition – zu stark auf das „Einfühlen-Können“ setze.

• Diese Auffassung ist so nicht zu teilen, denn im-merhin ist die philosophisch-hermeneutische Tra-dition kein theoriefreies Gedankengebäude und zudem ein wichtiger Strang qualitativer Sozialfor-schung.

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• Dennoch kann zumindest angemerkt werden, dass die Betrachtung der politischen und ökono-mischen Verhältnisse bei Geertz etwas unterbe-lichtet bleibt und eher implizit als explizit zum Ausdruck gelangt.

• Zudem scheint er – in klassischer ethnologi-scher Tradition – manchmal untergründig noch von homogenen kulturellen Einheiten auszuge-hen.

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Kulturanalyse• Kulturanalyse als eine spezifische Form volks-

kundlich-kulturwissenschaftlicher Forschung • Für eine Kulturanalyse fordert Rolf Lindner kei-

ne Eingrenzung in ein enges disziplinäres Kor-sett, sondern fordert ein „Unternehmen, das sich, um der Sache willen, um disziplinäre Grenzen nicht schert“.

• Kulturelle Phänomene können nicht für sich al-lein erklärt werden, sondern immer nur in ihren jeweiligen wechselseitigen Verhältnissen.

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• Die Arbeiterkultur, die für einige Zeit ein spezifi-sches und wichtiges Feld der Volkskunde war, kann immer nur in Bezug auf die tonangebende bürgerliche Kultur begriffen werden, das wird in den Formen der Aneignung, der Neutralisierung und der Abweisung dominanter Verkehrsformen deutlich.

• Kulturanalyse erfordert ein Denken in Relatio-nen, weil von der Grundannahme ausgegangen wird, dass der Sinngehalt kultureller Phänome-ne nur durch die Untersuchung des Bezie-hungsgeflechts zu entschlüsseln ist, dem diese Phänomene ihre spezifische Gestalt verdanken.

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• Es entspricht einer Logik aller Kulturwissen-schaften, nicht vor allem danach zu fragen, was Menschen tun, sondern wie sie das tun, was immer sie tun.

• Der Philosoph Ernst Cassirer, eine der in der NS-Zeit emigrierten wichtigen deutsch-jüdi-schen Geistesgrößen, hat einen Feldbegriff ent-worfen, der ein Relationsbegriff ist – ein Inbe-griff von Kraftlinien.

• Dies hat unter anderem den französischen So-ziologen und Ethnologen Pierre Bourdieu beein-flusst, der ebenfalls ein prominenter Feldtheo-retiker ist.

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• Auch Bourdieu stellte fest, dass in Feldbegriffen denken relational denken heißt.

• Dies lässt sich etwa auch in der Wissenschafts-forschung anwenden, wo es zwischen verschie-denen Feldern – wie bei Magnetfeldern – zu An-ziehungs- und Abstoßungsprozessen kommen kann. Deshalb müssten die jeweiligen Konstel-lationen von Feldern zu einander bzw. auch von Disziplinen zu einander berücksichtigt werden.

• Dieses Denken in Konstellationen, in Nachbarn, Konkurrenten und Vorbildern ist aber über die Wissenschaftsforschung hinaus als heuristi-sches Mittel fruchtbar.

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• Um dies zu verdeutlichen bringt Rolf Lindner ein Beispiel, und zwar die Festivalisierung bzw. Karnevalisierung der Berliner Stadtpolitik. Love Parade, Christopher Street Day und Karneval der Kulturen sind in ihrer Entwicklung nur im Zusammenhang mit den anderen zu verstehen.

• Der Berliner Karneval der Kulturen als multikul-turelles Spektakel etwa gewinnt sein besonde-res Profil nur in Abgrenzung zur Love Parade, aber auch zum gewöhnlichen Karneval.

• Das beantwortet allerdings nicht, warum dies in Berlin und nicht etwa in München stattfindet.

