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ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG VON METROPOLEN Veröffentlichungen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Stadtkulturforschung I . A . S Band 4 4. Symposium 20. - 23.06.1996 Bonn Herausgegeben von Michael Jansen und Bernd Roeck Aachen 2002

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ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG VON METROPOLEN

Veröffentlichungen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Stadtkulturforschung

I.A.S

Band 4 4. Symposium 20. - 23.06.1996 Bonn

Herausgegeben von Michael Jansen und Bernd Roeck

Aachen 2002

Wir danken dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung NRW für die Unterstützung des Forschungsvorhabens sowie der

Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung der Tagung.

Wir danken dem Historischen Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und dem

Lehr- und Forschungsgebiet Stadtbaugeschichte der RWTH Aachen für die Erstellung der Publikation.

Copyright: bei den Autoren Herausgegeben für den Verein der Freunde des Reiff e.V., Schinkelstraße 1, 52062 AachenISSN 0947-3394 ISSN 1437-1774ISBN 3-936971-16-1

INHALT Bernd Roeck, Bonn - Michael Jansen, Aachen Entstehung und Entwicklung von Metropolen........................................................... 5 Detlef Franke, Heidelberg Theben und Memphis - Metropolen im alten Ägypten.............................................. 7 Hans Nissen, Berlin Metropolen im alten Mesopotamien............................................................................. 21 Reinhard Senff, Bochum Metropolen des Archaischen Griechenland................................................................ 25 Andreas Sohn, Münster Residenzentwicklung und Hauptstadtbildung im hochmittelalterlichen Frankreich. Zur Genese von Paris als Metropole....................................................... 47 Vittorio Franchetti Pardo, Rom Le città ideali nella cultura rinascimentale italiana................................................... 57 Wolfgang Behringer, Bonn Infrastrukturentwicklung als Kriterium für Zentralörtlichkeit im frühneuzeitlichen Deutschland..................................................................................... 69 Peter Gerlach, Aachen Bilder von Metropolis. Metropolis im Panorama und im Detail............................... 77 Evelyne Cohen, Paris Paris - métropole des années 30.................................................................................... 85 Detlef Briesen, Siegen Berlin - Schaufenster des Nationalsozialismus ?......................................................... 93 Klaus Fehn, Bonn Stadtrandphänomene. Hindernisse oder Chancen für die Entwicklung der mitteleuropäischen Metropolen?........................................................................... 113 Eckart Pankoke, Essen Industriemetropolen. Zentralität, Subzentralität, Polyzentralität im Ruhrgebiet................................................................................................................. 131 Helmut Schneider, Düsseldorf Bangkok: Genese und Funktion einer modernen Metropole. Extreme Metropolisierung unter nicht-kolonialen Bedingungen............................. 147

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4. Symposium der IAS

ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG VON METROPOLEN

VORWORT DER HERAUSGEBER Vom 20. bis zum 23. Juni 1996 fand in den Räumen des Historischen Seminars der Universität Bonn das 4. Symposium der "Interdisziplinären Arbeitsgruppe Stadtkultur-forschung" statt. Wir hatten uns für das Thema "Entstehung und Entwicklung von Metro-polen" entschieden. Es entsprach der guten Tradition des Arbeitskreises, daß die Organi-satoren sowohl auf Interdisziplinarität als auch in gewissem Umfang auf Internationalität des Teilnehmerkreises achteten. Verschiedene Fächer über ein für alle Beteiligten wichtiges Thema miteinander ins Gespräch zu bringen ist ja ein wesentliches Anliegen des Arbeitskreises. Die Ausgangsfrage des Symposiums war: Welche Kriterien bestimmen Aufstieg – und Niedergang – von Metropolen? Dabei wurde ein möglichst offener Begriff von "Metro-pole" zugrunde gelegt. Wesentlich erschienen uns zentralörtliche Funktionen (die "Metropole" ist immer relativ zu einer Umgebung, zu einer Region zu verstehen), demo-graphische Verdichtung in wiederum relativ bedeutendem Ausmaß und Multifunk-tionalität. Im allgemeinen Sprachgebrauch des Begriffs klingt der Aspekt der "außer-ordentlichen" Größe der Metropole an, obwohl das der Etymologie des Wortes nicht zwingend entspricht. Aber auch dies, so schien uns, kann nur relativ verstanden werden. Das mittelalterliche Köln läßt sich zweifellos als "Metropole" bezeichnen, nach modernen Maßstäben wäre es eine Kleinstadt. Die definitorischen Bemühungen finden sich in den hier vorliegenden Druckfassungen der Referate. Dann: Aufstieg und Fall. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen; die Betrachtung des decline kann analytisch hilfreich sein, weil es gelegentlich die Relevanz des Wegfalls von Faktoren, ja gelegentlich selbst die Bedeutung eines einzigen Umstands zu erhellen in der Lage ist. Man nehme etwa als Beispiel die Folgen der Sperrung der Schelde während des niederländischen Sezessionskrieges für die zentrale Stellung Antwerpens. Oder, um einen anderen, komplexeren Fall anzuführen, die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang Venedigs, Entwicklungen, die nur im größeren Kontext der mittelmeerischen Welt-wirtschaft erklärbar werden. Darüber hinaus hatte der Bedeutungsverlust des Mittelmeer-raumes spätestens seit dem ausgehenden 16. Jh. Folgen für die Metropolen des Reiches. Eine vielversprechende These ist es etwa, den unbestreitbaren Niedergang der ober-deutsche Reichsstädte auch als Konsequenz der Mittelmeer-Krise zu sehen. Daß andere Faktoren – namentlich die Verdichtung der territorialen Staatlichkeit und in ihrer Folge der Aufstieg der Residenzorte wenn nicht zu Metropolen, so doch zu Orten mit gesteigerter Zentralität – in diesem Zusammenhang diskutiert werden müssen, liegt auf der Hand. Auch das Exempel Venedig führt auf differenzierte Frageraster: Welche Relevanz für den Auf-stieg dieser Stadt hatte die strategisch günstige Lage in der Lagune, welche die politische Verfassung? Auch gilt es schließlich, den Stellenwert politischer Entwicklungen zu ge-wichten. Welche Folgen für die Stellung Venedigs hätte eine Niederlage der Serenissima im Chioggia-Krieg gehabt?

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In jedem Fall gilt: Die Demographie bietet die entscheidenden Daten. Man muß nur daran erinnern, welche Folgen der Abschluß der demographischen Transition für die euro-päischen Städte der Neuzeit hat. Hier ist die Metropolenbildung als demographische Ent-wicklung abgeschlossen, in der sogenannten Dritten Welt ist das bekanntlich keineswegs der Fall. Hier entstehen die gewaltigsten demographischen Verdichtungsräume aller Zeiten. Auch über die Folgen dieser Entwicklung war auf unserer Tagung zu diskutieren. Zu einschichtigen Ursache/Wirkungs-Modellen gelangt man bei der Beschäftigung mit dem Thema nicht. Die Bedeutung der Verkehrslage und der Entwicklung des Verkehrs etwa steht mit der Formierung von Metropolen in einer komplizierten, dynamischen Wechselbeziehung. Gewiß, am Anfang der Entstehung der Stadt und der Entfaltung ihres metropolitanen Charakters steht oft, ja fast immer die günstige Verkehrslage; sie ist ein wichtiger Faktor der Urbanisierung. Aber es ist dann der Verdichtungsraum, der einerseits den Verkehr auf sich zieht, die Verdichtung und Verfeinerung der Infrastruktur fördert. Zwei Fragen kamen auch in den Diskussionen wiederholt zur Sprache. Zum einen die Frage nach der urbanistischen Gestaltbarkeit der modernen Megastadt, dem Umgang mit dem Moloch "Metropole"; zum anderen die Frage der Bedeutung von Metropolen im Zeitalter der Globalisierung und der Genese der virtuellen Metropole in den welt-umspannenden Datennetzen. Zum Internetsurfen braucht man kein Meer, und bedarf es, um zu regieren, einer Hauptstadt? In welchem Umfang kann es zu einer funktionalen Diversifizierung dank der neuen Medien kommen? Man kann schon heute in vielen Bereichen ortsunabhängig arbeiten, man kann einkaufen, Bankgeschäfte tätigen und anderes mehr, ohne einen Schritt vor die eigene Haustür zu setzen. Die Frage, welche Folgen diese Entwicklungen für die künftige Geschichte der Metropole haben, könnte ein spannendes Thema für ein weiteres Symposion des Arbeitskreises sein. Die Herausgeber haben den zahlreichen Institutionen und Personen zu danken, welche die organisatorische Durchführung des Kolloquiums bewerkstelligt und die Drucklegung der Konferenzakten besorgt haben. Dank gebührt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Bewilligung der erforderlichen Mittel; die Mitarbeiter des Historischen Seminars der Universität Bonn – insbesondere Frau Tatjana Jurek – waren an der Verwirklichung des Projektes in verschiedenen Phasen beteiligt, ebenso Frau Lydia Konnegen (RWTH Aachen). Bonn/Aachen, den 1. Januar 2002

Bernd Roeck und Michael Jansen

"Theben und Memphis" 7

DETLEF FRANKE, HEIDELBERG

THEBEN UND MEMPHIS – METROPOLEN IM ALTEN ÄGYPTEN

Bei unserem 1. Symposium 1993 in Paderborn habe ich darüber gesprochen, daß im alten Ägypten drei architektonische und ideologische Pole eine Stadt ausmachten: Verwaltungs- und Herrschaftssitz, Tempel und Felsgräber- bzw. Oberschichtnekropole.1 Es gab eine ganze Reihe Städte dieses Typs, vor allem die Hauptstädte der Provinzen (von deutsch-sprachigen Ägyptologen "Gaue" genannt) sind dazuzurechnen.2 Heute geht es mir um die Spitzen dieses Siedlungsnetzes: die Landeshauptstädte. Da Ägypten eine Monarchie war, ist dies zunächst der Ort, an dem der König sich aufhielt: die Residenz. Seit Beginn der von den Ägyptern selbst mehr oder weniger systematisch aufgezeichneten Annalen und Königslisten (etwa ab 3000 v. Chr.) ist die Residenz die Stadt Memphis. Über eine "Vorgeschichte" dieser Stadt wissen wir nichts; seit der 1. Dynastie ist sie Ort eines Palastes, des Tempels des Gottes Ptah und Begräbnisort der Verwaltungsspitze.3 Der ägyptische Name der Stadt, "Weiße Mauer",4 verweist auf eine von weißgetünchten Lehmziegelmauern umwallte Palastanlage. Auf diesen Königspalast als Zentrum nehmen die Göttertempel von Memphis Bezug, wenn z.B. der Stadtgott Ptah den Beinamen "südlich seiner Mauer" trägt: Der Palast ist deutlich "Nabel der Welt". Allerdings ist von den ältesten Baulichkeiten der Stadt nichts erhalten.5 Wer heute die Ruinenstätte von Memphis (bei den Dörfern Mit Rahine und Bedraschein) besucht, wird enttäuscht sein. Über zweitausend Jahre Steinverschleppung und Zerstörung haben allein Spuren hinter-lassen. Die einstige Bedeutung dieser Stadt läßt nur die Ausdehnung der städtischen Nekropolen erahnen, die unter den arabischen Namen Abusir im Norden, Saqqara und Dahschur im Süden bekannt sind und wo sich allein mindestens 22 Königspyramiden befinden. Noch heute sind zwischen moderner Bebauung und malerischen Palmengärten

1 VIAS 1, 1994, 30/40. 2 Im zentralistisch organisierten ägyptischen Flächenstaat gab es natürlich eine Hierarchie der Städte und Siedlungen (vgl. R. Müller-Wollermann, Präliminierungen zur ägyptischen Stadt, in: ZÄS 118, 1991, 48-54). 3 Während der 1. Dynastie wurden die Könige noch am althergebrachten Begräbnisplatz im mittel-ägyptischen Abydos bestattet.- Seit 1980 laufen im Gebiet des ehemaligen Memphis regelmäßige Unter-suchungs- und Grabungskampagnen (The Survey of Memphis) von David Jeffreys et al., über die vor allem im JEA berichtet wird, vgl. JEA 69, 1983ff. Zur Lage des Siedlungszentrums im Alten Reich s. JEA 74, 1988, 23; JEA 76, 1990, 12f., Fig. 1/2 auf S. 2/3; JEA 77, 1991, 6; JEA 78, 1992, 2; JEA 81, 1995, 1ff. und vor allem D. Jeffreys/A. Tavares, The Historic Landscape of Early Dynastic Memphis, in: MDAIK 50, 1994, 154ff./159. Vgl. noch LÄ, IV, 26f., eine Landkarte ebd., 13. 4 Vgl. auch Herodot, III, 91; Diodor, I, 50/51 und XI, 74,4; A.B. Lloyd (Hg.), Herodotus Book II. Vol. III: Commentary on chapters 99-182, Leiden 1988/1993, 12f. 5 Die Nekropole von Kom Fakhry aus der 1. Zwischenzeit ist der bisher älteste bekannte Teil der Siedlung.

Detlef Franke 8

im ehemaligen Stadtgebiet von etwa 2,8 km Länge mehrere Siedlungsschutthügel (arab. Kom) auszumachen.6 Der ägyptischen Überlieferung nach ist Memphis eine Gründung des ersten Königs Menes.7 Der Ort ist gut gewählt. Memphis verdankt seine Bedeutung seiner günstigen geographischen Lage nahe der Südspitze des Nildeltas, am Nordende des langen schmalen "Schlauchs" des Niltals (etwa wie heute Kairo), ideal um - wie schon Diodor (I, 50,3/4) bemerkte - den Handel nach Oberägypten zu kontrollieren. Memphis ist deutlich voran-treibender Teil der Entwicklung des altägyptischen Flächenstaates, nicht Ort seiner Ent-stehung, der im südlichen Hierakonpolis und Abydos zu suchen ist. Die Ruinen der Stadt liegen heute etwa 3 km westlich des Nil, der jedoch früher weiter westlich verlief. In den ersten drei Dynastien lag die Stadt wohl nordwestlich der heutigen Ruinenhügel, auf der Westseite des alten Nilbettes mit direktem Zugang nach Saqqara - etwa auf der Höhe der Djoserpyramide und der großen Gräber aus der 1. Dynastie und gegenüber dem ostseitigen Friedhof zwischen Helwan-Ma'sara. Im Westen verläuft heute zwischen dem Hochplateau von Saqqara und der Stadt der sogenannte Bahr-Libeini-Kanal, der an dieser Stelle möglicherweise schon seit der 4. Dynastie fließt.8 Im Laufe der Zeit verlagerte der Nil sein Bett mehr und mehr nach Osten, entsprechend "wanderte" der Siedlungskern nach Südosten. Die Stadt war von Schutzdeichen gegen Hochwasser eingeschlossen. In diesem Großraum treffen eine Reihe Verkehrswege zusammen: die Schiffahrtswege vom Süden aus Oberägypten und die vom Mittelmeer durch die östlichen Nilarme des landschaftlich von Mittel- und Oberägypten völlig verschiedenen Deltas, die Landwege vom Fayum und den Oasen über Bahriya und nordwestlich der Landweg zum Wadi Tumilat hinüber zum Sinai und nach Palästina. Zudem lagen nur etwa 10 km nordöstlich von Memphis auf der Ostseite des Nil die großen Kalksteinbrüche von Tura, die aus-gezeichnetes Steinmaterial für Bauten lieferten. Für die Ägypter war Memphis immer sowohl Zentrum als auch Grenz-Stadt: Es liegt auf der Grenze zwischen den landschaftlich sicher, kulturell zumindest in Teilbereichen auch heute noch verschiedenen Landesteilen Ober- und Unterägypten als adäquates Zentrum der Macht: Es war äg. hnw, "das Innen", die "Residenz", demgegenüber Ägypten und die Welt nur Außen und äußerlich sind (so konnte auch aus dem äg. Tempelnamen Hut-ka-Ptah pars pro toto unser "Ägypten" werden!). In späterer Zeit wird die Metapher "Waage der beiden Länder" (mh3.t-t3.wj) zur Bezeichnung der Stadt (Stein von Rosette: Urk. II, 172). Um etwas über die Struktur der Stadt zu erfahren, muß man ägyptische Texte heranziehen - die wir dazu leider erst aus dem Neuen Reich (ab 1550 v. Chr.) haben. Die Ausgrabungen haben sich bisher vor allem auf die Tempel- und Palastbezirke beschränkt; erst an wenigen einzelnen Stellen ist man Siedlungsresten auf die Spur gekommen. Archäologisch sind

6 A. Badawi, Memphis als zweite Landeshauptstadt im Neuen Reich, Le Caire 1948; H. Kees, Das alte Ägypten. Eine kleine Landeskunde, Berlin/Wien/Köln/Graz 31977, 100; LÄ, IV, 24f.; H.S. Smith/D.G. Jeffreys, JEA 71, 1985, 8ff. Diodor, I, 50,4 gibt den Umfang der Stadt mit 150 Stadien, knapp 28 km, an. 7 Vgl. Herodot, II, 99; Lloyd (wie Anm. 4), 6ff. 8 Lloyd (wie Anm. 4), 11ff.; L.L. Giddy et al., JEA 76, 1990, 2 Fig. 1 und Jeffreys/Tavares (wie Anm. 3), 151/155ff./159.

