Einstellungen, Sozialräume und Wandlungsprozesse

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219 | Prävention und Gesundheitsförderung 4 · 2013 Editorial Das Paradigma der sozialen Determinan- ten der Gesundheit [2] führt eine Diskus- sion fort, die Soziologen schon seit gerau- mer Zeit bemühen. In den 1980er Jah- ren hat Bourdieu [1] sehr eindrucksvoll gezeigt, dass das Aufwachsen in Lebens- bedingungen bestimmter sozialer Klas- sen automatisch und unbewusst Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungssche- mata im Alltagsverhalten entstehen lässt. Dieser „Habitus“ äußert sich auch in klas- senspezifischen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen wie Sport oder Ernäh- rung – ein Befund, der seither von Sozial- epidemiologen vielfach repliziert wurde. Zu einer ähnlichen Zeit hat die Weltge- sundheitsorganisation entsprechend pos- tuliert, dass zur Gesundheitsförderung nicht nur gehört, persönliche Kompeten- zen zu entwickeln, sondern auch, gesund- heitsförderliche Lebenswelten zu schaffen [3]. Der Anspruch, die Lebenswelten und Sozialräume der Menschen in Prävention und Gesundheitsförderung zu berück- sichtigen, ist in der Praxis angekommen. Dies äußert sich in Aktivitäten wie dem bundesweiten Kooperationsverbund „Ge- sundheitliche Chancengleichheit“ (http:// www.gesundheitliche-chancengleichheit. de), der die Bedeutung von zielgruppen- sensiblen und settingbasierten Interven- tionen als Kriterium guter Prävention und Gesundheitsförderung unterstreicht. Dennoch gibt es viele offene Punkte. Es muss weiterhin gefragt werden, wel- che Einstellungen in spezifischen Bevölke- rungsgruppen zu ausgewählten Gesund- heitsthemen bestehen, wie Interventionen zu Gunsten besonderer Zielgruppen und in den verschiedenen Settings effektiv sein können und wie sich der soziale Wandel auf diese Aspekte auswirkt. Auf einige dieser Fragen geben die Beiträge der vor- liegenden Ausgabe eine Antwort. Einstellungen in Bevölkerungsgruppen Vor dem Hintergrund des Anstiegs se- xuell übertragbarer Infektionen bei Ju- gendlichen stellen Saskia Pöttgen und Florence Samkange-Zeeb den diesbezüg- lichen Kenntnisstand von Schülerinnen und Schülern dar, wobei sie insbesondere den Einfluss des Migrationshintergrunds berücksichtigen. Welche Einstellungen zu Gesundheit und Wohlbefinden in jugendlichen Le- benswelten bestehen überhaupt und wie können diese Einstellungen an Entschei- dungsträger herangetragen werden? Die- ser Frage nähern sich Benjamin Marent und Johannes Marent mittels eines parti- zipativen Forschungsansatzes. Im Zusammenhang mit sozialen Un- gleichheiten des Ernährungsverhaltens untersuchen Simone Weyers et al. anhand einer Bevölkerungsstudie, ob ausgewähl- te Ernährungseinstellungen bei Männern und Frauen sozial ungleich verteilt sind und ob sie soziale Ungleichheiten des Er- nährungsverhaltens erklären. Interventionen zu Gunsten Bevölkerungsgruppen und in Settings Gudrun Pötting und Günter Eissing über- prüfen, ob Unterrichtskonzepte, die an Grundschulen im Rahmen der Ernäh- rungsbildung eingesetzt werden, effektiv im Sinne einer Veränderung des kindli- chen Ernährungsverhaltens sein können, und sie diskutieren die Bedeutung von Verhaltensmodellen in diesem Zusam- menhang. Welche limitierenden Einflüsse kön- nen bzgl. der Wirksamkeit schulischer Programme zur Tabakprävention identi- fiziert werden? Dieser Frage gehen Peter- Michael Sack et al. im Rahmen einer Be- obachtung von Gymnasiasten und Real- bzw. Gesamtschülern nach. Am Beispiel eines Streetdance-Pro- jekts zeigt Andrea Zumbrunn, welche be- sonderen Merkmale Nutzerinnen außer- schulischer und niederschwelliger Bewe- gungsförderungsprojekte haben und wel- che zusätzlichen gesundheitsförderlichen Wirkungen diese Projekte bei ihnen ent- falten können. Klaus Hurrelmann et al. stellen anhand von drei exemplarischen Elternbildungs- programmen in Settings und mittels einer Befragung von Eltern und Programmver- antwortlichen dar, welche Programm- strukturen und -komponenten sozial be- nachteiligte und bildungsferne Mütter und Väter ansprechen und erreichen. Der Beitrag von Katrin Ahlers et al. zeigt, inwiefern fachärztlich angeleitete Informationsveranstaltungen am Arbeits- Simone Weyers Institut für Medizinische Soziologie, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, Deutschland Einstellungen, Sozialräume und Wandlungsprozesse Chancen für zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung Präv Gesundheitsf 2013 · 8:219–220 DOI 10.1007/s11553-013-0410-5 Online publiziert: 27. September 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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219| Prävention und Gesundheitsförderung 4 · 2013

