Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS...

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Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik www.perspektive21.de Heft 17 • Dezember 2002 + 4,6 % SPD PDS -4,8 % Ostdeutschland Bundestagswahl 22. September 2002 Foto: Christian Fischer/ddp

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www.perspektive21.de Heft 17 • Dezember 2002

+ 4,6 %

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-4,8 %

OstdeutschlandBundestagswahl 22. September 2002

Foto: Christian Fischer/ddp

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„Ich würdemich auch wehren...“

Antisemitismus und Israel-Kritik –Bestandsaufnahme nach Möllemann

160 Seiten, Paperback, ISBN 3-936130-04-3, 12,80 €

Die Bestandsaufnahme namhafter Autoren in diesem Buch wirft Schlag-lichter auf die wichtigsten Teile der Möllemann-Debatte, sie erklärt Hin-tergründe und Zusammenhänge, ohne wissenschaftlich abstrakt zu wer-den und sie ist eine klare Meinungsäußerung gegen antisemitischenPopulismus. Spätestens nach Möllemanns Ausspruch, Israels Ministerpräsident Scharonund der jüdische Journalist Michel Friedman selbst förderten Antisemitis-mus, werden sich viele Juden in diesem Land gewünscht haben, einegrößere Zahl ihrer nicht-jüdischen Mitbürger hätte ihnen ermutigendzugerufen: „Ich würde mich auch wehren“. Dieses Buch soll nicht zuletztso ein Zuruf sein.

„Das Echo, das Möllemann mit seinen Anwürfen gegen Paul Spiegel undMichel Friedman erzeugt hat, ist nach wie vor enorm. Porzellan ist zer-schlagen worden, und zwar mutwillig und vorsätzlich. Das Vertrauenwieder herzustellen, wird deshalb nicht einfach sein.“

Julius H. Schoeps

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Vorwort 3

ThemaManfred Güllner 5Die PDS ohne Zukunft?

Albrecht von Lucke 11Das Verschwinden der PDS

Thomas Falkner 15Sozialisten im Abseits?

Gero Neugebauer 29Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

Klaus Ness 39Verrückte Welt in Potsdam?

Lars Krumrey 49„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“

Christian Maaß 57Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche

Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

MagazinMordechay Lewy 67Orient und Okzident: Zwischen Schuldzuweisung und Schuldbekenntnis

Klaus Faber 81Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung – europäische und

amerikanische Orientierungsprobleme gegenüber Nationalitätenkonflikten

Inhalt

Ende der Nachwendezeit.PDS am Ende?

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Impressum

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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg

RedaktionKlaus Ness (ViSdP)

Benjamin Ehlers

Klaus Faber

Klara Geywitz

Lars Krumrey

Christian Maaß

Manja Orlowski

Silke Pamme

AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 61

14469 Potsdam

Telefon0331 - 200 93 – 0

Telefax0331 - 270 85 35

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„Zwölf Jahre nach der Wiedergrün-dung des Landes Brandenburg ist dieNachwendezeit abgelaufen. Die Zeit istzu Ende, die gekennzeichnet war durchden dramatischen Umbruch des Jahres1989 und seine Folgen.“

Ein Satz aus der ersten Regierungser-klärung des brandenburgischen Mini-sterpräsidenten Matthias Platzeck ausdem November 2002, der – wenn erzutrifft – einen historischen Einschnittmarkiert. Vieles spricht dafür.Wie zu sei-ner Illustration ist einen guten Monatvorher mit der PDS die Partei nicht wie-der in den Bundestag eingezogen, diedie Probleme der Nachwendezeit arti-kulierte und aus ihnen ihre Existenzbe-rechtigung, ihren „Gebrauchswert“ fürdie Menschen in Ostdeutschland, zog.

Profitiert vom Scheitern der PDS hatim Osten – und letztlich in Gesamt-deutschland – die SPD. Rotgrün unterGerhard Schröder kann weiter regieren.Ein Ergebnis, das Beobachter noch gutzwei Monate vor dem Wahltag nicht fürmöglich gehalten haben.

Im Schwerpunkt dieses Heftesbeschäftigen wir uns deshalb mit derFrage, ob das Ergebnis des 22. Septem-ber insbesondere im Osten Deutsch-lands auf der Linken eine Entscheidungim Parteienwettbewerb gebracht hat.Ist die PDS endgültig ein Aus-

laufmodell? Ist die SPD jetzt die einzigePartei, die im Osten strukturell mehr-heitsfähig ist? Oder kommt doch wiedereinmal alles ganz anders?

Gleich vier Autoren befassen sich ausunterschiedlicher Perspektive mit denZukunftschancen der PDS. Der Mei-nungsforscher Manfred Güllner siehtfür die PDS nur noch eine mittelfristigePerspektive als Regionalpartei auf kom-munaler und (ostdeutscher) Landes-ebene, der Publizist Albrecht von Luckegeht davon aus, dass die auf dem PDS-Parteitag in Gera unterlegenen Refor-mer auf lange Sicht ihre politische Hei-mat in der SPD finden werden. ThomasFalkner, bis zur Bundestagswahl ein-flussreicher Grundsatzreferent beimPDS-Parteivorstand, kommt in seinemdifferenzierten und anregenden Beitragzu dem Schluss, dass es in der PDSgegenwärtig eine Renaissance einesNeokommunismus gibt, der die Parteiendgültig ins Abseits bringt.

Der Politikwissenschaftler Gero Neu-gebauer, langjähriger Beobachter derPDS, knüpft an die Frage des „Ge-brauchswertes“ der Partei für die Wäh-lerinnen und Wähler an. Er geht davonaus, dass die Bedingungen, die denErfolg der PDS in der ersten Hälfte der90er Jahre begünstigt haben, erloschenund nicht rekonstruierbar sind. Der

Vorwort

3

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“!

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neue Zweck der PDS ist (noch?) nichterkennbar. Abgerundet wird dieserBereich durch eine Studie über die Ver-änderung des Wahlverhaltens in derPDS-Hochburg Potsdam zwischen 1990und 2002, die einige Thesen dergenannten Beiträge illustriert.

Lars Krumrey und Christian Maaßwenden sich in ihren Beiträgen derFrage zu, was und wie die SPD im Ostenetwas aus ihren neuen Chancen nachdem Wahlfiasko der PDS machen kann.In ihren Beiträgen schimmert an ver-schiedenen Stellen die Debatte durch,was denn nun eigentlich auf die Nach-wendezeit folgt.

Ist die Zeit des Nachahmens desWestens vorbei? Folgt jetzt ein neuesostdeutsches Selbstbewusstsein? Wirdder Osten, werden die Ostdeutschen garzur Avantgarde? Zeigen sich im Ostengesellschaftliche Entwicklungen, vondenen der Westen lernen kann, ja sogarmuss?

Fragen, die provozieren und im Au-genblick auch noch sehr viele Antwor-ten, die wieder neue Fragen aufwerfen.Aber eine Debatte, die auch von einerneuen Generation Ostdeutscher zuneh-mend selbstbewusst und ohne jeglichesJammern geführt wird. Jana HenselsErfolgsbuch „Zonenkinder“, WolfgangEnglers „Die Ostdeutschen als Avant-garde“ und andere Neuerscheinungenaus diesem Jahr illustrieren eine verän-derte gesellschaftliche Sicht aus demOsten. Christian Maaß gibt dieser Gene-ration in der SPD, die diese neue ost-deutsche Sicht einfordert, einenNamen: Zonenfunktionäre.

Nun ja, nur wer trommelt wirdgehört.

Ich wünsche auch dieses Mal eineanregende und spannende Lektüre.

Ihr Klaus Ness

perspektive 21 im InternetDie Hefte 1-6 und 8-16 sind im Internet unter www.perspektive21.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.

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Viele Wahlforscher waren sich zu

Beginn der 90er Jahre ziemlich sicher,

dass die PDS relativ schnell aus dem

Parteiensystem des wiedervereinten

Deutschlands verschwinden würde. Sie

wurde als ostdeutsche Milieupartei

eingesschätzt, die in dem Maße ihre

Existenzgrundlage verlieren würde, wie

sich das ostdeutsche Milieu aufgelöst.

Die ersten Wahlen nach der Wende

schienen diese These zu bestätigen.

Während die PDS bei der ersten freien

Wahl in der DDR, der Volkskammerwahl

im März 1990, noch fast 1,9 Mio. Stim-

men erhielt (bei einer Wahlbeteiligung

von über 93 %!), schrumpfte dieser

Stimmenanteil bei den Landtagswah-

len in den neuen Ländern im Laufe des

Jahres 1990 und der ersten gesamt-

deutschen Wahl im Dezember 1990 auf

rund 1 Mio. Stimmen. Der Stimmen-

schwund der PDS zwischen der Volks-

kammerwahl im März und der Bundes-

tagswahl im Dezember 1990 betrug 46

Prozent; d.h. die PDS verlor während

des Wiedervereinigungsprozesses fast

die Hälfte ihrer Wähler.

Doch seit Mitte der 90er Jahre konnte

von einem schnellen Verschwinden der

PDS aus der Parteienlandschaft nicht

mehr die Rede sein. So kam die PDS

bereits bei der Bundestagswahl 1994 im

Gebiet der neuen Bundesländer

(einschließlich Ost-Berlin) auf knapp 1,7

Mio. Stimmen und erreichte damit fast

ihr Potential vom März 1990. Und bei

der Bundestagswahl 1998 erhielt die

PDS mehr Stimmen (über 2 Mio.) als bei

der Volkskammerwahl 1990 (ein Stim-

menplus von 11 Prozent).

Noch bei der Abgeordnetenhaus-

wahl in Berlin im Oktober 2001 konnte

die PDS im Ost-Teil der Stadt fast

36.000 Stimmen oder 12 Prozent mehr

gewinnen als bei der Volkskammer-

wahl 1990.

Das Abschneiden der PDS bei der

Berliner Abgeordnetenhauswahl wur-

de allerdings weithin recht oberfläch-

lich interpretiert, so als habe die Hälfte

der Wahlbürger im Ost-Teil Berlins der

PDS die Stimme gegeben. Zwar hatte

die PDS in der Tat 47,6 Prozent der

abgegebenen gültigen Stimmen er-

reicht, doch bei einer Wahlbeteiligung

von rund 64 Prozent waren dies bezo-

gen auf alle wahlberechtigten Ost-Ber-

liner nur 30,3 Prozent. D.h. 70 Prozent

5

Die PDS ohne Zukunft?von Manfred Güllner

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der Ost-Berliner gaben auch im Okto-

ber 2001 ihre Stimme nicht der PDS.

Dennoch konnte die PDS noch im

Herbst 2001 darauf hoffen, dass sie ihr

durch die Volkskammerwahl 1990 bei

einer extrem hohen Wahlbeteiligung

markiertes Wählerpotential weiterhin

nicht nur ausschöpfen, sondern weiter

ausbauen könnte.

Dies aber geschah bei der Bundes-

tagswahl am 22. September 2002 nicht.

Die PDS erhielt in den neuen Ländern

(einschließlich Ost-Berlin) weniger als

1,5 Mio. Stimmen. Das waren 580.000

Stimmen weniger als bei der vorherge-

henden Bundestagswahl im September

1998. In vier Jahren ging der Stimmenan-

teil der PDS somit um 28 Prozent zurück.

Der Wählerschwund der PDS zwi-

schen 1998 und 2002 fiel dabei in den

einzelnen neuen Bundesländern

unterschiedlich aus: Den größten

Rückgang gab es in Mecklenburg-Vor-

pommern mit einem prozentualen

Verluste von 39 Prozent, den gering-

sten in Brandenburg mit 19 Prozent.

Ein Blick auf die längerfristige Entwick-

lung der PDS-Anteile zeigt ebenfalls

deutliche Unterschiede zwischen den

einzelnen neuen Ländern. So ging der

PDS-Anteil in etwas mehr als einem Jahr-

zehnt zwischen 1990 (Volkskammer-

wahl) und 2002 (Bundestagswahl) in den

neuen Bundesländern insgesamt

(einschließlich Ost-Berlin) um 20 Pro-

zent zurück. Dabei war wiederum in

Mecklenburg-Vorpommern mit einem

Rückgang von 47 Prozent der größte

Wählerschwund der PDS zu verzeichnen.

In Thüringen hingegen lag der Stimmen-

anteil der PDS 2002 entgegen dem allge-

meinen Trend sogar über dem von 1990.

Wählerschwund der PDS zwischen 1998 und 2002 *)

neue Länder insgesamt (einschließlich Ost-Berlin) - 28 %

Mecklenburg-Vorpommern - 39 %

Sachsen-Anhalt - 38 %

Thüringen - 27 %

Sachsen - 27 %

Brandenburg - 19 %

Ost-Berlin - 23 %

*) Prozentualer Rückgang der PDS-Stimmen bei der Bundestagswahl 2002 im Vergleich zur

Bundestagswahl 1998

Manfred Güllner

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Auffällig ist, dass das Potential von

PDS-Wählern in den beiden CDU-

dominierten Ländern Sachsen und

Thüringen im letzten Jahrzehnt nur

leicht zurückgegangen ist (in Sachsen)

oder sogar zugenommen hat (in

Thüringen). Und während 1990 in

Mecklenburg-Vorpommern noch fast

doppelt so viele Wahlberechtigte der

PDS ihre Stimme gaben wie in Thürin-

gen, war der PDS-Anteil (auf der Basis

der Wahlberechtigten berechnet) 2002

in Thüringen und Sachsen größer als in

Mecklenburg-Vorpommern.

Der bei der Bundestagswahl 2002 zu

verzeichnende deutliche Rückgang des

PDS-Stimmenanteils in den neuen Län-

dern ist jedoch – wie schon der Hin-

weis auf das Ergebnis der Abgeordne-

tenhauswahl in Berlin 2001 zeigt – kein

langfristiger Trend, sondern eine erst

im Verlauf des Wahljahres 2002 zu

beobachtende Entwicklung.

Dies zeigt die folgende Übersicht der

von forsa seit Januar 2001 ermitelten

Wählerpotentiale für die PDS:

Die PDS ohne Zukunft?

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Veränderungen der PDS-Anteile zwischen 1990 und 2002

PDS-Anteil*) bei der Wählerschwund **)

Volkskammer- Bundes- der PDS zwischen

wahl 1990 tagswahl- 1990 und 2002

2002

% % %

neue Länder insgesamt

(einschließlich Ost-Berlin) 15,2 12,1 - 20

Mecklenburg-Vorpommern 21,1 11,2 - 47

Sachsen-Anhalt 14,0 9,8 - 30

Brandenburg 17,0 12,5 - 27

Sachsen 12,7 11,7 - 8

Thüringen 10,7 12,5 + 17

Ost-Berlin 27,1 18,3 - 33

*) in Prozent aller Wahlberechtigten

**) Prozentualer Rückgang der PDS-Stimmen zwischen der Volkskammerwahl 1990 und der

Bundestagswahl 2002

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PDS-Wählerpotential 2001/2002 *)in den neuen Bundesländern(einschließlich Ost-Berlin)

%

2001 Januar 14

Februar 14

März 14

April 13

Mai 13

Juni 15

Juli 15

August 16

September 15

Oktober 16

November 18

Dezember 17

2002 Januar 16

Februar 15

März 17

April 15

Mai 16

Juni 14

Juli 14

August 12

September 12

*) Basis: alle Befragten (monatlich wurden

ca. 3.000 Personen befragt)

Die PDS, die bei der Bundestagswahl

am 22. September von 12 von 100 Wahl-

berechtigten gewählt wurde, lag bis

zum Juli des Wahljahres in den Umfra-

gen zum Teil deutlich über diesem Wert.

So wollten auf dem Höhepunkt der Dis-

kussion um eine deutsche Beteiligung

am Kampf gegen den Terror in Afghani-

stan im Herbst 2001 bis zu 18 von 100

Befragten in den neuen Ländern der PDS

ihre Stimme geben (Die damals von der

PDS mobilisierten antiamerikanischen

Ressentiments verhalfen denn auch der

PDS zu dem großen Wahlerfolg bei der

Abgeordnetenhauswahl in Berlin Ende

Oktober 2001). Der Anteil der Befragten,

der PDS wählen wollte, sank dann ab

Mai 2002 kontinuierlich von 16 auf 12

Prozent im August und September, was

dann auch dem tatsächlichen Anteil der

PDS bei der Bundestagswahl entsprach.

Zum Rückgang der PDS-Sympathien

hat offenkundig der Rückzug von Gre-

gor Gysi aus der Politik beigetragen.

Gysi war für die Menschen in Ost-

deutschland ein Sprachrohr, das ihre

Interessen artikulierte. Und auf einen

Teil der Intellektuellen in Westdeutsch-

land übte er, nicht aber die Partei, eine

gewisse Faszination aus. Ohne Gysi

verfügt die PDS nicht mehr über ein

entsprechendes personales Symbol.

Als sich im Verlaufe des Wahlkamp-

fes die politische Diskussion auf ernst-

hafte Themen (Vorschläge der Hartz-

Kommission zur Reform des Arbeits-

marktes, Folgen der Flutkatastrophe,

Krieg im Irak) und auf die Frage fokus-

sierte, ob Stoiber mit einer schwarz-

gelben Koalition die Macht in Berlin

übernehmen oder aber doch lieber

Manfred Güllner

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Schröder mit rot-grün weiterregieren

sollte, erschien die PDS ebenso inhalts-

leer und konturenlos wie die FDP.

Zwischen PDS und SPD gab es im übri-

gen weniger Wanderungen als oft ge-

mutmaßt. forsa konnte mit einem in

Europa bislang einzigartigen internet-

basierten Erhebungsverfahren (for-

sa.omninet) im Verlauf des Wahlkamp-

fes individuelle Wählerwanderungen

nachzeichnen. Danach wanderten zwi-

schen Ende Juli und der Woche vor dem

22. September knapp 10 Prozent der PDS-

Sympathisanten zur SPD. Die SPD konnte

jedoch im gleichen Zeitraum ihren

potentiellen Wähleranteil verdoppeln.

Die Zuwanderung von der PDS hatte

daran nur einen Anteil von 2 Prozent. Die

größten Wanderungsbewegungen gab

es zwischen Ende Juli und Mitte Septem-

ber zwischen dem Lager der Unent-

schlossenen und der SPD: Rund 50 Pro-

zent des SPD-Zugewinns entfiel auf

diese Wanderungsbewegung.

Nach der Bundestagswahl gab es im

übrigen trotz des nicht optimal gelun-

genen Starts der neuen rot-grünen

Koalition in Berlin keinen Zulauf zur

PDS. Der PDS-Anteil sank im Oktober

und November sogar auf einen Wert

unter 10 Prozent aller Befragten.

Noch ist nicht sicher auszuschließen,

dass sich die PDS von dem schlechten

Abschneiden bei der Bundestagswahl

noch einmal erholen kann. Doch vieles

spricht dafür, dass nunmehr mit ent-

sprechender zeitlicher Verzögerung

eintritt, was die Wahlforscher unmit-

telbar nach der Wiedervereinigung

erwartet hatten, nämlich dass sich die

PDS allmählich aus dem Parteiensy-

stem verabschiedet. Sie wird sich ver-

mutlich auf lokaler und Landesebene

noch eine gewisse Zeit als Regional-

Partei halten können, bundespolitisch

aber dürfte sie ihre Bedeutung schon

verloren haben.

Die PDS ohne Zukunft?

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Manfred Güllner ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa.

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War da was? Fast konnte man den

Eindruck haben, eine Partei verabschie-

det sich aus dem Bundestag und kei-

ner der sonst so interessierten Beob-

achter nimmt es auch nur mit dem

Anschein von Interesse, geschweige

denn mit einer Spur des Bedauerns zur

Kenntnis. Kaum war die PDS aus dem

Bundestag entschwunden, interes-

sierte nur eine Frage: wie verteilen sich

ihre Wähler zukünftig auf Sozialdemo-

kratie und Union?

Sicher, bereits 1990 und 1994 lag die

PDS klar unterhalb der 5 %-Hürde. Auf-

grund der einheitsbedingten Sonder-

regelung von 1990 und ihrer vier

Direktmandate von 1994 blieb sie den-

noch im Bundestag sichtbar vertreten,

zunächst als Gruppe, ab 1998 als Frak-

tion, und mit ihrem Vorsitzenden Gysi

auch im eigentlichen Polit-Geschäft,

sprich: auf den bequemen Stühlen von

Sabine Christiansen. Heute ist die

Situation eine gänzlich andere. Die

beiden verbliebenen Direktmandatier-

ten, Gesine Lötzsch und Petra Pau,

müssen sich in die kurzfristig aufge-

stellte allerletzte Reihe des Reichsta-

ges drücken.

Zunächst war nicht einmal ein Tisch

für die neuen Hintersassen der Sozial-

demokratie vorhanden. Ein Novum in

der Bundestagsgeschichte: Zwei Abge-

ordneten ist förmlich die Partei abhan-

den gekommen. Und das mehr als im

sinnbildlichen Sinne. Denn für wen

sprechen in Zukunft Pau und Lötzsch?

Nachdem für die Reformer desaströsen

Ausgang des Geraer Parteitages jeden-

falls keineswegs für die siegreiche Frak-

tion um Gabi Zimmer. Also Bundestags-

mandate als innere Emigration?

Vieles spricht dafür, dass es sich bei

der PDS definitiv um ein Auslaufmo-

dell handelt. Und dennoch: keinerlei

Anteilnahme, eher klammheimliche

Schadenfreude in den Medien. Ganz

anders die Szenerie, als 1990 die West-

grünen aus dem hohen Hause flogen

und fortan nur noch mit ihrer Ostfrak-

tion vertreten waren. Der anschlie-

ßende Aufschrei medialen Bedauerns

war unüberhörbar. Hohe Stimmenge-

winne bei den nächsten Landtagswah-

len folgten. Nur vordergründig liegen

die unterschiedlichen Reaktionen

darin begründet, dass die Grünen

damals mehr als überraschend aus

Das Verschwinden der PDSvon Albrecht von Lucke

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dem Bundestag flogen, mit dem Schei-

tern der PDS hingegen zu rechnen war.

Die fehlende Resonanz belegt primär

eines: Die PDS ist bis heute nicht im

Westen angekommen – weder in der

Medienlandschaft noch mit ihrem Per-

sonal. Mit Gregor Gysi besaß die Partei

eine einzige Figur, die sich west- und

medienkompatibel zeigte. Was hätte

das Scheitern an der Westausdehnung

stärker zum Ausdruck bringen können,

als jenes Bild der geschlagenen Vierer-

bande Zimmer, Bartsch, Claus und Pau

am Abend der Wahl? Bis heute ist die

PDS ein originäres Ostprodukt geblie-

ben – daran können auch einzelne

westliche Ausreißer wie die Berliner

Senatoren Wolf und Knake-Wemer

nichts ändern, zumal sie bundespoli-

tisch vollkommen unbekannt sind.

Diese Feststellung impliziert aber ein

Zweites: Das Projekt PDS als gesamt-

deutsche Linkspartei ist offensichtlich

gescheitert und damit auch der von

Gysi und Brie verfochtene Anspruch

auf Wiederherstellung der europäi-

schen Normalität einer Linkspartei jen-

seits der Sozialdemokratie.

Die Ursachen für dieses Versagen

waren bereits im Gründungswider-

spruch der Partei angelegt: einerseits

der Wunsch, originäre Ostpartei mit

Alleinvertretungsanspruch zu sein,

andererseits der Wille zur bundesweit

agierenden sozialistischen Linkspartei.

Dieses ewige Changieren zwischen

Ost-Folklore und linkem Avantgarde-

anspruch musste letztlich schief

gehen. Der Abgang Gregor Gysis ent-

hüllte das Scheitern. Er war die einzige

Figur, die zumindest scheinbar den

Spagat zwischen Ost und West, linkem

Traditionalismus und Postmoderne

bewältigte. Mit der Übernahme des

Senatorenamtes scheiterte jedoch

auch seine Turnübung. Hierfür gebührt

Gregor Gysi Dank: Seine Fahnenflucht

hat den Blick frei gemacht für die Trost-

losigkeit der Hinterbühne.

Es ist mehr als ironisch, dass es nach

den unrühmlichen Abgängen der ein-

stigen linken Frontmänner Lafontaine

und Gysi der vormalige Sparkanzler

war, der, gerade in der Flutkatastrophe,

noch am stärksten das Ideal von Steh-

vermögen für die von Schicksalsschlä-

gen gebeutelte Notgemeinschaft ver-

körperte – und nach dem Sieg der SPD

sowie dem Ausscheiden der PDS jetzt

auch noch den Lordsiegelbewahrer

alter sozialdemokratischer Glaubens-

gewissheiten gibt.

Gründungsdilemma

Albrecht von Lucke

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Das Verschwinden der PDS

Denn das Ausscheiden der PDS

bedeutet durchaus nicht, dass der

durch vierzig Jahre Sozialismus

geprägte Osten die Parteistrategen

nicht mehr interessiert. Das Gegenteil

ist der Fall: Der absehbare Niedergang

der PDS weckte erst wieder die Begehr-

lichkeiten gegenüber jenem Wählerre-

servoir, das die SPD nur Monate zuvor

bei den Landtagswahlen in Sachsen-

Anhalt endgültig verloren zu haben

schien. Jene Stimmanteile, die Schrö-

der im Westen wieder an die CDU ver-

lor, hat er im Osten von der PDS zurück-

gewonnen. Jetzt beginnt; der Kampf

um den Nachlass der PDS. Vier Prozent

können wahlentscheidend sein. Nur

vordergründig konnte deshalb der

neue alte Verbalradikalismus Gerhard

Schröders auf dem ersten Parteitag

nach der Wahl verwundern.

In Schröders Rhetorik war aus der

Partei der Mitte längst die Linke Mitte

geworden. Nach der Wahl ist eben vor

der Wahl. Keiner weiß das besser als

Schröder. Die vom Kanzler bei seiner

fast schon klassenkämpferischen Rede

aufgestellte Behauptung: Dieses Land

ist ein für alle Mal kein CDU-Staat

mehr, steht und fällt nicht zuletzt mit

der zukünftigen Rolle der PDS. Gelingt

es der SPD tatsächlich, die PDS langfri-

stig überflüssig zu machen und die

sozialdemokratischen Stammlande

südlich der Elbe zurückzuerobern,

könnten aus 8.800 Stimmen Vor-

sprung auf die Union wieder die dies-

mal verloren gegangenen 1,7 Millionen

werden. Die Notlösung Stolpe könnte

sich deshalb nachträglich als die rich-

tige Wahl erweisen. Wie kein anderer

verkörpert er eine Haltung von Arran-

gement mit dem alten Regime und

pragmatischer Ankunft im neuen, die

auch bei vielen PDS-Wählern Anklang

findet und in Brandenburg bereits ein-

mal mit der absoluten Mehrheit

belohnt wurde.

Während der Osten zunehmend in

die Hände von SPD und CDU überge-

hen dürfte, bleibt nach dem PDS-Des-

aster noch die Frage: Wie verhält es

sich mit dem Projekt Linkspartei? Die

kurzzeitig aufgekommenen Partei-

gründungsüberlegungen kann man

jedenfalls getrost ins Reich der Phanta-

sterei verweisen. Parteien entstehen

bekanntlich nicht am Reißbrett, son-

dern aus gesellschaftlicher Bewegung.

Folglich sind alle Pläne in dieser Rich-

tung derzeit auf Sand gebaut. Zwar ist

mit der neuen globalisierungskriti-

schen Bewegung um Attac so etwas

wie ein Lüftchen im Lande zu spüren.

Von Parteigründungsambitionen sind

die Aktivisten aus guten Gründen

allerdings weit entfernt.

Ohnehin spricht vieles für die

Annahme Niklas Luhmanns, dass die

postmaterialistischen Neugründun-

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Albrecht von Lucke

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gen der 80er Jahre den einzigen

parteifähigen Widerspruch aufgriffen,

der nicht bereits im Parlament vertre-

ten war. Einige der jetzigen Verbalradi-

kalen der neuen Bewegung dürften

deshalb mit abgekühlten Mütchen

den willkommenen Nachwuchs für

Grüne und SPD stellen. Dem gleichen

bürgerlichen Milieu entstammen sie

ohnehin.

Wenn aber in Zukunft die Ostper-

spektive bei der Parteienkonkurrenz,

der linke Universalismus bei Attac bes-

ser aufgehoben sein wird als bei der

PDS, sitzen vor allem die einstigen PDS-

Reformer endgültig zwischen allen

Stühlen. Keine guten Aussichten für

die melancholischen Mundwinkel

Andre Bries. Auf lange Sicht betrachtet

spricht vieles dafür, dass die modera-

ten Sozialisten tatsächlich mit Kanz-

lers Worten ihre „neue Heimat“ in der

SPD finden. Sozialdemokratische Poli-

tik machen die derzeit Regierenden

aus den Reihen der PDS ohnehin, ob

man nach Mecklenburg-Vorpommern

oder Berlin schaut. Reformer vom

Schlage Bries könnten in einer konzep-

tionell erschlafften SPD vielleicht

tatsächlich so etwas wie linke Anstöße

geben. Andrea Gysi, ehemalige Bun-

destagsabgeordnete und Frau von Gre-

gor Gysi, hat schon einmal die Rolle der

Vorhut beim geordneten Rückzug

übernommen. Ihr Austrittsformular ist

jedenfalls bereits unterzeichnet.

Albrecht von Luckeist Publizist und lebt in Berlin.

Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag

entnommen aus: Blätter für deutsche und internationale Politik,

Bonn, 12/2002, S. 1418-1420.

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Gut zwei Monate nach der Bundes-

tagswahl 2002 ist es die Frage, ob über

die PDS und ihre Niederlage geredet

wird – oder über den Zustand der

Mitte-Links-Parteien in Deutschland.

Ob über Deutschland am 22.9.2002 als

Ausbrecher aus dem europäischen

Trend – oder über Deutschland als eine

spezifische Form der europäischen

politischen Entwicklung. Ist die Krise

der PDS ein isoliertes Phänomen – oder

ist sie ein besonders signifikanter Teil

der Krise des Mitte-Links-Lagers in

Europa? Sind andere Parteien von der

Krise der PDS nur betroffen, weil sie ein

politischer Partner und Konkurrent ist

– oder können gerade SPD und Bünd-

nisgrüne am Schicksal der PDS Sym-

ptome einer mehr oder weniger

gemeinsamen Krise studieren?

Vor dem Hintergrund des rapiden

Ansehensverfalls der rot-grünen Bun-

desregierung bereits in den ersten

Wochen und Monaten nach der Wahl

scheint zumindest die Frage prüfens-

wert, ob der Absturz der PDS nur der

erste Akt in der deutschen Version der

allgemeinen europäischen Krise von

Mitte-Links gewesen sein könnte. Und

zum zweiten wäre vor diesem Hinter-

grund nach der Perspektive und den

Chancen oder Gefahren zu fragen, die

sich durch die Entwicklung der PDS, die

insbesondere mit dem Bundespartei-

tag von Gera (Oktober 2002) eingelei-

tet wurde, verbinden.

Erlauben wir uns eine kurze, grobe

historische Parallele: Vor 200 Jahren

begann die Konstituierung des Kapita-

lismus im nationalstaatlichen Rah-

men, heute erleben wir die Konstitu-

ierung des Kapitalismus auf globaler

Ebene. Die politischen und gesell-

schaftlichen Regularien, Mechanis-

men, Institutionen, Akteure aber sind

noch die der nationalstaatlich gepräg-

ten Ära. Der Liberalismus bestimmte

Politik und Ideologie des „national-

staatlichen“ Kapitalismus – heute

bestimmt der Neoliberalismus Politik

Sozialisten im Abseits?Die Krise der PDS ist mehr als nur eine Krise der PDS

von Thomas Falkner

1. Mitte-Links in Europa – das ausgefallene Projekt …

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Thomas Falkner

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und Ideologie des beginnenden globa-

lisierten Kapitalismus. Auf nationaler

Ebene traten Demokraten, Konserva-

tive, Sozialisten als politische Akteure

mit dem Hintergrund ganzer politisch-

geistiger Grundströmungen hinzu –

sie schlossen Lücken, die der Liberalis-

mus offen ließ, sie nahmen sich der

Probleme an, die er erzeugte – und sie

erzwangen einen sozialen und demo-

kratischen Ausgleich, der in die moder-

nen westlichen Gesellschaften mün-

dete. Vergleichbare Prozesse sind für

die Phase des globalisierten Kapitalis-

mus im Grunde genommen noch nicht

einmal im Ansatz zu erkennen.

Der ökonomischen Globalisierung,

die ausgangs des 20. Jahrhunderts ein-

geleitet wurde, fehlt am Beginn des 21.

Jahrhunderts das Pendant der sozialen

Gerechtigkeit und des interkulturellen

Ausgleichs. Das hätte das europäische,

das internationale Projekt der Nach-

Kohl/Mitterand-Generation (also der

Mitte-Links-Regierungen der späten

90er Jahre) sein können und müssen –

aber es ist ausgeblieben. Der Politi-

schen Union und dem Euro ist nichts

mehr gefolgt – nur nationalstaatlich

begrenzte Reformen, in Umfang und

Substanz unterdimensioniert: Im

„Standortwettbewerb“ immer weni-

ger Ressourcen für Sozialstaatlichkeit

(im Inneren und erst recht nach außen)

– die wachsenden Rivalitäten unter

den Bedürftigen um die geringer wer-

denden Ressourcen werden in Kauf

genommen – die Druckentlastung

erfolgt entlang der kulturellen Kon-

fliktlinien durch restriktivere „Auslän-

derpolitik“ und durch Missionierung

im Ausland (statt ökonomischer, kultu-

reller und sozialer Öffnung). So aber

werden Probleme nicht wirklich gelöst,

aber Konflikte geschürt. Dafür wird

man nicht so einfach wieder gewählt …

Die Wurzeln dieses Phänomens lie-

gen tief – in einem faktischen Steue-

rungsverzicht, der bereits vor Jahrzehn-

ten seinen Anfang nahm. Am Anfang

der europäischen Linken entstand mit

der industriellen Revolution auch die

Utopie von der immer entwickelteren

Technik, die man nur in den Dienst der

Allgemeinheit stellen müsse, damit es

„Zuckererbsen für jedermann“ geben

könne. Im 20. Jahrhundert zeigte die

fordistische Produktionsweise (Mas-

senproduktion – Massenbeschäfti-

gung – Massenkaufkraft), dass es auch

unter kapitalistischen Voraussetzun-

gen eine solche Interessensymbiose

geben konnte, die ein weithin aus-

kömmliches Leben ermöglichte. Dafür

bedurfte es eines Technologie- und

Produktivitätsschubes – jeder weitere

Technologie- und Produktivitätsschub

aber engte die Interessensymbiose

wieder ein und produzierte das Inter-

esse, an der jeweils voraus gegange-

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Sozialisten im Abseits?

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nen Stufe fest zu halten. Dazu kamen

die Tatsache, dass die Technologie- und

Technikschübe mehr und mehr mit

Kriegswirtschaft und Militär-Industrie-

Komplex in Verbindung gerieten,

sowie das wachsende Bewusstsein von

den ökologischen Gefahren der

Großindustrie. Die Linke wurde sozial-

konservativ und technik-pessimistisch

– und verlor zu großen Teilen Fähigkeit

wie Anspruch, Fortschritt zu initiieren

und zu gestalten.

In einer Analyse für den Bereich Stra-

tegie und Grundsatzfragen beim alten

PDS-Parteivorstand hieß es im Sep-

tember 2002, unter den Bedingungen

der Globalisierung „werden aus dem

linken Themenspektrum entschei-

dende Stücke heraus gebrochen. Uni-

versalismus und Individualismus wer-

den als Schlagwörter des Marktes ver-

waltet. Der Technik- und Fortschritts-

optimismus kommt allein den Neoli-

beralen zugute. Für die traditionelle

Linke bleibt einzig die Sozialpolitik,

und die kann im Deutungsmuster der

Globalisierung als protektionistisch,

partikularistisch, wettbewerbsfeind-

lich und reaktionär kodiert werden.“

Tatsächlich geraten Sozial- und

Reformpolitik in Konflikt. Der fordi-

stisch-nostalgische Sozialkonservatis-

mus verteidigt seine Institutionen und

Regularien gegen die Umbrüche der

Realität und provoziert damit zusätz-

lich den neoliberalen Tabubruch. In den

modernen Gesellschaften steigen die

Kosten für die solidarische Alters- und

Arbeitslosenversorgung, weil tatsäch-

lich immer weniger Erwerbstätige

immer mehr Bedürftige über immer

längere Zeiten finanzieren müssen.

Medizinisch wird immer mehr möglich

– vor allem mehr, als die herkömmliche

Finanzierung der Gesundheitssysteme

ermöglicht. Die sozialstaatliche Rea-

lität verhindert insbesondere in

Deutschland marktgerechte Preise und

forciert in der Pharma- und Medizin-

technikindustrie beachtliche Sonder-

profite zu Lasten der Allgemeinheit.

Niemand kann davor die Augen ver-

schließen – aber die mächtigen Lobby-

gruppen beharren auf den von ihnen

vertretenen Interessen. Wer zuerst

zurück steckt (und sei es nur durch Ver-

zicht auf Widerstand selbst gegen

kleinste Maßnahmen), muss einen

strategischen Nachteil gegenüber sei-

nen Konkurrenten befürchten. Weil

niemand zurück steckt und Raum für

Innovationen frei gibt, wird der Druck

auf die Politik immer größer – vor

allem auf die Parteien, deren WählerIn-

nen traditionell vor allem in Sozial-

staatsfragen engagiert sind. So zieht

zugleich der Klientelismus in die Politik

vor allem der Mitte-Links-Parteien ein.

Die bloße Addition von Minderheiten

aber schafft noch keine Mehrheiten,

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Thomas Falkner

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wusste schon Bill Clinton vor seiner

Präsidentschaft. Noch schwieriger aber

wird es, wenn Minderheiten nicht ein-

mal mehr addiert werden können, weil

ihre Klientele um geringer werdende

Ressourcen gegeneinander konkurrie-

ren … In letzter Konsequenz führt das –

wie in Frankreich – mit zur Vertiefung

der Klüfte zwischen verschiedenen lin-

ken Parteien, an die sich verschieden

Klientele hängen …

Im Ergebnis machen sich als gesell-

schaftliche Phänomene breit:

• Sozialstaatsverdruss angesichts des

von Generation zu Generation

immer weniger akzeptablen Verhält-

nisses von Aufwand und Leistung.

• Konsensverdruss angesichts der täg-

lichen erlebbaren Entwicklungs-

blockaden, die sich aus dem weit rei-

chenden faktischen Veto-Recht der

Interessenverbände ergeben.

Und der Verdruss wendet sich in

neue politische Lust:

• Lust an der Polarisierung, mit der

Konfliktaustragung erzwungen wer-

den soll.

• Lust an individuellen Strategien zur

Absicherung von Lebensrisiken, Alter

etc., mit denen man den sozialstaatli-

chen Belastungen und Zumutungen

ein Schnippchen schlagen kann …

Jörg Haider hat auf der Klaviatur von

Verdruss und Lust souverän gespielt.

Am (vorläufigen) Ende des FPÖ-Inter-

mezzos am Wiener Ballhausplatz steht

ein struktureller Umbruch in den (par-

tei-)politischen Kräfteverhältnissen

Österreichs – zu Gunsten des bürger-

lich-konservativen Lagers. So weit sind

wir in Deutschland noch nicht …

So weit das Koordinatensystem und

die Fixpunkte für die Krise, in der sich

Mitte-Links-Parteien heute in Europa

befinden. Zumindest aus der Erfah-

rung innerhalb der PDS ergab sich in

den letzten Jahren ein solches Bild.

Und in diesem beschriebenen Raum

vollzog sich die konkrete, spezifische

Krise der PDS. Nur durch eine solche

erweiterte Beschreibung des Rahmens

ist z.B. erklärlich, warum die PDS

gerade an ihren eigenen Themen

gescheitert ist … (Und warum mögli-

cher Weise gerade jetzt die rot-grüne

Bundesregierung so dramatisch an

Rückhalt in der Bevölkerung verliert,

wo sie auf die Gewerkschaftspositio-

nen zugeht, wo die SPD auf Umvertei-

lung von oben nach unten setzt – Ver-

mögenssteuer, wie auch von der PDS

2. Das Versagen der PDS

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Sozialisten im Abseits?

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gefordert –, wo sie im Haushalt nicht

nur über Ausgabenkürzungen, son-

dern auch über Einnahmeverbesserun-

gen nachdenkt – was wir ja auch die

PDS immer verlangte.)

Doch zurück zur Bundestagswahl.

Die Themen Arbeit, soziale Gerechtig-

keit, Friedenserhaltung und – gewan-

delt – Ostdeutschland hatten im Ver-

gleich zu 1998 bei den Wählerinnen

und Wählern im Prinzip nichts an

Gewicht verloren. Daran hatte sich die

rot-grüne Politik zu messen, dem mus-

ste sich die bürgerliche Opposition

unterwerfen und dem musste die linke

Opposition klare, deutlich weiter

führende, also über Rot-Grün hinaus

gehende Vorschläge entgegensetzen

(in diesem Sinne: politisch umsetzbare

Alternativen). Und dies alles war in

eine Situation hinein umzusetzen und

zu kommunizieren, die am Ende fast

ausschließlich von der Frage Schröder

oder Stoiber und den damit verbunde-

nen tiefen sozialpsychologischen und

mentalen Konfliktlinien geprägt war.

Demgegenüber waren Erschei-

nungsbild und tatsächliches Agieren

der PDS geprägt von: Dysfunktionalität

statt Gebrauchswert. Das Wechselspiel

zwischen Selbstintension und Fremd-

zuweisung, das die Entwicklung der

PDS-Identität in den 90er Jahren

geprägt hatte, funktionierte nicht

mehr; insbesondere der Parteivorstand

und die Parteivorsitzende wechselten

auf einen Kurs, der die parteiinterne

Furcht vor der wirklichen Politik und

darauf fußende Lust an der Opposition

zum Maßstab des eigenen Agierens

und zur Prämisse der politischen Ana-

lyse machte. So setzte sich seit dem

Frühjahr 2002 an der Bundesspitze

faktisch eine Auffassung durch, die die

PDS nicht mehr als Teil eines politi-

schen Mitte-Links-Spektrums in

Deutschlands, sondern als ein „drittes

Lager“ diesseits von Union und SPD

betrachtete.

Nach dem damit verbundenen Ver-

zicht auf eigene strategische Optionen

hat sie die PDS-Führung dann ange-

sichts der knappen Umfrageergeb-

nisse im Sommer in eine formalisierte

Konstellationsdiskussion zwängen las-

sen, in der inhaltliche Substanz schon

gar nicht mehr aufgerufen wurde. Was

die PDS in der Sache innerhalb des

Mitte-Links-Lagers in Deutschland zur

Geltung bringen und durchsetzen

könnte, spielte zwar noch in einem im

August im SPIEGEL veröffentlichten

Strategiepapier – einer Vorarbeit für

den Wahlaufruf des PDS-Spitzenteams

– und in der journalistischen Nachar-

beit dazu eine Rolle, nicht aber poli-

tisch, nicht im Agieren insbesondere

der PDS-Vorsitzenden und anderer

Führungsmitglieder. (Zudem wurde

dieser Ansatz durch den Gysi-Brie-Brief

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Thomas Falkner

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an Lafontaine sowie die Spekulation

um einen angeblichen „Zwei-Punkte-

Plan“ für die Wahl Schröders mit PDS-

Stimmen zunichte gemacht.) So kam

es, dass die PDS-Spitze mit ihren Signa-

len der Unterstützung für Schröder

jenes Drittel von potenziellen PDS-

WählerInnen verunsicherte, die sich

laut internen Umfragen eine PDS-SPD-

Kooperation auf Bundesebene nicht

vorstellen konnten oder wollten. Und

mit der als fundamental wahrgenom-

menen Orientierung auf Opposition

auf jeden Fall führte die PDS-Spitze

letztlich gegen jene Mehrheit von rund

70 % der potenziellen PDS-WählerIn-

nen Wahlkampf, die sich eine authenti-

sche und engagierte regierungsbezo-

gene Mitwirkung der PDS an einer rot-

grünen Bundespolitik wünschten.

Dazu kam: Es gab und gibt bislang

keine hinreichenden politischen Refe-

renzen – weder auf der Projektebene

noch aus der Regierungsbilanz. In

Mecklenburg-Vorpommern und Berlin

sind zudem – anders noch als in Sach-

sen-Anhalt – Probleme im Regierungs-

handeln und enttäuschte (teils auch

überhöhte) Erwartungen vor allem zu

Lasten der PDS, nicht der SPD, gegan-

gen. In Mecklenburg-Vorpommern sind

die Gründe für eine Fortsetzung der

rot-roten Koalition zudem wenig mit

konkreten Leistungen der PDS inner-

halb der Regierung verbunden worden.

In Berlin konnte im ersten Jahr der

neuen Koalition angesichts der schwie-

rigen Ausgangssituation ein prakti-

scher Aufbruch zu Neuem – gerade

durch die Beteiligung der PDS ermög-

licht – (noch) nicht erlebbar gemacht

werden. Allerdings: In Berlin gibt es bei

den Interessenverbänden und -grup-

pen aller Art einen dramatischen Rück-

fall in die alte Versorgungs- und Besitz-

standsmentalität, der weitestgehend

das Bewusstsein von der essentiellen

Haushaltskrise und deren Verursachern

überlagert hat und sich in einer fast

aggressiven Verweigerung gegen jede

notwendige Veränderung stellt – bei

besonderem Druck auf die PDS.

Nach den Auseinandersetzungen

um das Schweriner Arbeitsministe-

rium und vor allem nach der Bonus-

meilen-Affäre um Gregor Gysi ist die

PDS dann auch noch im negativen

Sinne erstmals als „normale Partei“

wahrgenommen worden und hat an

Vertrauen und Zutrauen eingebüßt.

Gysis Rücktritt hat dies nicht wett

machen können; seine nach dem Rück-

tritt sogar zunehmende Medienprä-

senz hat auch zu Verdruss geführt und

den Eindruck verstärkt, er sei eher aus

Amtsmüdigkeit zurück getreten und

bevorzuge die Rolle des politischen

Entertainers gegenüber der harten

Sacharbeit. Der in der unmittelbaren

Vorwahlphase eingetretene Trend-

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Sozialisten im Abseits?

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wechsel zu Gunsten von Mitte-Links

im Bund kam daher weitestgehend der

Sozialdemokratie und nicht der PDS in

diesen Ländern zu Gute.

Selbst die „Ostkompetenz“ war ver-

loren gegangen. Das dominierende

Thema (Abwanderung; „Kippe“) hatte

die PDS verpasst und Wolfgang Thierse

überlassen; den Anschluss an die neue

Differenzierung der ostdeutschen Teil-

gesellschaft hat bislang keine politi-

sche Partei gefunden und den Vor-

sprung in der Sachkompetenz in den

„harten“ Politikfeldern – Wirtschaft

etc. – hat die PDS zwar in ihrem

Rostocker Parteitagsbeschluss zu Ost-

deutschland im Kontext der EU-Oster-

weiterung auf dem Papier behauptet –

in der Breite der Partei ist dies jedoch

bislang kaum angekommen … Die

Frage der neuen sozialen und kulturel-

len Differenzierungen im Ost-Milieu

hat die PDS noch immer nicht aufge-

griffen. Bei der Hochwasserkatastro-

phe schließlich erwies sich die PDS für

viele als Totalausfall. Sicher – als

gesamt-nationale Herausforderung

hat die Katastrophe Links-Rechts-

Nuancen im Wahlkampf sowie die all-

gemein problematische Lage im Osten

in der allgemeinen Wahrnehmung

überlagert. Doch vor allem nach dem

Abebben des Hochwassers hat die PDS

als Bundespartei keinerlei Initiativen

ergriffen oder auch nur nennenswert

unterstützt, die Partei von unten als

sinnlich wahrnehmbare Interessenver-

tretung, als Dienstleister für die sehr

konkreten Sorgen und Forderungen

der Betroffenen zu profilieren – womit

der Aufstieg der PDS in den 90er Jah-

ren begonnen hatte, gab es nicht

mehr: die „Partei für den Alltag“.

Und letztlich: Mit seiner harten Linie

gegen einen Irak-Krieg im Wahlkampf

hat Gerhard Schröder nicht nur die Rea-

lität seiner Politik seit dem Kosovo-Krieg

verdrängt, sondern auch durch verbale

Übernahme nahezu jeder PDS-Detail-

forderung nicht nur mit einem außen-

politischen Thema die Wahlentschei-

dung massiv beeinflusst, sondern auch

der PDS den Schneid abkaufen können.

Ursache und zugleich auch wieder

Folge all dessen waren:

• eine sich vertiefende Spaltung inner-

halb des traditionell dominierenden

Reformerlagers, die zu internen Ent-

wicklungsblockaden und zu einem

widersprüchlichen Erscheinungsbild

führte,

• eine von den Führungsdefiziten for-

cierte Demotivierung, schließlich so-

gar Demoralisierung der Parteibasis.

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Thomas Falkner

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Mittlerweile gibt es für die PDS zwei

Zäsuren: Wahltag und Parteitag.

Der Wahltag hat gezeigt, dass die

PDS – so, wie sie vor allem konzeptio-

nell und strategisch aufgestellt war –

nicht gebraucht wird, wenn es in die-

sem Lande wirklich ernst wird.

Der Bundesparteitag von Gera

(Oktober 2002) aber hat die PDS erst

recht auf die schiefe Ebene gebracht.

Einerseits, weil die der Realpolitik

abholde Linie, die Linie des „dritten

Lagers“, des Schwerpunktes außerhalb

des politisch-parlamentarischen und

auch exekutiven Bestrebens obsiegt

hat. Vorher hatten die PDS keine trag-

fähige Antwort auf das, was die Men-

schen von ihr erwarteten – jetzt hat sie

die falsche Antwort: Oppositionskult

und naive Ansprüche an politische

Gestaltung, Antisozialdemokratismus

und „Mitte-Unten“-Träume statt stra-

tegische Souveränität innerhalb des

Mitte-Links-Lagers in Deutschland …

Andererseits hat der Parteitag mit

der politischen Unkultur, die mit ihm

und danach aufkam (symbolisch dafür

die „Aktentasche-Affäre“ um den stell-

vertretenden Parteivorsitzenden Diet-

her Dehm), Vertrauen in ernsten

Dimensionen verspielt, viel Porzellan

zerschlagen. Viele innerhalb und

außerhalb der PDS sind von der Wucht,

mit der totalitäre Verhaltensmuster

wieder auf- und durchbrechen, über-

rascht. Instinktiv gehen sie – darunter

viele Wählerinnen und Wähler von

1998 – auf Distanz. Man vertraut

durchaus noch einzelnen – aber nicht

mehr der PDS.

Und schließlich: Der Parteitag hat vor-

geführt, dass es die stabile strukturelle

Mehrheit für die sogenannten Reformer

nicht mehr gibt, weil es die Reformer

selbst als ein hegemoniefähiges Lager

nicht mehr gibt. Aus der Binnenerfah-

rung der PDS gibt es schon seit langem

nicht mehr den Konflikt Reformer vs.Tra-

ditionalisten – mit struktureller Re-

former-Mehrheit bei den Aktivisten und

struktureller Traditionalisten-Mehrheit

bei der Basis –, sondern eine neue Lager-

bildung in der Partei. Neben den Traditio-

nalisten hat sich eine Gruppe von ehe-

maligen Reformern (jener, die seit 1989

in erster Linie die Partei reformieren

wollten und dazu auch programmatisch

Taugliches produzierten) neben und

gegen die Gruppe der Pragmatiker kon-

stituiert – also jener Reformer, die in

erster Linie die Gesellschaft reformieren

und zu diesem Zweck Politik machen

wollen. Die parteibezogenen Reformer

nun sind aus innerparteilich-machtpoli-

tischen Erwägungen ein Bündnis mit

den Traditionalisten eingegangen – und

3. Wegscheide

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Sozialisten im Abseits?

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nur deswegen erscheint der Konflikt als

der klassische Konflikt der Prominenten

gegen die Stalinisten und Nostalgiker,

wie er stets die PDS-Geschichte geprägt

hat … Eigentlich – und das klingt nur

zweckoptimistisch, ist aber ein realer

Befund – hat die Entwicklung der letzten

zwei Jahre auch durchaus etwas Kon-

struktives gebracht: Die fast schon voll-

zogene Herausbildung des Pragmatiker-

Lagers – mit einer immerhin ermutigen-

den Machtposition von einem Drittel

auf Bundesebene und doch noch star-

ken Bastionen über zwei Landesregie-

rungen.

Schon deswegen sind die Abgesänge

auf die PDS verfrüht.

Wie auch immer – auf absehbare

Zeit wird sich die PDS weiter mit wich-

tigen Fragen aus der Gesellschaft kon-

frontiert sehen und daran arbeiten:

1. Für welche Funktion in Politik und

Gesellschaft bietet sich die PDS

künftig den Wählerinnen und

Wählern an?

2. Erkennt die PDS mögliche politische

Partner und ist sie fähig, ihre Eigen-

ständigkeit so zu entwickeln, dass

sie zugleich kooperationsfähig mit

diesen wird?

3. Kann die PDS überhaupt den offen-

kundigen Kulturbruch wieder rück-

gängig machen? Das heißt: Findet sie

zu einem auch personellen Neuan-

satz – bis in die Delegiertenzusam-

mensetzung des Parteitages? (Denn

die jetzigen Delegierten haben ja den

Kulturbruch verkörpert …)

Das alles läuft letztlich auf eine ent-

scheidende Frage hinaus: Ist die PDS

willens und fähig, die mit Rostock/

Halle/Gera eingeschlagene Linie ernst-

haft zu korrigieren – inhaltlich und per-

sonell? Und umfangreich …

Dies – nicht die Auseinandersetzun-

gen darum, ob ein stellvertretender

Parteivorsitzender anordnen darf, die

Aktentasche des früheren Bundesge-

schäftsführers zu durchwühlen – mar-

kiert den eigentlichen Raum für die

Auseinandersetzungen, die die „Refor-

mer“ innerhalb der PDS mit der jetzi-

gen Richtung ihrer Partei führen – und

möglichst gewinnen – müssen.

Mit der Wiederholung alter Schlach-

ten freilich wird es nicht getan sein.

Dass sich die falsche Linie in Gera

durchgesetzt hat, heißt nicht automa-

tisch, dass die bisherige Linie der

„Reformer“ noch richtig ist (was wie-

derum nicht bedeutet, dass sie vor

dem 22. September auch schon falsch

war). Doch notwendig ist eine (selbst-)

kritische Überprüfung der strategi-

schen Grundannahmen der letzten

Jahre – sowohl der machtpolitischen

Optionen als auch und vor allem der

Themen und Images. Mit dem Wegfall

der Bundestagsfraktion und des

Zugriffs auf die Ressourcen der Bun-

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Thomas Falkner

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despartei wird dies allerdings – gelinde

gesagt – sehr schwierig. Andererseits

haben die Reformer den strukturellen

Vorteil, dass sie in Regierungsverant-

wortung stehen – dass sie handeln

müssen, entscheiden können, wahrge-

nommen werden und insofern auch

kompetente Rückmeldungen aus Poli-

tik und Gesellschaft erhalten.

Die Pflichten des Amtes werden die

regierenden Reformer – bei Strafe des

eigenen Untergangs – zu konkreten,

umsetzbaren, wirksamen Projekten in

zwei Richtungen drängen:

• Einerseits zu Sparen als Gewinner-

spiel für möglichst viele – durch struk-

turelle Reformen und Innovationen.

• Andererseits wird es um Projekte

gehen müssen, die Perspektiven eröff-

nen – und das müsste mit Weichen-

stellungen für den Osten (der ent-

sprechende Beschluss des Rostocker

Bundesparteitages vom März 2002

bietet dafür durchaus Ansatzpunkte)

oder für die Jugend (Bildung, Ausbil-

dung, Attraktivität des Bleibens im

Osten bzw. der Hinwendung zu ost-

deutschen Leistungszentren statt der

Abwanderung …) zu tun haben.

• Und schließlich muss sich auch

demokratisch-sozialistische Politik

den Ängsten der Bevölkerung, beson-

ders im Osten, zuwenden: Kriegs-

angst, soziale Ängste, Zukunftsäng-

ste, Angst vor Kriminalität und Terror,

vor dem Fremden …

Doch es geht auch um mehr. Defizite

der deutschen Politik sind im Moment

das große Thema. In gewichtiger

Dimension. Es geht nicht an sich um

den dramatischen Ansehensverfall von

Schröder und Rot-Grün – das Thema ist

das Fehlen einer über den Tag hinaus

reichenden Perspektive für die deut-

sche Politik. An der Oberfläche profi-

tiert die Union davon – aber sie ist Teil

des Problems (wenn eben ihre eigentli-

che Antwort darauf die Einsetzung

eines Untersuchungsausschusses we-

gen Wahlbetrug ist, der sich ebenso

gegen sie selber richten könnte …)

Das greifbare Überthema sind

Zustand und Zukunft der Demokratie –

die Debatte um Weimar, um Schröder

und Brüning. Um Parlamente und Kom-

missionen, gewerkschaftliche Verwei-

gerung, bürgerlichen Widerstand,

Umfragen und Wahlen, Staatsfinanzen

und Staatszwecke … Das müsste eigent-

lich eine große Chance für eine demo-

kratisch-sozialistische Programmpartei

wie die PDS sein. Stünde sie nicht seit

Jahren in einer Programmdebatte, müs-

ste sie gerade jetzt beginnen. Freilich:

So, wie die PDS insgesamt derzeit ver-

fasst ist, wird sie keine sonderlich kreati-

ven Antworten auf solche gesellschaft-

lichen Herausforderungen abliefern

können – sondern Formelkompromisse

zwischen marxistologischem Traditi-

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Sozialisten im Abseits?

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onsgut und moderner Symbolik.

Für die Pragmatiker jedoch ist dies die

Chance und die Herausforderung, sich

und ihrem Tun eine programmatische

Basis zu geben – durch einen eigenen

Programmentwurf, der sie nach außen

und innen kenntlich macht, ihre Erfah-

rungen in der Politik aufarbeitet, in

Beziehung zu ihren demokratischen und

sozialen Werten und Leitbildern setzt

und zugleich entwickelt, wie die politi-

schen Verhältnisse in Deutschland refor-

miert werden müssen und können,

damit überhaupt wieder Perspektiven

und große Linien verfolgbar werden.