"Theben und Memphis" 9

mehrere Tempelbezirke, Arbeitsstätten, Wohnbereiche und natürlich Nekropolen bekannt. Der textlich bezeugte Hafenbereich "Gute Ausfahrt" (äg. Peru-nefer)9 mit eigenen Tem-peln, in dessen Nähe auch ein Palast und ein größeres Wohnviertel von Ausländern gelegen haben muß, konnte bisher nicht gefunden werden. Grob lassen sich - jedenfalls für das Neue Reich und spätere Zeiten - im Westen die Nekropolen, im Osten der Haupthafen, im Norden ein Tempel der Göttin Neith ("nördlich ihrer Mauer") und im Süden ein Tempel der Göttin Hathor ("Herrin der südlichen Sykomore") ausmachen. Im Zentrum der Stadt lagen der Königspalast ("die weiße Mauer", im Laufe der Zeit sind mehrere Paläste gebaut worden), eine Militärgarnison mit Arsenal und südlich davon der Tempel des Stadtgottes Ptah "südlich seiner Mauer".10 Seine die Zeiten überdauernde Bedeutung verdankt Memphis zwei Aspekten: Die Stadt war zunächst Sitz der Verwaltungsspitze, die sich auch dort begraben ließ. Seit der 2. Dynastie war Memphis Königsfriedhof und wurde traditionsreiche Keimzelle des ägyp-tischen Königtums. Die große Stufenpyramide des Pharaos Djoser in Saqqara als ältester und bis heute nahezu unbeschädigt aufrecht stehender monumentaler Steinbau der Welt-geschichte war weithin sichtbares Zeichen der Bedeutung und des Alters der Stadt. In Memphis, im Tempel des Ptah, fand auch die Krönung jedes ägyptischen Pharaos statt. Hier war die Residenz der Prinzen, und es gab eine wichtige Garnison mit Arsenal und Flottenstützpunkt. Memphis war Ausgangsort für königliche Unternehmungen ins Ausland - seien es Steinbruchexpeditionen oder Kriegszüge. Im Königspalast residierte Pharao als Ägyptens größter und potentester Bauherr, und als Nekropole für Könige und für die Elite war Memphis Zentrum altägyptischer Toten- und Jenseitsindustrie: Hier waren Baumeister, Handwerker und Künstler und ihre Werkstätten konzentriert. Von alters her sind deshalb der Stadtgott Ptah und der Erd- und Friedhofsgott Sokar die Patrone der Handwerker. Die politische Geschichte Ägyptens verlief nun keineswegs so geradlinig, wie es dem Außenstehenden scheinen mag. Scheinbar historischer Zufall führte dazu, daß eine Provinzfürstenfamilie aus dem Gebiet des oberägyptischen heutigen Luxor in einer bestimmten günstigen soziopolitischen Konstellation gesamtägyptische Pharaonen stellen konnte. Diese Familie, deren Häupter die Namen Antef und Mentuhotep trugen (11. Dynastie, um 2000 v. Chr.), kam aus der Stadt, die heute unter ihrem gräzisierten Namen Theben bekannt ist (bei Luxor). Sie baute ihren Heimatort zum Macht- und Kultzentrum aus. Heute noch sichtbares Zeichen dieser bewußten Hervorhebung Thebens ist die Tempel- und Grabanlage Mentuhoteps II. im Talkessel von Deir el-Bahari. Ein Provinznest wurde so zur Residenz, zum Sitz der Mächtigsten in Ägypten. Diesen politischen und familiengeschichtlichen Zufällen verdankt letztlich der heute von abertausenden von Touristen besuchte Karnaktempel von Luxor seine Existenz. Denn sein Gott Amun hat seine Popularität nur dem politischen Aufstieg der Mentuhotepfamilie zu verdanken. Der

9 In der Spätzeit ist auch der Stadtname (griech.) Memphis (aus äg. Men-nefer, eigentlich: "Beständig ist das Gute") entsprechend als *mnj-nfr "Landeplatz des Guten" verstanden worden, bei Plutarch, De Iside, 20, 359B als "hormos agathon" wiedergegeben (vgl. W. Spiegelberg, ZÄS 49, 1911, 129; Badawi (wie Anm. 6), 3; LÄ, IV, 25). 10 Vgl. die zusammenfassenden Beschreibungen des Stadtbilds in LÄ, IV, 26 und LÄ, V, 1244ff.

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erste König der folgenden 12. Dynastie, wohl ein Thebaner von Geburt, führt Amun programmatisch in seinem Geburtsnamen: Er heißt Amen-em-het, "Amun ist an der Spitze". Ab jetzt trägt Amun als Stadtgott Thebens den Beinamen "König der Götter". Die politische Vorrangstellung der Thebaner wird durch die Voranstellung ihres Stadtgottes, in dessen Schutz sie sich verstehen, legitimiert. Der Ausbau des Karnaktempels und die königliche Förderung seines Kultes und der theba-nischen Götterfeste durch praktisch alle folgenden Pharaonen bis hin zu dem Makedonier Philippos Arrhidaios (323-317 v. Chr.) hat hier - in der dankbaren Frömmigkeit der thebanischen Könige Antef II. und Mentuhotep II - seine Wurzeln.11 Amun ist "Königs-macher", und ohne Amun scheint Pharaonentum nicht mehr denkbar. Aber obwohl Theben politisch und religiös-ideologisch die Heimat der Pharaonen der 12. Dynastie (ca. 1980-1795 v. Chr.) ist, wird schon unter ihrem ersten König Amenemhet die Residenz wieder nach Norden verlegt, nur wenig südlich von Memphis, nach einem Ort nahe dem modernen Lischt. Politisch-administrativ scheint das 700 km südlich gelegene Theben als Hauptstadt nicht geeignet zu sein. Zeigt hier Memphis - über das wir in dieser Zeit wenig wissen - seine Anziehungskraft? Theben wird dadurch jedenfalls zur zweiten Landeshauptstadt, einfach die "südliche Stadt" genannt, und Sitz eines Zweigbüros des Wesirs, des höchsten Verwaltungsbeamten. Der König ist nur noch auf der Durchreise in Theben und läßt sich dort auch nicht begraben; politisches Zentrum Ägyptens ist Memphis. Memphis ist Residenz, Theben ein zeitweiliger Regierungssitz neben anderen. Erst eine weitere historische Wende ändert diese Städtekonstellation aufs Neue. Im Norden fallen syrisch-palästinensische Gruppen ein und krönen sogar einen der ihren um 1640 zum Pharao in Memphis: die Hyksos. Der ägyptische Pharao muß Memphis verlassen und zieht sich in seine Heimatstadt Theben zurück. Theben wird damit erneut zum Sitz des Pharao, der nur mehr über einen oberägyptischen Rumpfstaat regiert. In den Texten dieser Zeit geriert sich der König weniger als Pharao denn als Stadtherrscher von Theben, der sein und seiner Stadt Überleben der Gunst Amuns verdankt. Diese besondere Beziehung zwischen Pharao, Amun und Theben wird in der Folgezeit von immer größerer Bedeutung. Theben verdankt seine Bedeutung und Zentralstellung im Neuen Reich den thebanischen Kleinkönigen der 17. Dynastie (ca. 1640-1550 v. Chr.). Nach dem Sieg über die Hyksos und ihrer Vertreibung aus Ägypten unter König Ahmose um 1530 beginnt der Ausbau Thebens und des Amuntempels zur monumentalen Gottes- und Tempelstadt unter Thutmosis I. Die Bauten der folgenden Könige der 18. Dynastie, die abwechselnd Thutmosis und Amenophis - "Amun ist zufrieden" - hießen, (und der Königin Hatschepsut) sind bewußt von dem Wunsch getragen, an die große Zeit Ägyptens (und Thebens) in der 12. Dynastie anzuknüpfen. Theben und seine Tempel stehen eindeutig im Zentrum königlicher Zuwendungen und Bauten. Theben ist jetzt (nach der 11. Dynastie wieder) Ort des Königsgrabes. Gleichzeitig wird Theben Zentrum eines Weltreiches im eigentlichen Sinne: Zum ersten Mal werden die bisherigen politischen Grenzen Ägyptens weit nach Nordosten und Süden 11 Zu den wenigen bisher ausgegrabenen Resten der Wohnbereiche in Theben s. B. Kemp, Ancient Egypt. Anatomy of a Civilization, London/New York 1989, 160ff. und Fig. 57. Für Theben im Neuen Reich vgl. ebd., 185ff./203 Fig. 71, und die beeindruckenden Rekonstruktionszeichnungen des Stadtbilds bei S. Au-frère/J.-C. Golvin/J.-C. Goyon, L'Égypte restituée. Vol. I: Sites et temples de la haute Égypte. 1650 av. J.-C.-3000 ap. J.-C., Paris 1991, außerdem LÄ, VI, 465ff. s.v. "Theben".

"Theben und Memphis" 11

überschritten. Und zum ersten Mal sieht sich Ägypten in diesen Gebieten adäquaten Konkurrenten gegenüber. Unter Thutmosis III. und Amenophis II. ist Ägypten Weltmacht und aktiv und bewußt Teil eines internationalen Kommunikations- und Handelsnetzes. Damit werden Theben und Memphis mehr denn je Knotenpunkte eines Verkehrsnetzes ökonomischer und ideologischer Güter. Theben und Ägypten sind auf dem Höhepunkt ihrer Macht - nicht zufällig findet sich in dieser Zeit eine besondere Betonung kriegerischer Leistungen und Darstellungen der Verkörperung der Königsstadt als weibliche Göttin: das "Siegreiche Theben". Um Thebens Bedeutung einen neuen, kräftigen Impuls zu geben, wird in der frühen 18. Dynastie eine andere, vor allem religiös-ideologisch wichtige Stadt als Vorbild und Kraftquelle bemüht: Heliopolis.12 Über Heliopolis als Siedlung ist im Moment wenig zu sagen, archäologisch ist es schwer greifbar. Wir haben nur Teile, die sich kaum zu einem fertigen Bild zusammenfügen lassen. Sicher ist, daß bisher in der Ägyptologie die religionspolitische Bedeutung von Heliopolis eher überschätzt, ihre archäologische Be-deutung aber unterschätzt worden ist.13 Über die kultischen Installationen von Heliopolis im Neuen Reich sind wir recht gut informiert, auch über die ökonomische Bedeutung der Stadt in der Ramessidenzeit (ab 1290 v. Chr.), die scheinbar Resultat ihrer religiösen Bedeutung war. Religionspolitisch-ideologisch ist Heliopolis zweifellos eine Stadt ersten Ranges gewesen, und in der Ramessidenzeit ist der Tempel des Sonnengottes Re von Heliopolis sogar zur größten umfriedeten Tempelanlage Ägyptens ausgebaut worden (mehr als 80 ha) - weit größer als der Karnaktempel in Theben und der Ptahtempel in Memphis.14 Aber als "Stadt" ist Heliopolis bisher eher "Phantom".15 Politisch gesehen ist es jedenfalls nie Zentrum, Residenz und Königsfriedhof gewesen, allenfalls zeitweiliger Regierungssitz. Die geringe "realweltliche" Bedeutung der Stadt belegt am besten die Nekropole, die keinerlei "nationale" Anziehungskraft hatte wie diejenigen von Theben und Memphis. Heliopolis ist Gottesstadt: Als Ort des Urhügels, auf dem der Schöpfergott Atum aus sich selbst heraus die Schöpfung zu differenzieren begann, und als Ort des mythischen Gerichtsentscheids im Streit zwischen den Göttern Horus und Seth wird es irdische Replik 12 Für Heliopolis und zum folgenden verdanke ich nahezu alles der ausgezeichneten Dissertation von Dietrich Raue, Heliopolis und das "Haus des Re". Eine Prosopographie und ein Toponym im Neuen Reich, Heidelberg 1996. Vgl. auch Kees (wie Anm. 6), 145: "Theben als 'die Stadt' Ägyptens mußte Urstätte spielen wie Heliopolis und Memphis, und als solche einen Urgott gleichen Typs wie Atum von Heliopolis und Ptah-Tatenen von Memphis vorweisen." Thutmosis III. dupliziert auch den Kult für Ptah von Memphis im Tempel von Karnak.- Vergleichbare "Aufladung" erfuhren zahlreiche Hauptstädte (u.a. Paris, London, Prag, Wien) in Mittelalter und Neuzeit, wenn sie als das neue Jerusalem oder Rom bezeichnet werden. 13 Die Wertschätzung der frühen 12. Dynastie für Heliopolis verdeutlicht vielleicht der heute noch in Matariya/Cairo stehende Obelisk Sesostris' I. Aus Memphis und Theben gibt es nichts vergleichbares aus dieser Zeit! 14 Zum Größenvergleich von Siedlungen und Tempelarealen vgl. E.P. Uphill, JNES 27, 1968, 291-316 und LÄ, V, 1238ff. s.v. "Stadt(anlage)". Der Amuntempel von Karnak umfaßte ungefähr 31 ha, der große Atontempel in Amarna 20,5 ha, der Ptahtempel in Memphis ca. 25 ha. 15 Das gilt noch mehr für so häufig in religiösen Formeln genannte Orte wie Abydos oder gar Busiris.

Detlef Franke 12

der himmlischen Residenz des Weltherrschers und Sonnengottes16 - wie Abydos Residenz des Totengottes Osiris ist. In Heliopolis war auch Pharao nur Gast in der Rolle des Sohnes: als Inhaber des Königsamtes, das von Atum stammte. Spätestens seit der 4. Dynastie (etwa ab 2640 v. Chr.) ist Heliopolis von ideologisch zentraler Bedeutung, die Gründe für diesen "Aufstieg" liegen jedoch im Dunkeln.17 Heliopolis kommt nun einer Definition von "Metropole" im klassisch-griechischen Sinne recht nahe: Es ist "Mutterstadt", "Prototyp" für alle Städte des Landes, auf die der Topos vom Urhügel übertragen werden konnte - allerdings nur in Bezug auf das imaginäre "Stadtprofil".18 Die intellektuell-religiöse Strahlkraft von Heliopolis als Residenz des Schöpfer- und Sonnengottes Re, des ideellen Vaters jedes Pharaos, wird in der frühen 18. Dynastie auf Theben übertragen: Amun ist Amun-Re, seine Stadt Theben wird zum "südlichen/ oberägyptischen Heliopolis".19 Alle Heiligkeit von Heliopolis konnte nun auf Amun und Theben übergehen. Und eine typisch heliopolitanische Denkmälergattung, der zur Tempel-ausstattung gehörende Obelisk, wird in Theben zum Standard: Während in Theben allein mindestens 13 Obelisken vorhanden waren, sind bisher für Heliopolis' Tempel nur etwa neun größere Obelisken bezeugt, am Ort stehengeblieben ist nur ein einziger. Theben ist zu dieser Zeit Sitz der größten landesweit operierenden Wirtschafts- und Tempelorganisation, des "Hauses des Amun", und wird zu einer monumentalen Bühne für die Feste der Prozession des Amun ausgebaut (Wüstental-Fest, Opet-Fest). Diese Bauten - in Stein - auf der Ost- und Westseite des Nils sind auch heute noch recht gut erhalten, und 16 Vgl. J. Assmann, Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart 1984, 144ff., der als "klassischen" Text heliopolitanischer Kosmogonie Pyramidentext-Spruch [600] zitiert: "Atum-Chepri, Du kamst hoch als Urhügel / Du quollst auf als Benben-Stein / im Haus des Phönix zu Heliopolis. / Du spucktest aus Schu / (und) Du hustetest aus Tefnut". 17 Ältestes königliches Denkmal in Heliopolis ist bisher die Kapelle des Djoser (3. Dynastie). Die drei großen Pyramiden von Giza sind offensichtlich auf das nordöstlich liegende Heliopolis ausgerichtet (vgl. H. Goedicke, BACE 6,1995, 39ff.). Der solare Aspekt altägyptischen Königtums läßt sich wohl schon in der 2. Dynastie (Königsname Neb-Re) beobachten, manifest ist er dann in der 4. Dynastie - stärker als bisher vermutet. In diesem Sinne ist es verfehlt, wenn in Geschichtsdarstellungen häufig vom "Durchbruch der (heliopolitanischen) Sonnenreligion" erst in der 5. Dynastie gesprochen wird. Das Verhältnis zum Vatergott Re wird anders akzentuiert und (architektonisch) anders sichtbar gemacht. 18 In gewissem Sinne sind alle Städte Ägyptens dann "Kolonien" dieses Prototyps. "mtj-Prototyp [nach J. Parlebas; wörtlich "in der richtigen Beschaffenheit", im Wortspiel mit md "zehn"] ist Theben für alle Städte" (Amunhymnus Leiden, 10. Lied = D. Franke, VIAS 1, 1994, 47). Andererseits kann der "Urhügel-Topos" prinzipiell auf jede Stadt übertragen werden. So ist auch Memphis "Prototyp" (Totenbuch-Kapitel 183, Var. = D. Franke, VIAS 1, 1994, 46) und Theben wiederum Vorbild für die Ramsesstadt (ebd., 49): sie ist "wie das oberägyptische Heliopolis = Theben, ihre Lebensdauer ist wie Hikuptah = Memphis". Vgl. die Städte-profile im Anhang zu diesem Beitrag. 19 Diese Bezeichnung ist seit König Ahmose zu belegen ("Unwetterstele", Rs, Z. 3; nach 1550 v. Chr.). Theben kann damit die Urhügel-Thematik der heliopolitanischen Kosmogonie übernehmen und als Keim-zelle der Schöpfung "Prototyp" aller Städte werden. Typisch sind dann Bezeichnungen wie "Auge des Re" für Theben (z.B. Wadi Hammamat-Inschrift M 218), oder von Amun-Re: "sein rechtes Auge ist Theben, sein linkes Auge ist Heliopolis" (KRI, II, 597, 6-8). Im Grunde ist das alles nur eine gesteigerte Fortsetzung einer "Thebanisierung" heliopolitanischer Elemente, wie sie schon 600 Jahre früher unter Antef II. mit der Her-vorhebung von Re und Hathor in Theben zu beobachten ist.