Editorial

Das Paradigma der sozialen Determinan-ten der Gesundheit [2] führt eine Diskus-sion fort, die Soziologen schon seit gerau-mer Zeit bemühen. In den 1980er Jah-ren hat Bourdieu [1] sehr eindrucksvoll gezeigt, dass das Aufwachsen in Lebens-bedingungen bestimmter sozialer Klas-sen automatisch und unbewusst Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungssche-mata im Alltagsverhalten entstehen lässt. Dieser „Habitus“ äußert sich auch in klas-senspezifischen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen wie Sport oder Ernäh-rung – ein Befund, der seither von Sozial-epidemiologen vielfach repliziert wurde. Zu einer ähnlichen Zeit hat die Weltge-sundheitsorganisation entsprechend pos-tuliert, dass zur Gesundheitsförderung nicht nur gehört, persönliche Kompeten-zen zu entwickeln, sondern auch, gesund-heitsförderliche Lebenswelten zu schaffen [3].

Der Anspruch, die Lebenswelten und Sozialräume der Menschen in Prävention und Gesundheitsförderung zu berück-sichtigen, ist in der Praxis angekommen. Dies äußert sich in Aktivitäten wie dem bundesweiten Kooperationsverbund „Ge-sundheitliche Chancengleichheit“ (http://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de), der die Bedeutung von zielgruppen-sensiblen und settingbasierten Interven-tionen als Kriterium guter Prävention und Gesundheitsförderung unterstreicht.

Dennoch gibt es viele offene Punkte. Es muss weiterhin gefragt werden, wel-che Einstellungen in spezifischen Bevölke-rungsgruppen zu ausgewählten Gesund-heitsthemen bestehen, wie Interventionen

zu Gunsten besonderer Zielgruppen und in den verschiedenen Settings effektiv sein können und wie sich der soziale Wandel auf diese Aspekte auswirkt. Auf einige dieser Fragen geben die Beiträge der vor-liegenden Ausgabe eine Antwort.

Einstellungen in Bevölkerungsgruppen

Vor dem Hintergrund des Anstiegs se-xuell übertragbarer Infektionen bei Ju-gendlichen stellen Saskia Pöttgen und Florence Samkange-Zeeb den diesbezüg-lichen Kenntnisstand von Schülerinnen und Schülern dar, wobei sie insbesondere den Einfluss des Migrationshintergrunds berücksichtigen.

Welche Einstellungen zu Gesundheit und Wohlbefinden in jugendlichen Le-benswelten bestehen überhaupt und wie können diese Einstellungen an Entschei-dungsträger herangetragen werden? Die-ser Frage nähern sich Benjamin Marent und Johannes Marent mittels eines parti-zipativen Forschungsansatzes.

Im Zusammenhang mit sozialen Un-gleichheiten des Ernährungsverhaltens untersuchen Simone Weyers et al. anhand einer Bevölkerungsstudie, ob ausgewähl-te Ernährungseinstellungen bei Männern und Frauen sozial ungleich verteilt sind und ob sie soziale Ungleichheiten des Er-nährungsverhaltens erklären.

Interventionen zu Gunsten Bevölkerungsgruppen und in Settings

Gudrun Pötting und Günter Eissing über-prüfen, ob Unterrichtskonzepte, die an Grundschulen im Rahmen der Ernäh-rungsbildung eingesetzt werden, effektiv im Sinne einer Veränderung des kindli-chen Ernährungsverhaltens sein können, und sie diskutieren die Bedeutung von Verhaltensmodellen in diesem Zusam-menhang.