Eine moderne demokratisch-sozialisti-

sche Programmatik wird den alten Ver-

bändestaat Bundesrepublik und das

Modell Deutschland AG nicht blind zur

ewigen Voraussetzung haben können –

wohl aber als Gegenstand demokrati-

scher Veränderung annehmen und die

archimedischen Punkte für den notwen-

digen Umbruch bestimmen müssen.

Es ist weder ausgemacht, dass eine

solche politisch-programmatische Kon-

stituierung des pragmatischen Teils der

PDS gelingt, noch dass eine solche Strö-

mung letztlich hegemoniefähig wird.

Doch der Versuch ist geradezu demo-

kratische Pflicht. Denn – was wäre die

Alternative? Die Fortsetzung jener Ent-

wicklung zu einer neokommunisti-

schen Formation, die bereits vor zwei

Jahren mit dem Kollaps von Münster

(auf dem damaligen Bundesparteitag

unterlag die damalige PDS-Führung

um Lothar Bisky, Gregor Gysi u.a. mit

dem zaghaften Versuch, die Partei in

der Außen- und Sicherheitspolitik zu

den politischen Realitäten hin zu öff-

nen, und zog sich zugleich aus den Spit-

zenpositionen zurück) begann und die

jetzt in Gera erlebbar wurde:

Der postkommunistische Charakter

der PDS tritt deutlicher in den Vorder-

grund; die (partei-)kommunistische

Traditionslinie tritt erkennbarer neben

und gegen die bisherigen Bemühun-

gen der führenden Reformer, der Partei

eine demokratisch-sozialistisches Rich-

tung zu geben.

Das geht einher mit relevanten Ak-

zentverschiebungen in der inneren Lo-

gik der Partei und ihres politischen

Agierens:

• Ideologie zu Lasten von Politik und

Konzept,

• Aufwertung der Binnenverhältnisse

zu Lasten der Offenheit in die Gesell-

schaft,

• offenere Bekenntnisse nicht nur als

Partei der ehemaligen Dienstklasse

der DDR, sondern auch als Partei der

ehemaligen Kern-Eliten des stalini-

stischen Systems in der DDR.

Wurden unter Gysi und Bisky die Par-

teimitglieder beim humanistischen

Kern ihres Engagements für die DDR

und in der SED gepackt, den Menschen

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Thomas Falkner

26

Gutes zu tun, und mehr oder weniger

direkt an die Philosophie der Anfangs-

phase gebunden, wonach Bürgerinter-

essen vor Parteiinteressen zu stehen

hätten, so tritt dies jetzt hinter eine

stärkere Betonung der parteiinternen

Logik und der Veränderung von Gesell-

schaft als nachgelagerte Folge partei-

gebundenen Handelns zurück.

Die geistigen Konturen eines Neo-

kommunismus in Deutschland sind

bereits erkennbar:

Er ist (vulgär-)egalitär, ohne sich auf

einen ernsthaften Wertediskurs einzu-

lassen.

Er bezieht sich programmatisch auf

die Einheit der Menschenrechte bei

starker Betonung bis Verabsolutierung

der sozialen Ansprüche.

Er ist demokratie-skeptisch bis parla-

mentarismusfeindlich – und zugleich

demokratisch-fundamentalistisch:

Alles soll „von unten“ geklärt werden,

Moderation wird an die Stelle von Ent-

scheidung gesetzt, politisches Ent-

scheiden selbst diskreditiert, der reprä-

sentativen Demokratie die Legitima-

tion abgesprochen. Interessengruppen

werden zugleich in Gut und Böse ein-

geteilt und von daher als legitim oder

illegitim angesehen.

Er ist hochgradig ideologisiert, beharrt

auf dem letztlich revolutionären An-

spruch auf die ganz andere Gesellschaft

als Alternative zur gegenwärtigen mo-

dernen westlichen Gesellschaft – und

zugleich bezüglich der Möglichkeit, dies

auch zu erreichen, ultra-realistisch bis

zum Defätismus gegenüber jedweder

demokratischen und sozialen Verände-

rung.

Er gebärdet sich moralisierend, im

Gestus der ständigen Empörung – und

leistet sich so die Illusion eines –

gesellschaftlich letztlich wohl belang-

losen – Avantgardismus.

Er ist analytisch ambitioniert, aber

un-intellektuell und un-modern: marxi-

stisch-orthodox in der „Eigentums-“

und der „Machtfrage“, marxistisch-illu-

sionär in den Debatten um Entfrem-

dung, Arbeitsgesellschaft oder Emanzi-

pation von einer vermeintlichen „Kapi-

tallogik“, auf die alles reduziert wird.

Er präsentiert sich kulturell und

mental als eine Funktionärspartei –

dem entsprechend mit blassen, wenig

charismatischen und eher führungs-

schwachen Spitzenfiguren.

Ein solcher Neokommunismus mag

für die Zeit, in der ihn seine politische

Schwindsucht noch nicht völlig bedeu-

tungslos gemacht hat, noch durchaus

eine Funktionspartei auf unterer

Ebene tragen – eine Funktionspartei,

die ihren ideologischen Ballast auf die

jeweils höchste, für sie machtpolitisch

nicht erreichbare Ebene (Bund, Europa,

NATO, UNO ...) projiziert. Und auch dort

die Schuldigen dafür ausmacht, dass

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Sozialisten im Abseits?

27

sie den eigenen radikalen Ambitionen

nicht genügen kann.

Gerade eine solche neokommunisti-

sche PDS eignet sich, so kurios es

erscheint, als Konservator der nach-

wendischen deutschen Parteiensy-

stems und einer – vorerst – strategi-

schen Mehrheit um die SPD herum,

sofern alle Beteiligten an der eingangs

beschriebenen Misere von Mitte-Links

fest halten …

Zugleich würde eine solche neokom-

munistische PDS im Beiboot von Rot-

Grün die parteipolitische Polarisierung

in Deutschland verschärfen. Man stelle

sich nur einen Moment lang vor, die

PDS regierte jetzt in irgendeiner Form

mit – Vermögenssteuer, Irak-Position

und vieles andere würden seitens der

bürgerlichen Opposition als schlimm-

stes kommunistisches Teufelszeug

denunziert werden … Freilich: Ohne

konzeptionelle Alternative. Das Partein-

geschrei im Lande wäre noch schriller –

die Alternativlosigkeit noch dunkler.

Aus der FDP oder der Union müsste

sich ein deutscher Haider auf den Weg

machen. Oder ein deutscher Berlusconi

erschaffen werden.

Es gibt nur eine Alternative: Eine

reformfähige linke Mitte. Sie muss an

einer neokommunistischen PDS nicht

scheitern – aber sie wird von einer prag-

matischen reformfreudigen PDS neuen

Zuschnitts allein auch nicht kreiert

werden können … Es kommt auf alle an.

Dr. Thomas Falknerwar bis September 2002

Grundsatzreferent beim PDS-Parteivorstand.

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Gegen Ende des Jahres 2002 erinnert

die PDS an den Lehrer Lämpel in den

Geschichten von Max und Moritz. Wie

dieser nach der plötzlichen Explosion

seiner Pfeife liegt die Partei nach der

unverhofften Wahlniederlage am

Boden und vergewissert sich, ob sie

noch am Leben und wie sehr sie ver-

letzt worden ist. Dass sie noch lebt, ist

offensichtlich, denn unmittelbar nach

dem Niederschlag wurde bereits darü-

ber gestritten, welche Therapie und

Rehabilitationsmaßnahmen eingelei-

tet werden sollten, um ihr eine Weiter-

existenz zu sichern. Bislang vermittelt

dieser Streit den Eindruck, dass sie dar-

über der Agonie und dem Siechtum

anheimfallen und als politisches

Gesamtunternehmen in Liquidation

anstatt auf den Weg der Besserung

geraten könnte: der Parteivorstand

beschäftigt sich mit Taschenkontrollen

(Frankfurter Rundschau v. 25.11.02) und

hat es bislang nicht geschafft, einen

Arbeitsplan für 2003 zu beschließen.

Wie gut, wie schlecht stehen die Chan-

cen für eine positive Perspektive der

PDS und was könnte ihr bevorstehen?

Will sie Erfolg haben, d.h. nicht ledig-

lich als Parteiorganisation existieren,

sondern in der Parteienkonkurrenz

Erfolg haben, muss sie die entspre-

chenden Bedingungen herstellen. Da-

zu gehört neben einer handlungsfähi-

gen Führung eine Partei, in der ein

gruppen- oder flügelübergreifender

Konsens besteht, den herzustellen ist

eine zentrale Aufgabe der Führung, auf

dessen Basis die Partei als einheitlicher

Akteur auftreten kann. Des weiteren

ist wichtig, dass sich die Partei an den

in ihrer gesellschaftlichen Umwelt

ablaufenden Diskussionen beteiligt,

um die Wandel von Werten und Ein-

stellungen zu erkennen und sich dazu

verhalten zu können, d.h. sie sich gege-

benenfalls anzueignen, um nicht sozial

isoliert zu werden.

29

Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002von Gero Neugebauer

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Der Blick nach vorn erfordert einen

Rückblick zur Vergewisserung der Aus-

gangslage. Der erste Blick zurück geht

an das Ende des Wahljahrs 1998, als sich

die PDS in einer stabilen Seitenlage

befand: sie war erstmals mit einer Frak-

tion im Bundestag vertreten, hatte sich

im Osten Deutschlands auf der dritten

Position im Parteiensystem festgesetzt

und war Partner in einer Landesregie-

rung geworden. Im Westen dagegen

hatte sie zwar Stimmen gewonnen, aber

sich nicht richtig aufrappeln können.

Der zweite Blick richtet sich auf ihre

weiteren Erfolge 1999 bis Anfang 2002.

Im Ergebnis der diversen Wahlen

erreichte sie eine PDS-Gruppe im Euro-

paparlament und die Beteiligung an

zwei Landesregierungen, konnte die SPD

in zwei Landtagswahlen überholen und

gewann u.a. drei Landratsmandate. Die

PDS befand sich Anfang 2002 auf einem

Höhepunkt ihrer Laufbahn, wenngleich

die höchste Würdigung, die Beteiligung

an einer Koalition auf Bundesebene, bis-

lang jedoch nicht erreicht worden war;

daran gedacht wurde jedoch.

Im Rückblick wird jedoch offenbar,

dass sie die Risiken der Erfolge nicht

erkannte oder sogar negierte. Da war

zum einen ihr angestammtes Milieu,

die antiwestlich eingestellten wirt-

schaftlichen, politischen und kulturel-

len Trägerschichten der DDR und deren

Umfeld. Es bildete eine feste Bank, die

bei Wahlen nahezu unverbrüchlich zur

Partei stand. Die Wahlerfolge waren

zustande gekommen, weil sich die PDS

weitere, mit dem Zustand der inneren

Einheit unzufriedene Wählerschichten

vor allem aus dem Einzugsbereich von

SPD und CDU, aber auch aus dem

Nichtwählersegment erschlossen hat-

te. In Bezug auf diese Wähler stellte

sich ihr die Aufgabe, dieses Potenzial

durch ein attraktives Personal- und Pro-

grammangebot bei der Stange zu hal-

ten; anders als ihre Kernwählerschaft

ließ sich dieses (Protest-) Potenzial

nicht automatisch bei jeder Wahl mobi-

lisieren. Mit einer größeren Berücksich-

tigung der Belange ihrer Randwähler-

schaft lief die Partei allerdings Gefahr,

das Kernmilieu zu verprellen.

Da war zum anderen die Frage der

Weiterentwicklung ihres Profils. Das

alte Programm von 1993, ohnehin ein

Konglomerat verschiedener Positio-

nen, war nach Ansicht führender PDS-

Politiker untauglich geworden, die

Modernisierung der PDS zu unterstrei-

chen und sie für neue Wählerschichten

akzeptabel zu machen. Der Partei

fehlte ein innerer programmatischer

Konsens, der sie nach außen einheit-

lich auftreten lassen konnte. In der

Gero Neugebauer

30

Randwähler vs. Kernmilieu

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Öffentlichkeit wirkte sie eher als ein

Dachverband diverser Vereine mit

einem breiten, teilweise unvereinba-

rem politischen Spektrum: „PDS e.V.“

nannte das Lothar Bisky.

Da war zum dritten die Frage der

Expansion der Partei. Der Aufbau der

Parteiorganisation im Westen Deutsch-

lands ging nur zögerlich voran. Der

Zulauf zur PDS blieb gering, die Über-

tritte aus der SPD und von den Grünen

zeigten keine Trittbrettfahrereffekte.

Zwar feierte die Partei die in westdeut-

schen Kommunen seit 1999 errunge-

nen rund 100 Mandate sowie die

gestiegenen Stimmenanteile im West-

teil von Berlin – 1995: 2,1 Prozent, 1999:

4,2 Prozent, 2001: 6,9 Prozent und den

Einzug in Bezirksvertretungen in west-

lichen Stadtbezirken – als Beginn eines

Durchbruchs. Dennoch war es leichtfer-

tig zu erwarten, dass es ohne massive

Anstrengungen zur sozialen und politi-

schen Verankerung der PDS möglich

sein könnte, im Westen in der kommen-

den Bundestagswahl Stimmen hinzu

gewinnen zu können. Jedenfalls war

eine zwischen West und Ost unter-

schiedliche Ausgangslage für die Bun-

destagswahl 2002 gegeben, auf die zu

reagieren war, denn bislang reichten im

gesamtdeutschen Stadion die Fans der

PDS in der Ostkurve nicht aus.

Schließlich waren da noch die exter-

nen Bedingungen für die Erfolge der

PDS. Auf der lokalen und regionalen

Ebene konnte sich die Partei noch auf

Kompetenzen, Leistungen und Perso-

nen stützen, auf der Bundesebene war

das kaum möglich; hier zeigen und zeig-

ten sich keine der erwarteten Synergie-

effekte. Neben den Wirkungen des fort-

dauernden innerdeutschen Ost-West-

Konflikts waren es die Schwächen und

Mißerfolge ihrer Konkurrenten, durch

die sie in unterschiedlicher Weise

begünstigt wurde. Mal bewirkten deren

Aktivitäten („Rote Socken“-Kampgane)

Solidarisierungen zu ihren Gunsten, mal

führten sie der PDS Proteststimmen zu;

Wahlen mit geringer Beteiligung wirk-

ten sich für die PDS, die zudem gut

mobilisieren konnte, häufig positiver

aus, als für ihre Mitwettbewerber.

Die PDS sah sich selbst auf dem Weg

zu einer „normalen“ Volkspartei und

deutete ihre Erfolge als wachsende

Anerkennung ihrer politischen Leistun-

gen bzw. Absichten. In ihren Erwartun-

gen ließ sie sich von der „Vakuum-

These“ leiten. Danach bewegt sich die

SPD zunehmend in die politische Mitte

Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

31

Anschluss verpasst

Page 34: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

und hinterlässt am linken Rand des Par-

teiensystems eine Leerstelle, welche

die PDS als linke, sozialistische Partei,

als Partei der sozialen Gerechtigkeit, als

die einzige Friedenspartei in Deutsch-

land besetzen, und dadurch zugleich

ihre Westausdehnung vorantreiben

kann. Dazu würden politische Kampa-

gnen und Offerten an linke reformori-

entierte, aber bislang PDS-skeptische

Wählergruppen reichen; der Rest

würde sich quasi von selbst einstellen.

Dass sich dieses nicht im Selbstlauf

realisieren würde, wussten PDS-Politi-

ker wie der frühere Bundesvorsitzen-

den Lothar Bisky, der ehemalige Vorsit-

zende der Bundestagsfraktion Gregor

Gysi und der PDS-„Vordenker“ André

Brie, die nach der Bundestagswahl

1998 auf eine rasche programmatische

und strukturelle Modernisierung der

Partei gedrängt hatten. Bisky und Gysi,

Brie hatte sich 1999 in das Europapar-

lament abgeseilt, scheiterten damit

auf dem Parteitag in Münster im April

2000, weil sie letztlich nicht eindeutig

genug von der Mittelgruppe („Reform-

pragmatiker“) unterstützt wurden.

Auch unter Biskys Nachfolgerin Gabri-

ele Zimmer schaffte es die PDS nicht,

vor der Bundestagswahl 2002 ein

neues Grundsatzprogramm zu verab-

schieden und zog statt dessen ohne

ein klares Profil, aber gekennzeichnet

durch Rivalitäten in der Führung und

durch erhebliche Schwächen in der

internen wie der externen Kommuni-

kation in den Wahlkampf. Die Defizite

in der politischen Führung des Wahl-

kampfs, handwerkliche Fehler in der

Kampagne, mangelnde Flexibilität in

den Reaktionen auf veränderte Rah-

menbedingungen, das wenig attrak-

tive und nicht einheitlich auftretende

Personalangebot und nicht zuletzt die

irritierende Losung – „Wer Stoiber ver-

hindern will, muss PDS wählen“ – kon-

terkarierten im Wahlkampf oft die

Anstrengungen der Länder, der Kreise

und der Direktkandidaten. Die Folge:

Die PDS fiel durch. Im Lagerwahlkampf

hatte sie sich widerstandslos an die

Seite drücken lassen und in ihren ver-

muteten Kompetenzen: Eintreten für

soziale Gerechtigkeit, für Frieden und

für Ostinteressen, wurde sie kaum

gewürdigt; damit schaffte sie es nicht,

in ihrer Identität bestätigt zu werden.

Politisch verantwortlich für den Wahl-

kampf war der geschäftsführende Vor-

stand der PDS. Der war weder in der

Lage einheitlich zu agieren noch dazu,

die Partei zu geschlossenem Handeln zu

befähigen.Vordergründig lag das daran,

dass die Parteiführung unter dem Deck-

mantel ideologischer Kontroversen

Kämpfe um Positionen – und damit um

die Macht – austrug und durch ihre pro-

blembehaftete, auf interpersonale Kon-

flikte fokussierte interne und externe

Gero Neugebauer

32

Page 35: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

Kommunikation erheblich dazu beitrug,

dass politische Ziele und Absichten der

Partei nicht zu vermitteln waren.

Möglich war das vor dem Hinter-

grund der von der Vorsitzenden letzt-

endlich zu verantwortenden Politik in

der Programmfrage. Sie hatte erst

engagiert die Diskussion mit einem

neuen Entwurf vorangetrieben, wurde

dann jedoch konfliktscheu und war

angesichts interner Widerstände nicht

bereit, sie auf dem Parteitag in Dresden

(Oktober 2001) zum Abschluss zu brin-

gen. Damit bot die PDS dem Wähler

keine Möglichkeit zu prüfen, inwieweit

die Partei programmatisch und poli-

tisch den Anschluss an den gesell-

schaftlichen Wandel gefunden und

Konsequenzen daraus gezogen hatte.

Da auf dem Parteitag in Gera (Oktober

2002) faktisch aus der alten Führungs-

spitze nur der Bundesgeschäftsführer

Dietmar Bartsch, er galt als Repräsen-

tant der Modernisierungsdiskussion,

ausgeschieden ist, sind die Vorausset-

zungen dafür nicht besser geworden.

Zweifel sind auch, schaut man auf

die ersten Beschlüsse des neuen Vor-

stands, hinsichtlich dessen Bereit-

schaft angebracht, die Situation der

Partei kritisch zu reflektieren. Manche

Diskussionsbeiträge verraten Relikte

von Kritik und Selbstkritik nach dem

alten SED-Muster: Personen, aber nicht

Strukturen werden kritisiert, eigene

negative Beiträge der Partei zugeschu-

stert und Bemühungen um eine syste-

matische Analyse in eine Arbeits-

gruppe verlagert. Die Tagesordnung

könnte eine Reihe von Problemen ent-

halten, die in der Rekonvaleszenzzeit

zu lösen wären. Da sind:

• die Ursachen und Folgen der teil-

weise desparaten innerparteilichen

Verfassung der PDS für ihre Aktions-

fähigkeit und Akzeptanz,

• die Gefahr, in die Isolation zu gera-

ten, wenn keine Verständigung über

ihren Standort in der Gesellschaft

noch über ihre Bündnisfähigkeit und

-bereitschaft hergestellt wird,

• die Klärung der widersprüchlichen

Positionsbestimmungen, die sie als

gesellschaftliche Opposition außer-

halb und innerhalb der Parlamente

unabhängig von einer eventuellen

Regierungsbeteiligung einnehmen

will und anderes mehr.

Im Moment bietet die PDS eine

beschädigte Identität an, weshalb sie

nicht nur für die eigenen Mitglieder,

sondern auch für potentielle Interes-

senten wenig attraktiv ist. Das zu

ändern, ist Sache politischer Entschei-

dungen, insbesondere durch eine kon-

sequente Programmdiskussion mit

dem Ziel der Modernisierung der PDS.

Die Frage ist, ob die im Parteivorstand

repräsentierten Strömungen sich dar-

auf einlassen wollen.

Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

33

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Eine wichtige Voraussetzung für eine

positive Perspektive ist also, dass die

PDS es schafft, sich aus der durch

interne Bedingungen verursachten

Lähmung zu lösen und die Partei durch

eine Programm- und eine Parteireform

zu rekonstruieren. Denn auch die muss

vorangetrieben werden, soll die am

Boden liegende westdeutsche Parteior-

ganisation überleben und die Bundes-

partei konsolidiert werden. Der Wegfall

staatlicher Gelder sowie der vielfälti-

gen Ressourcen der Bundestagsfrak-

tion (Mitarbeiter, Geld, Spenden, Medi-

enzugang, nationale und internatio-

nale Kontaktmöglichkeiten, Logistik

des Bundestages etc. pp.,) muss durch

die Landesverbände aufgefangen wer-

den, sonst kann die Gesamtpartei Ende

2003 Konkurs anmelden; kein probates,

aber auch kein unbekanntes Mittel für

Problemlösungen.

Die ostdeutschen Landesverbände

sortieren sich nach dem Geraer Partei-

tag neu. Egal, ob sie in der Opposition

oder an der Regierung beteiligt sind,

sie müssen nachweisen, dass ihre Kon-

zepte Erfolg haben. Anders ist der

„Sowohl (Opposition) – als auch (Re-

gierungsbeteiligung) – Kurs“ nicht zu

vermitteln; ein Profil verschafft sich

dadurch jedoch nur der Landesver-

band, nicht aber die Gesamtpartei.

Fazit: Die Voraussetzungen für eine

positive Perspektive verlangen Entschei-

dungen über umfassende programma-

tische, strukturelle und personelle

Aspekte, d.h. sie beziehen sich auf die

Führung der Partei, auf ihre Organisa-

tion und auf ihr Programm. Schafft die

PDS es nicht, sich über die Vorausset-

zungen ihrer Rekonstruktion zu verstän-

digen, hat sie als Bundespartei ohne

wahrnehmbaren westdeutschen Flügel

eine Chance auf den Status einer politi-

schen Sekte mit einer ständig abneh-

menden sozialen Basis, nicht jedoch auf

eine nationale relevante Partei im deut-

schen Parteiensystem. Gesetzt den Fall,

die PDS schafft das, die Prognosen sind

unterschiedlich, dann muss sie mit wei-

teren Problemen rechnen.

Eins davon ist ihre Wählerbasis. Die

Ergebnisse der Bundestagswahlen 2002

zeigen, dass die Bedeutung des Ost-

West-Konflikts für das Wählerverhalten

abgenommen hat und die „westdeut-

schen“ Parteien, dieses Mal insbeson-

Gero Neugebauer

34

Es rüttelt und schüttelt sich

Optionen der Parteienkonkurrenz

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dere die SPD, Gegenstand der Wähler-

gunst geworden sind. Auch die kleinen

Parteien FDP und – weniger – die Bünd-

nisgrünen zeigen in der ostdeutschen

Parteienlandschaft wieder Flagge. Der

gesellschaftliche Wandel wird deren

Chancen in Zukunft verbessern, wes-

halb die PDS auf ihrer Suche nach neuen

Wählerschichten mit stärkeren Konkur-

renten als zuvor rechnen muss, zumal

ihre Monopolposition in Sachen „Sozia-

ler Gerechtigkeit“ abbröckelt.

Die Koalitionsoptionen der PDS

reduzieren sich faktisch auf die – unge-

liebte – SPD; die CDU kann sie trotz

mancher Offerten vergessen. Die rech-

net sich durch eine erstarkte FDP bes-

sere Chancen auf Regierungsmacht

aus. Das schmälert die Möglichkeit der

SPD, sich in Koalitionen mit der CDU zu

begeben. Entgegen manchen Vermu-

tungen aus der gegenwärtigen PDS-

Spitze wird sie keine Lust haben, sich in

Landesregierungen mit einer Partei zu

verbünden, die sich programmatisch

anachronistisch, SPD-feindlich und

modernisierungsunwillig gibt. Wenn

die SPD eine Koalition mit der bündnis-

grünen Partei anstreben sollte, was

momentan nur in Berlin, auf längere

Sicht aber auch in Brandenburg und

erst recht in einem Land Berlin-Bran-

denburg möglich sein könnte, dann

bliebe die PDS auch aus arithmeti-

schen Gründen außen vor.

Der Wettbewerb um Wähler wird in

dem Maße zunehmen, in dem die Lager

der Stammwähler sich reduzieren und

der Zugang zu neuen Wählergruppen

für den Gewinn von Mehrheiten wie

für die Verteilung der politischen

Gewichte in den jeweiligen Lagern ent-

scheidend werden wird. Da die PDS sich

stärker als ihre Konkurrenten auf

Stammwähler stützt, muss sie stärkere

Anstrengungen als diese unterneh-

men, um neue Wähler zu erreichen,

wenn sie ihre Ergebnisse verbessern

und bündnisfähig werden will.

Denn vieles spricht dafür, dass die

PDS nur dann eine Perspektive als

Wettbewerberin in der Parteienkonkur-

renz hat, wenn sie sich den oben skiz-

zierten programmatischen, strukturel-

len und personellen Herausforderun-

gen stellt; bislang zeigt sie in allen drei

Bereichen erhebliche Schwächen. Das

bedeutet, dass sie keine unbegrenzten

Optionen hat, aber ob sie sich auf die

Rolle einer Funktionspartei im Sinne

einer Mehrheitsbeschafferin im linken

Lager des Parteiensystems oder in der

Region auf die Rolle einer Führungspar-

tei einstellen sollte, entscheiden die

Wähler und die potentiellen Partner.

Parteien können, wenn sie erst mal

existieren, sich lange halten, selbst

wenn es ihnen an einer ausreichenden

sozialen Verankerung fehlt. Solche Par-

teien am Rande des Parteiensystems

Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

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sichern ihre Überlebensfähigkeit ent-

weder dadurch, dass sie sich als Vehikel

für Protest anbieten oder dass sie von

den Schwächen der Konkurrenten pro-

fitieren. Da bietet sich eine für die PDS

nicht unbekannte Chance an, nämlich

aus Veränderungen der Rahmenbedin-

gungen Profit zu ziehen. Schon früher

hat die PDS ihre Stärke nicht nur aus

der eigenen Kraft, sondern zugleich

aus den Schwächen und Fehlern der

oder des Konkurrenten bezogen – und

die neue Amtsperiode der rot-grünen

Bundesregierung hat gerade erst mit

wenig Fortune begonnen.

Zukunftsfähigkeit mit Fragezeichen

Will die PDS sich nicht auf ein Schei-

tern der Koalition verlassen, dann gilt,

wenn sie – unabhängig von der Lösung

der internen Organisations- und Perso-

nalprobleme und ihres demographi-

schen Problems – eine langfristige Per-

spektive anstrebt,

• dass ihre Zeit als Repräsentantin des

Ost-West-Konflikts abläuft,

• dass sie als Protestpartei nur auf

einer instabilen und unsicheren Ba-

sis, den wechselnden Protestorien-

tierungen, existieren kann und

• dass sie im Parteienwettbewerb in

Ostdeutschland durchaus eine Per-

spektive als regionale Partei haben

kann, solange sie sich auf politische

und soziale Traditionen und Milieus

stützen kann, zu denen die anderen

Parteien keinen Zugang haben.

Theoretisch könnte sie als Bundes-

partei eine Chance mit dem Versuch

haben, sich entlang einer realen, aber

keiner fiktiven oder konstruierten

gesellschaftlichen Konfliktlinie zu or-

ganisieren, die ihr eine soziale Basis

wie eine relevante Repräsentation im

Parteiensystem sichert. Die Realisie-

rung dieser Hoffnung wird in PDS-Krei-

sen in der Konstituierung der PDS als

einer gesamtdeutschen modernen so-

zialistischen Partei gesehen. Diese Per-

spektive setzt, gibt man angesichts des

bisherigen Scheiterns der PDS in dieser

Frage einer relevanten Nachfrage nach

„Sozialismus“ überhaupt eine Chance,

vieles voraus, darunter Antworten auf

eine Reihe von Gretchenfragen zur Re-

levanz anachronistischer Sozialismus-

theorien, zur Vereinbarkeit von Re-

formkonzeptionen und politischen

Systemfragen, zu den Folgen der Re-

naissance von mentalen und kulturel-

len Traditionen der SED in der PDS und

nicht zuletzt nach den Inhalten ihres

Politikkonzepts.