"Theben und Memphis" 13

jedem Besucher wird es nicht schwerfallen, sich Theben als Metropole vorzustellen. Wem fielen in Luxor nicht die homerischen Worte vom "hunderttorigen Theben" ein (Ilias, IX, 381-383)? Ich möchte darauf hinweisen, daß dies eine große Täuschung ist. Theben war nur kurze Zeit wirklich Metropole, "die Stadt" Ägyptens - allenfalls in der ersten Hälfte der 18. Dynastie für weniger als 200 Jahre (1530-1350 v. Chr.), spätestens bis etwa Amenophis IV. Theben verließ und als Echnaton in seine Stadt Amarna umzog (die nebenbei im Layout an Heliopolis, vielleicht auch Memphis und Theben anzuknüpfen scheint!). In dieser Zeit galt, was der biblische Prophet Nahum (3, 8-10) sagt über die Stadt "No-Amon (wörtl.: "Stadt-des-Amun" = Theben), die da lag am Nil und vom Wasser umgeben war, deren Mauern und Bollwerk Wasserfluten waren; Kusch und Ägypten waren ihre unermeßliche Macht, Punt und Libyen waren ihre Hilfe."20 Nach der kurzen Amarna-Episode ist Theben nie mehr Metropole gewesen - allenfalls zweite Landeshauptstadt und Gottes- und Tempelstadt, in der jedoch die Könige noch bis zum Ende der Ramessidenzeit traditionell begraben wurden. Und "hunderttorig" war Theben im griechischen Sinne nie - alle Landeshauptstädte Ägyptens waren nicht mit einer Stadtmauer umgeben.21 Mauern umgaben nur die Tempel und den Königspalast, um das Heilige vom Profanen zu trennen. Schon unter Thutmosis I. (um 1500) befand sich bei Memphis wieder ein regelmäßig besuchter Königspalast, und es wohnten dort die Prinzen.22 Die Prinzen erhielten in der memphitischen Garnison ihre Ausbildung. Memphis ist Hauptstadt, von Militär und internationalem Flair geprägt: Ausländische Söldner, Sklaven und Händler, vor allem Syrer, Phönizier und Hethiter, dann auch Karer und Griechen durften sich dort niederlassen und ihre Götter wie z.B. Astarte, Qadschu, Reschep und Ba'al in eigenen Tempeln verehren. Scheinbar problemlos wurden diese ausländischen Götter in das ägyptische Pantheon integriert. Der "Wiederaufstieg" von Memphis schien unaufhaltsam: Während Theben vor allem religionspolitisch aufgewertet wird und durch die Größe der dort investierten Baumasse und die so gut erhaltenen Gräber der Königs- und Beamten-nekropolen beeindruckt, zeigen sich etwa ab Thutmosis III. weitere eindeutig "pro-memphitische" Tendenzen. So wurde das Wesirat zweigeteilt, und der unterägyptische Wesir hat seinen Amtssitz in Memphis. Amenophis III. machte seinen Sohn Thutmosis zum Hohepriester des Ptah in Memphis und richtete eigene Tempel und Domänen ein. Theben war nicht geeignet als "Tor zur Welt", diese Rolle fiel Memphis zu. Spätestens mit TutanchAmun und dann Haremheb, der in Memphis residierte schon bevor er nach TutanchAmun und Eje König wurde, begann die neue Blütezeit von Memphis. Die Garnison von Memphis23 ist die Keimzelle der Ramessidenzeit (19./20. Dynastie), und Ramses I. ist ehemaliger Kommandant der Grenzfestung Sile. 20 Zu dieser Stelle und zum Ilias-Zitat: Th. Schneider, Biblische Notizen 44, 1988, 63-73. 21 R. Müller-Wollermann, ZÄS 118, 1991, 52. 22 Die Prinzen der 18. Dynastie sind seit Thutmosis I. nahezu ausschließlich nur im Raum Memphis-Giza durch eigene Denkmäler zu belegen, vgl. A. Dodson, JEA 76, 1990, 92ff. 23 In Memphis fand sich eine Kapelle Sethos' I., in der neben dem Gott Ptah jeweils eine Göttin mit dem König auf dem Schoß saß: einmal eine Verkörperung der Stadt Memphis, zum andern eine Göttin, die die Garnisonsfestung darstellte (Tzmt "der Wachturm" genannt) - konzeptuell eine unterägyptische Adaption der

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Administrativ-militärisch läuft Memphis Theben schnell den Rang wieder ab. Ist Theben die Stadt der Tempel und Gräber, von Frömmigkeit, Prozessionen und Orakel, so ist Memphis jetzt eher Stadt der Paläste und der Krönungsfeste, der Büros, der Administration (deren Sinnbild in gewissem Sinne die Pyramiden sind!) und des Handels. Unter Ahmose, dem ersten König der 18. Dynastie und "Befreier" Ägyptens von den Hyksos, wurden die Steinbrüche von Tura südlich von Kairo neu eröffnet und Steine gebrochen für drei Kapellen des Königskults in den Tempeln des Atum in Heliopolis (nur ergänzt!), des Ptah von Memphis und des Amun in Theben.24 Dieser Trias der großen Götter Ägyptens entspricht die Trias der Landeshauptstädte Heliopolis, Memphis und Theben, die in dieser Form und Heraushebung hier zum ersten Mal genannt ist. Die Idee ist eigentlich typisch "thebanisch", stellt sie doch eine "Replik" neben zwei "Originale" von ungleich tieferer historischer Dimension. Die Ramessidenzeit ist dann die Zeit, in der die Trias der Landeshauptstädte Memphis, Theben und Heliopolis kanonisch wird.25 "Drei sind alle Götter: Amun, Re und Ptah, denen keiner gleichkommt. 'Dessen Name verborgen ist' als Amun, er ist Re ist im Angesicht, sein Leib ist Ptah. Ihre Städte auf Erden stehen fest auf immerdar: Theben, Heliopolis und Memphis, allezeit" heißt es in einem Hymnus auf Amun aus der Ramessidenzeit. Selbst im fernen Abu Simbel sitzen im hintersten Zentrum des Tempels im heiligen Halb-dunkel Amun, Re und Ptah neben einer Statue des vergöttlichten Bauherrn Ramses II.26 In der Ramessidenzeit werden systematisch die drei Hauptstädte ausgebaut und ihre Tempel mit großen Stiftungen versehen.27 Etwa 90% des Reichtums des Landes an Acker- thebanischen Stadt-Vergöttlichung "Siegreiches Theben" (J. Berlandini, BSFE 99, November 1984, 28ff.; H. Sourouzian-Stadelmann, MDAIK 49, 1993, 247ff.). 24 LD III, 3ab; Urk. IV, 25, 9-11, vgl. auch Urk. IV, 15, 15-17 = Cairo CG 34001, Z. 5/6. Schon unter TutanchAmun ist auch das ägyptische Heer in drei Abteilungen eingeteilt, die nach den Hauptgöttern Amun, Re und Ptah heißen. 25 Vgl. z.B. schon unter Ahmose (Urk. IV, 15, 15ff.) und Amenophis II. (Urk. IV, 1362, 13ff.), dann Urk. IV, 2118, 9 [Haremhab], im großen Leidener Amunshymnus: ÄHG, 318f. (Nr. 139), oder KRI, II, 331, 12/13 [Ramses II.]. - Theben kann für sich am Beginn des Neuen Reiches nur etwa 600 Jahre Geschichte als Hauptstadt verbuchen, Memphis (und Heliopolis?) aber über 1300 Jahre! 26 Nur konsequent ist deshalb eigentlich die Gründung einer eigenen Hauptstadt "Haus des Ramses" = Pi-ramesse, die vornehmlich der Verherrlichung Ramses' II. diente, neben der "traditionellen" Städtetriade. Ent-sprechend wird in der Ramessidenzeit eine vierte Heeresabteilung aufgestellt, die den Namen des Gottes der Gründerfamilie trägt: Seth von Auaris (bei Qantir) im Ostdelta, dem Ort der Ramsesstadt. 27 Charakteristisch sind die Zahlenverhältnisse der Ackerlandstiftungen Ramses III. für die großen Tempel des Landes (nach dem großen Papyrus Harris): 83,5% für Amun, 15,4% für Re und ca. 1% für Ptah, nur 0,1% an die restlichen Tempel Ägyptens! Im Vergleich dazu realistischer sind vielleicht die - nur ausschnitt-haft signifikanten - Besitzverhältnisse nach dem Papyrus Wilbour: thebanische Tempel: ca. 45%, helio-politanische Tempel: 12%, memphitische Tempel: 7%, sehr viele restliche Besitzer: ca. 35%. Vgl. H.D. Schaedel, Die Listen des großen Papyrus Harris. Ihre wirtschaftliche und politische Ausdeutung, LÄS 6,

"Theben und Memphis" 15

land und Menschen scheinen den religiösen und königlichen Installationen in den Städten Theben, Heliopolis und Memphis zu gehören. Allein religiöse Motive führten hier zur politisch-ökonomische Voranstellung der Städtetriade, das läßt sich am besten am Beispiel Heliopolis zeigen. Theben ist jetzt Gottesstadt, der Fokus königlichen Interesses liegt jedoch in Unterägypten. In der 21. und 22 Dynastie (ab etwa 1075 v. Chr.) wird dann Tanis als neue Residenz, Königsfriedhof und Machtzentrum im Ostdelta ausgebaut - auf Kosten der Ramsesstadt. Systematisch scheint man in der 21. Dynastie die Stadt Tanis zum Gegenstück von Theben machen zu wollen, in der die thebanische Göttertriade Amun, Mut und Chons verehrt wird.28 Im Verlauf altägyptischer Geschichte ist also ein primär historisch bedingtes Auf und Ab auf der Rangskala der Landeshauptstädte festzustellen - Konstante ist eigentlich nur Memphis gewesen. In dieser Stadt fand sich fast immer eine einzigartige Zusammen-ballung von politischer, religiöser und ökonomischer Macht. Memphis war gegenüber Heliopolis, der irdischen Replik der himmlischen Residenz des Sonnengottes, immer die Stadt des "aktuellen, lebendigen Königtums" (D. Raue). Angesichts in der Regel nur kurzfristiger religionspolitischer Aufwertungen anderer Städte - und hierzu zähle ich ausdrücklich auch Theben - setzt sich eine Präferenz für Memphis im Lauf der Geschichte immer wieder durch. Heliopolis ist - neben Memphis - aufgrund seiner Tradition und Heiligkeit von heraus-ragender imaginärer Bedeutung und vor allem ein Hort des Wissens (und der Theologie). Noch Herodot ist bekannt, daß Heliopolitaner mehr wissen ("In Heliopolis nämlich soll man mehr von diesen Dingen wissen als im ganzen übrigen Ägypten", Herodot, II, 3), auch wenn von ihrer Stadt offenbar nicht viel zu berichten war; dort war ja dann auch später eine Schule des Platon und Eudoxos ansässig (Strabon, XVII, 1, 29[806]). Griechische Schriftsteller (Herodot, II, 111; Strabon, XVII, 1, 27[805]) und die Bibel (Jeremias, 43, 13) nennen als städtebaulich typisches Kennzeichen von Heliopolis die Obelisken - ursprünglich ein rein religiöses Denkmal im Tempel. "Metropole" im heutigen Sinn war Heliopolis nie, auch wenn sich um diesen Stadtnamen ein ganzes Bündel von Assoziationen rankt. Der Stadt fehlte, grob, gesagt das Flair der großen Prozessionsfeste mit Orakeln, die es in Memphis und Theben gab (auch Herodot II, 63 erwähnt nur scheinbar unspektakuläre Opferfeste).29 Erst in der Ramessidenzeit wird Heliopolis entschieden aufgewertet und mit großer ökonomischer Macht versehen. Jetzt sind auch die Hohepriester von Heliopolis vorzugsweise Prinzen.

Glückstadt/Hamburg/New York 1936, 51ff.; Kees (wie Anm. 6), 99; W. Helck, Materialien zur Wirtschafts-geschichte des Neuen Reiches, Wiesbaden 1961, 11/137/223f.; S.L.D. Katary, Land tenure in the Ramesside period, London 1989; P. Grandet, Papyrus Harris I (BM 9999). Traduction et commentaire, Le Caire 1994. 28 Vgl. LÄ, V, 1243 und LÄ, VI, 195ff. 29 Eventuell und dann erst- und einmalig ist unter König Haremhab ein Prozessionsfest ("Hervorkommen des Gottes") in Heliopolis beschrieben (Urk. IV, 2130, 11ff., speziell 2131, 12ff.). Dies kann aber auch im Kontext einer Tendenz zur "Öffnung" heliopolitanischer Kultbräuche im Trend einer nationalen Angleichung und Nivellierung der Kulte nach thebanischem Vorbild verstanden werden, wie auch die Einrichtung des Amtes der "Sängerin des Re" in der Ramessidenzeit. Jedenfalls fehlte Heliopolis ein "nationales" Fest, wie es in Memphis, Abydos und Theben gefeiert wurde.

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Es ist eindeutig die Attraktivität der drei Reichsgötter Amun, Re und Ptah (in dieser Reihenfolge!), die das Dreieck der Macht und der Städte Theben, Heliopolis und Memphis evoziert, zwischen dem die Könige scheinbar rastlos hin- und herreisen. Anders ist dies mit Theben. In der 18. Dynastie promoviert, um Königs- und Gottesstadt in einem zu sein, hat Theben seine Bedeutung als Gottesstadt und Ort großer nationaler Feste auch behalten, als es längst politisch nicht mehr im Zentrum stand. Memphis jedoch hat nicht nur altersmäßige Priorität gehabt. Die Faktoren "günstige geographische Lage" vor allem im internationalen Handelsnetz, "Alter und Tradition" sowie "religiöses Prestige" als Ort eines wichtigen Tempels, wichtiger Königsfeste und einer wichtigen, traditionsreichen Nekropole machen Memphis zur einzig beständigen Residenz und realiter eigentlichen Metropole Ägyptens, zur "Mutter der Städte" wie das heutige Cairo, Zentrum und Ausgangspunkt ägyptischer Kultur: "Stützpfeiler ägyptischer Kultur", wie es noch bei Tacitus (Hist. IV, 84: "columen veteris aegypti") heißt. Trotz der Gründung von Alexandria konnte die Stadt sich noch lange behaupten,30 während z.B. in der römischen Kaiserzeit von Heliopolis und sogar Theben die Obelisken systematisch abtransportiert wurden. Historische Faktoren, Familien- und Machtpolitik sind dem Wandel unterworfen und führten im Verlauf der Geschichte zu einem Oszillieren der Bedeutung und räumlicher Verlagerung der Hauptstadt/-städte. "Die Geographie muß manches enträtseln, was ohne sie in der Geschichte unerklärlich wäre" hat Gogol einmal gesagt. Geographisch günstige Bedingungen im Rahmen des internationalen Handels- und Kommunikationsnetzes ermöglichten es Memphis, seine Position gegenüber anderen Rivalen langfristig zu behaupten. Sie scheinen letztlich ausschlaggebend für Memphis' fast durchgehende Vor-rangstellung gewesen zu sein. Politische Schachzüge und ideologisches "Ins-Zentrum-Rücken" allein können auf lange Sicht keine Metropole aus dem Boden stampfen - zumindest nicht in Zeiten, wo als schnellste Kommunikationsmittel nur Mensch, Pferd und Schiff zur Verfügung standen. Politisches Zentrum Ägyptens war und ist die Nahtstelle zwischen Deltaspitze und Nordende von Oberägypten. Memphis und Theben gelang es im Verlauf der Zeit, zentripetale Kraft zu entwickeln: als Königssitz saß in diesen Städten der König wie im Zentrum eines Spinnennetzes, das Umland, Ägypten - ja "die Welt" - beherrschend. An ihn, seinen Schöpfer/Vatergott und seine Stadt bindet sich im Verlauf altägyptischer Geschichte ein spezifisches Assoziations-spektrum, das zum großen Teil aus Heliopolis stammt. Dieses breite und in mehrere Richtungen weisende Assoziationsspektrum ist vielleicht gerade ein Kriterium für "Metro-pole". Darüber verfügte nicht jeder Ort, der aber ja im Prinzip einfach Residenz werden konnte - wenn der König sich in ihm aufhielt, war er Zentrum der Welt. Reale und imaginäre Bedeutung einer Stadt müssen dabei nicht unbedingt deckungsgleich sein. Heliopolis ist Beispiel dafür, daß religiös-mythische Assoziationen, die sich um die Stadt ranken, politische Assoziationen (Gottesresidenz > Gerichtsort der Götter) und schließlich Investitionen und ökonomische Macht nach sich ziehen können. Theben andererseits verdankt seine religiös-mythische Aufwertung und ökonomische Macht allein seiner politischen Bedeutung.

30 Vgl. J. Quaegebeur, JNES 30, 1971, 244f.; D.J. Thompson, Memphis under the Ptolemies. Princeton 1988.

"Theben und Memphis" 17

Alle diese Faktoren hatten Auswirkungen auf ein spezifisches "städtisches" Ensemble baulicher (und imaginärer: Urhügel-Topos) Installationen, die den Regierungssitz zum Display der Macht machten und deshalb - zumindest in der Ramessidenzeit - die Haupstädte Memphis, Theben, Ramsesstadt, dann auch Heliopolis und Tanis ähnlich aussehen ließen: die Konstellation "Tempel des Stadtgottes mit angeschlossener Kapelle für den Königskult ("Millionenjahrhaus")", Prozessionsstraßen und (oft mehrere) Paläste, dann Verwaltungsgebäude, "industrielle" Produktionsstätten, Militärinstallationen ("Kaser-nen", Arsenal; in Amarna, Memphis und Ramsesstadt östlich des Zentrums), Hafen, Kommunikationswege und -mittel, Elite-Wohnhäuser, Ausländerviertel, Grabanlagen aus Stein in Friedhöfen und Totenkapellen, dazu ein großes und reiches Umland. Bezeichnenderweise sind Texte des Genres "Sehnsucht nach der Stadt" bisher nur von Memphis und Theben überliefert. In ihnen herrschte Überfluß und eine Gleichheit, die sonst nicht zu spüren war: Königs- und Gottesnähe schienen die Städte - so die Texte! - zum Paradies auf Erden zu machen. Nur in den Hauptstädten Theben und Memphis gab es echte Wohn- und Lebensqualität, so daß man z.B. von der thebanischen Küche schwärmen konnte: "Süßer ist das Brot dessen, der da ist, als ein Kuchen aus Gänsefett, süßer ist sein [Wasser?] als Honig, man könnte davon trinken bis zur Trunkenheit. So ist der Zustand dessen, der in Theben wohnt: der Himmel verdoppelt ihm den Lufthauch!"31 Erst mit Alexander dem Großen verlagerte sich der Fokus der Weltpolitik auch für Ägypten, und der Hellenismus ermöglichte die Entwicklung einer Metropole, die gleichzeitig Zug um Zug Memphis den Rang ablief: Alexandria "ad Aegyptum".