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• Der Hauptstadtstatus und der damit verbundene Symbolcharakter taugen als Erklärung insofern nicht, als allein zwei der Paraden noch aus West-Berliner Zeit stammen. Auch die Überle-gung, dass diese Ereignisse bewusst als Teil der neuen symbolischen Ökonomie der Städte geschaffen worden sind, trifft nicht zu.

• Bedeutend scheint hingegen die Tatsache, dass sich die ‚Berliner Paraden’ allesamt einem alternativ/subkulturellen Milieu verdanken.

• Das alte (West)Berlin als subkultureller Zu-fluchtsort bildete, so kann als Hypothese formu-liert werden, den Nährboden für die neuen kul-turellen (Re)Präsentationsformen.

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• Häufig wird bei heutigen Darstellungen so ge-tan, als sei es einfach eine freiwillige Entschei-dung, wie etwa Städte kulturelle Phänomene generieren, dabei wird die Frage nach den Wahlmöglichkeiten überspielt.

• „Eine Stadt ist kein neutraler, beliebig zu füllender Behälter, sondern ein von Geschichte durchtränkter, kulturell codierter Raum. Als ein solcher ist er nicht nur ein definierter, sondern auch ein definierender Raum, der über Möglich-keiten und Grenzen dessen mit entscheidet, was in ihm stattfinden oder was in ihn projiziert werden kann.“

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• Kulturanalyse beinhaltet ein komplexes Vorge-hen, was immer bedeutet, konkrete Phänomene wie etwa die genannten Paraden mit unter-schiedlichen anderen Formen von Paraden zu-sammen zu denken, um eine kulturelle Spezifik herauszuarbeiten.

• Um auf den vorher eingeführten Begriff des Fel-des zurück zu kommen, lautet die Aufgabe feld-übergreifende Effekte zu betrachten.

• Dazu gehört auch der Versuch, scheinbar Un-mögliches zusammen zu denken.

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• Rolf Lindner meint, etwa den Zuhälter als Ver-käufer zu begreifen und den Feldforscher als ei-ne Art Detektiv –, weil man dadurch nicht nur die Unterschiede, sondern auch die Gemein-samkeiten erkennen kann.

• Es bedarf des intellektuellen Verständnisses, dass ein Phänomen, so unwahrscheinlich es auf den ersten Blick ist, mit anderen Phänomenen zusammenhängt.

• Hans Ulrich Gumbrecht hat dies in einem histo-rischen Versuch für das Jahr 1926 unter-nommen und sein Vorgehen ein „Experiment in historischer Gleichzeitigkeit“ genannt.

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• Gumbrecht stellt damit im Grunde einfach die Frage, wie man nach dem Ende der „großen Er-zählungen“ und dem Verblassen der großen geisteswissenschaftlichen Theoriegebäude über haupt noch Geschichte „lehren“ kann – und sug-geriert damit, dass die klassischen Antworten obsolet oder fadenscheinig geworden sind.

• Wenn sich also die großen Kausalitätsgebäude zunehmend als „de-konstruiert“ erweisen, wie kann man dann noch (Kultur-) Geschichte schreiben?

• Seine Antwort ist verblüffend einfach: Kehren wir zurück zu den Quellen, zu den sinnlichen

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Qualitäten, zur konkreten Lebenswelt der Ver-gangenheit, schaffen wir den Eindruck, in der Vergangenheit „zu sein“, versuchen wir, die Ver-gangenheit im wahrsten Sinne des Wortes zu „re-präsentieren“.

• Gumbrecht weiß natürlich, dass dies gar nicht gehen kann, aber er versucht ein interessantes Experiment: Er collagiert eine Fülle diskursiver Quellen wie Romane, Gedichte, Feuilletons, Reiseberichte, Zeitdiagnosen, Autobiographien, Drehbücher, Essays, Reportagen, aber auch Werbe- und Todesanzeigen zu einer Art „Zeit-Bild“, in dem gemeinsame Strukturmuster („Dis-

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positive“) und grundlegende „Codes“ (im Sinne von immer wiederkehrenden Bedeutungszu-sammenhängen) sichtbar werden.