Gero Neugebauer

36

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Interessierte Beobachter ziehen aus

der gegenwärtigen Performance der

PDS, insbesondere aus den Selbstdar-

stellung der Parteispitze, den Schluss,

dass, angefangen vom Einsatz intellek-

tuellen Ressourcen über die Formulie-

rung politischer Positionen bis hin zu

personalpolitischen Entscheidungen,

sich Konturen einer Strategie abzeich-

nen, die auf das Überleben in der Orga-

nisation mit dem Zweck gerichtet ist,

Positionen (Jobs) und den Zugang zu

den knapp werdenden Ressourcen zu

sichern. Das – und die dagegen gerich-

teten Strategien – erinnern an die Zeit,

in der die ursprünglichen Anstrengun-

gen zu einer kritischen Reflektion der

programmatischen Positionen und

politischen Strategien der PDS aufge-

geben wurden und die Partei sich ein-

igelte, wodurch sie den Kontakt zur

Gesellschaft und damit Mitglieder

sowie Sympathisanten verlor. Die

damaligen Bedingungen für den spä-

teren Aufschwung liegen heute nicht

mehr vor und sind auch nicht zu rekon-

struieren. Der Bedarf für die PDS muss

von ihr selbst nachgewiesen werden

Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

37

Dr. Gero Neugebauerist Politologe und Parteienforscher

am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin

http://www.polwiss.fu-berlin.de/osi/osz/index.htm

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Potsdam ist eine schöne Stadt. Für

viele sogar die schönste Stadt in Ost-

deutschland, vielleicht sogar mittler-

weile die schönste und kulturell span-

nendste Landeshauptstadt im verein-

ten Deutschland. Potsdam ist aber nicht

nur wegen seiner Schlösser, seiner Land-

schaft und Kultur spannend. Spannend

und aufregend ist die Stadt auch poli-

tisch. Und insbesondere an Wahlaben-

den immer für eine Überraschung gut.

Beispiele: Im Jahr 1993 – als der

Westen die PDS schon im Abfallkorb

der Geschichte sah – wurde fast ein

ehemaliger Stasi-IM für die PDS zum

OB gewählt.

Oder das Jahr 1998, als mit Matthias

Platzeck ein neuer SPD-Oststar geboren

wurde, den die Potsdamer gleich im 1.

Wahlgang triumphal zum OB wählten.

Bei der OB-Wahl 2002 fehlten hinge-

gen im 2.Wahlgang – fünf Wochen nach

der Bundestagswahl – nur 122 Stimmen,

und ein sächselnder PDSler wäre zum

Platzeck-Nachfolger gewählt worden.

Und dies, obwohl er im ersten Wahlgang

am 22. September noch gut 11.000 Stim-

men hinter dem SPD-Kandidaten lag.

Verrückte Welt in Potsdam also?Auf jeden Fall haben politische Beob-

achter es schwer, in Potsdam einen kla-

ren politischen Entwicklungstrend zu

erkennen. Entsprechend werden in den

Medien konjunkturelle Stereotypen

wie „PDS-Hochburg“, „SPD-Hochburg“,

„Meckerstadt des Ostens“, „Neues Bür-

gertum erobert die Stadt“ verbreitet,

die am nächsten Wahltag nicht mehr

stimmen. Zeit also für eine detaillierte

Analyse der Wahlen in Potsdam – jen-

seits der gefühlten Stimmungslagen.

18 Mal gewählt – und nichts ist passiert?

In den vergangenen 12 Jahren konn-

ten die Potsdamer in 18 Wahlgängen

entschieden, welche Parteien sie präfe-

rieren: bei einer Volkskammerwahl, zwei

Europawahlen, vier Bundestagswahlen,

drei Landtagswahlen, drei Kommunal-

wahlen, drei OB-Wahlen und zwei dabei

notwendigen Stichwahlen.

Von ihrem Wahlrecht machten die

Potsdamer sehr unterschiedlich ge-

brauch: die höchste Wahlbeteiligung

wurde bei der ersten und einzigen freien

39

Verrückte Welt in Potsdam?Zur Parteienkonkurrenz in der brandenburgischen Landeshauptstadt

von Klaus Ness*

* Mein Dank gilt Silke Pamme für die umfangreiche Zuarbeit des statistischen Materials.

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Klaus Ness

40

Volkskammerwahl 1990 mit 93,01 Pro-

zent erzielt. Danach ging es – je nach der

Beurteilung der Wichtigkeit der jeweili-

gen Wahl und der allgemeinen politi-

schen Stimmungslage – auf und ab.

Bundestagswahlen liegen mit einer rela-

tiv hohen Wahlbeteiligung zwischen

75,78 Prozent (1990) und 80,44 Prozent

(1998) an der Spitze, während Europa-

wahlen mit 46 Prozent (1994) und 33,3

(1990) am Ende der Skala liegen. Land-

tagswahlen mit einer Beteiligung zwi-

schen 60,37 Prozent (1999) und 71,79 Pro-

zent (1990) liegen mit rückläufiger Ten-

denz im Mittelfeld. Gleiches lässt sich für

Kommunalwahlen (1990: 74,40 Prozent,

1993: 62,81 Prozent, 1998: 79,92 Prozent)

und OB-Wahlen (1993: 62,87 Prozent

1998: 79,91 Prozent, Stichwahl 2002:

40,37 Prozent) sagen.

Stereotype Nr. 1:Potsdam ist eine PDS-Hochburg

Ist Potsdam eine PDS-Hochburg? Ein-

deutig ja. Aber alles ist relativ! Als ehema-

lige DDR-Bezirksstadt mit einer beson-

ders starken Häufung von Angehörigen

der ehemaligen Dienstleistungsklasse

(Beschäftige der öffentlichen Verwal-

tung, der so genannten „bewaffneten

Organe“, Hochschulstandort, etc.) sowie

von Führungseliten der SED und NVA

erreicht die PDS bei allen Wahlen in Pots-

dam überdurchschnittliche Ergebnisse –

wie in anderen ehemaligen Bezirksstäd-

ten in den neuen Ländern auch. In Pots-

dam fällt auf, dass die PDS ihre Anhän-

gerschaft im Vergleich zu anderen Par-

teien bei allen Wahlen relativ gut mobili-

sieren kann. Die prozentuale Schwan-

kungsbreite bei der Mobilisierung der

PDS-Wähler ist im Vergleich zu potenziel-

len SPD- und CDU-Wählern deutlich

geringer. Zunächst ein Blick auf die Stim-

menpotenziale: Die höchste absolute

Stimmenzahl erreichte die PDS bei den

Erststimmen bei der Bundestagswahl

1994, als ihr Kandidat Rolf Kutzmutz (der

ein Jahr zuvor fast OB geworden wäre!)

31.447 Stimmen (38,75 Prozent) erreichte.

Ihre geringste absolute Stimmenzahl

erzielte die PDS mit 12.516 Stimmen (37,10

Prozent) bei der Europawahl 1999 (Wahl-

beteiligung: 33,30 Prozent).

Der Vergleich der prozentualen

Ergebnisse beider Wahlen weist auf ein

wichtiges Ergebnis dieser Studie hin:

Die PDS profitiert in Potsdam von einer

relativ geringen Wahlbeteiligung, da

sie den größten Sockel von Stamm-

wählern hat, die mit ihrer Partei „durch

dick und dünn“ gehen. Spannend ist die

Frage nach der strukturellen Mehr-

heitsfähigkeit der Potsdamer PDS. Wie

entwickeln sich die erreichbaren Wäh-

lerpotenziale der Partei angesichts der

demografischen und wanderungsbe-

dingten Veränderungen? Gestartet ist

die PDS bei der Volkskammerwahl 1990

(höchste erreichte Wahlbeteiligung!)

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Verrückte Welt in Potsdam?

41

mit 27.385 Stimmen. Sie stürzte bei den

weiteren Wahlen des Jahres 1990 bis

auf 16.120 Stimmen (Zweitstimme Bun-

destagswahl) ab und erlebte ab 1993 in

einer Phase wachsenden Unmutes

ihren Wiederaufstieg als Vertreterin

von Ostinteressen auf 29.782 Stimmen

(OB-Stichwahl 1993). 1994 holte Kutz-

mutz als Direktkandidat bei der Bun-

destagswahl 31.447 Stimmen – der

Höhepunkt dieser Entwicklung, 1998

erhielt er noch 29.399 Stimmen, 2002

aber nur noch 25.703 Stimmen. Ein pa-

ralleler, sogar noch deutlicherer Rück-

gang ist bei den Zweitstimmen der

jeweiligen Bundestagswahlen erkenn-

bar: 1994 erreichte die PDS 25.559 Stim-

men, 1998 noch 22.808 Stimmen, 2002

jedoch nur noch 18.335 Stimmen.

Auch wenn unterstellt werden kann,

dass ein Teil von PDS-Anhängern aus

taktischen Gründen bei der Bundestags-

wahl 2002 mit der Zweitstimme SPD

gewählt hat, bleibt festzustellen, dass

sich das für die PDS erreichbare Wähler-

potenzial in Potsdam tendenziell verrin-

gert. Grob taxiert: Während das erreich-

bare Potenzial für die Potsdamer PDS in

der ersten Hälfte der 90er Jahre bei

maximal 32.000 Wählern lag, sind es

jetzt nur noch 25.000 – 27.000 Wähler.

Übersetzt: Die PDS hat jeden fünften bis

jeden sechsten Wähler verloren. Festzu-

halten ist weiter, dass der PDS die opti-

male Ausschöpfung ihres Potenzials nur

gelingt, wenn sie ein attraktives Perso-

nalangebot unterbreitet. Kutzmutz hat

einerseits deutlich an Attraktivität ein-

gebüßt, andererseits kann der OB-Kandi-

dat Scharfenberg das frühere Kutzmutz-

Potenzial nicht vollständig erreichen.

Trotzdem bleibt nach der knappen

Bundestagswahlen Wahlbe- Wahlbe- PDS

PDS Zweitstimmen rechtigte teiligung

Anzahl

in % absolut in %

Volkskammerwahl

1990 106.892 93,01 27.385 27,65

1990 106.384 75,78 16.120 20,20

1994 106.595 77,7 25.559 31,40

1998 102.650 80,44 22.808 28,14

2002 105.654 77,27 18.335 22,80

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Klaus Ness

42

Stichwahl um den OB-Posten 2002

festzuhalten, dass das erreichbare

PDS-Potenzial leichter mobilisierbar ist

als die potenzielle Anhängerschaft der

SPD und der bürgerlichen Parteien.

Deshalb hätte es im Herbst fast einen

PDS-OB gegeben …

Fazit: Die PDS hat in Potsdam wahr-

scheinlich ihren Zenit überschritten.

Ursachen sind der zurückgehende

„Gebrauchswert“ der PDS als Ostpartei,

aber auch demografische und wande-

rungsbedingte Veränderungen in der

Potsdamer Bevölkerung. Auf ihrem

Weg, in Potsdam strukturell mehrheits-

fähig zu werden, ist die PDS auf dem

Rückmarsch. Andererseits kann die PDS

durch ihre nach wie vor gute Mobilisie-

rungsfähigkeit in Potsdam bei geringer

Wahlbeteiligung immer noch stärkste

Partei werden. Im Extremfall sogar mit

absoluter Mehrheit.

Stereotype Nr. 2:Ein neues Bürgertum erobert Potsdam

Jauch, Joop, Borer-Fielding, Nadja

Auermann, Friede Springer und Mat-

thias Döpfner: Die Schönen und Rei-

chen erobern Potsdam, die Villen in der

Berliner Vorstadt erstrahlen in neuem

Glanz. Spiegel, Stern, die Berliner

Tageszeitungen beschreiben in regel-

mäßigen Abständen, wie es ein neues

Großbürgertum sehnsuchtsvoll ins

preußische Arkadien zieht.

Logisch, dass damit auch die Vermu-

tung einhergeht, bei so viel finanzkräfti-

gen Zuzug müsse in Potsdam bald so

bürgerlich gewählt werden wie an der

Hamburger Elbchaussee, in Bad Godes-

berg oder am Wannsee. Goldene Zeiten

also für die CDU in Potsdam? Zunächst

stimmt eins: So viel Zuzug,Wegzug und

Umzug gab es in Potsdam noch nie wie

in den vergangenen 12 Jahren. Seit 1991

haben 61.016 Personen ihren Wohnsitz

nach Potsdam verlegt, 67.864 Men-

schen sind im gleichen Zeitraum aus der

Stadt verzogen. Auch wenn man unter-

stellt, dass es unter den Zu- und Wegzü-

gen eine Reihe von Überschneidungen

(beispielsweise Studenten) gibt, hat sich

die Potsdamer Wahlbevölkerung in den

vergangenen 12 Jahren radikal verän-

dert. In die Betrachtung muss auch ein-

bezogen werden, dass sich der Potsda-

mer Lebensbaum aufgrund natürlicher

Entwicklungen (allein 12.060 Sterbefälle

in den vergangenen 10 Jahren) verän-

dert hat. Unterm Strich kann also davon

ausgegangen werden, dass die Potsda-

mer Wählerschaft des Jahres 2002 nur

noch zu maximal 30 – 40 Prozent mit

der des Jahres 1990 identisch ist. Fast

zwei Drittel der Wähler sind neu hinzu-

gekommen. Die gemessen an der Ein-

wohnerzahl gigantische Zuzugszahl

von gut 61.000 Personen deutet schon

darauf hin, dass die Neu-Potsdamer

nicht alles nur gut verdienende Promi-

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nente sein können. Der „Promi-Kult“ um

die Jauchs und Joops verzerrt das reale

Bild der Neu-Potsdamer: es sind sehr

viele Studenten dabei, die durch die

nach der Wende neu entstandene Uni-

versität mit mittlerweile 16.500 Studen-

ten in die Stadt gekommen sind. Und

noch mehr Menschen, die in der Verwal-

tungs-, Dienstleistungs- und Medien-

stadt Potsdam in den vergangenen 12

Jahren eine neue Anstellung gefunden

haben.

Vor diesem Hintergrund überrascht

es nicht, dass das von Journalisten

beschworene, vielleicht auch herbeige-

wünschte „bürgerliche Potsdam“ bei

der Betrachtung der CDU-Wahlergeb-

nisse der Jahre 1990 – 2002 keine Ent-

sprechung findet. Merke: Potsdam ist

nicht konservativer geworden.

Ihr bestes Ergebnis erreicht die CDU

prozentual und in absoluten Stimmen

bei der Bundestagswahl 1990: 18.804

Potsdamer gaben ihr damals ihre Zweit-

stimme und damit 23,57 Prozent. Zur

Bundestagswahl 2002 waren es jedoch

nur 12.421 Potsdamer und damit nur

noch 15,45 Prozent. Wenn alle 18 Wahl-

gänge der Jahre 1990 – 2002 in die

Betrachtung einbezogen werden,

erreicht die CDU zwischen 6.157 Stim-

men (Europawahl 1999) und 18.804

Stimmen (Zweitstimme Bundestags-

wahl 1990) Bei den Wahlen ab 1998

holte sie aber nur noch zwischen 6.157

Stimmen (Europawahl 1999) und 13.625

Stimmen (Erststimme Bundestagswahl

2002). Das bedeutet im Ergebnis, dass

die Veränderungen in der Zusammen-

setzung der Potsdamer Wahlbevölke-

rung keine Erweiterung des Potenzials

der CDU zur Folge hatte. Im Gegenteil:

Verrückte Welt in Potsdam?

43

Bundestagswahlen Wahlbe- Wahlbe- CDU

CDU Zweitstimmen rechtigte teiligung

Anzahl

in % absolut %

Volkskammerwahl 106.892 93,01 18.467 18,65

1990

1990 106.892 75,78 18.804 23,57

1994 105.395 77,70 14.123 17,35

1998 102.650 80,44 11.340 13,99

2002 105.654 77,27 12.421 15,45

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Klaus Ness

44

Die CDU stagniert in ihren Wahlergeb-

nissen, die für sie erreichbare Wähler-

schaft ist offensichtlich sogar rückläufig.

Fazit: Es mag sein, dass sich ein Bürger-

tum in der Stadt etabliert. Aber bisher

gibt es, wie die Wahlergebnisse belegen,

kein Indiz dafür, dass sich in Potsdam ein

prägendes konservatives Milieu heraus-

bildet, von dem die CDU profitiert.

Stereotype 3: Platzecks Hometown wird SPD-Hochburg

Matthias Platzeck ist ein Kind seiner

Stadt. Der gebürtige Babelsberger

erreichte bei der OB-Wahl 1998 als SPD-

Kandidat gleich im 1. Wahlgang 51.905

Stimmen und damit 63,51 Prozent. Bei

der am selben Tag stattfindenden Kom-

munalwahl überrundete die SPD im Sog

dieses Wahlsieges mit 39,30 Prozent die

PDS und wurde stärkste Fraktion in der

Stadtverordnetenversammlung. Plat-

zeck erwies sich in seiner Zeit als OB als

der gute Kommunikator, als den die

Brandenburger ihn bereits als Umwelt-

minister kennen gelernt hatten. Pots-

dam hatte vor Platzeck lange und

schwer an dem Image getragen, die

„Meckerhauptstadt des Ostens“ zu sein.

Platzeck verstand es in seiner knapp vier

Jahre währenden Amtszeit, die Potsda-

mer wieder mit ihrer Stadt zu versöh-

nen. Insbesondere seine aktive Unter-

stützung für bürgerschaftliches Enga-

gement bei der Wiedergewinnung ver-

lorener historischer Identitätspunkte

der Stadt (Stadtkanal, Belvedere auf

dem Pfingstberg, Fortunaportal) haben

dazu beigetragen, dass die Potsdamer

wieder Stolz für ihre Stadt empfinden.

Bundestagswahlen Wahlbe- Wahlbe- SPD

SPD Zweitstimmen rechtigte teiligung

Anzahl

in % absolut in %

Volkskammerwahl

1990 106.892 93,01 34.552 34,86

1990 106.384 75,78 26.575 33,30

1994 106.595 77,7 35.181 43,22

1998 102.650 80,44 35.058 43,25

2002 105.654 77,27 37.087 46,11

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Platzeck traf in seiner Amtszeit aber

auch schwierige und umstrittene Ent-

scheidungen wie etwa die Schließung

der Philharmonie, die Widerstand her-

vorriefen. Vor allem seine Kommunika-

tionsfähigkeit auch in diesen Situatio-

nen hat dazu beigetragen, dass die mei-

sten Potsdamer sein Ausscheiden als OB

und die Übernahme des Amtes des

Ministerpräsidenten mit einem lachen-

den und einem weinenden Auge gese-

hen haben.

Dies hat den Eindruck entstehen las-

sen, dass Potsdam nun endgültig zur

SPD-Hochburg geworden ist. Als Plat-

zecks „Kronprinz“ Jann Jakobs dann als

SPD-Kandidat im 1. Wahlgang bei sechs

Gegenkandidaten gleich 45,42 Prozent

der Stimmen erreichte, schien sich das

sogar zu bestätigen. Umso größer war

der Schock in der SPD, als Jakobs dann

in der Stichwahl gegen den PDS-Kandi-

daten Hans-Jürgen Scharfenberg nach

einer Zitterpartie mit nur 122 Stimmen

Vorsprung knapp das Rennen machte.

Wie stark, wie schwach ist die SPD in

Potsdam? Ein Blick in die Wahlge-

schichte der Potsdamer Sozialdemo-

kratie kann helfen, diesen Vorgang bes-

ser zu verstehen. Die SPD startete bei

der Volkskammerwahl 1990 mit 34,86

Prozent = 34.522 Stimmen, fiel bei den

Bundestagswahlen 1990 auf 33,30 Pro-

zent = 26.575 Stimmen. Bei den Bun-

destagswahlen 1994 steigerte sie sich

auf 43,22 Prozent = 35.181 Stimmen.

1998 wiederholte sie mit 43,25 Prozent

= 35.058 Stimmen fast genau dieses

Ergebnis, um sich bei den Bundestags-

wahlen 2002 auf 46,11 Prozent = 37.087

Stimmen zu steigern.

Während es der Potsdamer SPD bei

den nationalen Wahlen gelang, ihr

erreichbares Potenzial relativ umfas-

send zu mobilisieren, zeigt ein Blick auf

die Kommunal-, Landtags- und Europa-

wahlen etwas anderes: Nämlich wie

gering der prozentuale Stamm-

wähleranteil am Gesamtpotenzial der

Potsdamer SPD im Vergleich zu PDS

oder auch CDU ist. Bei den Landtags-

wahlen schwankt der Zweitstim-

menanteil zwischen 23.268 und 32.325

Stimmen. Bei den beiden Europawah-

len erreicht die SPD nur 16.668 Stim-

men (1994) und 9.904 Stimmen (1999).

Bei den Kommunalwahlen (3 Stimmen

je Wähler) schwankte der SPD-Anteil

zwischen 61.815 Stimmen (1993) und

91.046 Stimmen (1998).

Fazit: Die SPD ist in Potsdam die Par-

tei, die absolut die größte Stimmen-

zahl aller Parteien erreichen kann. Es

ist sogar davon auszugehen, dass die

Veränderungen in der Wahlbevölke-

rung in den vergangenen zwölf Jahren

der SPD zugute gekommen sind. Aber:

Die SPD hat im Vergleich zu den beiden

Hauptkonkurrenten PDS und CDU den

geringsten Anteil von Stammwählern.

Verrückte Welt in Potsdam?

45

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Klaus Ness

46

Sie muss deshalb bei jeder Wahl stär-

kere Mobilisierungsanstrengungen als

die Konkurrenz unternehmen, um ihr

Potenzial auszuschöpfen. Wenn ihr das

gelingt, ist sie bei allen Wahlen in der

Lage, stärkste Partei zu werden.

Und wie gehen die Wahlen 2003 und 2004 in Potsdam aus?

Kein Mensch kann voraussagen, wie

in zwölf Monaten die Kommunalwah-

len oder in knapp zwei Jahren die Land-

tagswahlen ausgehen. Die Erfahrun-

gen der bisherigen Wahlen lassen klare

Schlüsse zu, was den Wahlausgang

beeinflussen wird: Entscheidend so-

wohl für den Ausgang der Kommunal-

als auch der Landtagswahlen in Pots-

dam wird sein, welches allgemeine

politische Klima herrscht. Wohin geht

der Bundestrend, wohin geht der Lan-

destrend? All das hat Konsequenzen für

die einzelnen Parteien, für die Mobili-

sierung ihrer jeweiligen Wählerpoten-

ziale. Berücksichtigt werden muss

auch, dass jede Wahl ihre eigenen

Gesetzmäßigkeiten hat. Während die

Landtagswahlen in starkem Maß von

dem Spitzenkandidaten geprägt sind,

sind Kommunalwahlen – auch bedingt

durch die drei Stimmen, die kumuliert

oder panaschiert werden können – in

hohem Maße Persönlichkeitswahlen.

Was bedeutet das konkret für die bei-

den nächsten Wahlen in Potsdam? Bei

der Kommunalwahl 2003 ist eine Wahl-

beteiligung zwischen 45 und 65 Prozent

zu erwarten. Die Wahlbeteiligung wird

von der allgemeinen politischen Stim-

mung, den von den Parteien aufgestell-

ten Kandidaten und ihren jeweiligen Mo-

bilisierungsanstrengungen abhängen.

Bei einer eher niedrigen Wahlbeteili-

gung spricht sehr viel dafür, dass die

PDS stärkste Fraktion im Stadtparla-

ment wird. Bei einer höheren Wahlbe-

teiligung hat die SPD gute Chancen,

ihre Rolle als stärkste Fraktion zu ver-

teidigen. Der CDU wird bei beiden Vari-

anten der Sprung über die 20 Prozent-

Grenze nicht gelingen.

Bei der Landtagswahl 2004 ist eine

Beteiligung zwischen 55 und 65 Pro-

zent zu erwarten, abhängig von der all-

gemeinen politischen Stimmung und

den Mobilisierungsanstrengungen der

einzelnen Parteien.

Die SPD hat mit dem Ministerpräsi-

denten Matthias Platzeck in Potsdam

alle Chancen, stärkste Partei zu wer-

den. Je höher die Wahlbeteiligung sein

wird, umso besser wird das Ergebnis

der SPD ausfallen. Die CDU wird hinge-

gen größere Probleme haben, ihr rela-

tiv gutes Wahlergebnis von 1999 zu

wiederholen. Die PDS hat Chancen, bei

guter Mobilisierung ihrer Anhänger-

schaft und gleichzeitig relativ geringer

Wahlbeteiligung, ihr Ergebnis von

1999 zu halten.

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Verrückte Welt in Potsdam?

47

Und wer hat sich in den 12 Jahren nun durchgesetzt?

Zusammenfassend lässt sich sagen,

dass die Kräfteverhältnisse zwischen den

Parteien in den vergangenen zwölf Jah-

ren trotz massiver Veränderung in der

Potsdamer Wählerschaft relativ stabil

geblieben sind. Die SPD konnte ihr er-

reichbares Potenzial um etwa 3.000 auf

37.000 Stimmen vergrößern. Das Poten-

zial der PDS schrumpfte um etwa 4.000 –

5.000 auf 25.000 Stimmen. Die CDU

schwankte ohne große Änderungen zwi-

schen 12.000 und 13.500 Stimmen.

Entscheidend für den jeweiligen

Wahlausgang wird sein, welche Partei

ihre Anhänger und Sympathisanten

besser zum Gang an Wahlurne mobili-

sieren kann. Hier hat die PDS es am

leichtesten und die SPD die größten

Schwierigkeiten. Alle drei Parteien sind

weit davon entfernt, strukturelle

Mehrheiten in Potsdam zu erreichen.

Es bleibt also spannend.

Klaus Nessist Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg.

SPD PDS CDU

Anzahl Anzahl Anzahl

absolut % absolut % absolut %

BT-Wahl Min 27.232 (90) 34,22 (90) 17.066 (90) 21,45 (90) 11.398 (98) 14,05 (98)

Erststimmen Max 32.928 (02) 41,07 (02) 31.447 (94) 38,75 (94) 18.277 (90) 22,97 (90)

BT-Wahl Min 26.575 (90) 33,30 (90) 16.120 (90) 20,20 (90) 11.340 (98) 13,99 (98)

Zweitstimmen Max 37.087 (02) 46,11 (02) 25.559 (94) 31,40 (94) 18.804 (90) 23,57 (90)

LT-Wahl Min 20.961 (99) 33,21 (90) 18.303 (90) 24,43 (90) 8.130 (94) 11,86 (94)

(Erststimmen) Max 29.281 (94) 42,73 (94) 24.255 (94) 36,86 (94) 14.309 (90) 20,57 (99)

LT-Wahl Min 23.268 (99) 38,01 (99) 17.742 (90) 23,58 (90) 7.731 (94) 11,25 (94)

(Zweitstimmen) Max 32.325 (94) 47,05 (94) 22.637 (94) 32,95 (94) 13.697 (90) 20,46 (99)

Europawahl Min 9.904 (99) 29,30 (99) 12.516 (99) 36,70 (94) 6.157 (99) 12,90 (94)

Max 16.668 (94) 34,70 (94) 17.627 (94) 37,10 (99) 6.178 (94) 18,20 (99)

Kommunalwahl Min 61.815 (93) 31,96 (90) 61.559 (90) 26,52 (90) 19.579 (93) 10,27 (93)

(3 Stimmen) Max 91.046 (98) 39,30 (98) 74.330 (98) 38,36 (93) 38.589 (90) 16,62 (90)

OB-Wahl Min 19.347 (93) 29,48 (93) 20.043 (98) 24,52 (98) 7.458 (98) 9,13 (98)

Max 51.905 (98) 63,51 (98) 29.739 (93) 45,32 (93) 12.493 (02) 15,51 (02)

OB-Stichwahl Min 21.423 (02) 50,14 (02) 21.301 (02) 45,06 (93)

Max 36.311 (93) 54,94 (93) 29.782 (93) 49,86 (02)

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Die Parteien und Parteisysteme

schweben in Ostdeutschland nach wie

vor in weiten Bereichen lose vernetzt

über dem Wählermarkt. Begründete

Parteibindungen existieren kaum und

sind häufig Zufälligkeiten anheim

gestellt. Zusätzlich herrscht das Gefühl

vor, dass die westdeutsch dominierten

Parteien SPD und CDU die ostspezifi-

schen Interessenlagen nur unzurei-

chend aufnehmen können. Hier hat die

PDS den entscheidenden Vorsprung

gegenüber ihren Konkurrenten. Sie hat

keine westdeutsche Schwesterpartei,

auf die sie Rücksicht nehmen müsste

und sie hat aus der ehemaligen Dienst-

leistungsklasse der DDR ein Milieu

hinüberretten können, das aus Tradi-

tion und innerer Verbundenheit so

etwas wie ein Stammwählerpotential

darstellt.

Für die SPD müssen die Parteibin-

dungen immer wieder neu begründet

werden. Ausgehend von einer tiefen

emotionalen Verbundenheit mit dem

amorphen Gebilde „Ostdeutschland“

(siehe weiter unten) muss diese Partei-

bindung über Perspektiven und Identi-

fikationen hergestellt werden. Harte

Fakten, wie der Solidarpakt II, der

Stadtumbau Ost oder auch eine Infra-

strukturoffensive reichen hierfür nicht

aus. Dieses sind Voraussetzungen zur

ökonomischen Überlebensfähigkeit

„des Ostens“, sie lassen sich aber kaum

emotional aufladen. Das gelingt

jedoch mit Kompetenzen, die die Ost-

deutschen besitzen.