31 Ostrakon Gardiner 25 = ÄHG, Nr. 183 = M. Lichtheim, The Praise of Cities in the Literature of the Egyptian New Kingdom, in: S.M. Burstein/L.A. Okin (Hg.), Panhellenica. Essays in Ancient History and Historiography in honor of Truesdell S. Brown, Lawrence 1980, 21. Weitere Texte zusammengestellt ebd. sowie bei J. Assmann, Ägypten, 1984, 28ff.; D. Franke, VIAS 1, 1994.

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"Theben und Memphis" 19

"Städteprofile" Memphis - Heliopolis - Theben (Neues Reich 1550 - ca. 1000 v. Chr.)

Aspekte Memphis Heliopolis Theben Götter, Religion u. Theologie

Ptah - Schöpfer: Vollstrecker Sokar - Totengott Patrone der Handwerker Triade (Sachmet, Nefertem) Apisstier

AtumRe - Schöpfer/Sonnengott: Initiator (keine echte Triade) Kosmogonie + Kratogonie: Urhügel, Götter-Neunheit > irdische Replik der himmlischen Residenz des Schöpfergottes: Sitz der "Weltregierung" > Gerichtsort/Göttergericht > Versorgungszentrum Mnevisstier

Amun < Re - Urgott/Schöpfer Göttin "Siegreiches Theben" Triade (Mut, Chons) > "Replik" von Heliopolis

Feste Sokar-Fest Königskrönungsfeste Apisstier-Lauf

Opfer-Fest(e) ("Nilopfer-Fest") Wüstental-Fest (Westseite) Opet-Fest (Karnak-Luxor)

Jenseitsvor- stellungen, -wünsche

Opferempfang in Nekropolen Opferempfang im Ptahtempel Festteilnahme

Versorgung beim Hofstaat des Sonnengottes

Opferempfang im Karnaktempel (u.a.) Westgöttin (Hathor) Festteilnahme

Königswelt Sitz des aktuellen Königtums: Königsstadt Königskrönung Regierungsjubiläumsfest Begräbnisort (AR)

Tempel des Vatergottes Sitz des mythischen Königtums: Gottesstadt (Namensverkündung)

"Heimat" Offenbarung (Legitimierung): Königs- und Gottesstadt Begräbnisort (11. Dyn., NR)

realweltliche Bedeutung

Königspalast = Residenz Prinzensitz Verwaltungszentrale, Garnison ökonomische Zentrale Hafen nationale Beamtennekropole

Vorbildfunktion Palast > Regierungssitz z.T. Prinzen als Hohepriester Wissenstresor: "Staatsarchiv" ? ökonomische Zentrale Hafen Lokalbeamtennekropole

(sekundäre Vorbildfunktion) Königspalast = Residenz > Regierungssitz Wesirbüro ? ökonomische Zentrale Hafen nationale Beamtennekropole

Geschichte

Tempel des Ptah mit Königspalast (ab 1. Dyn.) Königsfriedhof (2.-10. Dyn.: Pyramiden) Elitefriedhof (AR-NR-SpZt)

Tempel des AtumRe mit Königspalast (? ab 3/4. Dyn.?)

Tempel des Amun mit Königspalast (ab 11. Dyn.) Königsfriedhof (11. Dyn./17.-21. Dyn.: Felsgräber + Totentempel) Elitefriedhof (MR/NR)

AR = Altes Reich (ca. 3000-2200 v. Chr.); MR = Mittleres Reich (ca. 2000-1640); NR = Neues Reich (ca. 1550-1075); SpZt = Spätzeit (1. Jt. v. Chr.); Dyn. = Dynastie © D. Franke 6/1996

Detlef Franke 20

Abkürzungsverzeichnis: ÄHG = J. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete, Zürich 1975. BACE = Bulletin of the Australian Centre for Egyptology, Sydney. BSFE = Bulletin de la Société francaise d'égyptologie, Paris. JEA = Journal of Egyptian Archaeology, London. JNES = Journal of Near Eastern Studies, Chicago. KRI = K.A. Kitchen, Ramesside Inscriptions, Oxford 1968ff. LÄ = W. Helck/E. Otto/W. Westendorf (Hg.), Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden. MDAIK = Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abt. Kairo, Berlin/Wiesbaden/Mainz. Urk. = Urkunden des ägyptischen Altertums, Leipzig/Berlin. VIAS = Veröffentlichungen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Stadtkulturforschung, Aachen. ZÄS = Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde, Leipzig/Berlin.

"Metropolen im alten Mesopotamien" 21

HANS J. NISSEN, BERLIN

METROPOLEN IM ALTEN MESOPOTAMIEN Eigentlich sollte ich mit der Aussage beginnen, daß es in der strengen Bedeutung, die als "Mutterstadt" diejenigen griechischen Städte meinte, von denen aus die Bildung von Koloniestädten betrieben wurde, im alten Orient keine Metropolen gab. Aber hier ist wohl der lose Sprachgebrauch des Wortes "Metropole" gemeint als Begriff für eine Organi-sationsform auf einer Ebene über der normalen Stadt und gleichzeitig für eine Stadt, deren Bedeutung und geistig-wirtschaftlich-politische Ausstrahlung über das jeder Stadt zu-geordnete Einzugsgebiet hinausreichte. Wie sich "Stadt" und "Einzugsgebiet" je nach kultureller Ausprägung anders definieren, ist auch Metropole ein relativer Begriff, der sich an der Art und Ausdehnung des jeweiligen Kultur- oder Lebensraumes festmacht. In diesem Sinne könnte man versucht sein, jede Hauptstadt eines überregionalen politischen Gebildes in Mesopotamien1 als Metropole zu bezeichnen, zumindest von der Mitte des 3. Jts. an, als Herrscher babylonischer Stadtstaaten versuchen, durch Eroberung anderer Stadtstaaten einen Zentralstaat zu schaffen, wobei der eigenen Stadt automatisch eine übergeordnete Bedeutung zufällt. Doch abgesehen davon, daß schon allein die schlechte Informationslage uns nicht erkennen läßt, inwieweit der politische Bedeutungs-zuwachs durch die Anwesenheit einer Zentralregierung auch wirklich die Bedeutung der Stadt erhöht hat, verbietet eine andere Beobachtung die Annahme, daß eine Stadt als solche in Größe und Bedeutung die Führung unter den Städten übernommen hätte. Nicht nur haben die frühen Versuche der Schaffung umfassenderer Einheiten um die Mitte des 3. Jts. in keinem Fall den Initiator überlebt, wobei die Macht wieder auf die früheren Zentren zurückfiel, sondern sogar nachdem die sogenannte Dynastie von Akkad es schaffte, das von ihrem Gründer Sargon vereinte Gebiet ganz Babyloniens über vier Generationen von 2350 an als Zentralstaat zusammenzuhalten, sehen wir, daß sich das Gebiet schließlich wieder in die alten Stadtstaaten auflöst, daß danach eine erneute Einigung von der Stadt Ur und, nachdem sich der Zerfallsprozeß wiederholt hatte, von der Stadt Babylon ausging. Dies zeigt nicht nur, daß die Städte offenbar auch während der zentralstaatlichen Phasen eine starke Position behielten, die sie in die Lage versetzte, bei entsprechender Kon-stellation sofort wieder die Macht zu übernehmen, sondern es zeigt auch, daß trotz gelegentlicher politischer Vorherrschaft keine Stadt in der Lage war, eine Position aufzubauen, die sie dazu prädestiniert hätte, sowohl bei den Einigungen als auch bei den Auflösungen die leitende Rolle zu spielen. Dies gilt wohl auch für Babylon, an das man am ehesten denken würde, wenn von großen Städten des alten Orients die Rede ist. Über die Anfänge von Babylon sind wir schlecht unterrichtet, insbesondere weil der dortige hohe Grundwasserspiegel ein Vordringen in ältere Schichten als die des 12. Jhs. v. Chr. verhindert. In schriftlichen Quellen sind für die Zeit der Dynastie von Akkad um 2200 für Babylon zumindest zwei Tempel (als Anzeichen für eine gewisse Zentralität) genannt, und wir erfahren, daß unter den Herrschern der III. Dynastie von Ur, um 2000, 1 Mesopotamien ist hier als gleichbedeutend mit dem heutigen Irak gemeint.

22 Hans J. Nissen

Babylon eine Provinzhauptstadt war. Ein sehr viel höheres Alter der Siedlung wird durch den Namen der Stadt suggeriert, denn der Name "Babil", der volksetymologisch zum babylonischen Bab-Ilim ("Gottestor") und gräzisiert zu Babylon wurde, gehört wahr-scheinlich zur großen Zahl sehr alter Ortsnamen wie Ur, Uruk, Eridu, Lagasch Nippur etc., für die wir keine Etymologien aus uns bekannten Sprachen angeben können und die wahrscheinlich auf eine Sprachschicht des 4. Jts. zurückgehen. Dies sagt jedoch nichts über Größe und Bedeutung aus. Am ehesten könnte man an das Babylon des Herrschers Hammurapi (1792-1750) denken, der in strategisch kluger Weise seine Position stromaufwärts am Euphrat ausnutzt, um die politische Konkurrenz der südlicher am Fluß gelegenen Städte auszuschalten. Das ge-schieht nicht nur kurzfristig durch Absperrung bzw. Ableitung des Euphrat, sondern langfristigere Auswirkungen haben Maßnahmen der inneren Kolonisierung, bei der im eigenen Hinterland neue Kanäle gegraben und daran neue Siedlungen gegründet werden. Dies führt zu einer völligen Veränderung der Gesamtsituation, da sich nachhaltig die Wassermenge verringert, die noch nach Süden gelangt. Obwohl die südlichen Städte wie Ur, Uruk oder Nippur wegen ihres kulturellen, aber auch wirtschaftlichen Gewichts auch später noch eine gewisse Rolle spielen, bleibt Babylon für die folgenden Jahrhunderte unangefochten das politische Zentrum des südlichen Mesopotamien. Kurz nach Hammurapi begann sich jedoch die politische Landschaft des gesamten Vorderen Orients so zu verändern, daß Babylonien keine größere Bedeutung mehr zukam als den neu entstehenden Reichen der Hethiter, Hurri-Mittani oder später der Assyrer, so daß bei aller kulturellen Ausstrahlung Babylon sicher nicht der Rang eines den neuen Dimensionen entsprechenden Zentrums zukam; der Ausdruck "Metropole" scheint hier nicht angebracht. Der Aufstieg Babylons zur Weltstadt, zur Metropole, beginnt erst mit Nabupolassar, dem ersten Herrscher der chaldäischen Dynastie (625-605), von dem wahrscheinlich die Planungen zum großartigen Ausbau der Stadt stammen. In die Realität umgesetzt wurden sie allerdings erst von seinem Sohn Nebukadnezzar (604-562), der vor allem über die dazu erforderlichen ungeheuren Mittel verfügte. Aus der Konkursmasse des von den Baby-loniern und Medern ausgelöschten assyrischen Reiches war Babylon der ganze südliche Bereich mit Syrien und Palästina zugeschlagen worden, was nicht nur automatisch einen großen Zuwachs an Reichtum nach sich zog, sondern wiederholte Aufstände in den neuen Gebieten und die folgenden Niederwerfungen durch Babylon erbrachten zusätzlich ungeheure Mengen an Beute und auferlegten Tributen. Die Stadt wurde mit gewaltigen öffentlichen Bauten ausgestattet, riesigen Palast-, Tempel- und Befestigungsanlagen, die das ungläubige Staunen des Herodot in seinem "baby-lonischen Logos" herausforderten und von denen zwei Komplexe, die Ziqqurrat des Stadt-gottes Marduk unter dem Namen "Turm von Babel" und der als die "Gärten der Semi-ramis" bezeichnete Teil des Palastes bis in unsere Tage bekannt sind. Die Erwähnungen von Babylon im Alten Testament und in griechischen Quellen zeigen am deutlichsten die weite Ausstrahlung und die Bedeutung, die der Stadt zugemessen wurde. Zwar findet die chaldäische Dynastie durch die Einnahme Babylons durch den Perser Kyros im Jahre 539 v. Chr. ein Ende, doch bleibt Babylon eine der großen Städte des Reiches, wird neben Susa, Ekbatana und Persepolis Teilhauptstadt und dementsprechend mit einer großen Palastanlage ausgestattet. Diese Zeit brachte offenbar zunächst keine Ein-

"Metropolen im alten Mesopotamien" 23

schränkung der Bedeutung für Babylon, wie wir an der nahtlosen Fortführung des wirtschaftlichen Lebens sehen, vor allem der Geldgeschäfte der großen Bankhäuser Egibi und Muraschu. Alexander der Große hatte Babylon zur Hauptstadt seines Reiches ausersehen, doch starb er am 10. Juni 323 im Achämenidenpalast in Babylon, bevor irgendwelche Pläne um-gesetzt werden konnten. Das offenbar recht schnelle Ende für Babylon kam mit der Gründung von Seleukia am Tigris durch Seleukos I. Nikator um 300 v. Chr. Im Bereich des alten Orients läßt sich nur ein weiterer Ort Babylon an die Seite stellen: Ninive am oberen Tigris, gegenüber der heutigen Stadt Mosul. Wie bei Babylon trifft die Bezeichnung als Metropole nur für eine kurze Zeit zu, für die allerletzte Phase der Existenz dieser Stadt. Die ältere Geschichte Ninives zu verfolgen, ist nicht leicht, sowohl von der archäo-logischen wie von der textlichen Seite her. Die Bautätigkeit der letzten Hochphase hat alle älteren Reste so umfassend zugedeckt, daß nur an wenigen Stellen diese Schale im Rahmen von Tiefgrabungen durchbrochen werden konnte. Dadurch wissen wir zwar, daß die Besiedlung des Ortes bis in das 6. Jt. zurückgeht, doch läßt sich nichts über die Aus-dehnung während dieser älteren Perioden sagen. Immerhin läßt der Fund eines der bedeutendsten Bildwerke der Zeit der Dynastie von Akkad, also aus dem 22. Jh. v. Chr., des sogenannten Bronzekopfes aus Ninive, auf eine gewisse Bedeutung zu dieser Zeit schließen. Das gleiche gilt, wenn wir hören, daß der Mittani-Herrscher Schuttarna um 1400 die heilkräftige Statue der Göttin Ischtar von Ninive dem erkrankten Pharao Amenophis III. nach Ägypten schickt. Ninive hatte also bereits eine größere Bedeutung, wird aber erst durch den Ausbau durch König Sanherib (704-681) zu der Riesenstadt als die sie in der Tradition lebt. Für Sanherib war Ninive einer der Orte seines assyrischen Kerngebietes, der bis dahin noch nie ausersehen war, Residenzstadt zu sein. Dies ändert sich erst, nachdem im 14. Jh. der ägyptische Pharao Echnaton (1362-1347) mit der Gründung einer neuen Residenzstadt beim heutigen Tell el-Amarna eine Welle von Nachahmungen in Gang gesetzt hatte - der kassitische Herrscher Kurigalzu II. baut sich um 1340 seine Residenzstadt Dur-Kurigalzu, das heutige Aqar Quf; der elamische Herrscher Untasch-Napirischa folgt um 1260 mit der Gründung von Dur-Untasch, dem heutigen Chogha Zanbil, und kurz darauf wird um 1230/1220 die Residenzstadt Kar-Tukulti-Ninurta von Tukulti-Ninurta I. (1244-1208) errichtet. Seit dieser Zeit wird es Tradition assyrischer Herrscher, sich neue Palastanlagen an Orten zu errichten, die entweder vorher klein und unbedeutend waren, oder die zumindest vorher dieser Ehre noch nicht teilhaftig geworden waren. Die Ausnahme ist Ninive, das nach der Erhebung zur Königsstadt durch Sanherib (704-681) und dem Ver-such seines Sohnes und Nachfolgers Asarhaddon, sich einen neuen Palast in der älteren Residenz Kalach (heute Nimrud) zu bauen, gleich darauf durch den letzten großen assyrischen Herrscher Assurbanipal (668-631) wieder zur Hauptstadt erwählt wird. Der Ort wurde also erst zur Metropole, als die Funktion der Hauptstadt eines Weltreiches dazukam, behielt diese Funktion aber nicht lange, da er bereits 612 v. Chr. durch die vereinigten Heere von Medern und Babyloniern so nachhaltig zerstört wurde, daß danach von überörtlicher Bedeutung keine Rede mehr sein kann.

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In beiden genannten Fällen liegt also der Fall vor, daß in einem Ort, der bereits erhebliche wirtschaftliche und politische Bedeutung hatte, sich eine politische Kraft ansiedelt, die eine überregionale Macht besitzt oder ausbildet, die sich dann auf die Bedeutung der Stadt auswirkt. Allerdings läßt sich dieser Zusammenhang nicht umkehren: Nicht jeder Residenzort wird zur Metropole, auch wenn die dortige politische Kraft Gewicht besitzt. So wird man wegen seiner geringen Ausdehnung Susa (Hauptstadt des südwest-iranischen Staates von Elam) kaum als Metropole bezeichnen, ebensowenig Halab (das heutige Aleppo) oder die Hethiterhauptstadt Hattuscha (das heutige Boghazköy). Voraussetzung ist wohl, daß eine gewisse überregionale Bedeutung bereits vorhanden ist. Ein weiterer Aspekt, der für die Beschreibung von Metropolen häufig herangezogen wird - nämlich das Zusammenleben von sprachlich, kulturell oder religiös unterschiedlichen Gruppen -, läßt sich für den Bereich des alten Orients nicht als Kriterium verwenden, denn dieses Zusammenleben ist wohl von Anfang an für alle Städte des Vorderen Orients charakteristisch, nicht nur für Großstädte. Durch die gezielte Ansiedlung deportierter Gruppen in den großen Zentren (Beispiel: die Juden in der babylonischen Gefangenschaft) mag diese Vielfalt in den beiden genannten Metropolen größer gewesen sein als anderswo (die "babylonische Sprachverwirrung" ist ein deutlicher Hinweis), doch ist das Phänomen der multikulturellen Gesellschaft im alten Orient zu dieser Zeit nichts Neues, sondern seit mehreren Jahrtausenden gelebte Realität. Literaturhinweise:

Robert Koldewey, Das wieder erstehende Babylon, 5. erweiterte und neu bearbeitete Auf-lage, München 1990.