• In über 51 Einträgen widmet sich Gumbrecht diesen Dispositiven und binären Codes.

• Einige Einträge bei den Dispositiven lauten z.B.: „Amerikaner in Paris“, „Bergsteigen“, „Fahr-stuhl“, „Ausdauer“, „Streik“, „Bars“, „Fließband“, „Mumien“, „Uhren“ oder auch „Völkerbund“, die wie in einem Lexikon in Querbezügen immer wieder aufeinander verweisen.

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• Bei den binären Codes gibt es Einträge wie Au-thentizität versus Künstlichkeit, männlich versus weiblich, Zentrum versus Peripherie, Stille ver-sus Lärm, Gegenwart versus Vergangenheit.

• Die Pointe dabei ist die Heterogenität der Quel-lenbezüge, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie aus dem weltpolitisch eher „unbedeutenden“ Jahr 1926 stammen, um den Blick nicht zu sehr auf gewohnte Perspektiven zu verengen.

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• Diese Heterogenität soll irritieren und gewohnte Denkschemata aufbrechen, um die chaotische „Gleichzeitigkeit“ des zeitgenössischen Erle-bens wieder nachvollziehbar zu machen.

• Es gelingt ihm durch dieses Verfahren, die „Pa-radoxien“ des „Zeitgeists“ freizulegen: So ver-weisen seine Quellen immer wieder auf einen „Kult der Oberfläche“ (z.B. bei den Dispositiven Pomade, Revue, Reporter, Film), andererseits aber auch auf einen Hunger nach „Authentizität“ und „Echtheit“ in einer immer stärker „vermittel-ten“ Wirklichkeit (z.B. bei Jazz, Bergsteigen, Boxen, Stierkampf).

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• Ähnlich „paradox„ erscheint der Kontrast zwi-schen dem semantischen Grundmuster der „Be-schleunigung“ auf der einen Seite und dem der „Ewigkeit“ bzw. „Dauer“ andererseits.

• Durch sein gewissermaßen „ironisierendes“ Ver-fahren gelingt es Gumbrecht, die Auflösung tradi-tioneller Sinngewissheiten als das Grundgefühl der 1920er Jahre plastisch zu veranschaulichen.

• Gumbrechts Buch regt zu einer Vielzahl von wie-terführenden Überlegungen an, und gerade die Engführung der Untersuchung auf ein Jahr hat zu einer ungemein dichten Beschreibung geführt.

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• Völlig neu sind all diese Beobachtungen und The-sen naturgemäß nicht, aber man hat das selten so „paradox“ verdichtet zu lesen bekommen.

• Besonders überzeugend sind dabei die vielfäl-tigen Querbezüge zwischen Alltagskultur und me-dial-diskursvier Repräsentation, die die Einseitig-keiten der „Alltagsgeschichte“ wie auch der Ideen-geschichte kunstvoll hinter sich lassen.

• „Medienereignisse“ werden auf den verschie-densten Ebenen von der intellektuellen Speku-lation bis zur handfesten Vermarktung entfaltet:

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• So zeigt Gumbrecht beispielsweise, wie die spektakuläre Ausgrabung der Mumie Tutench-amuns nicht nur zu vielfältigen Spekulationen über vorchristliche Kulturen, sondern auch zu einer regelrechten Welle der Kleidermode mit Tutenchamun-Motiven führte.

• Und ähnliches galt für den Kult um Josephine Baker, der nicht nur die theatralischen Phanta-sien von Intellektuellen wie Max Reinhardt ent-zündete, sondern sich auch in hohen Ver-kaufszahlen von Pomade, Platten und Puppen niederschlug.

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• Gumbrechts Experiment in historischer Gleich-zeitigkeit kann etwa dazu führen, das wiederhol-te Vorkommen von Topoi empirisch festzustel-len und auf diese Weise richtungsweisende Themen einer Zeit oder Epoche zu erkennen.