Welche limitierenden Einflüsse kön-nen bzgl. der Wirksamkeit schulischer Programme zur Tabakprävention identi-fiziert werden? Dieser Frage gehen Peter-Michael Sack et al. im Rahmen einer Be-obachtung von Gymnasiasten und Real- bzw. Gesamtschülern nach.

Am Beispiel eines Streetdance-Pro-jekts zeigt Andrea Zumbrunn, welche be-sonderen Merkmale Nutzerinnen außer-schulischer und niederschwelliger Bewe-gungsförderungsprojekte haben und wel-che zusätzlichen gesundheitsförderlichen Wirkungen diese Projekte bei ihnen ent-falten können.

Klaus Hurrelmann et al. stellen anhand von drei exemplarischen Elternbildungs-programmen in Settings und mittels einer Befragung von Eltern und Programmver-antwortlichen dar, welche Programm-strukturen und -komponenten sozial be-nachteiligte und bildungsferne Mütter und Väter ansprechen und erreichen.

Der Beitrag von Katrin Ahlers et al. zeigt, inwiefern fachärztlich angeleitete Informationsveranstaltungen am Arbeits-

Simone Weyers Institut für Medizinische Soziologie, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, Deutschland

Einstellungen, Sozialräume und Wandlungsprozesse

Chancen für zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung

Präv Gesundheitsf 2013 · 8:219–220DOI 10.1007/s11553-013-0410-5Online publiziert: 27. September 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Editorial

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platz Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Inanspruchnahme des Hautkrebs-screenings und zur Verhaltensänderung gegenüber bekannten Risikofaktoren mo-tivieren.

Wie sich das 2008 eingeführte Rauch-verbot in der Gastronomie hinsichtlich des Besuchs von Restaurants und Knei-pen auswirkt und welche Konsequenzen aus der Verfügbarkeit von Raucherknei-pen erwachsen, stellt Karl-Heinz-Reu-band anhand einer repräsentativ angeleg-ten Umfrage dar.

Sozialer Wandel

Angesichts der demographischen Al-terung, der Verlängerung der Lebens-arbeitszeit und der Dominanz von Mus-kel-Skelett-Erkrankungen bei berufli-chen Fehlzeiten stellt sich die Frage, wel-che Rolle die körperliche Leistungsfähig-keit bei der subjektiven Gesundheit älte-rer Beschäftigter spielt. Dies untersucht Filip Mess in einem Betrieb der Metall-industrie.

Sandro Hänseroth et al. evaluieren, in-wiefern medizinische Laien für gegebene Schulterschmerzsymptome eine genauere Diagnose stellen können, wenn sie bei der Internetrecherche durch ein prototypi-sches Expertensystem unterstützt werden.

Martin Hafen diskutiert schließlich, welche ethischen Fragen sich nicht nur für aktuell heftig diskutierte Themen stel-len wie etwa Gendiagnostik zur Verhin-derung von Krankheiten, sondern auch für „alltägliche“ Präventionsmaßnahmen wie der Einführung von Gesetzen zur Ein-schränkung des Rauchens oder Bewer-bung von Alkoholika.

Dass sich Wissenschaftlerinnen in Ber-lin und Zittau, in Hamburg und Bremen, im Rheinland und im Ruhrgebiet, in Vor-arlberg und der Schweiz ähnliche Fragen stellen, verweist abermals auf die ubiqui-täre Relevanz der sozialen Determinanten der Gesundheit und folglich der Präven-tion und Gesundheitsförderung.

Dr. Simone Weyers

Korrespondenzadresse

Dr. phil. S. WeyersInstitut für Medizinische Soziologie, Heinrich- Heine-Universität Universitätsstraße 1 40225 Düsseldorf [email protected]

Literatur

1. Bourdieu P (1982) Die feinen Unterschiede. Kri-tik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main

2. Dahlgren G, Whitehead M (1991) Policies and stra-tegies to promote social equity in health. Institute for Future Studies, Stockholm

3. Weltgesundheitsorganisation (1986) Ottawa Char-ter for Health Promotion. WHO, Genf