Joan Oates, Babylon, Bergisch-Gladbach 1983.

John M. Russell, Ninive, capitale de l'Assyrie, in: J.G. Westenholz (Hg.), Les cités royales des pays de la Bible reconstituées, Dijon 1995, 58-65.

Henry W.F. Saggs, The Might that was Assyria, London 1984.

Zu Lage und Plänen:

Tübinger Atlas des Vorderen Orients, Karten B IV 13/B IV 19/20.

"Metropolen des archaischen Griechenland" 25

REINHARD SENFF, BOCHUM

METROPOLEN DES ARCHAISCHEN GRIECHENLAND Geht man vom heutigen Sprachgebrauch und den Vorstellungen aus, die sich im allgemeinen mit dem Begriff der Metropole verbinden, dann erheben sich Bedenken, ob wir in der griechischen Antike diese Bezeichnung überhaupt verwenden sollten, werden damit doch unwillkürlich bestimmte qualitative und quantitative Merkmale von Städten assoziiert, für die in der Regel Beispiele des 19. und 20. Jhs. typisch sind. Hier nimmt die Metropole in Siedlungszentren mit großer Wohnungs- und Verkehrsdichte bis zu ausufernder Besiedlung in den Randbereichen, in den Knotenpunkten und weitflächigen Anlagen von Handel und Industrie Gestalt an. Nach diesen Kriterien dürften erst Städte der hellenistischen Zeit wie Alexandria oder Antiochia ansatzweise unserem Bild von Metro-polen entsprechen.1 Die eindrucksvollen Schilderungen antiker Schriftsteller zeigen, wie außergewöhnlich Bevölkerungszusammenballung und großzügige urbanistische Anlage an diesen Orten für die Zeitgenossen waren. In den Hauptstädten der nach Alexanders Tod entstandenen Diadochenreiche konzentrierte sich die politische und wirtschaftliche Macht, hier manifestierte sich der königliche Hegemonieanspruch, durch die jeweiligen Herrscher bewußt gefördert, in der Architektur und in anderen Bereichen der materiellen Kultur.2 Da diese Orte allerdings meist kontinuierlich bis heute besiedelt blieben, das Baumaterial stets wiederverwendet wurde und die über den antiken Resten stehenden modernen Gebäude topographische Untersuchungen fast unmöglich machen, liefern uns archäologische Ausgrabungen und Einzelfunde bisher nur wenige Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Stadtanlagen und einzelner Bauten. Mit anderen Städten dieser Epoche steht es nicht besser. Zwar geben verstreute Baureste gelegentlich Hinweise auf die einstige glanzvolle Erscheinung, aber die meisten Details, aus denen sich ein lebendiges Gesamtbild zu-sammensetzen könnte, sind uns heute unbekannt.3 Geht man in die älteren Epochen der griechischen Geschichte zurück, so bieten zwar eine Reihe von Städten bessere Voraussetzungen für die archäologische Erforschung, doch zeigen die Ausgrabungsergebnisse auch, daß wir uns immer mehr vom heute geläufigen Bild einer Metropole entfernen. Vollends in der archaischen Epoche erwecken die meisten Städte hinsichtlich ihrer Bewohnerzahl und Siedlungsfläche höchstens den Eindruck klein-städtischer Gebilde, wenn nicht gar den mehrerer verstreuter Dörfer ohne ein urbanistisch gestaltetes Zentrum. In jedem Fall dürfen die Erwartungen an die bauliche Erscheinung

1 Eine Übersicht der bisherigen topographischen Forschungsergebnisse zu Alexandria findet sich bei Wolf-ram Hoepfner/Ernst Ludwig Schwandner, Haus und Stadt im klassischen Griechenland. Neubearbeitung, Wohnen in der klassischen Polis 1, München 1994, 24ff. Zu Antiochia vgl. Glanville Downey, Ancient Antioch, Princeton 1968. 2 Eines der für diesen Zeitraum am besten erforschten Beispiele ist die attalidische Residenzstadt Pergamon, vgl. Wolfgang Radt, Pergamon. Geschichte und Bauten. Funde und Erforschung einer antiken Metropole, Köln 1988, bes. 24ff. 3 Einen Überblick der Architektur in dieser Epoche gibt Hans Lauter, Die Architektur des Hellenismus, Darmstadt 1986.

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von Athen, Korinth, Milet und anderen Poleis, die uns in mehrfacher Hinsicht als heraus-ragende kulturelle Zentren bekannt sind, nicht zu hoch angesetzt werden.4 Mit einer nur von der heutigen Bedeutung ausgehenden Betrachtung und einem Verzicht der Anwendung auf die vorhellenistischen Perioden wird man dem Begriff der Metropole aber nicht gerecht. Immerhin stammt das Wort ja aus der griechischen Sprache und spielt eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Ausbreitung der griechischen Stadtkultur im Mittelmeerraum und im Schwarzmeergebiet gerade in der archaischen Zeit. In der literarischen und epigraphischen Überlieferung bezeichnet "Metropolis" die Mutterstadt im Verhältnis zu ihren Gründungen, den Apoikien.5 Athen wird in dieser Hinsicht mehrmals als Mutterstadt der Ionier bezeichnet, weil der Überlieferung nach in der ersten, sog. ägäischen Kolonisation der späten Bronzezeit von Athen aus Städte wie Milet (neu) gegründet worden sind. Später hebt der Begriff losgelöst davon das besonders wichtige städtische Zentrum einer größeren Region hervor. So nennt sich um 480 v. Chr. Milet die Metropole Ioniens.6 Diese Verwendung hält sich noch bis in die römische Kaiserzeit, in einem stärker eingeengten Gebrauch ist die Metropole dann Bezeichnung für den Ver-waltungssitz einer römischen Provinz, wie etwa im Falle von Ephesos als der Metropole Asiens oder bei den Hauptorten der ägyptischen Gaue.7 Mit der Einrichtung kirchlicher Verwaltungsdistrikte nach dem Vorbild der römischen Provinzeinteilung entsteht schließ-lich unter Konstantin das Amt des Metropoliten als Oberhaupt des Sprengels. Da die Metropole in ihrer ursprünglichen Wortbedeutung gerade mit der griechischen Kolonisation in der archaischen Zeit verbunden ist, lassen sich vielleicht auch Städte des archaischen Griechenland auf Merkmale hin untersuchen, die uns heute als Charakteristika von städtischen Metropolen gelten und die vielleicht bereits hier, wenn auch in be-scheidenerem Umfang, festzustellen sind. Sieht man einmal von den rein quantitativen Unterschieden zwischen antiken und modernen Siedlungszentren ab, so bleiben eine Reihe von strukturellen Gemeinsamkeiten. Grundsätzlich verstehen wir ja unter der Metropole ein Siedlungszentrum mit einer für die jeweilige Zeit und den Siedlungsraum außer-gewöhnlichen Größe, das auf verschiedene Weise einerseits auf seine Umgebung als eine Art Magnet oder Focus wirkt und andererseits auf die - möglichst weite - Umgebung aus-strahlt. Das gilt für die antike Stadt der archaischen Epoche genauso wie für die moderne

4 Eine Zusammenstellung der griechischen Städte dieser Zeit mit Ausnahme der Gebiete der archaischen Kolonisation findet sich bei Franziska Lang, Archaische Siedlungen in Griechenland. Struktur und Ent-wicklung, Berlin 1996. 5 Vgl. Jakob Seibert, Metropolis und Apoikie, Würzburg 1963; Alexander John Graham, Colony and mother city in ancient Greece, Manchester 1964; Norbert Ehrhardt, Milet und seine Kolonien, Frankfurt am Main 1983. 6 IG 3, 485; in der Inschrift CIG 2878 rühmt sich Milet, Mutterstadt vieler großer Städte im Pontosgebiet, in Ägypten und anderen Teilen der Oikumene zu sein. Vgl. Glen W. Bowersock, Hadrian and Metropolis, Bonner Historia-Augusta-Kolloquium 1982/1983 (1985), 81 Anm. 19. 7 Zur Verwendung der Bezeichnung Metropolis in der Verwaltungssprache der römischen Kaiserzeit vgl. die Bemerkungen von Bowersock (wie Anm. 6), 75ff., bes. 78ff. Den Hinweis verdanke ich R. Ziegler. Die Vorstellung, daß es in jeder Provinz nur eine Metropolis gegeben hat, berichtigen die Ausführungen Zieglers in einem Beitrag in den Akten des Kolloquiums der Asia Minor Forschungsstelle, Münster, zu Kilikien und Pamphylien 1997.

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Weltstadt. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, einen Blick von den wichtigsten Standpunkten der Altertumswissenschaft auf die archaische Stadt als Metro-pole zu werfen und einige Ergebnisse der Untersuchungen von Siedlungsarchäologie, Kunstkritik sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu diesem Thema zusammen-zufassen.8 Eines der wichtigsten Kriterien für die Benennung einer Stadt als Metropole ist sicher die Größe gemessen an der flächenmäßigen Ausdehnung und der Einwohnerzahl. Um hier sichere Aussagen hinsichtlich der griechischen Städte in archaischer Zeit machen zu können, fehlen uns heute jedoch noch vielfach die wichtigsten Voraussetzungen. Für die Bestimmung äußerer Merkmale wie der Siedlungsfläche, Einwohnerzahl, Ausstattung mit öffentlichen Gebäuden oder anderen Kennzeichen ist der Forschungsstand sehr lückenhaft. Während die moderne Stadt mit dem Flugzeug überflogen oder weiträumig durchfahren werden kann, liefern archäologische Grabungen räumlich nur sehr beschränkte Ergebnisse, und es ist meistens sehr ungewiß, inwieweit sie sich auf das ganze Stadtgebiet übertragen lassen. Versucht man etwa, die Größe einer Stadt an ihrem Mauerring als dem nächst-liegenden Anhaltspunkt abzulesen, so bleibt selbst dort, wo wir den Mauerverlauf einiger-maßen sicher rekonstruieren können, ohne großflächige Ausgrabungen ungewiß, wie dicht das Innere besiedelt war.9 Man kann aber vielleicht andere Anhaltspunkte für die Einschätzung der Größe einer Stadt hinzu nehmen, etwa wenn man ihre Rolle in der griechischen Kolonisation untersucht.10

Eine nachhaltige Form der Fernwirkung ist zweifellos das Aussenden von Kolonisten, die fremdes Land in Besitz nehmen und ihre heimatliche Kultur weiterverbreiten. Um in der Lage zu sein, auf Teile der Bevölkerung verzichten zu können, muß die Mutterstadt erst einmal eine gewisse Größe erreicht haben, und so ist die Kolonisationstätigkeit schon ein Indiz dafür, daß die Gründerstadt zu den größeren Siedlungen zu zählen ist. In manchen Fällen scheinen Mißernten oder sogar eine Überbevölkerung der heimatlichen Polis die Auswanderung eines Teils der Bevölkerung erzwungen zu haben, doch ist das sicher nur

8 Die folgenden Bemerkungen können keinen Anspruch auf Vollständigkeit beanspruchen und wollen dem Anliegen der IAS gemäß hauptsächlich auf die Quellen, die Vorgehensweise und die wichtigsten Ergebnisse archäologischer Untersuchungen zu diesem Thema hinweisen. Umfassendere Darstellungen sind die Ar-beiten von Frank Kolb, Die Stadt im Altertum, München 1984 und Lang (wie Anm. 4). 9 Vgl. hier z.B. die Diskussion um die Ummauerung von Milet in archaischer Zeit, Lang (wie Anm. 4), 214ff. und Justus Cobet, Die Mauern sind die Stadt. Zur Stadtbefestigung des antiken Milet, AA 1997, 249ff. Datierung und Umfang der Mauern anderer Städte wie Athen oder Korinth sind kontrovers und archäologisch noch nicht gesichert, vgl. Carl Roebuck, Some Aspects of Urbanisation in Corinth, Hesperia 41, 1972, 96ff.; J.B. Salmon, Wealthy Corinth, Oxford 1984, 30ff.; Heide Lauter-Bufé/Hans Lauter, Die vor-themistokleische Stadtmauer Athens nach philologischen und archäologischen Quellen, AA 1975, 1ff. 10 Eine Zusammenfassung der mit der griechischen Kolonisation verbundenen Fragen mit weiterführender Literatur geben Jean Bérard, Expansion et la colonisation grecque jusqu’aux guerres médiques, Paris 1960 und Alexander John Graham, The colonial expansion of Greece, The Cambridge Ancient History 3,3, 1982, 83ff. Eine umfassende Darstellung aus archäologischer Sicht ist John Boardman, Kolonien und Handel der Griechen, München 1981.

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bei einem Teil Anlaß der Koloniegründung gewesen.11 In diesem Zusammenhang sind weitere Einschränkungen nötig. Die antike Polis, meist als "Stadtstaat" übersetzt, besteht im wesentlichen aus dem städtischen Siedlungszentrum, des Asty, und dem landwirt-schaftlich genutzten Territorium, ihrer Chora. Ohne weitere Anhaltspunkte darf man nicht automatisch aus der Überbevölkerung des Polisgebietes insgesamt auch auf eine große Besiedlungsdichte des städtischen Zentrums schließen. Da die wichtigste wirtschaftliche Grundlage jeder antiken Polis die Landwirtschaft war, von der sich auch große Teile der Stadtbewohner ernährten, ließ sich ein Bevölkerungsüberschuß bei der stets beschränkten Landwirtschaftsfläche nicht durch andere Erwerbszweige in der Stadt auffangen und mußte anderweitig ausgeglichen werden. In der Regel geschah dies durch Kriege, die sehr oft gerade aus Grenzstreitigkeiten entstanden, oder eben durch Auswanderung eines Teils der Bevölkerung. Meist wissen wir nicht, wer die Teilnehmer an einem solchen Koloni-sationszug waren, ob sie alle der griechischen Bewohnerschaft der Stadt und ihrer Chora entstammten oder ob noch Fremde, vielleicht aus den angrenzenden Gebieten, hinzu-kamen. In einigen Fällen, wie bei der schon erwähnten Gründung Kyrenes durch Siedler aus Thera, ist überliefert, daß nur Männer auszogen, die sich Frauen unter den Ein-heimischen suchen mußten. Auch bei großer Bevölkerungsdichte ist es aber fraglich, ob Milet die etwa 50 sicher von hier aus gegründeten Städte im Schwarzmeergebiet innerhalb von drei Generationen nur mit Angehörigen der eigenen Bürgerschaft hat besiedeln können. Selbst wenn Nichtgriechen aus dem Umland hinzugekommen sein sollten, setzt das immerhin voraus, daß hier die Mutterstadt als eine Art Magnet wirkte und das Potential zusammenzufassen verstand. Aus diesen Überlegungen ergeben sich weitere Schlußfolgerungen. Das Aussenden von Siedlern geschieht nicht aufs Geratewohl. Die zentrale Rolle, die das Orakel des delphi-schen Apollon bei der Kolonisation spielte, zeigt, daß man sich vorher Informationen über die in Frage kommenden Regionen beschafft hat.12 In vielen Fällen scheinen über längere Zeit Handelskontakte vorangegangen zu sein, die wiederum erkennen lassen, daß die Heimatstadt schon ein gewisses Wirtschaftsvolumen entfaltet hatte.13 Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wenn man überhaupt von Metropolen in der archaischen Zeit sprechen will, am ehesten die Mutterstädte der griechischen Kolonien so zu bezeichnen.

11 Bevor die Einwohner von Thera auszogen um Kyrene zu gründen, überliefert Herodot 4, 151 eine große Dürre. Vgl. John Boardman, Settlement for trade and land in North Africa, in: Gocha Tsetskhladze/Franco De Angelis (Hgg.), The Archaeology of Greek Colonisation. Essays dedicated to Sir John Boardman, Oxford 1994, 142ff. Auf das Bestreben der Oberschicht, ökonomisch zu expandieren, führt Chester G. Starr, The economic and social growth of early Greece. 800-500 B.C., New York 1977, 51ff. einen Teil der Kolonie-gründungen zurück. Zu den in der Forschung unterschiedlich bewerteten Gründen für die Koloniegründung vgl. Graham (wie Anm. 10), 157ff. 12 Graham (wie Anm. 10), 144ff.; Peter Londey, Greek colonists and Delphi, in: Jean-Paul Descoeudres (Hg.), Greek Colonists and Native Populations, Oxford 1990, 117ff.; I. Malkin, Religion and colonisation in ancient Greece, Leiden 1987. Ausführlich berichtet Herodot 4, 150; 156f. von der Konsultation des Orakels durch die Theräer, bevor sie Kyrene gründeten. 13 Alexander John Graham, Pre-Colonial Contacts. Questions and Problems, in: Descoeudres (wie Anm. 12), 45ff.; Mervyn Popham, Precolonization. Early Greek contact with the East, in: Tsetskhladze/De Angelis (wie Anm. 11), 11ff.