• Lindner meint, wir können diese Themen als „kulturelle Themen“ bezeichnen, die einer be-stimmten Zeit Kontur verleihen. Man soll aber nicht der Versuchung erliegen, ein Phänomen nur als typisch für eine Zeit zu betrachten und es unmittelbar aus den Zeitumständen abzulei-ten, sondern es muss als auf verwickelte Weise in die Zeit verstrickt gesehen werden.

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• Daher stehen im Mittelpunkt der Kulturanalyse Konstellationen, bei denen soziale, kulturelle und biographische Komponenten auf eine zeitspezi-fische Weise zusammen treffen. Diese Konstella-tionen gilt es sichtbar zu machen und ihre Logik nachzuzeichnen.

• Kulturanalyse ist also eine Feld-Analyse bei der kulturelle Komplexe untersucht werden. Feld-Ana-lyse ist dabei ein methodologisches Prinzip, das auf den ersten Blick unkonventionelle Wege geht.

• Gumbrecht hat für sein vorher vorgestelltes Buch über 1926 etwa nicht nur alte Zeitungen und Bü-cher durchgesehen, was ja üblich ist.

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• Er hat sich ebenfalls die zeitgenössischen Jazz-produktionen angehört, die Stummfilme gesehen, Sportarten näher betrachtet usw.

• Kulturanalyse bedeutet in einem gewissen Sinn also Hingabe. Wir müssen uns in einen Gegen-stand „hineinbegeben“ und das Thema und den Gegenstand, dem wir uns widmen, auf Zeit leben.

• Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Kulturanaly-se im umfassenden Sinn bedeutet, seine Sinne völlig zu öffnen. Der Forscher muss sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Er oder sie muss ständig auf der Fährte sein, Quellen aufspüren, an nichts anderes als an seinen Gegenstand denken.

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• Nach Lindner muss der Forscher „sich heranpir-schen an seinen Gegenstand, ihn umkreisen, ihn durchdringen, ihm auf verquere Weise be-gegnen, ihm zuweilen die kalte Schulter zeigen, um aus seinem Gegenteil, dem Antipoden, neue Anregungen zu gewinnen. Er wird dem Gegen-stand, wenn er sich diesem in totaler Weise überlässt, an den unmöglichsten Stellen begeg-nen: auf dem Flohmarkt, im Kino, beim Spiel; in Kleinanzeigen, auf Comicseiten, in Videoclips; beim Musikhören, Prospekte lesen, Zeitschriften blättern.“

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• Nur wenn wir dies beherzigen, ist auch der Weg für den so genannten Zufallstreffer geebnet, für die Erfahrung der Serendipity.

• In den Kultur- und Sozialwissenschaften bedeu-tet Serendipity die Fähigkeit, etwas zu finden, was man nicht gesucht hat – eine zufällige Be-obachtung von etwas, das gar nicht das ur-sprüngliche Ziel einer Untersuchung war, das sich bei einer genauen Analyse aber als neue und überraschende Entdeckung erweist.

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• Aber auch wenn sicherlich viele wichtige Ent-deckungen auf diese Weise gemacht wurden (Amerika, Penicillin, Röntgenstrahlen), reicht das Warten auf den Zufall nicht aus. Vielmehr ist es nötig, sich für Neues zu öffnen, einen ge-wissen Forschergeist und Entdeckerfreude zu entwickeln.

• Rolf Lindner/Johannes Moser (Hg.): „Dresden. Ethnographische Erkundungen einer Residenz-stadt“. Leipzig: LUV 2006.

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• Set von historischen und gegenwartsbezogenen Methoden und eine Fülle von Quellen: Archivstu-dien, teilnehmende Beobachtung und „reine“ Be-obachtung, Fragebogenerhebung, Interviews, Ex-pertengespräche und Wahrnehmungsspaziergän-ge zählten ebenso dazu wie die Lektüre von Zeit-schriften, Romanen, Marketingschriften, Werbun-gen, Annoncen, wissenschaftlichen Studien, Auto-biografien, Werksbesichtigungen, Ausstellungsbe-suche, das Sichten von Filmen und Filmmaterial.