„Zwölf Jahre nach der Wiedergrün-

dung des Landes Brandenburg ist die

Nachwendezeit abgelaufen. Die Zeit

ist zu Ende, die gekennzeichnet war

durch den dramatischen Umbruch des

Jahres 1989 und seine Folgen“, so Mat-

thias Platzeck, einer der Hoffnungsträ-

ger der ostdeutschen SPD, in seiner

ersten Regierungserklärung als bran-

denburgischer Ministerpräsident. Und

weiter: „Wir Brandenburger sind im

Alltag der neuen Bundesrepublik ange-

kommen. Es wächst inzwischen eine

junge Generation heran, die mit der

Zeit vor 1989 höchstens noch vage

Kindheitserinnerungen verbindet –

und oft nicht einmal mehr das. Im

Herbst vor 13 Jahren waren viele der

Erstwähler des Jahres 2002 noch nicht

einmal eingeschult.“

49

„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“Chancen für eine neue Sozialdemokratie in Ostdeutschland

von Lars Krumrey

Page 52: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

Was wie ein Allgemeinplatz klingt,

ist der Versuch, eine neue Debatte über

die zukünftige Rolle Ostdeutschlands

in der Bundesrepublik zu initiieren. Mit

einigem Geschick kann hieraus auch

ein neuer Denkansatz für die Sozialde-

mokratie Ostdeutschlands entstehen.

Schauen wir uns zunächst noch mal

die Nachwende-Zeit an. Mit der Wirt-

schafts-, Währungs- und Sozialunion

begann ab Sommer 1990 das Umkrem-

peln einer gesamten Volkswirtschaft.

Statt Club-Cola gab es plötzlich Cherry-

Coke in den Diskos, Werder-Obst wurde

durch Holländische Importtomaten

abgelöst und statt des Trabbis stand

nun der Opel Omega vor der „Platte“.

Politisch erodierte die DDR ebenfalls.

Die ideologisch kontrollierte Wandzei-

tung in der Schule durch mehr oder

wenig gelungen Schülerzeitungen

abgelöst, das Kollektiv hieß nun Team

und statt eines einfachen Ja zum Wahl-

vorschlag der Nationalen Front musste

sich der mündige Wähler plötzlich zwi-

schen bis zu einem Dutzend Parteien

auf dem Wahlzettel entscheiden. Das

alles war von der Bevölkerung gewollt.

Was nicht gewollt war, war die öko-

nomische Depression, die um sich griff.

Weil alle Treibhaus-Tomaten kauften,

wurden die Obstpflücker in Werder

arbeitslos. Weil Milka-Schokolade en

vouge war, wurde keine Schlager-Süß-

tafel mehr hergestellt. Weil Pneumant

Trabbi-Reifen produzierte, stand die

Firma kurz vorm Exodus. Und Robotron

mit dem größten Mikrochip der Welt

war plötzlich weit weniger modern als

ein 10 Jahre alter Commodore C 64.

Neu war auch, dass es statt des kosten-

losen Betriebskindergartens nun plötz-

lich Gebührendbescheide für die kom-

munalen Kitas gab.

Das alles hat zu den sattsam bekann-

ten massiven Tranformations-Proble-

men und zunehmender Perspektivlo-

sigkeit der Bevölkerung geführt. Kaum

ein „gelernter DDR-Bürger“ kann nach

der Wende auf eine bruchfreie Berufs-

biografie zurückschauen. Fast jede

Familie war in unterschiedlich intensi-

ver Ausprägung von Arbeitslosigkeit

betroffen – oder ist es noch heute. Wie

das neue Gesellschaftssystem funktio-

niert, musste man erst mühsam lernen,

häufig überaus schmerzhaft.

Transformation bedeutet deshalb in

der Nachwendezeit vor allem Unsi-

cherheit bis hin zur Fremdheit im eige-

nen Lande. Alles in allem fühlte sich bei

weitem nicht nur die ehemalige

Dienstleistungsklasse der DDR um ihr

Lebenswerk betrogen.

Nun hatten die Westdeutschen den

Ossis aber blühende Landschaften ver-

sprochen. Keinem sollte es schlechter

gehen als vorher! Und hier setzten die

politischen Konzepte der Nachwende-

zeit an. Die Probleme des Vereini-

Lars Krumrey

50

Page 53: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

gungsprozesses mussten staatlich

abgefedert werden.

Die ostdeutsche SPD erklärte ver-

nünftiger Weise über zehn Jahre lang

die Menschen und deren sozialen Zu-

sammenhalt zur Richtschnur ihres Han-

delns. Dem Primat der Kohlschen Wirt-

schafts- und Währungsunion setzte sie

das Primat der Sozialunion entgegen.

Sie wollte den Vereinigungsprozess auf

Länderebene so gut wie möglich mana-

gen und die Unbilden der Vereinigung

möglichst umfassend abfedern. Stamo-

kap war zwar out, der Staatsinterventio-

nismus erhielt aber in den Ost-Ländern

unter zu Hilfenahme der größten Um-

verteilung Deutschlands von West nach

Ost unter anderem Vorzeichen eine völ-

lig neue Dimension.

Dabei kämpfte die Ost-SPD an vielen

Fronten: Den Menschen versuchte sie

den Eindruck zu vermitteln, dass sie

keine wirkliche Deklassierung erlebt

haben und erhobenen Hauptes in die

neue Bundesrepublik eintreten könnten.

Von rechts musste sie sich des Vorwurfes

erwehren, auf Kosten einer unverant-

wortlichen Staatsverschuldung „Soziali-

stische Wärmestuben“ zu errichten. Die

PDS – zu der die SPD ihr Verhältnis nie

wirklich richtig klären konnte – warf den

Sozialdemokraten vor, die Menschen nur

technokratisch zu verwalten und im

Zweifelsfall auf dem Altar der gesamt-

deutschen Politik zu opfern.

Das große Dilemma der Ost-SPD war,

das „Links“ und „Rechts“ in Ost-

deutschland eindeutig aufgeteilt

waren. Sie hatte also nur einen sehr

schmalen Grad, innerhalb dessen sie

sich profilieren konnte. Ihre Genese als

einzige wirklich neue Partei von

Bedeutung in der Nachwende-Gesell-

schaft reichte für den dauerhaften Par-

teienwettbewerb nicht aus. Die drin-

gend notwendige Diskussion über ein

eigenes politisches Selbstverständnis

wurde innerhalb der Ost-Sozialdemo-

kratie leider teils aus Überlastung (die

Anzahl der von Sozialdemokraten aus-

gefüllten Mandate stand und steht in

einem krassen Missverhältnis zur

Anzahl der Mitglieder), teils aus Mutlo-

sigkeit, nie ernsthaft geführt. Das führt

auch heute noch dazu, dass die SPD in

den „neuen Ländern“ zwar dort Erfolge

erzielen kann, wo sie charismatische

Persönlichkeiten anbietet (Stolpe, Plat-

zeck, Ringsdorf, früher sehr herausra-

gend Hildebrandt) und sich die Men-

schen (staatsinterventionistisch) gut

regiert fühlen. Eine in schwierigen Zei-

ten auch inhaltlich belastbare Verbin-

dung zwischen Wählerschaft und Par-

tei ist hieraus jedoch nur sehr rudi-

mentär erwachsen.

In Zeiten knapper Kassen bedeutet

dies eine erhebliche Gefahr für die SPD.

Gut regieren im ostdeutschen Sinne

hieß bisher immer, Geld in die Hand zu

„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“

51

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nehmen und entweder Strukturförde-

rung zu betreiben oder wichtige Pro-

jekte mit „Ost-Feeling“ am Leben zu

erhalten. Hierauf konzentriert(e) sich

der Parteienkampf um die kulturelle

Hegemonie in Ostdeutschland letzt-

lich. Die Auseinandersetzungen um die

Finanzierung der Kinderbetreuung in

Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind

hierfür nur ein Beispiel.

In den letzten Jahren sind die Gren-

zen der öffentlichen Kassen aber mehr

als deutlich geworden. Es muss also

eine neue Begründung für politisches

Handeln her. Gleichzeitig schreit die

Realität angesichts von Anspruch und

Wirklichkeit danach, die Rolle Ost-

deutschlands in der Gesamtrepublik

auf eine neue Grundlage zu stellen.

Der Solidarpakt II und seine Schatten-

haushalte gewährleisten zwar nach

wie vor erhebliche Investitionen, die

Bewältigung des sozialen Wandels ist

damit aber nicht zu realisieren.

Deshalb ist Matthias Platzeck unein-

geschränkt zuzustimmen: Die Nach-

wendezeit ist vorbei – in Ost und West!

Das wiedervereinigte Deutschland

steht von einem ähnlichen Strukturwan-

del wie die DDR-Bevölkerung Anfang der

90er. Zwar wird das politische System

nicht durch ein neues ersetzt, aber

Grundfesten des deutschen Sozialsy-

stems müssen renoviert werden. Die

Politik steht vor der Aufgabe, ein moder-

nes Deutschland zu schaffen. In den

nächsten Jahren wird für die gesamte

Bundesrepublik Wandel zur Normalität

und Stillstand zur Ausnahme.

Ostdeutschland kommt hierbei eine

Schlüsselrolle zu. Zwar gibt es immer

noch vereinigungsbedingte Probleme,

aber es gibt eben weder die finanziellen

Mittel aus der Nachwendezeit, noch

kann man 13 Jahre nach dem Mauerfall

ruhigen Gewissens begründen, warum

sich bestimmte soziale Standards

(Schulsozialarbeit, Kita-Dichte, Schul-

größen usw.) immer noch deutlich über

den westdeutschen Niveaus befinden.

Der Nachwendezeit in Ostdeutschland

folgt nun ein gesellschaftlicher Um-

bruch, der durch demografische Brüche

geprägt ist. In den ländlichen Regionen

hält das Downsizing an, die Abwande-

rung qualifizierter und junger Men-

schen aus den Dörfern und Gemeinden

wächst und insgesamt kollabiert unser

Sozialsystem angesichts der derzeitigen

Ausgaben. Das Gleichgewicht zwischen

sozialen Ansprüchen und staatlicher

Unterstützung muss neu gefunden wer-

den. Hier stehen vielfältige und tiefgrei-

fende Umbrüche bevor.

Bei aller negativen Erfahrung haben

die Ostdeutschen bei der Lösung der

anstehenden Probleme jede Menge

einzubringen. Sie haben in der Nach-

wendezeit erfahren, wie Umbrüche

und Herausforderungen gemeistert

Lars Krumrey

52

Page 55: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

werden können. Sie haben gelernt, dass

jede Krise auch neue Chancen birgt und

sie haben an eigenem Leib gespürt, was

es bedeutet, flexibel auf den Wandel

reagieren zu müssen. Diese Erfahrung

haben die „Ossis“ den „Wessis“ voraus.

Ihre Kenntnisse und das Wissen um die

Chancen, die mit den Krisen einherge-

hen können, geben den Ostdeutschen

einen Erfahrungsvorsprung.

Hinzu kommt ein in Ostdeutschland

immer noch sehr homogenes System

an Werten und Identifikationsmustern.

Das Selbstverständnis der Ostdeut-

schen als „Deutsche zweiter Klasse“, das

empirisch ja durchaus auch begründbar

ist, hat zu einer signifikanten Identifika-

tion mit „Ostdeutschland“ geführt.

Haben sie sich kurz nach der Wende

(ausgehend von dem Slogan „Wir sind

ein Volk“) zu 65 Prozent vor allem mit

der Bundesrepublik emotional verbun-

den gefühlt, so weist der Sozialreport

für das Jahr 2001 eine 80-prozentige

Verbundenheit mit „Ostdeutschland“

aus, einem politischen Raum, der anders

als eine Gemeinde, die Bundesrepublik

oder die Europäische Union formal gar

nicht existiert.Wolfgang Engler, Berliner

Soziologe mit ostdeutscher Biografie,

bringt es auf den Punkt: „Aus den Ost-

deutschen an sich wurden die Ostdeut-

schen für sich.“

Dieses „für sich“ führt zu spezifi-

schen Ausprägungen, die gute Ansatz-

punkte für die SPD bieten. Ausgehend

von der kulturellen Identität spielen

die Begriffe „Gerechtigkeit“ und

„soziale Sicherheit“ eine zentrale Rolle

im ostdeutschen Selbstverständnis.

Beides, die während des Transforma-

tionsprozesses erworbenen „Umbruch-

Kompetenzen“ und der innere Zusam-

menhalt der Ostdeutschen mit dem

spezifischen Wertesystem kann die

Grundlage einer neuen sozialdemokra-

tischen Politik sein.

Ein Indiz hierfür ist auch das Ergebnis

der Bundestagswahl 2002. Hier soll

keine Wahlanalyse geleistet werden,

und sicherlich ist das Ergebnis auf eine

Vielzahl von Einflüssen zurückzuführen.

Trotzdem einige Anmerkungen, die die

Ausgangslage skizzieren.„Sicherheit im

Wandel“, unter dieser Überschrift hat

die SPD in Ostdeutschland ein bemer-

kenswertes Ergebnis erzielt. Sie wurde

mit Abstand stärkste Partei. Von Sach-

sen abgesehen, wird die politische

Geographie im Osten seit dem 22. Sep-

tember von der SPD bestimmt: von den

37 Wahlkreisen in den übrigen vier Län-

dern hat die CDU diesmal lediglich 3,

die SPD dagegen 34 für sich gewinnen

können. Von der PDS sind 300.000

Wählerinnen und Wähler zur SPD

gewandert.

Das macht deutlich: Die SPD ist in

Ostdeutschland durchaus auch in für

sie als schwierig erachteten Ländern

„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“

53

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mehrheitsfähig. Sie ist es immer dann,

wenn sich die Menschen von ihr mitge-

nommen fühlen. Vergewissert sich die

Sozialdemokratie dessen und orientiert

sie sich – ausgehend von der gesell-

schaftlichen Wirklichkeit – bei der

Begründung der Notwendigkeit von

Umbrüchen und Einschnitten an den

Begriffen „Gerechtigkeit“ und „soziale

Sicherheit“, wird sie Zustimmung zu

ihren Politikangeboten erhalten.

Die Gestaltung eines modernen

Deutschlands muss zum Markenzei-

chen der Ost-SPD werden. Hierbei wer-

den die Ostdeutschen einen wesentli-

chen Teil ihrer Erfahrungen einbringen

und damit ihre Rolle im vereinigten

Deutschland einer grundlegenden Ver-

änderung unterziehen können. Daraus

wird sich dann auch ein neues, ein star-

kes und tragfähiges Selbstbewusstsein

der Ostdeutschen entwickeln.

Nur, das muss die Sozialdemokratie

auch leisten: Sie muss begründen,

wohin sie will, warum das sozial

gerecht ist und was man gegenseitig

voneinander erwarten kann!

Die Kernprobleme müssen auf den

Tisch. Dieses sind die Fragen der Ren-

tenversicherung und Generationenge-

rechtigkeit, der staatlichen Absiche-

rung von Lebensrisiken und die Frage

nach den Voraussetzungen für mehr

Beschäftigung und Entlohnung. Hinzu

kommt die Frage, welche Wanderungs-

bewegungen sind innerhalb der Bun-

desrepublik notwendig, um mehr

Arbeit zu schaffen, sprich: Können die

Uckermark oder das Vogtland in einem

nennenswerten Umfang über den Sta-

tus quo hinaus Arbeitsplätze anbieten,

oder muss die regionale Mobilität

nicht gefördert werden?

Auf alle diese Probleme muss die

SPD in der nächsten Zeit wohl begrün-dete Antworten liefern. Wenn sich Ost-

deutschland an die Spitze der Reform-

bewegung setzt, profitiert es ökono-

misch und sozial. Leisten kann das die

ostdeutsche Bevölkerung allemal.

Abwanderung, ausgelöst durch den

demografischen Wandel in unserer

Gesellschaft, wachst sich zu einem der

zentralen Zukunftsprobleme des Landes

aus. Das Auseinanderfallen von Randre-

gionen und Ballungszentren birgt

erheblichen sozialen Sprengstoff und

stellt die Politik vor die vielleicht größte

Herausforderung der nächsten Jahre.

Um den demografischen Wandel ranken

sich alle großen Probleme wie Arbeitslo-

sigkeit, Bildungspolitik, Generationenge-

rechtigkeit und Zukunftsfähigkeit unse-

rer sozialen Sicherungssysteme.

Aus Brandenburg sind im letzten Jahr

15.800 Personen in andere Bundesländer

abgewandert. Nur die Ansiedlung an der

Berliner Stadtgrenze sichert Branden-

burg zur Zeit eine halbwegs ausgegli-

chene Wanderungsbilanz. In der

Lars Krumrey

54

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Gesamtbetrachtung bedeutet es aber,

denn hinzu kommen noch die Wande-

rungsbewegungen innerhalb Branden-

burgs, das „Ausbluten“ weiter Bereiche

des Landes. Spektakuläre Aktionen, wie

der Abriss von Plattenbauten in Schwedt

oder Eisenhüttenstadt, sind nur die Vor-

boten der tatsächlichen Herausforde-

rung. Es geht für Ostdeutschland in der

Konsequenz darum, das soziale, ökono-

mische und kulturelle Leben in Forst, Par-

chim, Chemnitz und Saalfeld abzusi-

chern. Die Diskussion über den jahr-

gangsübergreifenden Unterricht zur

Absicherung einer wohnortnahen

Schulversorgung oder tragfähige Struk-

turen des öffentlichen Personennahver-

kehrs in der Fläche sind die „neuen Kul-

turfolger“ der Abrissbirnen. Da die groß-

zügig ausgebauten Gewerbegebiete

auch mehr als 10 Jahre nach der Wende

von Großinvestoren links liegen gelas-

sen werden, werden die Fragen nach

regionalen Wirtschaftskreisläufen und

Vermarktungssystemen ebenfalls laut

gestellt. Für das Gesundheitssystem

stellt sich zum Beispiel die Frage, wie

kann die Versorgung der zunehmend

vergreisenden Bevölkerung aufrechter-

halten werden? Ein ähnliches Versor-

gungsproblem entsteht bei den Kon-

sumgütern des täglichen Bedarfs.

Anders als der Westen der Republik,

wo sich die Landes- und Kommunalpo-

litiker diesen Problemen noch weitest-

gehend verschließen, sind die Diskus-

sionen über Reaktionsmöglichkeiten

und Auswege in Ostdeutschland mitt-

lerweile voll im Gange. Das Vertrauen

auf ein Bevölkerungswunder ist einer

realistischen Wahrnehmung gewi-

chen. Die Lösungen sind bei weitem

noch nicht gefunden. Aber die Bereit-

schaft dazu ist deutlich ausgeprägter

als an der niederländischen Grenze.

Der hieraus entstandene Erfahrungs-

vorsprung in Bezug auf Infrastruktur-

wandel und demografische Herausfor-

derungen beträgt mindestens zehn

Jahre. Ein Faustpfand, der genutzt wer-

den muss.

Zu der zu erwartenden neuen Rolle

und den korrespondierenden eigenen

Ansprüchen gehört auch, dass ostdeut-

sche Spitzenrepräsentanten zuneh-

mend bereit sein müssen, Verantwor-

tung für die gesamte Gesellschaft zu

übernehmen. Personen sind in unserer

Gesellschaft zu Symbolen von politi-

schen Inhalten geworden. Ein moder-

nes Ostdeutschland will von modernen

Menschen repräsentiert werden.

Das heißt, die Ost-SPD muss verstärkt

Leute anbieten, die Stallgeruch mitbrin-

gen, gleichzeitig aber auch Wandel und

Zukunftsfähigkeit repräsentieren. Hier

steckt die SPD zur Zeit insgesamt in

einem Dilemma. Ein ausreichend

großes Personalreservoir von Men-

schen, die eine entsprechende Reprä-

„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“

55

Page 58: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

sentationsleistung erbringen könnten,

existiert derzeit nicht. Jedoch ist bei

aller Unzulänglichkeit die Lage der Ost-

SPD um einiges komfortabler, als die der

westlichen Parteigliederungen. Hier fal-

len einem relativ spontan immerhin die

Namen Platzeck, Matschie und Tiefen-

see ein – alles Personen, die erst am

Anfang ihrer Karriere stehen. Ähnliche

Assoziationen fallen für Westdeutsch-

land ungleich schwerer. Wende-Reprä-

sentanten der Ost-SPD, wie Richard

Schröder, Markus Meckel, Stephan Hils-

berg, Friedrich Schorlemmer oder Rein-

hard Höppner spielen hingegen heute

in der Ost-SPD, und noch stärker in der

öffentlichen Wahrnehmung, kaum

noch eine Rolle. Auch daran macht sich

das Ende der Nachwendezeit deutlich.

Die erste Person auf Regierungsebene,

die mit einer eindeutigen Ost-Biogra-

phie und den entsprechenden Erfahrun-

gen Verantwortung für Gesamtdeutsch-

land übernimmt, ist Manfred Stolpe.

Wenn er als Infrastrukturminister „Auf-

bau Ost“ und „Ausbau West“ auf eine

Stufe stellt, dann ist das Ausdruck des

eingeforderten Selbstbewusstseins. Er

ist aus seiner Rolle als Sachwalter des

Ostens (Ministerpräsident) herausge-

wachsen und betreibt seine Politik nun

auf Grundlage eines gesamtdeutschen

Hintergrundes. Das wird zunehmend

der Anspruch an SPD-Spitzenpolitiker

sein: Mit dem Bewusstsein um die eige-

nen Erfahrungen und den hieraus resul-

tierenden Kompetenzen die gesamt-

deutsche Perspektive des politischen

Handelns deutlich machen. Der „Sonder-

weg Ost“ ist vorbei. Die von Franz Walter

eingeforderte fulminante Beteiligung

an den großen Kontroversen der Repu-

blik muss eine nachhaltig ostdeutsche

Prägung bekommen.

Auch dieses ist ein Ergebnis des

Endes der Nachwendezeit.

Lars Krumrey

56

Lars Krumreyist Diplom-Politologe und Referent beim SPD-Landesverband Brandenburg.

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Brandenburg ist derzeit kein Land

ohne Probleme. Dafür gibt es eine Viel-

zahl von Ursachen. Sicher ist nur ein

Teil der Probleme in Brandenburg

selbst begründet und kann durch die

Politik im Land beeinflusst werden.

Dennoch sollte eine gewisse kritische

Stimmung erlaubt sein. Aus meiner

Sicht (ganz persönlich und ganz sub-

jektiv) brauchen wir in der jetzigen

Situation vor allem ein klares Einge-

ständnis bestehender Probleme – ohne

zu resignieren – und Ernsthaftigkeit

und Problemlösungskompetenz in

ihrer Beseitigung. Es folgen lose

Gedanken über eine Generation, die

ihren Beitrag zur Lösung dieser Pro-

bleme leisten möchte.

Bevor wir uns jedoch mit dieser

Generation beschäftigen, müssen wir

uns mit drei anderen Generationen –

vielleicht wäre es besser von Gruppen

zu sprechen, doch der Generationsbe-

griff ist/war irgendwie in Mode3 –

beschäftigen. Die erste bestand aus

Regine Hildebrandt und Manfred

Stolpe. Sie prägten Brandenburg weit

über zehn Jahre und über den politi-

schen Rahmen hinaus. Zum einen

führten sie Politik und Verwaltung,

waren somit für Problemlösungen ver-

antwortlich. Zum anderen nahmen sie

aber die Menschen im Land mit in die

neue Zeit. Sie standen für das Branden-

burg in den zehn Jahren nach der

Wende. Sie gaben Stabilität und Legiti-

57

Zonenfunktionäre1 – Eine ostdeutsche Generation als Avantgardeoder ein egoistisches Manifest2

von Christian Maaß

1 Der Begriff Zonenfunktionäre ist wie der gesamte Titel eine Kombination der folgenden drei Buchtitel.Hensel, Jana (2002): Zonenkinder, Berlin.; Illies, Florian (2000): Generation Golf, Berlin.;Engler, Wolfgang (2002): Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin.

2 Die nachfolgen Zeilen sind bewusst subjektiv gefärbt und erheben keinen Anspruch auf Differenziertheit und Neu-tralität. Sie sollen vor allem zur Diskussion anregen. Zeiten großer Herausforderungen verlangen Ideen und Denk-anstösse außerhalb gewohnter Raster und Wege, „denn Avantgarde ist keine Garantie für Ankunft, nur für Auf-bruch. Furcht vor dem Unbekannten ist ihr eigen, gewaltsame Abstoßung von der Vergangenheit, zeitweiser Verlustvon Ort und Halt, Schmerz und Herbheit. (Engler 2002, S. 196)“ Dabei wird bewusst in Kauf genommen anzuecken.Eine Distanz zum Thema kann es schon deshab nicht geben, weil sich der Verfasser der hier beschriebenen Gruppezugehörig fühlt.

3 Allenthalben werden Generationen besichtigt (siehe FN 1 und 2). Dabei ist allerdings kaum jemand so lesenswertwie Herr Lehmann und die Generation derer, die vor dem Mauerbau in Westberlin darauf warteten 30 zu werden.

Brandenburg nach Stolpe und Hildebrandt

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mation für ein System, das für einen

deutlich sichtbaren Teil unserer Bürge-

rinnen und Bürger durchaus Probleme

mit sich bringt. Sie standen für den

Übergang von der DDR in das verei-

nigte Deutschland. Regine Hildebrandt

ist so früh und auf so tragische Weise

von uns gegangen. Es wird auf abseh-

bare Zeit keine Politikerin und schon

gar keinen Politiker gegeben, der so

glaubwürdig und zugleich kraftvoll

und optimistisch den Zugang zu den

Menschen finden wird.4 Manfred

Stolpe verschleißt sich derweil im

Kabinett von Gerhard Schröder: Dieses

Kabinett ist gegenwärtig nicht der Ort

übergroßen Erfolges und Siegesgewis-

sheit. Auf Regine Hildebrandt können

wir demnach gar nicht mehr und auf

Manfred Stolpe nur noch bedingt

zurückgreifen, wenn es um Politik in

Brandenburg geht.

Die zweite Gruppe ist die Gruppe

derer, die 1990 die Ärmel aufkrempelten

und unter teilweise chaotischen und

dramatischen Bedingungen Politik und

Verwaltung in Brandenburg auf-bau-

ten. Diese Gruppe trägt heute zum

großen Teil Verantwortung. Sie steht vor

der Herausforderung, aus der Erinne-

rung an die Aufbauleistung ein neues

Selbstbewusstsein und neue Problem-

lösungskompetenz zu gewinnen. Wenn

die Zeit der Transformation vorbei ist,

aber die großen Herausforderungen

noch bestehen, Antworten auf noch

immer drängende Fragen für Branden-

burg gesucht werden müssen, können

die bisherigen Lösungsmuster nicht

mehr verfangen. Im Sinne des Landes

wäre eine intensive und vertrauensvolle

Zusammenarbeit dieser Generation

und der Zonenfunktionäre erforderlich.

Das Problem dieser beiden Gruppen ist

der mitunter nicht ausreichende Alters-

abstand. Die Zonenfunktionäre werden

teilweise als Bedrohung aufgefasst,

zumindest wenn sie in hauptamtliche

Verantwortung streben. Hier bedarf es

eines fairen Ausgleichs zwischen den

besten Teilen beider Gruppen.

Die dritte Generation/Gruppe ist wie

die erste sehr klein. Aus Regine Hilde-

brandt und Manfred Stolpe ist Mat-

thias Platzeck geworden. Er steht

angesichts der Situation des Landes

vor der schwierigen Aufgabe, anhal-

tend hohe Integrationswerte mit

neuer Problemlösungskompetenz zu

verbinden. Alte Muster verfangen

nicht mehr, es geht darum, Branden-

burg erfolgreich in eine neue Zeit zu

führen. In der Regierungserklärung

heißt das „Modernisierung mit märki-

scher Prägung“. War bereits kurz auf

den Konflikt zwischen der Generation

der erste Stunde und den Zonenfunk-

tionären hingewiesen worden, so

Christian Maaß

584 Als Beleg kann u.a. das Kondolenzbuch auf den Seiten http://www.regine-hildebrandt.de/ angeführt werden.

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kommt dem Parteivorsitzenden und

Ministerpräsidenten auch hier eine

ausgleichende und auswählende Auf-

gabe zu. Er wird herausfinden müssen,

wer sich dazu eignet, den Weg der

Modernisierung mitzutragen. Die rich-

tige Beantwortung dieser Frage, auch

unter maßvollem Rückgriff auf qualifi-

zierte Importe, ist eine Erfolgsvoraus-

setzung für die SPD in Brandenburg.

Die Zonenfunktionäre5

Ihre Ausbildung Geboren sind die Angehörigen dieser

Generation so um das Jahr 1970. Mit-

unter können ihr auch etwas jüngere

oder ältere Menschen zugerechnet

werden. Stimmen die Mitglieder der

Gruppe in vielen, aber nicht allen

Merkmalen überein, ist es eben durch-

aus leichter möglich, zur Gruppe dazu

zu stoßen. Somit waren sie 1989 für

eine aktive Teilnahme an den mehr

oder weniger revolutionären Umwäl-

zungen noch zu jung. Sie waren auch

zu jung, um 1989/90 einen der recht

einfach zu ergatternden hauptamtli-

che Posten in Politik und Verwaltung

abzu-bekommen. Die meisten waren

aber alt genug, um zu diesem Zeit-

punkt mit einem politischen Engage-

ment zu beginnen, das spätestens bei

der zweiten Runde der Kommunal-

wahlen einen Sitz in einer Stadtverord-

netenversammlungen oder Kreistag

brachte. Hier konnten die ZF in den

letzten Jahren zumeist gut vorankom-

men. Zu jung, um in der DDR zu studie-

ren sind die Angehörigen dieser

Gruppe, aber alt genug, um in der DDR

die Schule abgeschlossen zu haben.