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In vielen Fällen decken sich in dieser Beziehung archäologische Beobachtungen und historische Nachrichten. Korinth, Megara, Chalkis, Eretria, Milet, die als die großen Kolo-nisatoren hervorgetreten sind, gehören zu den hinsichtlich Siedlungsfläche, Anzahl und Größe der städtischen Bauten, Handel und Handwerk herausragenden Städten ihrer Epoche. Chalkis und Eretria nehmen als erste Griechenstädte schon im frühen 8. Jh. v. Chr. Kontakte mit dem westlichen Mittelmeerraum auf, die in erster Linie dem Zugang zu Rohstoffen und neuen Handelsräumen dienen.14 Auf die bescheidenen Ansiedlungen von Pithekoussai und Kyme ohne ein eigenes Agrarterritorium folgen im Laufe des 7. Jhs. v. Chr. Kolonien anderer griechischer Städte, die neue Siedlungsräume erschließen. Unter ihnen tut sich besonders Korinth hervor, das schon früh die Adria, Unteritalien und Sizilien zu seinem Einflußgebiet macht.15 Erst in der 2. Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. beginnt Milet mit der Aussendung von Kolonien, die dann aber an Zahl die Gründungen jeder griechischen Stadt weit übertreffen.16 Im Zentrum eines weitreichenden Handels- und Kolonisations-netzes gelegen, das von den Schwarzmeerstädten im Norden bis zum Emporion Naukratis im Süden reichte und intensive Kontakte mit den Städten des Mutterlandes, den Handels-zentren des westlichen Mittelmerraums und den orientalischen Nachbarkulturen besaß, war Milet wohl schon von seiner flächenmäßigen Ausdehnung die größte griechische Stadt im östlichen Mittelmeer. Wo immer im Bereich zwischen Kalabaktepe und Homeitepe in den letzten Jahrzehnten gegraben worden ist, sind archaische Häuser zum Vorschein ge-kommen.17 Schon im 7. Jh. v. Chr. scheint eine mächtige Steinmauer die Landseite der auf einer Halbinsel mit mehreren günstigen Häfen gelegenen Stadt geschützt zu haben. Im Hinblick auf das Thema unseres Symposiums soll noch einmal die zentrale Position unterstrichen werden, die das städtische Zentrum der Heimatpolis in der Kolonisation einnimmt. Im Rahmen politischer Gremien, die hier zusammenkommen und agieren, fällt die Entscheidung zur Aussendung von Bevölkerungsteilen; hier werden Schiffe, Geräte und Mannschaften gesammelt und bereitgestellt. Wir können zwar die verschiedenen Beweggründe, die zur Gründung von Kolonien führten, selten voneinander trennen, aber es ist klar, daß es neben der Erschließung neuer agrarischer Nutzflächen auch um die Vergrößerung des Handels ging. Für den Aufstieg einer Stadt zur Handelsmetropole war die Lage am Kreuzungspunkt wichtiger Verkehrs-wege entscheidend.18 In erster Linie diente das Mittelmeer den Griechen als Grundlage 14 Die im etruskischen Siedlungsraum gegründeten Niederlassungen sind Zentren der Erzgewinnung und Erzverhüttung, vgl. J. Nicholas Coldstream, Prospectors and Pioneers. Pithekoussai, Kyme and Central Italy, in: Tsetskhladze/De Angelis (wie Anm. 11), 47ff.; Graham (wie Anm. 10), 97ff. 15 Salmon (wie Anm. 9), 103ff./209ff.; Alexander John Graham, Corinthian Colonies and Thukydides' terminology, Historia 11, 1962, 246ff. 16 Norbert Ehrhardt, Milet und seine Kolonien, Frankfurt am Main 1983. 17 Wolfgang Müller-Wiener, Bemerkungen zur Topographie des archaischen Milet, in: ders. (Hg.), Milet 1899-1980, MDAI (I) Beiheft 31, 1986, 95ff.; Reinhard Senff, Die Grabung am Kalabaktepe, in: Volkmar v. Graeve, Milet 1992-1993, AA 1995, 208ff. 18 Zu den unterschiedlichen Theorien für die Anlässe der Koloniegründungen Korinths, die sich z.T. schon in der antiken Literatur finden, vgl. Salmon (wie Anm. 9), 95ff./209ff./387ff.

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eines gemeinsamen Verkehrsnetzes (Abb. 1). Die Siedlungsplätze waren aber meist auch im Hinblick auf Verkehrsverbindungen mit dem Inland gewählt, denn in den Hafenstädten endeten vielfach wichtige Landwege, die durch Täler in das Siedlungsgebiet angrenzender Kulturen führten und den Fernhandel mit weiter entfernten Siedlungsräumen ermöglichten. Sichtbare Zeugnisse dieser Handelsaktivitäten sind in erster Linie Hafenanlagen, zu denen Bauwerke zur Verbesserung der natürlichen Anlegestellen in Buchten, Werften und Schiffshäuser und die zur Lagerung und zum Umschlag der Waren notwendigen Gebäude zu zählen sind.19 Der enge Zusammenhang von Verkehrseinrichtungen, Wirtschafts-wachstum und politischer Macht manifestiert sich in archaischer Zeit vor allem in der Förderung dieser Bauten durch die Tyrannen. Der Hafen von Samos, dessen Wirtschaft aus einer Mischung von friedlichem Seehandel und Piraterie bestand, erhielt unter Polykrates Schiffshäuser und Molen, die eine überragende Ingenieurleistung darstellen.20 Der Tyrann Periander ließ für Korinth den Hafen von Lechaion und den Diolkos genannten gepflasterten Schleifweg für Schiffe quer über den Isthmus von Korinth bauen.21 Der Diolkos verbesserte zwar hauptsächlich den Transportweg fremder Schiffe, die im Ost-West-Verkehr den langen und gefährlichen Weg um die Südspitze der Peloponnes ver-meiden konnten, doch wird Korinth aus diesem Transitverkehr und vielleicht aus Abgaben einen Nutzen gehabt haben. Neben Bauten, die der Abwicklung des Verkehrs dienen, sind für den Archäologen auch diejenigen Einrichtungen wichtige Zeugnisse, die zur Herstellung oder Lagerung der Handelsgüter benötigt werden. In einigen Städten sind regelrechte Handwerkszentren mit allen für die jeweiligen Gewerbe notwendigen Einrichtungen ausgegraben worden, von denen die Töpferviertel von Korinth und Athen die bekanntesten sind.22 Auch in Milet können inzwischen durch Ausgrabungen verschiedene Handwerkszweige lokalisiert werden, die sich auf Töpferei, Metallherstellung oder Purpurgewinnung spezialisiert haben.23 Da manche Gewerbe allerdings nur in kleinem Rahmen im häuslichen Umkreis betrieben wurden, sind in vielen Fällen keine aufwendigen Anlagen auffindbar; immerhin lassen sie sich durch Produktionsabfälle wie Schlacken oder Knochenreste nachweisen.24 19 Karl Lehmann-Hartleben, Die antiken Hafenanlagen des Mittelmeerraumes, Klio Beiheft 14, 1923, 45ff.; Olaf Höckmann, Antike Seefahrt, München 1995, 144ff. mit weiteren Literaturhinweisen 184f. 20 Lehman-Hartleben (wie Anm.19), 55ff.; Herrman Kienast, Die Stadtmauer von Samos, Samos 15, Bonn 1978, 37f. 21 Salmon (wie Anm. 9), 136ff.; W.C. Verdelis, Der Diolkos am Isthmus von Korinth, MDAI (A) 71, 1956, 51ff. 22 Einen Überblick gibt Lang (wie Anm. 4), 129ff. Zu Korinth vgl. A.N. Stillwell, Corinth 15,1. The potters quarter, Princeton 1948; Salmon (wie Anm. 9), 116ff. 23 Vgl. die Brennöfen am Kalabaktepe, Senff (wie Anm. 17), 211; die sog. Schmiede am Athenatempel; das Amphorenlager: Wolfgang Schiering, MDAI (I) 27, 1979, 90ff.; weitere Hinweise durch Produktionsabfälle: Wolfgang Müller-Wiener, MDAI (I) 22, 1972, 55ff. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse zu Werkstätten in archaischen Siedlungen findet sich bei Lang (wie Anm. 4), 170ff. 24 Athen: John Camp, The Athenian Agora, London 1986, 145ff.; Homer A. Thompson/R.E. Wycherley, The Agora of Athens, The Athenian Agora 14, Princeton 1972, 170ff.; Milet: Volkmar v. Graeve, MDAI (I) 42, 1992, 103f.

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Außer den Bauresten dokumentieren vor allem die unterschiedlichen in ihnen erzeugten Handelsgüter das wirtschaftliche Potential der Metropolen. Für die Archäologie sind alle Artefakte aus dauerhaften Materialien wie Marmor, Bronze oder Ton, die sich aufgrund bestimmter Merkmale einem Herstellungszentrum zuweisen lassen, von großem Interesse. Auf einer sich ständig verbessernden Materialgrundlage ist es inzwischen möglich geworden, die Produktionsorte von Transportgefäßen, in der Regel Amphoren, einiger-maßen sicher auch für die archaische Zeit zu bestimmen und auf dieser Grundlage Handelswege zu rekonstruieren.25 Hier bieten neben dem jahrzehntelangen Sammeln von Einzeldaten auf den Ausgrabungen in letzter Zeit zunehmend Schiffsfunde ein reich-haltiges Material.26 Sowohl in der Gesamtform als auch in charakteristischen Details wie Fuß, Hals oder Mündung, zu der gelegentlich auch eine farbige Dekoration hinzutreten kann, unterscheiden sich Amphoren aus Athen, Korinth, Thasos, Chios, Klazomenai, Milet und anderen Orten deutlich voneinander.27 Seit dem 5. Jh. v. Chr. wird die Identifizierung des Herkunftsortes noch dadurch erleichtert, daß die Gefäße an vielen Orten mit einem Hoheitsabzeichen der Stadt oder dem Namen des Eichbeamten versehen werden. Es zeigt sich, daß in dem Maße, wie wir das Heranwachsen der Städte selbst beobachten können, eine deutliche Zunahme von Produktion und Gewerbe in diesen Zentren und, damit verbunden, auch ein erhöhter Warenaustausch untereinander festzustellen ist.28 Da wir weder über Archive noch Statistiken aus dieser Zeit verfügen, sind archäologische Beob-achtungen in diesem Fall die einzige zuverlässige Materialgrundlage. Weitere Schlüsse können aus dem Charakter der Handelsverbindungen gezogen werden. Die Ladung einzelner Schiffswracks zeigt beispielsweise eine recht gemischte Fracht, die eher auf dem Warenangebot in den unterwegs liegenden Häfen, als auf übergeordneten Handelsstrategien, etwa zentraler "staatlicher" Lenkung, beruhte, und läßt auf ein selb-ständiges Unternehmertum schließen.29 Selbst in Kolonien, deren politische und religiöse Einrichtungen über lange Zeiträume am Vorbild der Mutterstadt festhalten, stammt das Fundgut keineswegs ausschließlich aus der Metropole. Beispielsweise sind in den milesischen Kolonien am Ufer des Schwarzen Meeres aufs Ganze gesehen mehr Trans- 25 Ingeborg Scheibler, Griechische Töpferkunst, München 1983, 135ff./150ff. 26 Vgl. z.B. Luc Long/Jordi Miro/Giuliano Volpe, Les épaves archaiques de la pointe Lequin, in: Michel Bats/Guy Bertucchi/Gaetan Conges/Henry Treziny (Hgg.), Marseille grecque et la Gaulle, Études Massa-liètes 3, Aix-en-Provence 1992, 199ff. 27 Auf die Spezialliteratur zu diesem umfangreichen Thema kann hier nicht weiter eingegangen werden. Eine Einführung gibt Virginia Grace, Amphoras and the ancient wine trade, Excavations of the Athenian Agora, Picture Book no. 6, Princeton 1961. Vgl. auch Maria Coja, Les centres de production amphoriques identifiés à Istros, in: Jean-Yves Empereur/Yvon Garlan (Hgg.), Recherches sur les amphores grecques, BCH Suppl. 13, 1986, 417ff.; Pierre Dupont, Amphores commerciales archaiques de la Grèce de l'Est, PP 37, 193ff.; Norma di Sandro, Le anfore arcaiche dallo scarico Gosetti, Pithecusa, Cahiers des amphores archaiques et classiques 2, Rom 1986. 28 Grundlegend: Chester G. Starr, The Economic and social growth of Early Greece. 800-500 B.C., New York 1977, bes. 75ff.; Alfonso Mele, Il commercio greco archaico. Prexis ed emporie, Neapel 1979. Eine knappe Zusammenfassung bietet der Artikel von Susan u. Andrew Sherratt, The growth of the Mediterranean economy in the early first millenium B.C., World Archaeology 24,3, 1993, 361ff. 29 Long/Miro/Volpe (wie Anm. 26), 199ff. mit weiterer Literatur.

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portgefäße anderer Herstellungsorte gefunden worden als aus Milet selbst, und das bedeutet, daß auch die enthaltenen Waren wie Öl und Wein aus anderen Gegenden stammten.30 Selbst wenn die Koloniegründung aus merkantilen Interessen erfolgte, führte dies nicht zu wirtschaftlichen Monopolen. Gelegentlich, wie im Falle von Milet und seinen Schwarzmeerkolonien, oder bei Korinth und seinen Gründungen zeigt das Fundgut die Bildung von wirtschaftlichen Großräumen an, die mehrere Städte umfassen. Es ist wohl kein Zufall, daß in den milesischen Kolonien so viel ostgriechische Keramik gefunden worden ist; ihr Auftauchen an mehreren wichtigen Handelsplätzen im Westen wie etwa Gravisca läßt erkennen, daß sich die ionischen Handelsverbindungen aber auch in diesen Bereich erstreckten.31 Andererseits sind in das Schwarzmeergebiet wenig korinthische Gefäße gelangt, während sie im westlichen Mittelmeer außerordentlich stark verbreitet sind.32 Mit der Funktion der Stadt als Produktions- und Handelsmetropole ist noch ein weiterer Aspekt gerade im archaischen Griechenland sehr eng verbunden, nämlich der des Kunst-zentrums. Im Griechischen bezeichnet der eine Begriff "techne" beides, was im modernen Verständnis als profane Technik und als Kunst auseinanderfällt. In vielen Fällen geht die Herstellung von Gebrauchsware auch mit der von Luxusobjekten, wie z.B. bemalter Gefäße für den Weingenuß, Hand in Hand. Am bekanntesten sind die Fälle des attischen Keramikexports nach Etrurien oder die Verbreitung korinthischer Feinkeramik in alle Winkel der damaligen Welt.33 Aber auch ostgriechische Handelszentren wie Chios, Klazo-menai oder Milet haben neben Gebrauchsgefäßen bedeutende Mengen von Feinkeramik geliefert. Dagegen besaß etwa Thasos, ein Exporteur für sehr gefragte Weine, wie die überall im Mittelmeergebiet gefundenen thasischen Amphoren zeigen, keine nennenswerte Feinkeramikproduktion, jedenfalls keine, die den Export lohnte. Nicht notwendig ist die große Handelsstadt also auch eine Kunstmetropole. "Die Mehrzahl der griechischen Städte - und darunter nicht nur unbedeutende - hat selbst gar keine feine Keramik hergestellt, geschweige denn exportiert".34 Andererseits kann ein Kunstzentrum entstehen und über

30 Das zeigt z.B. die Untersuchung der Amphoren von Histria: Coja (wie Anm. 27); Pierre Dupont, Classification et détermination de provenance des céramiques grecques orientales archaiques d'Istros, in: Dacia 27, 1983, 19ff.; zu anderen Gefäßformen gibt Jan Bouzek, Studies of Greek pottery in the Black Sea area, Prag 1990 einen Überblick. 31 Zu der ionischen Keramik von Gravisca vgl. Sabrina Boldrini, Le ceramiche ioniche, Gravisca 4, Bari 1994; zur ionischen Keramik im Schwarzmeergebiet vgl. Bouzek (wie Anm. 30). 32 Die wirtschaftliche Bedeutung bemalter Keramik für den Handel ist umstritten, vgl. Robert Manuel Cook, Die Bedeutung der bemalten Keramik für den griechischen Handel, JbDAI 74, 1959, 114ff.; Alan Johnston, Trademarks on Greek vases, Warminster 1979, 32ff.; Salmon (wie Anm. 9), 101ff.; John Boardman, Trade in Greek decorated pottery, Oxford Journal of Archaeology 7,3, 1988, 371ff. Zwar sind bemalte Gefäße wegen der eindeutigen Zuordnungsmöglichkeit ein Indikator für Handelswege, aber den Scherben ist in der Regel nicht abzulesen, wer die Gefäße transportiert hat. 33 Scheibler (wie Anm. 25), 44ff. 34 Robert Manuel Cook, Die Bedeutung der bemalten Keramik für den griechischen Handel, JbDAI 74, 1959, 122.