• Zu Beginn der Forschung haben wir ein kleines „Spiel mit Bourdieu“ durchgeführt.

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• Befragung von 515 Studierenden der Europäi-schen Ethnologie nach den „Eigenschaften“ von acht deutschen Städten: Berlin, Dresden, Essen, Frankfurt a.M., Hamburg, Leipzig, München und Stuttgart

• „Eigenschaften“: dynamisch, abweisend, konser-vativ, ordinär, freundlich, bieder, multikulturell, schön, aggressiv, alternativ, gemütlich und fleißig

• Eigenschaftslistenverfahren (adjective selection technique) der Psychologen Daniel Katz und Kenneth W. Braly zur Messung von Stereotypen

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Berlin Dresden Essen Frankfurt am Main

Hamburg Leipzig München Stuttgart

Dyna-misch

abwei-send

konser-vativ

ordinär

Freund-lich

bieder

multi-kulturell

schön

aggressiv

alternativ

Gemüt-lich

fleißig

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Einführung in die Europäische Ethnologie 55

• Der Versuch zeigt, dass sich gerade in der Kon-figuration von Eigenschaftszuschreibungen so-wohl in Bezug auf eine Stadt als auch im Städte-vergleich etwas über diese Stadt „verrät“, so wie Stereotypen generell etwas verraten.

• Von Dresden herrschte ein besonders klares Bild. Es erreicht sieben „erste Plätze“ bei den positiven und negativen Antworten zu den abgefragten Ei-genschaften. Damit rangiert es noch vor Berlin, das bei sechs Eigenschaften am häufigsten ge-nannt wird. Weit dahinter folgen Essen, Frankfurt am Main und München, die bei jeweils drei Eigen-schaften die Spitzenpositionen einnehmen.

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München konservativ, bieder nicht: alternativ

Berlin multikulturell, dynamisch, alternativ

nicht: konservativ, bieder, fleißig

Dresden schön, freundlich, gemütlich

nicht: ordinär, aggressiv, multikulturell, dynamisch

Frankfurt am Main

aggressiv nicht: freundlich, gemütlich

Essen abweisend, ordinär nicht: schön

Hamburg nicht: abweisend

Stuttgart fleißig

Diagramm 2: Eigenschaften, bei denen die Orte jeweils die meisten Nennungen erhielten

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Einführung in die Europäische Ethnologie 57

• Aussagekräftig wird dieses Spiel mit den Platzie-rungen jedoch erst, wenn wir die Spitzenplätze bündeln und sehen, ob sich daraus relativ kohä-rente Zuschreibungen an Orte ablesen lassen.

• Dresden gilt als schön, freundlich und gemütlich sowie als nicht ordinär, nicht aggressiv, nicht mul-tikulturell. München zum Beispiel als konservativ, bieder und nicht alternativ. Berlin wiederum gilt als dynamisch, multikulturell und alternativ, als nicht konservativ, nicht bieder und nicht fleißig.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 58

• Bei dieser „Clusterung“ der Eigenschaften wird besonders deutlich, über welch klar ausgeprägte Images manche Städte verfügen. Auf der einen Seite das schöne Dresden oder München mit den weiteren zu einer Residenzstadt passenden Ka-tegorien, auf der anderen Seite die dynamische Metropole Berlin, mit der ebenfalls die entspre-chenden Eigenschaften korrespondieren.

• Ähnlich ist das bei weiteren Städten: Essen als Ruhrgebietsstadt wird als abweisend, ordinär und nicht schön eingeschätzt. Frankfurt/Main gilt als aggressiv, nicht freundlich und nicht gemütlich.