Somit verfügen sie über beides die

Prägung durch den Osten und die Aus-

bildung (oft ein Studium) im Westen.

Sie sind hier sozialisiert, dennoch ken-

nen sie mehr als den einheimischen

Kulturkreis. Somit ist die Gruppe eine

große Chance für die Partei. Die dop-

pelte Geschichte bietet Perspektiven,

angesichts knapper Kassen und einer

bisher in gewissen Teilen qualitäts-ver-

gessenen NRW-orientierten Personal-

rekrutierung Verantwortung zu über-

nehmen und neue Lösungen zu offe-

rieren. Wie geht die Partei mit dieser

Gruppe um? Welche Rolle spielt sie in

der Modernisierung?

Angesichts der (äußerst) problemati-

schen Situation des Landes Branden-

burg brauchen wir Professionalität zur

Bewältigung der Herausforderungen.

Zonenfunktionäre können aufgrund

Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

595 Zukünftig nur noch ZF.

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ihrer Ausbildungspfade zumeist ein

gewisses Maß an Professionalität bie-

ten. Die Qualität der Schulbildung in

der DDR hat zumeist die Grundlagen

für ein erfolgreiches Studium gelegt.

Sie haben davon profitiert, dass

Deutsch, Mathe und Physik nicht nach

der achten Klasse abwählbar waren.

Fehlende musische, geschichtliche,

künstlerische und sprachliche Kennt-

nisse wurden durch familiäre, kirchli-

che oder sonstige oft außerhalb des

ostdeutschen Systems liegende Akti-

vitäten kompensiert. Viele besuchten

den Religionsunterricht regelmäßig bis

gern, auch und gerade, weil er in der

Gemeinde und nicht in der Schule

stattfand. Zonenfunktionäre mussten

lernen, sich anzupassen und aufzupas-

sen. Wer keine Jugendweihe mit-

machte, brauchte Durchhaltevermö-

gen, Disziplin und ein Elternhaus, das

ihn dabei stützte. Einige von ihnen

mussten lernen, in einer Welt voranzu-

kommen, die sie manchmal an den

Rand schob, es auf keinen Fall beson-

ders leicht machte. Sie lernten zwi-

schen den Zeilen lesen und denken.

Später konnten sie mit den Kommilito-

nen aus dem Westen mithalten. Was

für einen Erfolg in Brandenburg von

größerer Bedeutung ist; sie haben ein

Studium (oft) im Lande eben trotzdem

unter Westbedingungen absolviert.

Dabei profitierten sie von der Auf-

bruchstimmung in den ersten Jahren

an den Nachwendeuniversitäten. Sie

studierten oft bei Professoren, die noch

einmal etwas bewegen wollten, die

etwas Neues suchten. Sie hatten einen

Vorsprung, wenn es um studentische

Jobs und die Besetzung von Mitarbei-

terstellen im Anschluss an das Stu-

dium ging. Sie standen nicht vor dem

überfüllten Hörsaal, sondern lasen in

aus Erstausstattungsmitteln ange-

schafften Büchern. Sie erlebten dabei

zugleich, wie es Ostdeutsche schaff-

ten, im Wissenschaftsbetrieb zu ver-

bleiben, oder viele – trotz guter Qualifi-

kation – durch den Rost fielen. Eine

gewisse Professionalität verspre-

chende Ausbildung ist also vorhanden.

Die neben dem Studium entfalteten

praktischen Aktivitäten sorgten dabei

für die notwendige Bodenhaftung und

Praxisorientierung.

Christian Maaß

60

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Ihr Glaube an die Einheit – Oder füreine lebendige Sozialdemokratie undwider Bonner6 und andere Kleingeister7

Zonenfunktionäre sind Ostdeutsche

mit einem ausgeprägten Selbstbewus-

stsein. So gehen sie an die Gestaltung

der Einheit. Es bleibt für sie unfassbar,

dass viele SPD-Mitglieder noch immer

Probleme mit der Wiedervereinigung

haben. Besonders deutlich wurde dies

bei der Vielzahl von Mitgliedern der

SPD-Fraktion, die für Bonn und gegen

die Einheit gestimmt haben8. Aus der

Sicht der ZF haben diese Fraktionsmit-

glieder nicht begriffen, was das ist, die

Wiedervereinigung. Wiedervereini-

gung ist eben mehr als nur eine Oster-

weiterung der BRD. Sie bringt Wandel

für den Osten, aber eben auch für den

Westen. Einige in der Partei scheinen

vergessen zu haben, dass die Partei

ihre Wurzeln auch im Osten hat. Gotha

und Eisenach und selbst Karl Lieb-

knecht und der Sieg der SPD im Kaiser-

wahlkreis scheint für einige nur noch

im Geschichtsbuch der Partei zu exi-

stieren. Das sind aber Orte im Osten. ZF

können nur schwer akzeptieren, dass

Teile der SPD im Westen sich nicht neu

orientieren können. Sie identifizieren

sich deutschlandpolitisch eher mit

Kurt Schumacher. Es war übrigens

Adenauer, der aus Köln kommend den

Osten gering schätzte. Schumacher

stand für die Einheit. Willy Brandt war

für so viele im Osten ein Hoffnungsträ-

ger, Helmut Schmidt ob seiner Fach-

lichkeit hoch geschätzt. Es war

schmerzhaft, das Gefühl zu haben,

dass das im Westen zum Teil verleug-

net wurde. ZF stellen die Frage: Wie

konntet Ihr Euch bei dieser Abstim-

mung, bei diesem einzigen symboli-

schen Sieg des Ostens verweigern. Ein

Glück, dass Willy Brandt noch lebte. ZF

passen nicht in eine sozialdemokrati-

sche Politik, die für den Osten nicht

mehr bietet, als eine in Teilen richtige

aber kalte und initiativlose Analyse, die

nicht Verantwortung übernehmen

will. Brudermord gefolgt von Fahnen-

flucht in der schweren Stunde ist nicht

ihr Stil. ZF arbeiten daran, ernst

genommen zu werden. Sie setzen

nicht auf geschenkte Sonderrechte, die

kaschieren, dass sie bei den wirklich

wichtigen Dingen außen vor sind.

Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

61

6 Hier soll keines Falls der Eindruck erweckt werden, dass vor allem Bewohnern der Stadt Bonn eine Ablehnung derEinheit unterstellt wird. Bonn kann und soll hier symbolisch aufgefasst werden.

7 Vgl. zur Debatte insgesamt: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/Besonders eindrucksvoll – im positiven Sinne ist die Rede von Wolfgang Thierse, dem kann exemplarisch Peter Glotzentgegen gestellt werden: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/bdr_002.html. Peter Glotz: „Bonn ist dieMetapher für die zweite deutsche Republik. Bonn muß und soll Regierungs- und Parlamentssitz bleiben.“ Dem istzu entgegnen, dass die zweite deutsche Republik im Sinne Glotz nun mehr nicht nur einfach erweitert wurde, son-dern etwas gänzliches neues entsteht, mit allen Chancen und Risiken.Von den 320 Stimmen für Bonn kamen 126 aus der Fraktion der SPD. Lediglich 109 stimmten für Berlin.

8 Liste unter: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/bd_nam3.html

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Ihre an Werten orientierte Politik –Oder gegen Solardächer auf Kuba

Ein junger Sozialdemokrat9 zu sein,

ist für ZF nichts Ehrenrühriges. Ein

guter Mensch muss nichts zwangsläu-

fig modisch-links sein. Für Solardächer

auf Kuba sammeln, ist nicht wert-

voller als Haushaltskonsolidierung in

Potsdam-Mittelmark zu betreiben, die

die Versorgung der Bevölkerung mit

öffentlichen Dienstleistungen sicher-

stellt. ZF müssen sich nicht linke Theo-

retiker unter das Kopfkissen legen, um

ein soziales Gewissen zu entwickeln.

Sie konnten die Jusos10 aus dem

Westen erleben. 11 Bis tief in die Nacht

stritten diese unerbittlich – gesell-

schaftlich relevant wie viele andere

Sekten – um inhaltlich nicht immer

wirklich wichtiges dafür mit einer teil-

weise stalinistischen Attitüde. Im

Gegenüber wird vor allem der Feind

gesehen und ein wesentliches Ziel ist

seine Demütigung. ZF haben gelernt

zurückzuschlagen, das immerhin ver-

danken sie auch zum Teil den Jusos aus

dem Westen. Deshalb reagieren sie

auch so allergisch auf Teile einer

nachrückenden Generation im eigenen

Land, die gelernt hat, dass Intrigen

wichtiger als Problemlösungskompe-

tenz sind. Wenn die Tageslosung aus

der Kampa das eigene Denken ersetzt,

kann es mit der Sozialdemokratie nicht

mehr lange gut gehen. Wohl gerade,

weil die ZF lernen mussten in unterge-

henden Welten zu leben, konnten sie

Werte und die Kraft bewahren, angeb-

lichen Sachzwängen zu trotzen.

ZF haben reale Arbeiter(innen) in

ihren Familien. Sie kennen Arbeiter

nicht nur aus missglückten Versuchen,

sich Weltrevolution verkündend Lehr-

lingen zu nähern und sie von ihrem

Weg abzubringen. ZF sind nicht ver-

snobt und fühlen sich tief in in ihren

Herzen als etwas Besseres. Sie haben

eine Chance darauf, auch noch in zwan-

zig Jahren ein Gewissen zu haben und

sich nicht mit scheinbarer Professiona-

lität, die leider diesen und jenen auch

moralischen Kompromiss erfordert,

sentimental an die Zeit zu erinnern, in

der es schick war, ein sozial denkender

Mensch zu sein. Nur wenige haben

zum Glück das Zeug für Diagonalkarrie-

Christian Maaß

62

9 Aus der Sicht westdeutscher Jusos handelt es sich bei der Bezeichnung „Junge Sozialdemokraten“ fast schon um einSchimpfwort. Junge Sozialdemokraten stehen für sie tendenziell rechts und werden grundsätzlich abgelehnt. Hiergibt es eine ausgeprägte politische und kulturelle Differenz zwischen einem Teil der Jusos Ost (nämlich den Teilen –vor allem der ersten Generation der Jusos in Ostdeutschland – die sich als junge Sozialdemokraten empfinden) undden Jusos West. Vgl. dazu auch Ehlers, Benjamin (1999): Wer, wenn nicht wir! 10 Jahre Junge Sozialdemokraten in derDDR, Potsdam. Bei den Jusos in den alten Ländern gab es 1989/90 sogar Überlegungen, mit der FDJ zu kooperieren.

10 Es gibt natürlich nicht den Juso aus dem Westen. Das Engagement vieler Jusos, von denen viele auch noch immer„reale Arbeitnehmer“ persönlich kennen, ist gar nicht hoch genug zu würdigen. Es entsteht indessen oft der Ein-druck, dass gerade sie es nicht schaffen, sich gegen den harten Funktionärs-/Karrieretyp durchzusetzen.

11 Die Art und Weise, wie die Jusos in den alten Ländern teilweise Politik betrieben, wird sehr schön ein einem voneinem erfahrenen Juso aus den alten Ländern zusammengefasst: „Fehlende Sachkompetenz ersetzen wir durchEngagement und Lautstärke“.

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ren. So können sie davor bewahrt wer-

den, inhaltsleer auf den Moden und

Wellen zu surfen. Vielleicht bringt ein

Leben ohne dieses Surfen weniger

Spaß, bei den ganz wichtigen Zielen

setzen ZF eben auf Konsequenz und –

wenn es sein muss – Verbissenheit.

Ihr Erleben des Niedergangs – Oder Trotz aus der Entwertung ziehen

Die Eltern der ZF haben oft Jahr-

zehnte im Osten geschuftet. Stammen

die Eltern aus der direkten Kriegs- und

Nachkriegsgeneration, war ihr Weg

besonders entbehrungsreich. ZF haben

erlebt, wie der Westen ihre Eltern aus-

geschieden hat. Plötzlich bestimmte

nicht mehr Friedrich Engels ihr Schick-

sal, sondern drängte sie die Treuhand im

Sinne westlicher Konkurrenten aus dem

Markt. ZF wissen, dass die DDR am Ende

war. Das lässt sie manche Widersprüche

leichter ertragen als die 45- bis 50-Jähri-

gen, die sich 1989/90 mit einem ihr

Leben in Frage stellenden, radikalen

Bruch konfrontiert sahen. ZF können

selbstbewusst genug sein, eine starke

Position für ihr Land einzufordern. Sie

trauen sich zu, dafür Ideen zu ent-

wickeln. Dass die DDR marode war,

bedeutet nicht, dass Brandenburg keine

Chance bekommen sollte. ZF können

die Leistungsfähigkeit des Westen aner-

kennen ohne seine Schwächen zu ver-

kennen. Sie glaubten schon immer eher

Dieter Hildebrandt als Helmut Kohl. Das

„ZDF-Magazin“ war nur wenig demago-

gischer als „Der Schwarze Kanal“. Trotz-

dem war die Bundesrepublik nach dem

Überwinden des Muffs der Adenauer-

Zeit eine Demokratie, und der kleinka-

rierte Sachsen-Sozialismus ein Un-

rechtsstaat, wenn auch mit kommoden

Bedingungen für brave Untertanen. Der

anheimelnde Kleinbürgerrealsozialis-

mus der DDR duldete Abweichungen

nur in einem sehr begrenzten Rahmen.

Wer ausbrach wurde verraten, wegge-

schlossen, ja auch weggeschossen oder

einfach nur verkauft. Manche ZF mögen

Kommunisten fast so sehr, wie es Kurt

Schumacher tat, doch erscheint ihnen

die „Jagd“ nach kleinen Stasimitläufern

manchmal absurd, wenn wir an die

BRD-Karrieren so vieler Nazis denken.

Ihr Leben als glaubhafter Träger vonIdentität – Oder ein Sozialdemokrataus Preußen kauft kein Haus im Tessin

Zu den Herauforderungen, eigentlich

zu den Problemen Brandenburgs

gehört die Frage, wie es gelingt, mög-

lichst alle Menschen in ein erträgliches

Gemeinwesen zu integrieren. Was hilft

dabei, entwurzelte Menschen unter-

schiedlichen Alters wieder an eine

zivile Gesellschaft zu binden. Diese

Bindung an das hier und jetzt kann

durchaus Züge von Stolz auf das

Eigene tragen. Sie braucht aber vor

Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

63

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allem die Kraft, die notwendige Tole-

ranz zu entwickeln, die ein verträgli-

ches Auskommen aller garantiert. Ach,

gäbe es zumindest eine vernunftbe-

gründete Toleranz, sei sie auch wirt-

schaftlich begründet. Das wäre doch

für einige ein Anfang. ZF können hel-

fen, das Hier und Jetzt zu vermitteln,

ohne den Blick nach außen unnötig zu

verstellen. Sie fühlen sich ihrer Heimat

verbunden. Die Toskana ist für sie über-

wältigend und die Alpen unfassbar. ZF

sind aber mutig in Rheinsberg (hier

war immer schon Fronde) und trauern

mit Luise in Gransee. Brandenburg

braucht diese Bindung. ZF können

dabei helfen, sie aufzubauen. Besinnen

wir uns in Brandenburg zurück, ist da

vor allem Preußen. Das ist für ZF mehr

als Folklore. ZF sehen all das Problem-

behaftete, doch können sie mit dieser

Quelle der Identität umgehen. Sie

brauchen keinen Wettstreit darüber,

welcher Teil Deutschlands mehr

Schuld an den grausamen und men-

schenverachtenden Verbrechen des

Nationalsozialismus trägt. Wenn

Baden-Württemberger alles können

außer Hochdeutsch und Bayern Leder-

hose und Laptop versöhnt, warum sol-

len wir dann Friedrich II oder seinen

Bruder Heinrich negieren. München

feiert die Pinakothek, ZF gewinnen

Tiefe durch die Betrachtung von Men-

zels Auseinandersetzung mit der

Größe und Ambivalenz von Preußen.

ZF genießen Caravaggio, denn er

bringt italienische Lebensart nach

Preußen.

Ihr Selbstbewusstsein ist stark genug –Oder wir brauchen die Fusion mit Berlin

Endlich einmal Nein-Sagen, gegen

alle vermeintlichen und realen Nieder-

lagen stimmen … so oder so ähnlich

lässt sich im Rückblick das Abstim-

mungsverhalten bei der Fusionsab-

stimmung beschreiben. Einer schlech-

ten Kampagne folgte ein verhängnis-

volles Nein bei einer Frage von zentra-

ler Bedeutung. Die Region braucht Ber-

lin-Brandenburg, auch wenn wir es

nicht Preußen nennen können. Als Ber-

lin noch ganz klein war, war vieles ein-

facher, da war es ein Teil der Mark. Die

Metropole in der Mitte und das Land

darum, sie sind fast schicksalhaft mit

einander verwoben. Wenn auch der

Bahnhof in Neustadt (Dosse) einen

Ausgang zur City hat, wir brauchen die

City in unserer Mitte. Welche der

Städte Brandenburgs könnte da mit-

halten. Brandenburg an der Havel und

Frankfurt an der Oder: die eine Stadt

hat einen tragischen Helden, der seiner

Schwester glücklich über seinen

Selbstmord berichtete und die andere

einen herrlichen Dom, der allerdings

auseinanderbrechen oder doch wenig-

sten wegrutschen will (Dank sei den

Christian Maaß

64

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Rettungsversuchen seit Schinkel). Cott-

bus kämpft mit Eduard Geyer gegen

den Abstieg. Da bleibt als Zentrum nur

noch Potsdam, das – doch aber auch

und gerade – davon lebt, das kleine

und deshalb andere an der Seite von

Berlin zu sein. Die Mark Brandenburg

ist mehr als ein Teil der manchmal lau-

benpiperhaften Westberliner Sozialde-

mokraten, die nach Reuter, Brandt und

anderen sich in ihrer Welt behaglich

einrichteten, CDU-Politik auf Teppich-

händlerniveau. Die Sorgen der Bran-

denburger, übervorteilt zu werden sind

berechtigt, die schwache Region muss

aber ihre Potentiale bündeln. Wenn wir

eine wettbewerbsfähige Region wer-

den wollen, muss es ein gemeinsames

und starkes Land geben. Wir haben das

Selbstvertrauen, in einem solchen Land

nicht unterzugehen. ZF haben das not-

wendige Selbstvertrauen, ein starkes

Brandenburg in ein gemeinsames Bun-

desland zu begleiten.

Ihre Politik ist mehr als Kungeln – Oderfür eine Problemlösung, die länger alseine Wahlkreisdelegiertenkonferenz hält

Politik hat immer viel mit Macht,

Herrschaft und der Durchsetzung von

Interessen zu tun. Es wäre blauäugig

anzunehmen, dass es nur um die For-

mulierung lösungsbedürftiger Pro-

bleme, die Auswahl von Lösungsalter-

nativen und die Umsetzung der besten

Lösung geht. Schon die Auseinander-

setzung mit dem parteipolitischen

Gegner erzwingt ein taktisches Vorge-

hen, das auch harte Bandagen kennt.

Politik in der heutigen Zeit kann sich

aber nicht mehr darauf beschränken in

erster Linie Mehrheiten in Ortsverei-

nen zu organisieren und hoffnungs-

volle andere Bewerber auszustechen.

Wir brauchen Wissen darüber, wie eine

Gemeindegebietsreform konzipiert

und durchgeführt wird – das darf man

eben nicht allein der Ministerialbüro-

kratie übertragen – und darüber, wie

die Wirtschaft in unserem Land geför-

dert werden kann. Wir brauchen Stra-

tegien für ein in weiten Landstrichen

schrumpfendes Land, wo ungeklärt ist,

wie die notwendige Infrastruktur vor-

gehalten werden kann. Die Liste der

Herausforderungen ließe sich beliebig

verlängern. Neben der Härte in der

innerparteilichen Auseinandersetzung

brauchen wir Politiker/Politikerinnen

mit höherer Problemlösungskompe-

tenz. Ein auf Transfers aus den alten

Ländern gestütztes „Weiter So!“ kann

und wird es nicht geben. ZF stehen für

eine solche neue Politik bereit.

Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

65

Page 68: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

Ende und Ausblick Eine erfolgreiche Sozialdemokratie

in Brandenburg braucht einen Aus-

gleich zwischen dem Solitär Platzeck,

der Generation der ersten Stunde und

den Zonenfunktionären. Es sollte ver-

hindert werden, dass mit den ZF auch

noch eine weitere junge Generation

das Land verlässt. Dabei geht es nicht

darum, jemanden zu verdrängen, auch

wenn der Beitrag stellenweise die

Argumente auf eine intensivere Art

und Weise vortrug. Es geht um nach-

vollziehbare Perspektiven und nicht

darum etwas geschenkt zu bekom-

men. Brandenburgs Erfolg wird zu-

künftig ganz stark davon abhängen,

wie seine Menschen auf die Herausfor-

derungen vorbereitet sind. Werden die

ZF gut an zukünftige Aufgaben heran-

geführt, können sie in Brandenburg

und darüber hinaus an einer „Moderni-

sierung mit märkischer Prägung“ mit-

wirken – und darauf kommt es an.

Christian Maaß

66

Christian Maaßist stellvertretender Vorsitzender der SPD im Havelland.

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Es klingt fast banal nach den Terror-

anschlägen von 11.9.2001 auf das

offensichtliche Spannungsverhältnis

zwischen Orient und Okzident hinzu-

weisen. Es ist ebenso leicht, eine Ver-

dichtung dieser Spannungen sowohl

auf der weltpolitischen Bühne wie

auch auf der geistigen Ebene festzu-

stellen. Die herrschende Tendenz in der

westlichen Welt, vor allem in Europa,

ist aber, den Aufeinanderprall der Zivi-

lisationen zu ignorieren. Der Dialog

zwischen Christen und Moslems wird

verstärkt weiter betrieben. Der Dialog

der Kulturen des Orients und des Okzi-

dents wird mehr als je zuvor gefördert.

Dieses gilt zwar als politisch korrekt, ist

jedoch um so erstaunlicher, angesichts

der offenen Kriegserklärung an den

Westen seitens Al Qaida und anderen

gleichgesinnten islamistischen Bewe-

gungen. Diese Islamisten haben keine

Bedenken einen fortwährenden Kampf

der Kulturen durchzuführen. Sie haben

„ihren Huntington“ gelesen. Seit mehr

als einem Jahr zeichnen sich im Wes-

ten Reaktionen ab, die mehrheitlich als

aufklärerisch, beschwichtigend, Har-

monie orientiert oder apologetisch zu

bezeichnen wären. Sie alle haben eines

gemeinsam: sie sind nicht konfronta-

tiv. Auch die buddhistische Welt des

Fernen Ostens hat nicht aggressiv rea-

giert angesichts der mutwilligen Zer-

störung ihrer Heiligtümer in Bamian

durch die Talibanherrschaft. Stellen Sie

sich nur vor, welche islamische Reak-

tionen wir zu erwarten hätten, wenn

islamische Heiligtümer in Mitleiden-

schaft gezogen worden wären. Die

Konfrontation zwischen Muslimen

und Hindi in Indien wäre nur ein Vor-

spiel. Im Westen sind die hörbaren

Stimmen, die den Zivilisationskampf

Magazin

67

Orient und Okzident:Schuldzuweisung gegen SchuldbekenntnisEröffnungsvortrag der 44. Jahrestagung der Gesellschaft für Geistesgeschichteam 31. Oktober 2002 in Potsdamim Rahmen des Symposiums „Der Orient im Okzident“

von Mordechay Lewy

Einleitung

Page 70: Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? · PDF fileVorwort 3 Thema Manfred Güllner 5 Die PDS ohne Zukunft? Albrechtvon Lucke 11 Das Verschwinden der PDS Thomas Falkner 15 Sozialisten

zwischen Okzident und Orient als

unvermeidlich artikulieren, selten. Es

gilt nicht als politisch korrekt, sich dar-

über öffentlich zu äußern. Berlusconis

Einschätzungen über die kulturelle

Überlegenheit des Okzidents im Ver-

gleich zur islamisch-arabischen Welt

riefen in Europa eine Welle der politi-

schen Entrüstung hervor. Eine radikal

feindselige Haltung spricht aus dem

letzten Buch von Oriana Fallaci „Die

Wut und der Stolz“. Sie ist früher mehr-

mals als Sensationsreporterin aufge-

fallen. Doch ihre Kritik gegenüber der

Rückständigkeit der arabischen Welt

und des Islam kann nicht nur als

rechtspopulistisch disqualifiziert wer-

den. In ihrer manchmal überzogenen

Kritik hat sie einen Tabubruch an der

im Westen betriebenen political cor-rectness gegenüber der arabischen

Welt begangen. Auch von konservati-

ver Seite wurde Fallaci gerügt: „Die ara-bische Kultur von vornherein minder-wertiger als die europäische anzusehen,wie Oriana Fallaci dies tut, muss als

unerträgliche Hybris erscheinen. InSachen Zuwanderung nach ihremRezept kurzen Prozess zu machen undArmutsflüchtlinge zu deportieren heißt,Grundgedanken der Aufklärung unddes Christentums, auf die demokrati-sche Kultur und Rechtsstaatlichkeit inWesteuropa aufbauen, gleich mit abzu-schieben.“ Klare und unmissverständ-

liche Stimmen wie der indischstäm-

mige Literaturnobelpreisträger V. S.

Naipaul in seiner Islamkritik haben Sel-

tenheitswert: „Die islamischen Ländersind korrumpiert. Sie überschätzen ihreeigene Stärke und haben nicht begriffen,dass das, was sie für ihre Stärke halten,auf Schwäche beruht … Es muss einesehr entschiedene Antwort geben. Sonstwird dieser Wahn weitere Länder befal-len.“ Meine Ausführungen sollen Denk-

anstöße geben, um uns mehr Klarheit

über das westliche Verhaltensmuster zu

verschaffen. Ferner liegt mir daran, den

dialektischen Zusammenhang zwi-

schen den westlichen und orientali-

schen Verhaltensmustern aufzudecken.

Orient und Okzident verstehe ich als

aus ihrer eigenen Geschichte entstan-

dene Kulturräume, die wegen ihrer

geopolitischen Nähe relevant zueinan-

der waren und es auch bleiben werden.

Diese Dichotomie ist keineswegs nur

eine Erfindung des kolonialen Okzi-

dents, um den Orient zu unterjochen

oder zu verunglimpfen, auch wenn

Edward Saids These vom Orientalism

Definitionen

Mordechay Lewy

68

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breite Zustimmung in westlichen Uni-

versitäten und in islamistischen Krei-

sen gefunden hat. Seine schärfsten Kri-

tiker befinden sich im übrigen unter

den säkulären Kreisen der linksgerich-

teten Intelligentsia in der arabischen

Welt. Die Namen von Sadik-al-Azm

oder Nadim-al-Bitar sollen hier gewür-

digt werden. Die Gegensätze sind nicht

virtuell sondern real.

Orient: bedeutet hier geographisch die

islamisch-arabische Welt im Mittel-

meerraum und im Nahen Osten. Eine

Welt, die keine strikte Trennung zwi-

schen Religion und Staat vollzogen hat.

Säkularisierung als staatstragende Idee

existiert halbwegs im Orient nur dort,

wo es von Oben verordnet wird und sich

auf die herrschende Macht der Bajo-

nette berufen kann. Es ist eine Welt, in

der der Islam den Alltag der Mehrheit

der Bevölkerung geprägt hat und

immer noch oder wiederum entschei-

dend mitformt.

Okzident: bedeutet geographisch

hauptsächlich den Kulturraum in Europa

und Nordamerika. Eine Welt, die ihr

Selbstverständnis als Wertegemeinschaft

aus der judäisch-christlichen Tradition

übernommen hat. Sie ist der Demokratie

als Herrschaftssystem und der Säkulari-

sierung (also rechtliche Trennung von

Staat und Religion) verpflichtet.

Schuldzuweisung: Jeder von uns kennt

die alltägliche Situation, in der ein Kind

sich am häuslichen Tisch anstößt und

sich dabei wehtut. Seine Mutter wird

das heulende Kind gleich trösten wollen

und den schlimmen, bösen Tisch

beschuldigen, weil er dort gestanden

und dem Kind wehgetan hat. Diese

Schuldzuweisung ist eine Ablenkung der

eigenen Schuld und Unzulänglichkeit

auf andere, weil man selbst nicht richtig

aufgepasst hat. Dieses Verhaltensmu-

ster kann man auch auf eine bestimmte

kulturell homogene Bevölkerungsgrup-

pe anwenden. Die moderne Kulturan-

thropologie arbeitet seit längerer Zeit

nach dieser Methode.

Schuldgefühl und Schuldbekenntnis:Wer kennt nicht den Unglücklichen, der

einen verhängnisvollen Autounfall ver-

ursacht hat und sich seither nicht mehr

traut, sich ans Lenkrad zu setzen. Sein

Schuldbekenntnis belastet sein Gewis-

sen so sehr, dass er nicht mehr das Risiko

eingehen will nochmals schuldig zu

werden. Sein zukünftiges Verhalten

beruht auf einer einmaligen traumati-

sierten Erfahrung in seiner Vergangen-

heit. Darüber hinaus definierte Freud

das irrationale Schuldbewusstsein bzw.