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längere Zeit florieren, ohne daß in gleichem Maße eine urbanistische Entwicklung des städtischen Zentrums festzustellen ist. Dafür ist Sparta das beste Beispiel, dessen kera-mische Produkte in alle Gegenden der griechischen Welt verkauft wurden und das auch eine hochstehende Metallindustrie gehabt zu haben scheint, aber noch zu Thukydides Zeiten "nach alter Weise" aus mehreren unzusammenhängenden Dörfern bestand.35 Ein Indiz für die mit unserer Vorstellung von einer Metropole verbundene überregionale Bedeutung ist die Streuung der hier entstandenen Kulturgüter. Im archaischen Griechen-land konzentrieren sich die Funde außer in den Städten auch in Heiligtümern, von denen viele wie Delphi und Olympia eine überregionale Bedeutung hatten. Die hier ausgegra-benen Artefakte können im Zusammenwirken von naturwissenschaftlichen und kunst-analytischen Methoden inzwischen auch in den meisten Fällen einzelnen Herkunftsorten zugewiesen werden. Als Ergebnis der Untersuchung, angefangen von Gebrauchs- und Transportgeräten wie Amphoren, über dekorierte Trinkgefäße, Waffen, Geräte und Figuren aus Metall, Statuen aus Marmor usw. läßt sich feststellen, daß im archaischen Griechen-land zahlreiche Kunstzentren an charakteristischen technischen und stilistischen Eigen-tümlichkeiten der hier hergestellten Gegenstände aller Gattungen unterscheidbar sind.36 Daß solche Zuweisungen überhaupt möglich sind, ist eine Folge davon, daß die Hersteller mit einem bestimmten Material, Formeninventar und einem unverwechselbaren künst-lerischen Idiom bewußt über längere Zeit arbeiteten und an den Formen als Teil ihrer regionalen kulturellen Identität festhielten, genau wie es auch in den sprachlichen Dialekt- und den lokalen Inschriftenformen der Fall ist.37 Diese Kunstregionen bestehen in der Regel aber nicht aus einzelnen über das Hinterland verstreuten Produktionsstätten, sondern aus Betrieben, die sich in den Hauptorten wie Athen, Korinth, Sparta, Argos, Theben, Chios, Klazomenai, Milet usw. befanden. Zumindest die qualitätvollen und innovativen Werkstätten verbinden sich immer mit einem der größeren Siedlungszentren (Abb. 1). Das würde man natürlich im Hinblick auf die Gewinnung und den Transport von Rohstoffen, auf die notwendigen Anlagen und Arbeitskräfte, erforderliche Technik, den Erfahrungs-austausch sowie für Absatz und Handel auch vermuten, und das ist durch Ausgrabungen vielfach bestätigt worden. Es handelt sich in der Regel wieder um die Städte, die uns bisher als die wirtschaftlich führenden Mächte begegnet sind. Schon in geometrischer Zeit, als nach dem archäologischen Befund die Poleis erst aus zerstreuten, dorfähnlichen Siedlungen bestehen, lassen sich die lokalen Keramikstile deutlich voneinander trennen

35 Thukydides 1, 10.; C.M. Stibbe, Das andere Sparta, Mainz 1996; ders., Lakonische Vasenmaler des sechsten Jahrhunderts v. Chr., Amsterdam 1972; zur lakonischen Plastik vgl. Josef Floren, Die geometrische und archaische Plastik, in: Werner Fuchs/Josef Floren (Hgg.), Die griechische Plastik 1, Handbuch der Archäologie, München 1987, 214ff. 36 Einen Überblick in der Keramik geben Scheibler (wie Anm. 25), 160ff.; Robert Manuel Cook, Greek Painted Pottery, London 1972. Auch im Bereich der Plastik beruht die in der klassischen Archäologie verwendete Ordnung des Materials auf diesen Grundlagen, vgl. Floren (wie Anm. 35); Ernst Langlotz, Frühgriechische Bildhauerschulen, Nürnberg 1927. Zur Bewertung der "Landschaftsstile" vgl. die kritischen Bemerkungen von Joachim Raeder, Kunstlandschaft und Landschaftsstil, in: Konrad Zimmermann (Hg.), Der Stilbegriff in den Altertumswissenschaften, Rostock 1993. 37 Lilian Hamilton Jeffery, The local scripts of Archaic Greece. A study of the origin of the Greek alphabet and its development from the eighth to the fifth centuries B.C., Oxford 1961.

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(Abb. 2).38 Wenn auch gemessen an Einwohnerzahl, Produktions- und Handelsvolumen die frühen griechischen Siedlungen zunächst sehr bescheiden wirken, so ist dieser Gesichtspunkt hier aber besonders zu betonen, da sich aufs Ganze der antiken Kunst das Phänomen des Regionalstils zu keiner Zeit so deutlich ausdrückt und die Städte so klar als Kunstzentren hervortreten wie in dieser Epoche. Dies gilt nicht nur für die im Hinblick auf den Verkauf hergestellten transportablen Gegenstände, sondern auch für die das Stadtbild prägende Architektur. Vor allem im Sakralbau kommt es zur Herausbildung besonderer regionaler Bauformen, oft unter Ver-wendung von charakteristischem Material. Manche Erfindungen lassen sich topographisch verankern, wie etwa die besonderen Ziegelformen des sog. korinthischen oder lakonischen Dachs oder die erstmalige Verwendung von weißem Marmor für ganze Gebäude auf Naxos. Von Korinth aus nimmt der monumentale dorische Tempelbau in Stein seinen Aus-gang.39 Der erste Steinbau des Apollontempels in Korinth stammt aus dem mittleren 7. Jh. v. Chr. Ihm folgt ein noch größerer Bau im zu Korinth gehörigen Heiligtum des isth-mischen Poseidon.40 Der nächste dorische Riesentempel steht in der korinthischen Kolonie Kerkyra, ein weiterer in Syrakus, ebenfalls einer korinthischen Kolonie.41 Im ionisch dominierten Schwarzmeergebiet sind die ersten Tempel dagegen in der ionischen Ordnung errichtet.42 Die Kolonien, die sich ihrerseits zu Zentren mit einem beachtlichen wirtschaft-lichen Potential entwickeln, bringen gelegentlich ebenfalls eine eigene Kunstsprache her-vor, wie an den Tempeln der unteritalischen und griechischen Städte mit ihren besonders reich verzierten Tondächern zu sehen ist.43 Bald schicken manche von ihnen ebenfalls Kolonisten zur Erschließung neuer Gegenden aus und werden so auch im engeren Wort-sinn zu Metropolen. Herstellungszentren für Keramik, Möbel, Stoffe, Metallerzeugnisse sind nach dem Zeugnis der antiken Autoren und den archäologischen Funden immer die großen Städte. Wein und Öl oder Getreide werden zwar auf dem Land erzeugt, aber ebenfalls auf den Agorai in den Städten umgeschlagen. Auch die Landbewohner versorgen sich mit den Produkten der Städte, in der Regel denen der Hauptorte ihrer Region. Hier wird die Funktion der Stadt als Schaltstelle im Netz übergreifender Handelsverbindungen deutlich. In manchen Fällen überwiegt nach den uns erhaltenen Spuren sogar dieser Aspekt. Aus Ägina z.B. besitzen 38 Nicholas Coldstream, Greek Geometric Pottery, London 1968; ders., The meaning of regional styles in the eighth century B.C., in: Robin Hägg (Hg.), The Greek Renaissance of the Eighth Century B.C. Tradition and Innovation, Skrifter utgivna av Svenska Institutet i Athen, 30, 1993, 17ff. 39 Gottfried Gruben, Die Tempel der Griechen, München 21976, 33ff./99ff.; Salmon (wie Anm. 9), 120ff.; Robert Manuel Cook, The archetypal Doric Temple, Annual of the British School at Athens 65, 1970, 17ff. 40 Oscar Broneer, Isthmia 1. The temple of Poseidon, Princeton 1971; Gruben (wie Anm. 39), 102ff./108ff.; Salmon (wie Anm. 9), 58ff. 41 Gruben (wie Anm. 39), 108ff. (Kerkyra)/266ff. (Syrakus). 42 So z.B. der Tempel des Apollon Delphinios in Olbia, einer milesischen Kolonie, Jurij G. Vinogradov/ Sergej Kryzickij, Olbia, eine altgriechische Stadt im nordwestlichen Schwarzmeerraum, Leiden 1995, 36ff.;. 43 Gruben (wie Anm. 39), 237ff.; Hans-Peter Drögemüller, Untersuchungen zur Anlage und zur Ent-wicklung der Städte Großgriechenlands, Gymnasium 72, 1965, 27ff.

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wir kaum Artefakte, die von hier überregional verbreitet wurden, und nur wenige, die man einheimischen Künstlern zuweisen kann.44 Die äginetischen Münzen mit dem Schild-krötenwappen zirkulierten zwar als einer der ältesten griechischen Währungen im ganzen Mittelmeer, aber die Ägineten scheinen sich sonst darauf beschränkt zu haben, Produkte anderer Orte vom einen Ende der Mittelmeerwelt zum anderen zu transportieren. Die von antiken Autoren bezeugte Geschäftigkeit der äginetischen Kaufleute hat selten eindeutige Spuren hinterlassen, im Falle des durch die historische Überlieferung bekannten Sostratos scheint der Fund einer Weihinschrift mit diesem Namen im Emporion von Gravisca in Etrurien die weitreichenden äginetischen Handelsverbindungen zu bestätigen.45

Auch in archaischer Zeit sind in der Regel Städte die Orte, an denen sich Wissen und Technik konzentrieren und in denen Neuerungen adaptiert und weiterentwickelt werden.46

Eine gewisse Ausnahme stellen hier die großen nichtstädtischen Heiligtümer wie Delphi und Olympia dar, die auch als solche Zentren des Erfahrungsaustausches fungierten. Weihegeschenke wurden hier nicht nur dediziert, sondern z.T. auch hergestellt, wie Werk-stattreste, Formen oder Gußgruben für Bronzestatuen zeigen.47 Im allgemeinen finden aber Aneignung und Weitergabe des Wissens in den Städten statt. Thales, Anaximander und Anaximenes bildeten in Milet eine Schule der Naturphilosophie, aus Elea in Unteritalien stammen Parmenides und Zeno, aus Abdera Protagoras und Demokrit; Platon und Aristoteles rufen in Athen die bedeutendste Philosophenschule ins Leben. Die eigenen Leistungen der ionischen Philosophen werden nicht durch den Umstand geschmälert, daß sie viele grundlegende Erkenntnisse den orientalischen Nachbarkulturen verdanken, genauso wie griechische Künstler zahlreiche Motive und Anregungen aus der orientalischen und ägyptischen Kunst übernehmen, aber zu einer neuen Formsprache umbilden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der archaischen Metropole, der sich auch in der äußeren Gestalt niederschlägt, ist ihre Funktion als religiöses Zentrum. Zwar spielen gerade in Griechenland nichtstädtische Heiligtümer eine große Rolle und sind in einigen Fällen, wie in Delphi und Olympia, sogar von größerer Bedeutung als jedes städtische. Innerhalb des Gefüges von Polis und Chora ist aber eine deutliche Konzentration religiöser Einrich-tungen in den dominierenden Zentralorten festzustellen.48 Nirgendwo auf dem Polis-territorium findet sich eine so große Anzahl von Kultstätten auf so engem Raum.49 Durch 44 Zur äginetischen Kunst vgl. Floren (wie Anm. 35), 309ff. Für Feinkeramik fehlte offenbar geeigneter Ton, Wilhelm Kraiker, Aegina. Die Vasen des 10. bis 7. Jh. v. Chr., Berlin 1951, 11ff.

45 F. David Harvey, Sostratos of Aegina, PP 31, 1976, 206ff.; Scheibler (wie Anm. 25), 159; Boardman (wie Anm. 10), 241.

46 Ein Beispiel ist die Erfindung des Schiffstyps der Trireme in Korinth, der korinthische Schiffsbauer Ameinokles baut vier Fahrzeuge für Samos, Thukydides 1, 13, 3, vgl. Salmon (wie Anm. 9), 225.

47 Wolf Dieter Heilmeyer, Gießereibetriebe in Olympia, JbDAI 84, 1969, 1ff.

48 Anthony Snodgrass, Archaic Greece, London 1964, 33f./56ff.

49 Das zeigen auch immer wieder die Ortsbeschreibungen des Pausanias, besonders viele Heiligtümer notierte er in Sparta: Pausanias 3, 11, 2ff.

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die Förderung der Kultfeiern und den architektonischen Ausbau der Kultorte wird dies in archaischer Zeit und auch später unübersehbar. In zahlreichen erhaltenen Denkmälern nimmt für uns heute beispielsweise noch das Fest der Panathenäen Gestalt an, bei dem sich der Festzug vom Pompeion am Stadtrand über den Panathenäenweg bis zum Tempel der Athena Polias auf der Akropolis bewegte. In Fällen, wo ein wichtiges Heiligtum nicht innerhalb der Mauern liegt, geschieht die "Anbindung" an den Hauptort durch regelmäßig stattfindende Prozessionen über teilweise monumental ausgestattete Prozessionsstraßen, etwa im Falle des Heraion von Samos, der Heiligen Staße von Athen nach Eleusis oder der von Milet zum Apollontempel von Didyma. Hinter der Konzentration von Kulten im Hauptort der Polis sind oft politische Absichten erkennbar, wie etwa bei der Einrichtung des Kultes der brauronischen Artemis auf der Akropolis von Athen durch die Peisistra-tiden, die mit dieser Göttin eng verbunden waren, oder bei der "Heimholung" der Gebeine des Theseus durch Kimon von Skyros nach Athen, wo er einen Kultplatz in der Mitte der Stadt erhielt.50 Die soeben von verschiedenen Standpunkten aus als Siedlungs-, Produktions-, Handels-, Kunst- und Kultzentrum betrachteten Metropolen sind in den verschiedenen Regionen des griechischen Siedlungsgebietes auf unterschiedliche Weise entstanden. Von den in der sog. großen Kolonisation gegründeten Städten war schon kurz die Rede. Der Aussendung von Siedlern im Zeitraum zwischen dem 8. und dem späten 6. Jh. v. Chr. verdanken die griechischen Städte in Südfrankreich, Italien, Sizilien, Nordafrika, der Propontis und dem Schwarzmeergebiete ihre Existenz. Da sie in der Regel Neugründungen auf unbebautem Gelände waren, zeigt ihre Anlage deutliche planerische Bemühungen und eine groß-zügigere Gestaltung, die sich besonders in Großgriechenland in der reichen Ausstattung mit öffentlichen Gebäuden niederschlägt.51 Wir können jedoch meist die einzelnen Stufen des Wachstums von den ersten Kolonistenhäusern bis zur ummauerten Stadt der spät-archaischen Zeit nicht sehr genau verfolgen. Aus den wenigen schriftlichen Quellen er-fahren wir, daß es sich bei den Siedlern meist um Männern handelt, die sich dann Frauen aus der einheimischen Bevölkerung suchen.52 Dies kann die Archäologie im Umweg über die Untersuchung von Begräbnissitten und Beigaben in den Gräbern bestätigen und so Hinweise auf die Zusammensetzung der Bevölkerung gewinnen.53 Schwieriger dagegen ist es, aus der Interpretation von Baubefund und Fundgut, z.B. Keramik, auf die Besitzer zu 50 Brauronion: Ernst Kluwe, Peisistratos und die Akropolis von Athen, Wiss. Zeitschrift der Universität Jena. Gesellschaftliche und sprachwiss. Reihe 14, 1965, 10ff.; Frank Kolb, Die Bau -, Religions-, und Kultur-politik der Peisistratiden, JbDAI 92, 1977, 99ff.; Theseus: Diod. 4, 6, 2; Plut. Thes. 36, 3f.; Paus. 1, 17, 2. 51 Höpfner/Schwandner (wie Anm. 1), 1ff.; Alessandro di Vita, Town planning in the Greek colonies of Sicily from the time of their foundation to the Punic wars, in: Descoeudres (wie Anm. 12), 343ff.; Dieter Mertens, Some principal features of West Greek colonial architecture, ebd., 373ff. 52 Bei der Gründung Milets werden die einheimischen Männer aus diesem Grund von den griechischen Siedlern getötet: Herodot 1, 146, 2-3; J. Rougé, La colonisation grecque et les femmes, Cahiers d'histoire 15, 1970, 307ff.; Graham (wie Anm. 10), 147f.; Gerhard Kleiner, Alt-Milet, Sitzungsberichte der wiss. Gesell-schaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 4, 1965, 1 (1966), 8. 53 Das gilt natürlich in gleicher Weise für alle Migrationsbewegungen; so läßt sich durch die Untersuchung von Grabbefunden eine Besiedlung Korinths von Argos aus ausschließen, während in der Keramik deutliche Ähnlichkeiten mit der attischen bestehen, vgl. Salmon (wie Anm. 9), 48ff.

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schließen, denn hier kann man viele verschiedene Gründe für die Anwendung bestimmter Bauformen oder den Gebrauch von Tonwaren anführen.54 Bei der Landnahme scheint es oft zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen zu sein, die unter Umständen eine Ansiedlung auch verhindern konnten.55 Je nach Organisation und militärischer Stärke der Urbevölkerung waren unterschiedlich günstige Ausgangspositionen für die Entwicklung der Städte gegeben. Während in Unteritalien und Sizilien die Griechenstädte anscheinend bald das Hinterland dominierten, waren die Städte am Nordrand des Schwarzen Meeres den mächtigen Skythen und Sarmatenfürsten regelrecht tributpflichtig. Diese begrüßten zwar die Anwesenheit der Griechen als Handelspartner, hatten aber offenbar zumindest in archaischer Zeit kein Interesse an allzu großen und mächtigen Nachbarn. Einen Sonderfall stellt die Umsiedlung einer voll funktionierenden Polis in ein anderes Territorium dar.56 Im Zusammenhang mit der persischen Expansion in den Westen Klein-asiens hören wir vom Entschluß mehrerer Poleis, lieber die angestammte Heimat zu verlassen als sich der persischen Oberhoheit zu beugen. Berühmt ist die Auswanderung der Phokäer, die sich nach langen Irrfahrten in Unteritalien niederließen und die Stadt Elea gründeten, auf deren Akropolis sie einen ionischen Tempel errichteten.57 Die Verpflanzung selbständiger Bürgerschaften transferiert offenbar auch einen Großteil der materiellen Kultur in das neu besiedelte Gebiet, was sich nicht zuletzt im Aussehen der Städte wider-spiegelt. Ein weiteres, sogar noch älteres Beispiel ist Siris unter dem späteren Heraclea beim heutige Policoro, dessen Bewohner aufgrund der Ausweitung des lydischen Reiches am Ende des 7. Jhs. v. Chr. das heimatliche Kolophon verlassen hatten.58 Bei Aus-grabungen konnte eine starke Stadtmauer aus Lehmziegeln in einer Technik festgestellt werden, wie sie in dieser Zeit aus Kleinasien bekannt ist.59 Natürlich haben sich nicht alle Kolonien zu dem entwickelt, was wir eine Metropole nennen würden; die Städte im

54 In Milet hat Gerhard Kleiner in den Ovalhäusern der ältesten archaischen Schichten einheimische karische Bauten vermutet, Kleiner (wie Anm. 52), 14ff./21ff. 55 Thukydides berichtet 6, 3 von der Vertreibung der einheimischen Sikelioten durch korinthische Siedler unter Archias, was die archäologischen Ausgrabungen bestätigen, vgl. Graham (wie Anm. 10), 105f./155ff.; Hans-Peter Drögemüller, Syrakus, Gymnasium Beiheft 6, Heidelberg 1969, 34ff. Nancy Demand, Urban re-location in Archaic and Classical Greece, Bristol 1990, 40f. Die unterschiedlichen regionalen Enwicklungen sind in mehreren Beiträgen des von Descoeudres (wie Anm. 12) herausgegeben Bandes 131ff. zu erkennen. 56 Demand (wie Anm. 55). 57 Herodot 1, 163ff. Zu Elea vgl. die zahlreichen Beiträge in: Velia ed i Focei in Occidente, PP 21, 1966, 153ff.; 25, 1970, 5ff. Zum Tempel auf der Akropolis von Elea vgl. Clara Bencivenga Trillmich, Elea. Problems of the relationship between city and territory and of urban organization in the Archaic period, in: Descoeudres (wie Anm. 12), 365ff. 58 Bernhard Neutsch u.a., Archäologische Forschungen in Lukanien 2. Herakleiastudien, MDAI (R) Erg.-H. 11, 1967; weiter Forschungsergebnisse in den Beiträgen des 20. Kongresses der Studi sulla Magna Grecia in Tarent: Siris e l'influenza ionica in Occidente. Atti del ventesimo convegno di studi sulla Magna Grecia, Tarent 1980 (1987). 59 Berhard Hänsel, Notizie degli Scavi di Antichità 27, 1973, 400f. Man vgl. etwa die Stadtmauer von Alt-Smyrna, Heinrich Drerup, Griechische Baukunst in geometrischer Zeit, Archaeologia Homerica 2, Göttingen 1969, 44ff.