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München konservativ, schön, bieder nicht: alternativ, aggressiv, ordinär

Berlin multikulturell, dynamisch, alternativ

nicht: konservativ, bieder, gemütlich

Dresden schön, freundlich, gemütlich nicht: ordinär, aggressiv, abweisend

Essen abweisend, fleißig, ordinär nicht: schön, gemütlich, dynamisch

Frankfurt/M

dynamisch, multikulturell, fleißig

nicht: gemütlich, schön, freundlich

Hamburg multikulturell, dynamisch, schön

nicht: abweisend, bieder, konservativ

Leipzig schön, freundlich, gemütlich nicht: abweisend, aggressiv, ordinär

Stuttgart fleißig, konservativ, freundlich

nicht: aggressiv, abweisend, alternativ

Diagramm 3: Die drei Eigenschaften mit jeweils höchster Zustimmung bei den jeweiligen Städten

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• Es gibt zwei gängige, stereotype Charakterisie-rungen oder Klischees von Dresden, die eine ist die Bezeichnung von Dresden als „Elbflorenz“, die andere ist die Rede von Dresden als „Residenz-stadt“. Mit beiden Charakterisierungen wird eine große Vergangenheit der Stadt als noch oder wie-der erfahrbar behauptet, eine Vergangenheit vor allem der höfischen Pracht.

• Klischees und Stereotypen sind geläufige Reprä-sentationen der Besonderheit und Differenz (hier einer Stadt), die aus der Wiederholung und Va-riation eines Grundthemas oder Topos resultieren.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 61

• Daraus ergibt sich eine „kumulative Textur“, wie der Soziologe Gerald D. Suttles den Prozess der sich aufschichtenden Textbausteine städtischer Repräsentation bezeichnet hat.

• Auch in unserem Projekt haben wir zu einer solchen kumulativen Textur beigetragen, wenn wir Bezug auf das Bild Dresdens als „Residenzstadt“ nehmen. Damit sollte die Frage aufgeworfen werden, ob sich die Geschichte Dresdens als Residenzstadt, verstanden als ein Phänomen der longue durée, nicht tatsächlich in den Habitus der Stadt und ihrer Bewohner im wahrsten Sinne des Wortes eingegraben hat.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 62

• Es geht um eine Anthropologie der Stadt, die es sich zur Aufgabe macht, die jeweilige Individualität von untersuchten Städte sichtbar zu machen.

• Bei früheren Stadtforschungen wurde meist ver-sucht, die ethnologischen Perspektiven und For-schungswerkzeuge in der Stadt zur Anwendung zu bringen, ohne den städtischen Raum selbst als Bedingungsrahmen für die untersuchten Artikula-tions- und Handlungsformen zu berücksichtigen.

• Im Dresden-Projekt sollte nicht nur das Spezifi-sche am Gebilde ‚Stadt’, sondern auch die spezifi-sche Stadt in den Blick genommen werden.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 63

• Es geht also um die spezifische Stadt, um das, was Urbanisten wie Dieter Hoffmann-Axthelm, als ‚Stadtindividuum’ bezeichnen.

• Die Stadt als Ganzes bildete das eigentliche Untersuchungsobjekt.

• Ausgangspunkt war das Klischee von der fort-dauernden Residenzstadt, weil wir der Auffassung waren, dass der ehemalige Status der Residenz-stadt bis heute wirkmächtig geblieben ist.

• Was bedeutet aber eigentlich „Residenzstadt“? Ein guter Ausgangspunkt ist nach wie vor die Stadttypologie von Max Weber.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 64

• Weber unterschied die Großkategorien „Konsu-mentenstadt“, „Produzentenstadt“ und „Händler-stadt“ bzw. „Handelsstadt“.

• Dabei handelt es sich um eine Kategorisierung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, die Folgen für den Charakter der Stadt hat.

• Eine Produzentenstadt ist für Weber eine solche, die eben von Fabriken und produzierendem Gewerbe abhängig ist – heute würden wir sagen Industriestadt.