Bekenntnis folgendermaßen: „Der Neu-

rotiker reagiert so, als ob er schuldig

wäre, obwohl er unschuldig ist, weil ein

in ihm bereitliegendes und lauerndes

Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

69

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Schuldbewusstsein sich der Beschuldi-

gung des besonderen Falles bemäch-

tigt“. Auch hier bietet sich die Anwen-

dung eines solchen Verhaltensmusters

auf eine bestimmte kulturell homogene

Bevölkerungsgruppe an.

Gegenseitige Wahrnehmungen

Ich gehe davon aus, dass Orient und

Okzident seit dem Erscheinen des

Islams auf der historischen Bühne

mehr Gegensätze als Gemeinsamkei-

ten ausgestrahlt hatten. Bis ins hohe

Mittelalter war die arabisch-islamische

Kultur die tonangebende von den Bei-

den. Fernand Braudel beschreibt die

Beschaffenheit der longue duree des

gemeinsamen Mittelmeerraumes. Ob-

zwar kein Schmelztiegel, war dieser

Raum die Plattform des Gebens und

Nehmens zwischen Orient und Okzi-

dent in allen Bereichen. Eine Abschot-

tung des Mittelmeers als Barriere zwi-

schen diesen Kulturen, wie es einst

Henri Pirenne behauptete, fand wahr-

scheinlich nie statt. Nur wenige Mus-

lime sehen heute den Okzident als die

Wertgemeinschaft der judäisch-christ-

lichen Zivilisation an. Ihr Bild vom

Westen entbehrt die religiöse Essenz

dieser Zivilisation. Die Religion in

Europa hat in der Tat an politischer

Macht eingebüßt und das Christen-

tum stellt für die Muslime keine

Gefahr mehr dar. Vielmehr erscheint

ihnen der Okzident als eine säkulari-

sierte Macht, die von Materialismus,

Imperialismus und Ausbeutung der

arabischen-islamischen Welt geprägt

wird. Bei strengen Muslimen und radi-

kaleren Islamisten erscheint der Wes-

ten letztlich als ein Hort der Dekadenz

und der Gottlosigkeit. Demgegenüber

ist bei der großen Mehrheit der Bevöl-

kerung im Westen ein Bild vom Orient

entstanden, das von agressivem reli-

giösem Fanatismus, gesellschaftlicher

Rückständigkeit und politischer Un-

mündigkeit geprägt wird. Tatsächlich

sind im letzten Jahrzehnt in 90 % der

blutig ausgetragenen Konflikte auf der

Welt arabische bzw. islamistische

Kräfte mit involviert. Diese Wahrneh-

mung mag auf der Stammtischebene

kursieren. Es ziemt sich aber nicht,

diese Wahrnehmung lautstark und

öffentlich zu artikulieren. So absurd es

klingen mag, nehmen die etablierten

Kirchen im Okzident ihre unmittelbare

Umgebung ähnlich wie der Islam

wahr. Durch die Beliebigkeit der Wert-

orientierung im postmodernen Zeital-

ter und der „Spaßgesellschaft“ im

Okzident, lamentieren Kirchenvertre-

Mordechay Lewy

70

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ter ebenso über den grassierenden

Materialismus, über die dekadente Kul-

tur im Westen und über die herr-

schende Gottlosigkeit. Kirchen und

Islamisten hoffen zugleich auf reli-

giöse Umkehr und wollen der Deka-

denz ihrer jeweiligen Kulturen ent-

schieden entgegentreten. Der kleine

Unterschied liegt aber darin, dass die

Dekadenzkritik der Islamisten sich auf

den korrumpierend erscheinenden

westlichen Einfluss auf die arabisch-

islamischen Welt bezieht, also kein

Schuldbekenntnis im eigentlichen

Sinne ist. Zwischen Islam und katholi-

scher Kirche ergeben sich sogar

gemeinsame Interessen in gesell-

schaftspolitischen Fragen, wie in der

Familienplanung oder dem menschli-

chen Klonen. Es ist bezeichnend für

den Westen, dass die a-religiöse Mehr-

heit die eigenen Kirchen und die Rolle

der Religion als obsolet beurteilt, aber

in ihrer Wahrnehmung des Orients die

Rolle der islamischen Religion überaus

relevant erscheint. Unter dieser a-reli-

giösen Mehrheit im Westen gibt es

wiederum eine intellektuelle Schicht,

die auch stark in den Medien und der

Publizistik vertreten ist. Ihr Bild vom

Orient ist von den Denkkategorien der

Politik- und Sozialwissenschaft ge-

prägt. Ihre eigene politische Sozialisie-

rung hat sie zu einem Weltbild geführt

in dem die Religionen kaum eine

gestaltende Rolle einnehmen. Daher

wird die Macht des heutigen Islam in

dieser Schicht unterbewertet. Ihr Bild

von der arabischen Welt ist das eines

Opfers der kapitalistischen Ausbeu-

tung, der imperialen Dominanz und

des westlichen Orientalism. Diese

Schicht sieht den islamischen Terroris-

mus zwar als verabscheuungswürdig,

aber nicht als einen Zivilisationsbruch.

Sie meinen, wenn man die politischen,

sozialen und wirtschaftlichen Bedin-

gungen ändert, so trocknet man damit

auch den Sumpf aus, in dem dieser Ter-

rorismus entstehen konnte. Innerhalb

dieser Schicht sieht man die Schuld

des Westens stark ausgeprägt.

Der emeritierte Prof. Krippendorf

sagte auf einer Tagung in Berlin wie

folgt: „Es sei ein Glück für die Muslime, dieAufklärung und die Modernisierung ver-passt zu haben, weil ihnen so die ,Horror-vision‘ unserer totalitären Macht undAusbeutung erspart geblieben sei.“ Man

fühlt sich unwohl, reich und mächtig zu

sein. Amerikanische Intellektuelle wie

Susan Sontag, Noam Chomski und der

Italiener Tiziano Terzani, aber auch

gemäßigtere Stimmen wie Norman

Mailer oder Philipp Roth oder die indi-

sche Autorin Arundhati Roy üben Zivili-

sationskritik am Westen und verteilen

die Schuld an beide Seiten oder weisen

sogar einseitig die Schuld der USA zu.

Während im Okzident eine Vielfalt der

Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

71

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Wahrnehmungen des Orients besteht,

bleibt das Bild des Okzidents im Orient

monolithisch. Diejenigen Intellektuellen

im Orient, die eine differenzierte bzw.

eine positive Wahrnehmung des

Westens haben,können sich nur bedingt

in der einheimischen Öffentlichkeit arti-

kulieren. Fouad Ajami beschreibt in sei-

nem Buch „The Dream Palace of the

Arabs“ eingehend ihr Dilemma. Früher

oder später werden sie in den Westen zie-

hen, um sich freier entfalten zu können.

Thesen

Soweit mir bekannt ist, wurde im

Spannungsverhältnis zwischen Orient

und Okzident noch nie der Blickwinkel

der Beziehung zwischen einer Schuld-

zuweisungskultur (blame society) und

einer Schuld- und Schuldbekenntnis-

kultur (guilt society) beleuchtet. Kul-

turanthropologen operieren eher mit

den Begriffen der Schuldkultur (Wes-

ten) und Schamkultur (Ostasien und

Afrika). Unser Bezugsrahmen soll

jedoch nicht als alleiniges Erklärungs-

modell verstanden werden. Er soll uns

aber nachdenken helfen, warum die

Schuldgefühle im Okzident teilweise

zur Selbstverleugnung führen, unge-

achtet dessen, dass der Konfliktstoff

zwischen Orient und Okzident auf

absehbare Zeit nicht versiegen wird.

Fraglich bleibt, warum der Orient

schwerlich Verantwortung für selbst-

verschuldete Unzulänglichkeiten über-

nehmen kann. Da eine Selbstkorrektur

die Fähigkeit zur Selbstkritik voraus-

setzt, sind zukunftsorientierte Umwäl-

zungen im Orient nur in langsamen

Schritten zu erwarten. Darüber hinaus

kann der Orient aus sich heraus den

Konflikt mit dem Okzident kaum mei-

den, da er sich selbst seit Jahrhunder-

ten in Verschwörungstheorien ver-

strickt hat und sich in einem hermeti-

schen Verschluss der sich selbst erfül-

lenden Prophezeiungen eingekreist

hat. Die Tatsache, dass die kleinen und

großen „Tiger“ im Fernen Osten, inner-

halb von einigen Jahrzehnten, den

Anschluss an die globalisierte Wirt-

schaft gefunden haben und sich von

Hungersnot und Armut verabschiedet

haben, verdeutlicht den Menschen in

der arabischen Welt, wie weit sie selbst

eigentlich in der gleichen Zeitspanne

zurückgefallen sind. Thesenhaft for-

muliert ergeben sich folgende Aussa-

gen:

1. Im Orient wird die eigene Schuld

und Unzulänglichkeit verdrängt und

anderen zugeschoben. Selbstkritik

ist selten zu finden. Korrekturfähig-

Mordechay Lewy

72

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keit ist begrenzt.

2. Im Orient wird die eigene Opferrolle

bevorzugt. Zur Begründung dieses

Verhaltensmusters werden Ver-

schwörungstheorien geschmiedet.

3. Der Islam kennt keine Erbsünde und

daher keine historisch tradierte Kol-

lektivschuld.

4.Der Islam begünstigt nicht die

Gestaltung des freien Willens und

der eigenen Verantwortung. Im isla-

mischen Menschenbild steht der

freie Wille neben der allumfassen-

den Vorherbestimmung Allahs, ohne

dass die islamischen Theologen bis-

her beide Grundsätze vereinbaren

konnten.

5. Im Okzident neigt man zum Schuld-

bekenntnis, ungeachtet ob zurecht

oder zu unrecht. Daher wird häufig

die Täterrolle übernommen.

6.Die Schuldbekenntniskultur im Okzi-

dent begünstigt die Selbstkritik aber

auch die eigene Korrekturfähigkeit.

7. Im heutigen Okzident ist die religiös

begründete Erbsünde teilweise säku-

larisiert und drückt sich in Schuldbe-

kenntnissen u.a. auch gegenüber der

islamisch-arabischen Welt aus.

8. In dem offenen oder verdeckten Kon-

flikt zwischen beiden Kulturen kann

der Okzident mit seiner Schuldkultur

nicht frei handeln und zwar wegen

selbstauferlegten moralischen Zwän-

gen. Diese Einschränkung wird vom

Orient, die als Schuldzuweisungskul-

tur aggressiver agiert, als Schwäche

wahrgenommen. Diese Schwäche

wird in Konfliktsituation nicht hono-

riert, sondern ausgenutzt.

Ohne Erbsünde kein kollektives Schuldbewusstsein

Sigmund Freud behauptete, das

Schuldgefühl sei das wichtigste Pro-

blem der Kulturentwicklung. Die Regu-

lation sozialen Verhaltens (Kultur) liegt

in den Händen des Über-Ichs (das

Gewissen). Dieses bedient sich mittels

des Schuldgefühls. Schuld ist nach

Freud dem Menschen in der abendlän-

dischen Kultur immanent. Diese Auffas-

sung beruht, zumindest symbolisch, auf

der biblischen Erzählung der Erbsünde,

infolgedessen der Übergang vom

unschuldigen Naturzustand zur Unter-

scheidung zwischen Gut und Böse voll-

zogen wurde. Aber eine Erbsünde, wie

im abendländlichen Verständnis, gibt es

nicht im Islam. Die Vertreibung aus dem

Paradies ist im Koran kein Schlüsseler-

lebnis. Allah vergibt alle Sünden,

großund klein, wenn der Sünder Reue

und Umkehr zeigt. Ungläubigen,

einschliesslich der Völker der früheren

Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

73

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Offenbarungen wie Juden und Christen,

bleiben die Pforten des Paradieses ver-

schlossen. Es gibt im Koran keinen aus-

gangsoffenen Kampf zwischen Gut und

Böse, der manichäische Dimensionen

hat. In der abendländischen Tradition

kann der Satan den Menschen ver-

führen (das faustische Motiv). Im Islam

entwaffnet der Satan sich selbst, indem

er in der Sure 14,22 zugibt, über die Men-

schen keine Macht ausüben zu können.

Ein praktizierender Muslim erlangt

seine Gewissheit das Heil zugeteilt zu

bekommen einzig und allein durch die

Erfüllung aller Gebote Allahs. Dieses

Verhalten erspart ihm die Gewissens-

bisse um sein Heil, die im Christentum

immanent sind. In der islamischen Auf-

fassung gilt die Schuld zwar als persön-

liche Bürde, die kann aber mit der strikt

rituellen Befolgung der Gebote Allahs

abgetragen werden. Im Orient kennt

der Muslim kein kollektives Schuldbe-

kenntnis, das historisch an die nächsten

Generationen tradiert würde. Im Okzi-

dent hat sich die christlich geprägte

Idee der Erbsünde so ausgewirkt, dass

sie Bestandteil der westlichen Zivilisa-

tion geworden ist. Mit der Säkularisie-

rung und der Aufklärung im Okzident

wurde die Erbsünde ebenfalls säkulari-

siert und in den jeweiligen ideologi-

schen Schematas des zu behebenden

unmoralischen Grundübels bewahrt.

Man fühlt sich schuldig, reich zu sein, so

als ob man diesen Reichtum nicht mit

Mühe erarbeitet hätte. Man hat ebenso

Gewissensbisse, legitime Machtmittel

zu verwenden. Der Antikolonialismus,

Postkolonialismus, Antikapitalismus

oder die Antiglobalisierung nähren sich

doch alle auch von Schuldgefühlen, die

der Dritten oder Vierten Welt abzugel-

ten wären. Der Orient ist trotz seines

Erdölreichtums darin eingeschlossen.

Somit bekommt der Orient auch Anteil

an der Schlüsselgewalt der zu vergebe-

nen Absolution. Als Schuldtilgung gel-

ten z.B. finanzielle Zuwendungen an

Länder der Dritten Welt. Gegenüber

dem Orient soll eher die Schuld mit poli-

tischer Rücksichtnahme abgegolten

werden. Terzani schreibt drei Tage nach

dem 11.9., dass man den Islam als eine

Religion begreifen soll, die sich gegen

die Globalisierung zur Wehr setzt. Die

Islamisten verabscheuen aber die

demokratischen Werte. Deren Gesetze

sind von Menschenhand bestimmt

worden, und damit stehen sie im Wider-

spruch zu dem göttlichen Ursprung der

Scharia, der islamischen Gesetzgebung.

Aber wenn sie selbst von arabischen

oder westlichen Regimen verfolgt wer-

den, scheuen sie sich nicht, die „unde-

mokratischen Verfahren“ anzuprangern

und an Menschenrechte zu appelieren.

Schuldbewusste Abendländer lassen

sich trotz dieser Heuchelei davon beein-

drucken.

Mordechay Lewy

74

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Arabische Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungskultur

Bassam Tibi erwähnt in seinem Buch

„Die Verschwörung – Das Trauma arabi-

scher Politik“ den Begriff Mu’amarah

(Verschwörung) als eine kulturell veran-

kerte Sichtweise, die dem eigenen

Schicksalsglauben (Kismet) Vorschub lei-

stet. Der türkische Begriff Kismet

stammt aus dem Arabischen Qisma und

bedeutet Zuteilung oder Anteil. Gemeint

ist eigentlich die tröstende Erklärung für

Schicksalsschläge,die den unerklärbaren

göttlichen Willen als Grund vorausset-

zen. Damit wird dem Kismet ein religiö-

ser Sinn gegeben. Islamwissenschaftler

billigen dem Glauben an Kismet kaum

einen theologischen Stellenwert zu. Für

sie gehört er eher in die Bereiche der Fol-

klore bzw. Volksreligion. Der Begriff wird

ferner überall benutzt, wo es den Betrof-

fenen nicht mehr möglich ist, hinter den

unentrinnbaren schicksalhaften Erschei-

nungen eine für sie erklärbare lebensbe-

zogene Ursache festzustellen. Wenn der

Moslem von Allah ein zugeteiltes Los

erhält, ohne es selbst beeinflussen zu

können, übt der Mensch auch keine

eigene Verantwortung aus. So entsteht

die Neigung, Ereignisse oft aufgrund des

Eingreifens anderer Kräfte zu erklären,

sie aber nie auf sich selbst zurückzu-

führen. Niederlagen und unerwünschte

Ereignisse im politischen Bereich wer-

den somit als Verschwörungen gegen

die Araber oder den Islam wahrgenom-

men. Bernard Lewis schildert in seinem

neuesten Buch „What went wrong?“

eine historische Kette von Schuldzuwei-

sungen an externen Faktoren, die für die

Antwort auf die arabischen Frage „Wer

hat uns das angetan?“ herhalten mus-

sten. Im Mittelalter wurde die mongoli-

sche Invasion für die Zerstörung des

Khalifats in Bagdad verantwortlich ge-

macht. Über die interne Schwäche der

Abassiden wurde vornehm geschwie-

gen. Seit Beginn der relativ kurzen Herr-

schaftsperiode der Kolonialmächte im

arabischen Raum wurden vornehmlich

England und Frankreich für den politi-

schen und kulturellen Niedergang der

Araber schuldig befunden. Diese Rolle

wurde nach dem zweiten Weltkrieg von

der USA übernommen. In der politischen

Kultur der arabischen Welt wird das

Schicksal der Araber seit den Sykes-Picot

Abmachungen von 1916 durchgehend

bis zum Anschlag auf die Zwillingstürme

in New York am 11.9.2001 als eine lange

Kette der westlichen Verschwörung

empfunden. Anlässlich des ersten Jah-

restags der Anschläge vom 11.9. veröf-

fentlichte die ägyptische Wochenschrift

al-Ahram Weekly eine Umfrage. Auf die

Frage, wer verantwortlich für den

Anschlag sei, antworteten 39 % – der

Mossad; 25 % – wir werden es nie erfah-

Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

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ren; 19 % – Al Qaida oder andere mili-

tante Islamisten; 17 % – andere Nicht-

Muslime. Bin Laden hat sich zwar in sei-

nem Video längst der Tat bezichtigt, und

seine Kassette wurde in dem populär-

sten Satellitensender im Nahen Osten

„Al Dschezira“ ausgestrahlt. Dennoch

waren 81 % der Befragten nicht bereit,

eine arabische Verantwortung zu konzi-

dieren oder die Al Qaida in die Pflicht zu

nehmen. Das Verschwörungssyndrom

spricht den Araber von der Verantwor-

tung an Missständen und Misserfolgen

frei, und die Schuld wird anderen, vor-

zugsweise dem Westen, zugeschoben.

Die Araber empfinden sich oft als Opfer,

nie als Täter.

Islamisten beschuldigen auch oft die

korrupten arabischen Regierungen und

die korrumpierte Lebensart an den Miss-

ständen in der arabischen Welt und bie-

ten die Rückkehr zum Islam als Heilsre-

zept an. Die islamistischen Imame predi-

gen in Moscheen Hass und geben dem

Westen die Schuld an dem kranken

Zustand des Islam. Die Verschwörungs-

theorie gegen den Islam wird für die

Schuldzuweisung mobilisiert. „Wie

kommt es, dass 15 Millionen Juden die

Welt beherrschen und die 1,2 Milliarden

Moslems, trotz des Erdölreichtums, sind

die Unterlegenen?“ So wird in den

Moscheen gefragt. Der Westen hat die

Muslime um ihren Glauben gebracht

und darüber hinaus auch korrumpiert.

Im Namen der globalisierten Neuord-

nung der Welt, im Namen der Men-

schenrechte und im Namen des Frieden-

sprozesses, so schallt es in Freitagspre-

digten, will der Westen den Islam auch

zukünftig beherrschen. Das Heilmittel ist

die Reislamisierung der Menschen indi-

viduell, wie auch die der Gesellschaft.

Ziel ist die Einigung der islamischen

Welt, bei manchen soll sogar das Khalifat

als zentrales oder als föderatives Staats-

gebilde wieder entstehen. Der politische

Aktionismus der Islamisten steht im

Dienst ihres Islamverständnisses. Die

Islamisten nehmen das Gesetz des Han-

delns in ihre Hand und lassen den Kis-

met nicht gelten. Angesichts solcher

Schuldzuweisungen war es wohltuend,

die besonnene Stimme des jordanischen

Prinzen Hassan bin Tallal zu hören. In der

Eröffnungsrede des Orientalistenkon-

gresses WOCMES in Mainz, sagte er „I’m

blaming ourselves for our own shortco-

mings, I’m not blaming the west“.

Arabische Intellektuelle, wie die Tune-

sier Abdelwahab Meddeb und Moha-

med Talbi oder der Marrokaner Abdou

Filali-Ansary setzen sich für Reformen in

der islamischen Welt ein. Sie erhoffen

sich die Wiedererlangung der Fähigkeit

zur Selbstkritik und den verpassten

Anschluss des Islam an die Aufklärung.

Leider artikulieren sie ihre Meinungen

eher im Pariser Exil und nicht in ihren

Heimatländern.

Mordechay Lewy

76

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Der christlich-islamische Dialog zwischen Schuldzuweisen und Schuldbekennen

Der geballte Komplex von der säkula-

risierten Kollektivschuld des Westens

gepaart mit der christlichen Bereit-

schaft zum Schuldbekenntnis wirft sei-

nen Schatten über den eifrig betriebe-

nen interreligiösen Dialog. Professor

Bassam Tibi hat in einem ZEIT-Inter-

view „Selig sind die Betrogenen“ diesen

Dialog als eine Selbsttäuschung der

christlichen Dialogpartner bezeichnet.

„Skepsis ist angebracht, wenn manbedenkt, dass im bisherigen Dialog vonislamischer Seite nichts als Forderungenund Anklagen erhoben wurden. DieMuslime gefielen sich in der Rolle desOpfers. Den christlichen Vertreternwurde nicht nur die deutsche Vergan-genheit vorgehalten, sie wurden auchfür die Kreuzzüge und für den Kolonialis-mus mitverantwortlich gemacht.Zugleich verbaten es sich die Muslime,mit der Geschichte des Dschihad kon-frontiert zu werden. … Doch darüber zureden gilt als tabu. Lieber reden auch dieChristen von ihrer eigenen dunklen Ver-gangenheit. Ein solches Ritual einseiti-ger Schuldzuweisungen ist kein Beitragzur Verständigung zwischen den Zivilisa-tionen. Es kommt dabei nur ein verloge-ner Dialog heraus.“ Tibi beklagt sich,

dass Christen dieser feindseligen Hal-

tung nicht trotzen, sondern sich „dem

Islam anbiedernd verbeugen“. Er sieht

mehrere Gründe dafür. Zwei sind für

uns von grosser Relevanz, zumal sie auf

den Zustand in Deutschland abzielen.

„Erstens: die Schuldgefühle der Chri-sten, vor allem der deutschen Protes-tanten, in Bezug auf die unrühmlicheVergangenheit ihrer Kirche im ,DrittenReich‘. Nie wieder will man in die Gefahrkommen, andere Religionen zu diskrimi-nieren. Hier stellt sich die Frage, warumes Islamisten, die ja militante Antijudai-sten sind, gestattet sein soll, moralischesKapital aus dem vergangenen Leidender Juden zu schlagen.

Zweitens: die gesinnungsethisch ver-ordnete Fremdenliebe der Deutschen,die es ihnen verbietet, zwischen demo-kratischen und undemokratischen Aus-ländern und Kulturen zu unterscheiden.“Noch schärfer als Bassam Tibi geht der

Islamwissenschaftler Dr. Hans-Peter

Raddatz mit der unbedingten Dialog-

bereitschaft der christlichen Seite zu

Gericht. Er kritisiert massiv die katholi-

sche Kirche in ihrer Dialogbereitschaft

mit dem Islam in seinem Buch „Von

Gott zu Allah – Christentum und Islam

in der liberalen Fortschrittgesellschaft“.

Raddatz meint, dass im westlichen Kul-

turkreis gegen das eigene Interesse

gehandelt wurde. Man war nicht nur

Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

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bereit den Islam zu verklären, sondern

Kirche (Dialog) und Staat (Einwande-

rungspolitik) haben eigenen Interes-

sen zuwidergehandelt.

Eine gegensätzliche Ansicht vertritt

der Jesuitenpater und Islamwissen-

schaftler Prof. Christian W. Troll, der von

katholischer Seite mit dem Islamdialog

betraut ist. Er betont, dass „die Katholi-sche Kirche weiss, dass ohne beharrli-ches Fortschreiten auf dem Weg desvom Zweiten Vatikanischen Konzil kon-zipierten und vorgeschriebenen inter-kulturellen und -religiösen Dialogs dievielfältig zusammengesetzten, globalvernetzten Gesellschaften der Erdekeine Zukunft haben – weder bei unsnoch sonst wo gibt es eine Alternativezu ehrlichem, kritisch-offenem Dialogfür das gedeihliche Zusammenleben inVerschiedenheit – es bliebe nurdeKampf der Kulturen.“ Troll setzt hier

eine Dialogbereitschaft seitens der

islamischen Theologen voraus, die es in

der Realität kaum gibt. Der Islam fühlt

sich als letzte Offenbarung überlegen.

Bei Troll ist der Dialog eine Notwendig-

keit, da er jegliche zusätzliche Konfron-

tation mit dem Islam vermeiden

möchte. Bei einem kürzlich in Mainz

geführten christlich-islamischen Dia-

log betonte Troll, man habe universale

Werte gemeinsam durchzusetzen ge-

gen „jenen Humanismus, der die Reli-

gion aus der öffentlichen Sphäre her-

ausdrängen will“. Aber nicht nur die

Dialektik des religiösen Dialogs zwi-

schen dem schuldbewussten Okzident

und dem schuldzuweisenden Orient

verdient unsere Aufmerksamkeit. Es

gibt im heutigen Islam Versuche, die

Kirchen im Okzident soweit zu instru-

mentalisieren, dass ihnen von islami-

scher Seite eine gemeinsame Platt-

form angeboten wird, um den deka-

denten und ausbeuterischen Westen

zu bekämpfen. Hierzu ein Beispiel: Der

Vorsitzende des Hohen Rates der

Schi’iten im Libanon, Muhammad

Mahdi Schams-a-Din, hat im Jahre

1996 einem Aufsatz „Der islamisch-

christliche Dialog: die Notwendigkeit

des Wagnisses“ veröffentlicht, der in

großen Auszügen von Prof. Adel

Khoury in der Festschrift für Sma’il

Balic wiedergegeben wurde. Darin

erkennt der Autor drei Dialogkreise

zwischen Muslimen und Christen. Der

Dialog der Kriege ist für ihn Vergan-

genheit, da beide Religionen ihre politi-

sche Kraft eingebüßt haben. (Ich

stimme ihm im Bezug auf den Islam

nur bedingt zu.) Der theologische Dia-

log hat keine Zukunft, da beide Religio-

nen dogmatisch unvereinbar bleiben

werden. Es bleibt also der Dialog des

Zusammenlebens beider Religionen in

den jeweiligen sozio-politischen Syste-

men, sowohl in Europa als auch im

Nahen Osten. Schams-a-Din erkennt

Mordechay Lewy

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für beide Religionen die gemeinsame

Gefahr der materialistischen Dekadenz

und der Säkularisierung, die zu

bekämpfen wären. Er verschweigt

dabei, dass er die westliche Kultur und

die Verwestlichung in der arabischen

Welt im Auge hat. Schams-a-Din

scheut sich nicht, die gemeinsame

Plattform auf der Judenfeindschaft

errichten zu wollen. Er hebt daher die

Rezepierung der christlichen Juden-

feindschaft im Koran hervor: „die ableh-nende Haltung der Juden Jesus gegenü-ber und ihre Verleugnung seiner Bot-schaft, ihre ungeheuerliche Verleumdunggegenüber Maria und die Intrigen derJuden gegen Jesus um ihn zu töten“.

In seinem Fragekatalog zum Dialog

stellt er unverfroren die folgenden Fra-

gen: „Welche Haltung diktiert derGlaube im Bezug auf die Frage des altenund neuen Imperialismus?“ Aus dem

nicht übersetzten Text geht hervor

dass er die Palästinafrage und den

„Siedlerimperialismus“ meint. Die

andere Frage lautet: „Welche Haltungdiktiert der Glaube im Bezug auf denRassismus?“ Auch hier geht aus der

nicht übersetzten Orginalfassung her-

vor, dass er den „zionistischen Rassis-

mus“ meint. Die Marschroute wird also

deutlich. Das koranisch rezipierte Chri-

stentum soll den Dialog offenbar

attraktiver machen. Der Preis für die

gemeinsame Plattform ist aber die

Judenfeindschaft. Die im traditionellen

Islam verbürgte Gleichbehandlung der

Juden und Christen als ahl-al-Dhimma,

wird somit aufgehoben. Es bleibt zu

hoffen, dass die katholischen Theolo-

gen, die den Dialog mit dem Islam aus

der Enzyklika „Nostrae Aetate“ des

2. Vatikankonzil ableiten, gleichzeitig

die dort erwähnten Passagen zum

Abbau der christlichen Judenfeind-

schaft vor Augen haben. Unser Beispiel

zeigt, dass Schuldgefühle auch zur

Blindheit verführen könnten.