• Bei einer Händlerstadt beruht „die Kaufkraft ihrer Großkonsumenten darauf (…), dass sie fremde oder heimische Produkte handeln“.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 65

• Der dritte Typ nun ist die Konsumentenstadt, bei der die Erwerbschancen der Gewerbetreibenden und Händler von der Ansässigkeit von Großkon-sumenten an Ort und Stelle abhängig ist.

• Der Sozialanthropologe Ulf Hannerz hat die Webersche Typologie gewissermaßen als Para-phrase aufgegriffen, indem er Courttown (also Fürstenstadt), Commercetown (also Handels-stadt) und Coketown (also Industriestadt) als die drei wesentlichen historischen Formen des Urba-nismus unterschied.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 66

• Mit dieser Typologie ist auf synchroner Betrach-tungsebene ein erster, recht grober Verweis auf den jeweilig stadtprägenden Sektor der Ökonomie (Luxuskonsum, Handel, Industrie) gegeben.

• Diese ökonomische Perspektive muss in Fall-analysen differenziert und konkretisiert werden. Es macht nämlich einen grundlegenden Unter-schied aus, ob in Commercetown mit Geld oder Ideen gehandelt wird oder ob Coketown durch die alten Industrien oder durch die neuen Technolo-gien gekennzeichnet ist.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 67

• Der stadtprägende Sektor der Ökonomie schlägt sich als prägender nicht nur in entsprechenden gewerblichen und verwaltungstechnischen Ein-richtungen nieder, sondern auch in Konsum-, Kul-tur- und Freizeiteinrichtungen, die den Bedürfnis-sen, Interessen und Artikulationsformen der damit verbundenen Akteure entsprechen.

• Eine Stadt, deren Großkonsumenten Industriear-beiter sind, weist ein anderes Ambiente, eine an-dere Atmosphäre auf als eine Stadt, die durch ein „Statusverbraucherethos“ wie den Verbrauch von Gütern der luxuriösen Art aus einem Repräsen-tationszwang heraus gekennzeichnet ist.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 68

• Dafür finden sich auch repräsentative Orte: für die eine Stadt etwa der Tanzschuppen (dance hall), für die andere der Ballsaal (ball room).

• In Dresden hat der Aufwand, der am kurfürstli-chen Hofe betrieben wurde, der Stadt eine be-stimmte Färbung gegeben.

• Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Elemente des höfischen Lebens in die Stadt-bevölkerung hineingetragen wurden. Das liegt unter anderem daran, dass Dresdens Einwohner an den rituellen Feierlichkeiten teil hatten (weil sie ja, aus Repräsentationszwang, nicht zuletzt auch für sie gedacht waren).

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Einführung in die Europäische Ethnologie 69

• Eine Residenzstadt zu sein, bedeutet zunächst einmal, dass sich das ganze wirtschaftliche und soziale Leben der Stadt um die Ansprüche und Kapricen des Hofes dreht, Ansprüche und Kapri-cen, die sich nicht zuletzt in der Repräsenta-tionskultur und im Luxuskonsum artikulieren.

• Wenn wir uns die Entwicklung des Dresdner Handwerks und Gewerbes ansehen, so kann von einer höfisch geprägten Eigenart des Dresdner Handwerks- und Wirtschaftslebens gesprochen werden, in der das Kunsthandwerk und die Bereit-stellung von Genussmitteln eine besondere Be-deutung hatten.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 70

• Wie die Residenz die Stadt prägt und es reprä-sentative Orte gibt, existieren typische Berufe.

• Gehen wir von einer spezifischen Prägung von Städten aus, so korrespondieren damit eben auch typische Berufe oder Berufskulturen.

• Werner Schiffauer hat den Städten vier Idealtypen von Berufskulturen zugeordnet, weil durch den je-weiligen Städtetyp eine jeweils dominante Gruppe definiert werde.

• Für eine Industriestadt ist demnach die Berufs-kultur des Kollektivs typisch, die sich durch re-lative Homogenität auszeichne.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 71

• In einer Handelsstadt dominiere eine individualisti-sche Berufskultur, die aus der Konkurrenzsitua-tion der handelnden Akteure resultiere. Es herr-sche weniger Anpassung als in anderen Städtety-pen und die Kunst der Selbstinszenierung sei wichtiger als in anderen Berufskulturen.

• Für Dresden als Residenz- und Verwaltungsstadt trifft Schiffauers Beschreibung einer hierarchi-schen Berufskultur zu, die eine Identifikation mit dem Ganzen aufweist.

• Historisch waren die typischen Berufe in Dresden die Beamten, der Adel, das Militär und die politisch einflussreichen Hausbesitzer.

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Wiener Fiaker

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Berliner Eckensteher

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Münchner Kellnerin: „Die schöne Coletta“ von Toni Aron

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Königl. Porte-Chaisenträger in Dresden

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Einführung in die Europäische Ethnologie 76

• Im Dresden-Projekt wurde von der kulturanalyti-schen Überlegung ausgegangen, dass sich die Besonderheiten einer Stadt in einer charakteris-tischen Geschmackslandschaft verdichten, wel-che die Atmosphäre der Stadt bestimmt.

• Geschmackslandschaften gewinnen ihr charakte-ristisches Gepräge durch das Zusammenspiel der sie konstituierenden Elemente, die in Wechselwir-kung zueinander stehen, auseinander hervorge-hen und sich aufeinander beziehen.

• Dies lässt sich im wirtschaftlichen Bereich verfol-gen, wofür die Wirtschaftswissenschaften Begriffe wie „Pfadabhängigkeit“ oder Synergieeffekt entwi-ckelt hat.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 77

• Die Genussmittelindustrie hat etwa zu einem Bild beigetragen, das auch andere Produkte den Charakter des Genusses erhielten.

• Was beim Konzept der Geschmackslandschaft betont wird, ist die Vorstellung einer prästabili-sierten Harmonie von Geschmacksorientierungen, ästhetischen Präferenzen und stilistischen Kon-ventionen, bei der das eine zum anderen passt, das eine mit dem anderen auf angenehme Weise übereinstimmt, mit ihm ‚korrespondiert’, durchaus im doppelten Wortsinne.

• In der Dresdenspezifischen Malerei wird dies ebenso deutlich wie in der Literatur.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 78

• Dresden bildete eine Geschmackslandschaft, die von Verfeinerungen in Handwerk, Gewerbe und in den Künsten, durchzogen war, weshalb das Habi-tus-Konzept von Bourdieu auch in der Stadtana-lyse mit Gewinn Anwendung finden kann.

• Mit dem Konzept Habitus ist immer ein Hinweis darauf verbunden, dass unser Handeln nicht vor-aussetzungslos ist. Stets ist damit etwas bio-graphisch Erworbenes und geschichtlich Gewor-denes gemeint, das das Handeln insofern leitet beziehungsweise kanalisiert, als es etwas Be-stimmtes aufgrund von Geschmack, Neigungen und Vorlieben, kurz: „Dispositionen“ nahe legt.

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Einführung in die Europäische Ethnologie 79

• Übertragbar wird der Habitus-Begriff freilich nur dann, wenn wir voraussetzen , dass auch Städte Individuen sind, mit einer eigenen Biographie, mit einer eigenen Sozialisation und mit ihr eigenen Mustern der Lebensführung.

• Der Nutzen des Habitus-Konzepts scheint vor al-len Dingen darin zu bestehen, dass man mit ihm jene Konstanz der Dispositionen, des Ge-schmacks, der Präferenzen erklären kann, die sonst so schwierig zu erläutern ist.

• Nirgendwo wird die Konstanz, ja die Hartnäckig-keit deutlicher als in den Schwierigkeiten, die der Versuch bereitet, das Image einer Stadt oder besser: ihre verinnerlichten Muster zu verändern.