Zusammenfassung

Die Beziehungsgeschichte zwischen

Orient und Okzident war und ist durch

eine lange Kette von gegensätzlichen

Wahrnehmungen, aber auch von zeit-

weiliger gegenseitiger Achtung gekenn-

zeichnet. Oft wurden die Reformation,

der Rationalismus, die Aufklärung oder

die Werte der Französischen Revolution

als Erklärungsmodelle hinzugezogen,

um den zivilisatorischen Vorsprung des

Okzidents gegenüber dem Orient zu ver-

mitteln. Aus der Krise des Osmanischen

Reiches seit dem späten 17. Jahrhundert

folgerte man in Istanbul, dass man den

Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

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Okzident nachahmen sollte, um An-

schluss an die Moderne zu finden. Dieser

Versuch setzte die Anerkennung der

eigenen Schwäche und Unzulänglich-

keit voraus. Es war der Machterhaltungs-

trieb, der die osmanische Herrschaft zu

dieser Erkenntnis führte, wobei man

auch religiöse Bedenken manchmal bei-

seite ließ. In der zweiten Hälfte des

20. Jahrhunderts wurde aber zuneh-

mend klar, dass die Nachahmung des

Okzidents eine beträchtliche Moderni-

sierung herbeibrachte, aber eine Ver-

westlichung, d.h. Verinnerlichung von

westlichen Werten, kaum erreicht

wurde. Westliche Modernisierung kam

in den Verruf, nur den autokratischen

arabischen Regimen beim Machterhalt

förderlich zu sein. Die breite Masse in der

arabischen Welt sah die Moderne als

repressive Instrumente ihrer Herrscher.

Die eklektische Nachahmung des Wes-

tens war zum Scheitern verurteilt und

wurde mit zunehmender Rückbesin-

nung und agressiver Interpretation des

Islam kompensiert. Eigene Unzuläng-

lichkeit wurde nicht mehr zugegeben.

Die Schuldzuweisung an allem Übel

wurde dem Westen und seinen Agenten

zugeschoben. Im Westen, der selbst in

eine postmoderne Orientierungskrise

(Beliebigkeit der Werte) geraten ist,

weiss man nicht genau wie man mit die-

sen Schuldzuweisungen umgehen soll.

Das westliche Dilemma wird deutlicher

angesichts des zivilisatorischen Erbes

des Christentums und der Aufklärung.

Eine Kultur, die Schuldbekenntnis und

Selbstkritik gewohnt ist, neigt auch

dazu, die an sie gerichteten Schuldzu-

weisungen ernst zu nehmen. Ich meine,

dass mit zunehmender Aggression des

islamistischen Orients, sich der Okzident

aus eigenem Erhaltungstrieb zurückbe-

sinnen muss und dem geistigen und

politischen Konflikt mit dem Orient

letztendlich nicht ausweichen kann. Der

erste Schritt wäre, das Kind beim Namen

zu nennen und zu konzidieren, dass wir

uns in einer Konfrontation befinden, die

wir uns nicht ausgesucht haben. Wir

sollten dabei mit Umsicht und Ent-

schlossenheit vorgehen, ohne uns selbst

zu verleugnen. Durch behutsames Vor-

gehen könnte man auch eine Entwick-

lung vermeiden, die Heine in den Versen

„An Edom“ schon antizipiert hatte. Seine

Verse waren zwar auf den Konflikt zwi-

schen Juden und Christen gemünzt,aber

im Konflikt mit der arabisch-islamischen

Welt könnten sie sich bewahrheiten:

Jetzt wird unsre Freundschaft fester,Und noch täglich nimmt sie zu;

Denn ich selbst begann zu rasen,Und ich werde fast wie Du.

Mordechay Lewy

80

Mordechay Lewyist Gesandter der Botschaft des Staates Israel in Berlin.

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Dass es in der Vergangenheit an Auf-

klärungsmaterial und Informationen

zur Vertreibung der Deutschen aus den

früheren ostdeutschen Gebieten, aus

Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa

gefehlt habe, lässt sich kaum behaup-

ten. Amtliche und nicht-amtliche Doku-

mentationen sowie Schilderungen der

Ereignisse oder Zeitzeugenberichte

haben sich bereits am Ende der 40er

Jahre des letzten Jahrhunderts ausführ-

lich mit der Vertreibung der Deutschen

im 2. Weltkrieg oder in den ersten Jah-

ren nach diesem Krieg befasst.

Von Anfang an – mit der Zeit aller-

dings deutlich zunehmend – bildete die

Vorgeschichte zur Vertreibung der

Deutschen – die Unterdrückungs- und

Umsiedlungspolitik des deutschen NS-

Staates in Tschechien, Polen und Osteu-

ropa sowie der Völkermord an den

Juden – einen Teil der historischen

Interpretation und Wahrnehmung in

Deutschland. Der deutsche General-

plan Ost und andere vergleichbare

Dokumente machten die langfristige

Zielsetzung Hitlerdeutschlands in Ost-

europa deutlich. Die deutsche Nationa-

lität sollte danach schrittweise die

nicht-deutschen Völker verdrängen und

nach Osten transferieren. Jalta und

Potsdam haben die umgekehrte Bewe-

gung – die Vertreibung der Deutschen –

vorbereitet und legitimiert. Vertrei-

bung und Umsiedlung betrafen nicht

nur die Deutschen – in Teilen ihres

früheren Staatsgebiets oder als Min-

derheit in der Sowjetunion, in Polen,

Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und in

der Tschechoslowakei. Auch die ungari-

sche Minderheit in der Tschechoslowa-

kei, in Jugoslawien, in Rumänien oder in

der Karpatho-Ukraine, die der Sowjet-

union angegliedert wurde, war betrof-

fen. Selbst Nationalitäten, die zur Sie-

gerseite gehörten, wurden einbezogen,

etwa Teile der slowakischen Minderheit

in Ungarn, die in die Slowakei „zurück-

kehrten“, und die polnische Minderheit

im ehemaligen Ostpolen, die in Teilre-

gionen Weißrußlands und Litauens –

jeweils in den Grenzen nach 1945 – vor

der deutsch-sowjetischen Teilung

Polens die Mehrheit gebildet hatte. In

Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung –europäische und amerikanische Orientierungs-probleme gegenüber Nationalitätenkonfliktenvon Klaus Faber

81

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der Mitte und im Osten Europas soll-

ten, soweit möglich, im Rahmen der

von den Siegermächten gestalteten

Nachkriegsordnung nach Nationalitä-

ten gegliederte, homogene Territorial-

einheiten entstehen.

Gegenüber den Deutschen war dabei

am wenigsten Rücksicht zu nehmen,

wie dies Stalin bereits auf der Jalta-

Konferenz andeutete. Er wies damals

auf die in den Ostgebieten zu erwar-

tenden deutschen Verluste durch Tod

und Flucht während des sowjetischen

Vormarsches hin. Das dieser Prognose

entsprechende tatsächliche Schicksal

der deutschen Zivilbevölkerung in dem

von sowjetischen Truppen besetzten

Teil Deutschlands in den letzten Kriegs-

monaten des Jahres 1945 war der poli-

tisch-militärischen Führung in Moskau

selbstverständlich bekannt. Die Sowjet-

union warnte in einer Erklärung vor

Aufnahme der Kriegshandlungen

gegen Japan dieses Land vor den

Schrecken, die nach dem Beispiel

Deutschlands auch Japan erleiden

werde, falls es den Krieg fortsetzen

wolle. Die Zahl von etwa zwei Millionen

vergewaltigter Frauen, von der einige

Historiker ausgehen, zeigt einen Teilas-

pekt der sowjetischen Kriegsgreuel und

macht gleichzeitig die allgemeine

Aggressionstendenz gegen Zivilisten

während der letzten Kriegsphase in

Deutschland deutlich. Der antikommu-

nistische Grundkonsens in der Grün-

dungsphase des westdeutschen Teil-

staates beruht in einem beachtlichen

Umfang auf diesen Kriegserfahrungen.

Vor allem nach dem Abschluss der Ver-

träge von Warschau und Moskau in den

70er Jahren fand das Vertrei-

bungsthema in der deutschen Politik

und Publizistik zunächst nur noch wenig

Aufmerksamkeit. Das seitdem wohl vor-

herrschende Erklärungsmuster zieht

historisch Bilanz: Hitlers Angriffskrieg,

die deutschen Völkermordverbrechen,

Unterdrückungsmaßnahmen und Um-

siedlungsaktionen führten zur Vertrei-

bung der Deutschen und zu den deut-

schen Gebietsverlusten. Die Erinnerung

an die Vertreibungsgreuel verblasste.

Die DDR versuchte nicht ohne Erfolg, sie

durch systematische geschichtspoliti-

sche Anstrengungen zu löschen. Die

Neuordnung der europäischen Land-

karte nach der Wiedervereinigung, der

Auflösung der Sowjetunion, der Tsche-

choslowakei und des früheren Jugosla-

wiens hat an dem nach 1990 weiter

bestehenden Konsens nichts geändert,

Deutschlands Grenzen politisch als end-

gültig zu akzeptieren. Revisionistische,

auf Rückgewinnung verlorenen Territori-

ums gerichtete Bestrebungen finden im

Deutschland des neuen Jahrhunderts

bislang nur wenige Anhänger.

Die aktuelle literarisch-politische

Diskussion über die Vertreibung der

Klaus Faber

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Deutschen im Osten – vom Gustloff-

Untergang bis zu den Benesch-Dekre-

ten – sehen einige Debattenteilneh-

mer wohl als ein Normalisierungsele-

ment in der deutschen Identitätsfin-

dung. Die Vertreibungsverbrechen aus

der deutschen Geschichtsüberliefe-

rung auszublenden, war in der Tat

keine auf die Dauer Erfolg verspre-

chende Konzeption. Verbrechen – auch

und gerade Verbrechen dieser Dimen-

sion – können nicht aufgerechnet wer-

den, wie z.B. die Auseinandersetzung

mit dem Terrorismus zeigt. Tragfähige

Kooperations- und Freundschaftsbe-

ziehungen zwischen Staaten und Völ-

kern sind nicht auf dem Vergessen auf-

zubauen. Sie müssen zumindest in

einigen Grundelementen auf gemein-

samer Erinnerung beruhen.

Manche Untertöne in der deutschen

Vertreibungsdebatte geben allerdings

Anlass zu Fragen. Führt z.B. der zuwei-

len mit außenpolitischem Druck ver-

bundene Appell, die Benesch-Dekrete

zur Enteignung und Vertreibung der

Deutschen aufzuheben, nicht doch mit

einer gewissen Konsequenz zu An-

schlussforderungen nach einem Rück-

kehrrecht? Müsste ein derartiges Rück-

kehrrecht, wiederum folgerichtig, nicht

in gleicher Weise den Flüchtlingen und

ihren Nachkommen aus den früheren

Ostgebieten Deutschlands und aus

anderen europäischen Regionen einge-

räumt werden? Die Antwort auf derar-

tige Fragen könnte positive oder nega-

tive Auswirkungen auf die Stabilität der

europäischen Staatenwelt und der ein-

zelnen Staaten haben. Sie steht auch in

einem inneren Zusammenhang zur

politischen Position der EU-Staaten

und der USA gegenüber den Bevölke-

rungsbewegungen sowie den Lösungs-

ansätzen nach dem Auseinanderbre-

chen des früheren Jugoslawiens oder

der Teilung Zyperns. Sie führt damit

zudem zu Grundsatzproblemen des

inner- und zwischenstaatlichen Zusam-

menlebens von Angehörigen verschie-

dener Ethnien und Kulturkreise.

Gegen den thematischen Debatten-

zusammenhang vom Vertreibungsun-

recht gegenüber den Deutschen bis

zur Lösung der Konflikte in Bosnien, im

Kosowo oder in Zypern könnte einge-

wandt werden, die abstrakte Anerken-

nung eines Rechts auf Rückgabe frühe-

ren Eigentums und auf Rückkehr sei

nicht unbedingt gleichbedeutend mit

der Rückgabe oder der Rückkehr selbst;

das Bekenntnis zu den Vorzügen eines

multiethnischen und multikulturellen

Zusammenlebens bedeute nicht, dass

fünfzig Jahre oder mehr Jahre zurück-

liegende Flucht- und Vertreibungsvor-

gänge, die nach der heute üblichen Ter-

minologie zu einer „ethnischen Säube-

rung“ führten, rückgängig gemacht

werden sollten. Gegen eine derartige

Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung

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Aufteilung zwischen grundsätzlich-

symbolischer Position und konkreter

Politik spricht aber die Dynamik, die

mit einer prinzipiell-moralisch ange-

legten Argumentation verbunden sein

kann, und ebenso die praktische Erfah-

rung. Von der abstrakten Anerkennung

eines Rückkehrrechts bis zur Realisie-

rungsforderung ist es häufig nur ein

kleiner Schritt. Was die einen als

abstrakt-grundsätzliche Position ver-

standen wissen wollen, sehen andere

als durchsetzbaren Rechtsanspruch.

Auch uns Deutschen sollte es deshalb

möglich sein, Zurückhaltung und

Zögern etwa auf der tschechischen

Seite bei solchen Fragen zu verstehen.

Migrationsvorgänge und die daraus

resultierende Begegnung und Verbin-

dung verschiedener Ethnien und Kul-

turen sind in der Menschheitsge-

schichte eher die Regel als die Aus-

nahme. Die räumliche Trennung nach

langem Zusammenleben, Flucht und

Vertreibung – sowie Schlimmeres –

gehören auf allen Kontinenten aber

ebenso zum historischen Erfahrungs-

bestand; sie sind keinesfalls ein Spezi-

fikum des christlich-abendländischen

oder europäisch-amerikanischen Krei-

ses. Seit dem 19. Jahrhundert haben

mehrere Millionen Muslime die früher

osmanischen Gebiete von der Donau

bis zum heute noch türkischen Ost-

thrakien verlassen. „Flucht“, „Vertrei-

bung“ oder – nach neuer Sprachkon-

vention – „ethnische Säuberung“ sind

dafür die richtigen Bezeichnungen, vor

allem wenn man die Verluste der mus-

limischen Zivilbevölkerung in diesen

Regionen im gleichen Zeitraum durch

Kriegsakte und Verfolgung berücksich-

tigt. Einen ähnlichen muslimischen

Exodus (auch von Teilen der tschet-

schenischen Bevölkerung) hat seit dem

19. Jahrhundert der Kaukasus erlebt,

mit umgekehrten Vorzeichen, was eth-

nisch-religiöse Unterdrückung und

Verfolgung anbelangt, Armenien. Der

griechische Ministerpräsident Venize-

los und Atatürk wußten, weshalb sie

sich in den zwanziger Jahren des letz-

ten Jahrhunderts auf einen Bevölke-

rungsaustausch einigten, der nur

wenige Muslime in Griechenland und,

dem Anteil nach, noch weniger Grie-

chen in der Türkei zurückließ.

Niemand wird ernsthaft vorschla-

gen, die Bevölkerungsbewegungen

zwischen Griechenland und der Türkei

nach etwa achtzig Jahren wieder rück-

gängig zu machen. Atatürks Versuch,

eine islamische Gesellschaft zu säkula-

risieren, wäre wohl kaum in dem bei

allen Rückschlägen bis heute zu erken-

nendem Umfang erfolgreich gewesen,

wenn Auseinandersetzungen mit

einer starken nicht-muslimischen Min-

derheit die türkische Innenpolitik

geprägt hätten. Das alles in allem sich

Klaus Faber

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gut entwickelnde deutsch-polnische

und deutsch-tschechische Verhältnis

beruht auch auf der Sicherheit in

Grenzfragen und diese wiederum dar-

auf, dass keine Irridentabestrebungen

nationaler Minderheiten die Grenzen

in Frage stellen.

Der Völkermord des deutschen Staa-

tes an den Juden muß Gegenstand der

Erinnerungskultur in Deutschland und

in anderen Ländern bleiben. Ebenso

spricht nichts dafür, aus der kollektiven

Erinnerung die während und nach dem

2. Weltkrieg begangenen Verfolgungs-

und Vertreibungsverbrechen Hitler-

deutschlands, der Sowjetunion, Polens,

der Tschechoslowakei oder Jugoslawi-

ens auszunehmen. Die rückblickende

Kritik an der Vertreibung der Deut-

schen wird sich dabei – in Deutschland

und in anderen Ländern – in erster

Linie auf die in jeder Hinsicht inhu-

mane Durchführung der Vertreibung,

aber zugleich auf das Prinzip der Tren-

nung nach Nationalitäten beziehen.

Zwischen diesen beiden Aspekten ist

allerdings deutlich zu unterscheiden.

Die Gründung neuer Nationalstaaten

in Ostmittel- und Osteuropa nach dem

1. Weltkrieg wird wohl kaum pauschal

negativ beurteilt werden können, auch

nicht der dabei – mit Mängeln und zum

Teil parteilich – verfolgte Grundsatz der

Grenzziehung nach Nationalitäten-

und Sprachzonen. Es besteht kein

Anlass, etwa die Verhältnisse im Habs-

burgerstaat mit seinen zahllosen, am

Ende immer aggressiver geführten

Nationalitäten- und Sprachkonflikten

posthum romantisch zu verklären.

Noch weniger wäre eine beschöni-

gende Sicht der Zustände vor dem

1. Weltkrieg z.B. in der preußischen Pro-

vinz Posen oder im russischen General-

gouvernement Warschau zu rechtferti-

gen. Dass nach einem verlorenen Krieg

der unterlegene Staat, vor allem wenn

er, wie Deutschland, als Aggressor

angesehen werden konnte, Territorial-

verluste hinzunehmen hat, wird trotz

anderslautender Grundsatzerklärun-

gen verschiedener Herkunft auch in

den Konflikten nach 1945 nicht unbe-

dingt widerlegt.

Multiethnische und multikulturelle

Formen des Zusammenlebens in ei-

nem Staat oder in einer Staatenge-

meinschaft werden auf längere Sicht

zunehmend an Bedeutung gewinnen –

trotz der nicht zu übersehenden aktu-

ellen Trennungs- und Abgrenzung-

stendenzen. Unverzichtbar dafür ist

allerdings ein Mindestmaß an Über-

einstimmung in den Grundregeln für

das Zusammenleben – in dieser Defini-

tion ein Mindestmaß an „Integration“.

Ethnische oder ethnisch-religiöse

Gruppen können ohne einen Basiskon-

sens zur gegenseitigen Tolerierung

und zur politischen Ordnung auf die

Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung

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Dauer nicht in einem gemeinsamen

Staat zusammenleben. Dass die dafür

notwendigen Bedingungen nach Bür-

ger- oder Sezessionskriegen und in

Nationalitätenkonflikten insbesondere

dann nicht binnen kurzer Zeit herge-

stellt werden können, wenn starke reli-

giöse Faktoren die ethnische Differenz

mitbestimmen, ist eine Erfahrung, die

Europäer und Amerikaner zur Zeit

nicht nur auf dem Balkan machen.

Der Zeitfaktor hat bei Prognosen zur

künftigen Entwicklung des Verhältnis-

ses zwischen verschiedenen Nationa-

litäten durchaus praktische Bedeu-

tung. Wenn eine ausreichend positive

Tendenz in absehbarer Zeit nicht zu

erwarten und ein halbwegs erträgli-

ches Nebeneinander verschiedener

Ethnien in einem Staat auch auf län-

gere Sicht nur durch eine internatio-

nale Intervention zu sichern wäre, ver-

stärkt dies die Argumente für eine

räumliche Trennung – soweit dafür

nach der jeweiligen politischen Kon-

stellation Optionen überhaupt eröff-

net sind (was, um in diesem Zusam-

menhang Beispiele zu nennen, im jetzt

noch überwiegend uigurisch besiedel-

ten Sinkiang oder in Tschetschenien

nicht der Fall ist).

Europäer und Amerikaner müssen

sich deshalb fragen, welche Ziele sie in

den Nationalitätenkonflikten in Bos-

nien, im Kosowo oder in Mazedonien

verfolgen und welche Mittel sie dafür

einsetzen wollen. Wenn, wie es zur Zeit

im Kosowo geschieht, die internatio-

nale Interventionsadministration die

Wiederherstellung ursprünglich von

Serben bewohnter Siedlungen fördert,

die im Kosowo-Krieg von den Einwoh-

nern der ausschließlich albanischen

Nachbardörfer zerstört worden waren,

müssen die politisch-militärischen

Konsequenzen – der dauerhaft sicher-

zustellende Schutz durch internatio-

nale Truppen – klar sein. Europäer und

Amerikaner sollten sich in einer derar-

tigen Lage der Frage stellen, wie lange

sie den dafür zu entrichtenden Preis

bezahlen wollen und wie mögliche

Alternativen für eine stabile Lösung

(unter Einschluss von territorialen Tei-

lungsmodellen) aussehen könnten.

Flucht und Vertreibung sowie vor

allem die von den Amerikanern unter-

stützte kroatisch-bosnische Offensive

in der letzen Phase des Krieges in Bos-

nien und Herzegowina haben in die-

sem Land zu einer Territorialverteilung

zwischen dem muslimisch-kroatischen

Staat und der „Serbischen Republik“

geführt. Ihre Bedeutung soll jedoch

durch eine Rückbesiedlung wieder

relativiert werden, die sich auch an den

Vorkriegsverhältnissen orientiert. Es

lässt sich kaum behaupten, dass in die-

sen Fragen eine stringente, langfristig

tragfähige und von Europäern sowie

Klaus Faber

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Amerikanern gemeinsam getragene

Politiklinie zu erkennen ist. Der damit

beschriebene Koordinations- und Kon-

zeptionsmangel besteht im Jugosla-

wienkonflikt allerdings von Anfang an.

Ein Rückblick auf das Vertreibungs-

unrecht am Ende und nach dem

2. Weltkrieg, dem vor allem die Deut-

schen ausgesetzt waren, sollte auch

die aktuellen Erfahrungen mit Natio-

nalitätenkonflikten etwa auf dem Bal-

kan einbeziehen. Er hat dabei aller-

dings nicht nur das angestrebte Ziel

des multiethnischen Zusammenle-

bens, sondern ebenso den Umset-

zungsstand und die künftigen Realisie-

rungschancen zu berücksichtigen.Wel-

che Alternativen hatte, vom heutigen

Standpunkt aus gesehen, 1945 z.B.

Tschechien (bzw. die damals beste-

hende Tschechoslowakei), das wegen

der Benesch-Dekrete in der neuen Ver-

treibungsdebatte zur Zeit eine beson-

dere Rolle spielt? Einen Teil der sude-

tendeutschen Gebiete bei Deutsch-

land und Österreich zu belassen, wäre

damals wohl weder in der Tschechoslo-

wakei noch in anderen Ländern der

Anti-Hitler-Koaliton verstanden wor-

den. Sollte die Tschechoslowakei dar-

auf setzen, die 3,5 Millionen Sudeten-

deutschen in den tschechoslowaki-

schen Staat – unter nicht-kommunisti-

scher oder unter kommunistischer

Führung – zu integrieren? Wie wäre

eine derartige Politik im Verhältnis zu

Polen bewertet worden, nachdem die

früher deutschen, nach 1945 von Polen

verwalteten und besiedelten Ostge-

biete bereits im Krieg einen größeren

Teil ihrer ursprünglichen Bevölkerung

verloren hatten? Dass eine „Transfer“-

Lösung, wie die Entfernung der Sude-

tendeutschen aus der Tschechoslowa-

kei schon während des Krieges von der

Londoner Exilregierung genannt

wurde, zu den in Betracht kommenden

Varianten zählte, war im Kreis der Anti-

Hitler-Koalition eine weit verbreitete

Position. Stalin hatte während des

Krieges – also vor der Vertreibung der

Sudetendeutschen – Massendeporta-

tionen durchführen lassen, deren

Opfer verschiedene Völker und Natio-

nalitäten in der Sowjetunion aufgrund

kaum im einzelnen begründeter Loya-

litätszweifel wurden. Fluchtbewegun-

gen und Vertreibungen, die ungefähr

20 Millionen Menschen betrafen, fan-

den kurze Zeit nach der Vertreibung

der Deutschen auf dem indischen Sub-

kontinent nach der Aufteilung von Bri-

tisch-Indien statt.

Dies alles kann den „Transfer“ der

Sudetendeutschen nicht rechtfertigen

– und schon gar nicht die Verbrechen

bei der nach Kriegsende vollzogenen

Vertreibung. Ein gewisses Maß an Ver-

ständnis für die damalige tschechoslo-

wakische Position, nicht weiter mit 3,5

Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung

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Millionen Deutschen in einem Staats-

verband leben zu wollen, ist aber den-

noch möglich. In der Zeit zwischen den

beiden Weltkriegen wurden die Sude-

tendeutschen, was die Minderheiten-

rechte als eigene Nationalität anbe-

langt, von dem neuen tschechoslowaki-

schen Staat unterdrückt. Hitlerdeutsch-

land gab sich 1938 jedoch nicht mit der

Abtretung der sudetendeutschen

Gebiete im Münchner Abkommen

zufrieden. Das ein Jahr später errichtete

Protektorat Böhmen und Mähren war

ein deutsches Instrument, das über ver-

schiedene Zwischenschritte die Auslö-

schung der tschechischen Nationalität

zum Ziel hatte.

Ein junger deutscher Revolutionär –

sein Name war Karl Marx – hatte 1848

Abgeordneten aus Böhmen, die sich als

Tschechen definierten und deshalb die

Teilnahme an der deutschen National-

versammlung in Frankfurt am Main

ablehnten, eine militärische Reaktion

der deutschen Revolution angedroht.

Er hatte dabei eher beiläufig, aber kon-

sequent, die Existenz einer tschechi-

schen Nation in Frage gestellt und mit

dieser Auffassung im deutschen

Umfeld damals vermutlich keine iso-

lierte Einzelmeinung vertreten. Vor

dem damit skizzierten Hintergrund

sollten wir in der neuen inner- und

außerdeutschen Vertreibungsdebatte,

vielleicht ebenso in unserer eigenen

Erinnerungskultur, zumindest einige

der Positionen – vor allem die Ängste –

einer kleinen Nation verstehen, deren

Überleben vor nicht allzu langer Zeit

von Deutschland bedroht war. Diffe-

renziende Lösungsansätze, die histori-

sche Erfahrungen, darunter die eigene

Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert,

nicht ausblenden, könnten auch für

aktuelle Konflikte in anderen Regionen

angemessen sein.

Klaus Faber

88

Klaus Faber,Rechtsanwalt in Potsdam und Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsfo-

rums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Der Artikel erschien zuerst in Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft 12/2002.

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Harald L. Sempf

Regionale Wirtschaftspolitikvor dem Hintergrund desregionalenStandortwettbewerbsEine Untersuchung am Beispieldes Landes Brandenburg

352 Seiten, Paperback, 29,80 €ISBN 3-936130-03-5

Die in der Bundesrepublik praktizierte Regionale Wirtschaftspolitik geräthinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Effizienz insbesondere in den neuenBundesländern zunehmend in die wissenschaftliche Kritik. In dem Buchwerden der Nachweis bestehender regionaler Disparitäten auf unter-schiedlichen Ebenen innerhalb der EU geführt, regionalökonomisch rele-vante Begrifflichkeiten diskutiert und die theoretischen Grundlagen derRegionalen Wirtschaftspolitik verdichtet dargestellt. Am Beispiel des Lan-des Brandenburg untersucht der Autor, ob eine Neuorientierung der bis-herigen Regionalen Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des zuneh-menden Wettbewerbs der Regionen geboten scheint. Raumordnung,Regionalentwicklung und Regionale Wirtschaftspolitik werden dabei insSpannungsfeld zueinander gesetzt. Die brandenburgische Strategie,Raumordnung und Regionale Wirtschaftspolitik zum Leitbild der Dezen-tralen Konzentration zu vernetzen, wird dabei einer kritischen Untersu-chung unterzogen. Anhand von ausgewählten Indikatoren werden diewirtschaftlichen Ergebnisse in Brandenburg denen in den anderen NeuenBundesländern gegenübergestellt, die wirtschaftliche Entwicklung Bran-denburgs nach regionalen Gesichtspunkten analysiert und das Erreichender Ziele nach Leitbildkriterien überprüft und bewertet.

Die Untersuchung formuliert Anforderungen an eine langfristig erfolgver-sprechende Regionale Wirtschaftspolitik in Brandenburg, die sowohl„leitbildgerechte, bzw. -ergänzende“ als auch „nicht leitbildkonforme“Aspekte enthalten, die jedoch auch eine Neuorientierung nicht aussch-ließen, die mit einer vollständigen Abkehr vom Leitbild verbunden wäre.

Damit richtet sich das Buch gleichermaßen an Praktiker in Politik und Ver-waltung sowie Wissenschaftler aus den Bereichen Regionale Wirtschafts-politik, Regionalwissenschaft und Landesplanung.

weber • brandenburgische hochschulschriften

Harald L. Sempf

Regionale Wirtschaftspolitikvor dem Hintergrund desregionalen Standortwettbewerbs

Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg

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Bislang erschienen:1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*2. Sozialer Rechtsstaat*3. Informationsgesellschaft*4. Verwaltungsreform*5. Arbeit und Wirtschaft*6. Rechtsextremismus*7. Brandenburg – die neue Mitte Europas*8. Was ist soziale Gerechtigkeit?9. Bildungs- und Wissensoffensive10. Zukunftsregion Brandenburg11. Wirtschaft und Umwelt12. Frauenbilder13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem14. Brandenburgische Identitäten15. Der Islam und der Westen16. Bilanz 4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 PotsdamPVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

* leider vergriffen