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Schwarzmeergebiet z.B. bleiben in der ganzen archaischen Zeit von ihrer urbanistischen Erscheinung sehr bescheidene Gebilde.60 Vieles beruht hier auf Zufall oder einmaligen historischen Ereignissen, etwa wenn eine Stadt durch den Zugewinn von Territorium in kriegerischen Auseinandersetzungen mit ihren Nachbarn wächst, wie es im Falle der Eroberung des reichen Sybaris durch Kroton geschah.61 Zeitlich noch weiter zurück gelangen wir mit der Frage nach der Entstehung derjenigen Städte, von denen als den Mutterstädten diese Kolonisation ausging. Wenn wir die Sied-lungen mit archäologischen Methoden erforschen und in immer tiefer liegende Schichten vordringen, bis wir den gewachsenen Boden erreicht haben, dann kommen wir bei den Kolonien nicht über die Mitte des 8. Jhs. v. Chr. hinaus, es sei denn, wir finden die Bauten von Einheimischen, die hier schon vor den Griechen gesiedelt haben. In den anderen Fällen, vor allem im griechischen Mutterland, wird sich aber unter der archaischen eine geometrische, dann eine protogeometrische, eine bronzezeitliche und vielleicht sogar noch eine neolithische Schicht finden. Hier handelt es sich um Städte, die nach den Erschüt-terungen der spätbronzezeitlichen Wanderungsbewegungen neu auf den Trümmern der minoisch-mykenischen Siedlungsplätze entstanden sind. Mehrere mykenischen Tholos-gräber auf dem Gebiet der späteren Agora von Athen, die zu in der Nähe liegenden Wohnstätten adliger Familien gehört haben müssen, belegen die Besiedlung in der Bronzezeit. Auf der Akropolis sind noch heute Teile einer mykenischen Befestigung, die 'Pelasgermauer', zu sehen und im Zentrum von Theben haben sich Reste der mykenischen Paläste gefunden.62 Aus diesen verstreuten Funden ist aber weder abzulesen, wie intensiv die Orte besiedelt waren, noch welche ökonomische Rolle sie spielten. Was wir durch Ausgrabungen besser erhaltener mykenischer Fürstensitze wie Mykene, Tiryns oder Pylos wissen, zeigt aber, daß wir hier etwas gänzlich anderes als städtische Gebilde vor uns haben.63 Selbst bei den viel größeren kretischen Palastanlagen und Siedlungen handelt es sich um lokale Dynastensitze, Zentren des Kultes, der Verwaltung und Repräsentation, die

60 Sergej D. Kryzickij, Antike Stadtstaaten im nördlichen Schwarzmeergebiet, in: Renate Rolle/Michael Müller-Wille/Kurt Schietzel (Hgg.), Gold der Steppe. Archäologie der Ukraine, Schleswig 1991, 187ff. Das läßt sich an einigen weiteren gut erforschten Orten ablesen: Petre Alexandrescu, Histria in archaischer Zeit, in: ders./Wolfgang Schuller (Hgg.), Histria, Xenia 25, 1990, 47ff.; Vladimir P. Tolstikov, Archäologische Forschungen im Zentrum von Pantikapaion und einige Probleme der Stadtplanung vom 6. bis zum 3. Jh. v. Chr., in: Wolfgang Schuller/Wolfram Hoepfner/Ernst Ludwig Schwandner (Hgg.), Demokratie und Archi-tektur, Wohnen in der klassischen Polis 2, München 1989, 69ff.; Velizar Velkow, Mesambria Pontica, in: Wolfgang Schuller (Hg.), Die bulgarische Schwarzmeerküste im Altertum, Xenia 16, Konstanz 1985, 29ff.; Vinogradov/Kryzickij (wie Anm. 42). 61 Herodot 6, 21. 62 Zu Athen vgl. John Camp, The Agora of Athens, London 1986, 25ff.; John Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen, Tübingen 1971, 1ff./52ff.; zu Theben Sarantis Symeonoglou, Kadmeia 1. Mycenean finds from Thebes, Greece. Excavations at 14 Oedipus St., Stud. in Mediterranean Archaeology 35, Göteborg 1973; ders., The topography of Thebes from the Bronze Age to modern time, Princeton 1985, 26ff. 63 Kolb (wie Anm. 8), 51ff.; Klaus Kilian, Zur Funktion der mykenischen Residenzen auf dem griechischen Festland, in: Robin Hägg/Nanno Marinatos (Hgg.), The function of the Minoan Palaces, International Symposium at the Swedish Institute in Athens, 10-16 June 1984, 1987, 21ff.

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sie eher als "architektonische Reflexe eines großen Haushalts "64 denn als Vorläufer der eisenzeitlichen Handelsstädte erscheinen lassen. Die Wirtschaft steht hier unter der zentralen Lenkung und Kontrolle der herrschenden Aristokratie, wie die Abrechnungs-unterlagen in der sog. Linear B-Schrift zeigen. Die kleinen, außerhalb der Burgmauern liegenden Wohn- und Handwerkersiedlungen dienen eher der Versorgung der Paläste, als daß sie einen eigenen Organismus bilden. Keine von ihnen kann sich auch nur annähernd mit gleichzeitigen anatolischen Zentren wie Kanesh oder levantinischen Handelsmetro-polen wie Ugarit oder Byblos messen. Die homerischen Epen spiegeln diese Konzentration auf die Paläste als Knotenpunkte der bronzezeitlichen Kultur wieder. Zwar sind die Fürstensitze in ein Netz von internationalen Kontakten in Politik und Handel eingespannt, aber die Dimensionen dieser Beziehungen, an denen nur eine kleine Oberschicht Anteil hatte, sind sehr bescheiden. Die Hauptmasse der Bevölkerung lebt in verstreuten Sied-lungen auf dem Lande, von denen keine größer als ein Dorf ist. Dieses Thema braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden, denn die Zerstörung der kretisch-mykenischen Palastkultur am Ende der Bronzezeit setzt eine deutliche Zäsur in der Kultur- und Siedlungsgeschichte. Zwar leben Erinnerungen an die Frühzeit in Mythos und Religion fort, vielfach wird an alte Kultstätten angeknüpft, werden an Gräbern aus der Bronzezeit "Heroen" verehrt, um Machtansprüche mit der Berufung auf Personen und Ereignisse der grauen Vorzeit abzuleiten; im Grunde fangen die meisten späteren Städte aber von vorne an. Das zeigt sich schon darin, daß nur wenige der bronzezeitlichen Zentren noch eine Rolle spielen. Gerade die prominentesten unter ihnen, Mykene, Tiryns, Pylos, Troja sinken zur Bedeutungslosigkeit herab. Andere wie Athen, Argos, Theben und Milet erleben einen Aufstieg, den sie z.T. ihrer günstigen geographischen Lage verdanken. Auch in mykenischer Zeit sind nämlich bereits Städte an Handelsknotenpunkten gegründet worden. Das archaische Milet hat eine mykenische Vorgängersiedlung von beachtlicher Größe, die in der späten Bronzezeit zerstört worden ist.65 Hier scheint es sich um eine nach Strabo von Milatos auf Kreta gegründete Stadt zu handeln, von der sogar in hethitischen Texten die Rede ist. Wie in Athen lassen sich Anknüpfungspunkte an die Vorgeschichte feststellen. So wird über den Ruinen der mykenischen Befestigung ein früharchaischer Tempel für Athena errichtet. Athena, Göttin der Waffen und Pferde wird auch in Mykene in einem archaischen Tempel weiterhin verehrt. Der Grund für die Siedlungskontinuität liegt wohl vor allem darin, daß der mykenische Handelsplatz bereits eine für den Handel und die Ansiedlung von Gewerben bestens geeignete Stelle gewählt hatte. Die Lage am latmischen Golf war für den Seehandel ideal, das Hinterland bot reichlich Ressourcen in Form von Holz und Erzen, die Nachbarvölker kamen als Absatzgebiet für die hier hergestellten Produkte in Betracht. Wie lebenswichtig die überseeischen Beziehungen für Milet immer waren, zeigt ein Blick auf das Hinterland. Der größte Teil des Territoriums besteht aus einem karstigen Hochplateau, auf dem auch schon in der Antike wohl gerade

64 Kolb (wie Anm. 8), 55. Zu den verschiedenen Funktionen der minoischen und mykenischen Paläste vgl. die Beiträge in dem von Robin Hägg und Nanno Marinatos herausgegebenen Kolloquiumsband (wie Anm. 63). 65 Zum folgenden vgl. Kleiner (wie Anm. 52), 11ff./17ff.; Barbara u. Wolf-Dietrich Niemeier, Projekt "Mionisch-Mykenisches bis Protogeometrisches Milet". Grabungen auf dem Stadionhügel und am Athena-Tempel 1994/95, AA 1997, 189ff.

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noch Weidewirtschaft möglich war. Die Stadt hätte sich auch bei wesentlich geringerer Größe kaum aus ihrem Umland ernähren können.

Im Verlauf der sog. dorischen Wanderung dringen von Norden her Stammesgruppen nach Griechenland ein, die eine andere materielle Kultur mitbringen und ihre Siedlungen nach neuen Mustern anlegten.66 Wenn auch die von der antiken Überlieferung konstruierte Kontinuität der bronzezeitlichen Kultur sich stellenweise im materiellen Fundgut nieder-schlägt, etwa in bestimmten Formen der Keramik und ihrer Dekoration, so ist insgesamt ein großer Unterschied zwischen der nach den sog. "dunklen Jahrhunderten" entstehenden Kultur der geometrischen Zeit zu der vorangegangenen Epoche festzustellen. Viele Städte entstehen jetzt neu, sei es auf den Ruinen der bronzezeitlichen Machtzentren oder an verkehrsgünstig gelegenen Orten, die vorher nicht oder nur wenig besiedelt waren. Bevor die Griechen nach Westen und Norden ausgreifen, kommt es zu einer ersten Koloni-sationsbewegung im frühen 1. Jt. v. Chr., der "ägäischen Kolonisation", die über die Inseln der Ägäis nach Kleinasien übergreift.67 Die Gründungsphase der zukünftigen Städte schlägt sich in vielen Sagen nieder, die oft in der Zeit nach dem trojanischen Krieg, also am Ende der minoisch-mykenischen Epoche angesiedelt werden. So gründen z.B. Neleus von Athen kommend Milet, Kinyras und Agapenor von der Peloponnes aus Städte auf Kypros.68 Neben diesen Einzelgründungen wird die Entstehung der Poliszentren gelegent-lich auch auf einen Synoikismos zurückgeführt, d.h. den bewußten Akt der Zusammen-legung kleinerer Siedlungen durch einen Heros der Vorzeit, wie Theseus im Falle Athens.69 Da dies aber meist aus der Rückschau in späteren Zeiten geschrieben wird, als die Entstehung größerer Städte auf diese Weise die Regel ist, kann es sich auch um eine Rückprojektion zeitgenössischer Verhältnisse handeln. Alternativ zu den Gründungs-mythen muß sich die Archäologie auf die Interpretation von Siedlungsresten stützen, die in dieser Zeit im Wesentlichen aus Gräbern, Keramik und Brunnen bestehen.70 Es ist klar, daß so komplexe Fragen wie die nach der Entstehung der Polis mit ihren Organisations-formen, Kulten und Verwaltungsorganen sich mit diesen Informationsquellen nur in beschränktem Umfang beantworten lassen. Die klassische aristotelische Theorie der For-mierung der Polis als stufenweiser Zusammenschluß immer komplexerer Gemeinschaften, deren letzter Schritt die Verbindung von Dörfern zur Polis ist, scheint zumindest hinsichtlich des Befundes der Siedlungsarchäologie an mehreren wichtigen Orten immer noch die einleuchtendste Hypothese zu sein.71 An manchen Plätzen ist die Verlegung 66 Anthony Snodgrass, Archaic Greece, London 1964, 28ff.; ders., The Dark Age of Greece, Edinburgh 1971, bes. 402ff.; Lang (wie Anm.4), 58ff. Zu den Städten als Handelszentren vgl. Starr (wie Anm. 11), 98ff. 67 Vladimir G. Boruchovic, Die ägäische Kolonisation, Klio 70, 1988, 86ff. 68 Friedrich Prinz, Gründungsmythen und Sagenchronologie, Zetemata 72, 1979 passim. 69 Thukydides 2, 15, 2, vgl. Snodgrass (wie Anm. 66), 34. 70 Nicholas Coldstream, Geometric Greece, London 1977, 55ff.; Ian Morris, Burial and ancient society, Cambridge 1987. 71 Korinth: Roebuck (wie Anm. 9), 114ff.; Megara: Ronald P. Legan, Megara, Ithaca/London 1981, 47ff.; Athen: Kolb (wie Anm. 8), 77ff.; Karl Wilhelm Welwei, Athen. Vom neolithischen Siedlungsplatz zur

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älterer Siedlungszentren, die gut geschützt, aber für den nun sich ausweitenden Handel nicht so günstig gelegen sind, an vorteilhaftere Stellen zu beobachten.72 Nach einem Zeitraum der Stagnation mit sehr geringer Siedlungsdichte kommt es im 9. Jh. v. Chr. zu einem rapiden Anwachsen der Bevölkerung.73 Betrachtet man z.B. die Anzahl und Verteilung der Gräber in Athen, d.h. eigentlich nur im Bereich der gut erforschten Agora, so ist eine kontinuierliche Zunahme der Bestattungen seit protogeometrischer Zeit deutlich.74 Am Ende der geometrischen Epoche hören die Begräbnisse dagegen in diesem Bereich auf, setzten sich aber an anderen Stellen Athens mit weiterhin quantitiv steigender Tendenz fort. Da die Zahl auch in ganz Attika zunimmt, ist darin wohl auf eine allgemeine Bevölkerungszunahme zu schließen. Die Begräbnisse auf der Agora scheinen besonders prunkvoll zu sein, was vielleicht schon eine Konzentration der adligen Bevölkerungs-schicht auf den späteren Hauptort erkennen läßt. Der nächste Schritt, die Verlagerung der Begräbnisse in die späteren Nekropolen wie den Kerameikos macht klar, daß nun die Gegend der Agora für andere Zwecke beansprucht wird und als freizuhaltendes städtisches Zentrum neue Funktionen erhält.75 Diese wichtige Stufe in der Entfaltung von Zentralorten im Griechenland der geometrischen Zeit konnte an anderen Orten ebenfalls beobachtet werden. Auch in Argos scheinen umliegende Dörfer zugunsten des städtischen Zentrums verlassen worden zu sein, auch hier enden im Bereich der Agora und anderer öffentlicher Gebäude die Bestattungen im späteren Zentrum der Stadt am Anfang der mittel-geometrischen Zeit.76 Die Bedeutung des freien Platzes im Zentrum der archaischen Städte macht den grundsätzlichen Unterschied zu den bronzezeitlichen Palastkomplexen klar und ist auch seit der Antike immer als der wichtigste Bestandteil griechischer Städte empfunden worden.77 Die Agora ist ja nicht nur topographischer Mittelpunkt der Stadt

archaischen Großpolis, Darmstadt 1992, 60ff./87ff. Allgemein: J. Nicholas Coldstream, The formation of the Greek Polis. Aristotle and archaeology, Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 272, Opladen 1984; Demand (wie Anm. 55), 19ff. 72 Demand (wie Anm. 55), 15ff. 73 Zu den Veränderungen in diesem Zeitraum vgl. z.B. Anthony Snodgrass, Archaic Greece, London 1964, 15ff.; Starr (wie Anm. 11), 24ff.; Nicholas Coldstream, Geometric Greece, London 1977, 55ff. Im Falle Korinths vgl. Salmon (wie Anm. 9), 38ff. Zur Herausbildung städtischer Gebilde in dieser Zeit Heinrich Drerup, Griechische Baukunst in geometrischer Zeit, Archaeologia Homerica 2, Göttingen 1969, 36ff.; Ernst Kirsten, Die Entstehung der griechischen Stadt, AA 1964, 892ff.; Kolb (wie Anm. 8), 69ff. 74 Camp (wie Anm. 24), 27ff.; Coldstream (wie Anm. 73), 132ff.; James Whitley, Style and society in Dark Age Greece, Cambridge 1991, 54ff. Zur Entstehung des athenischen Staates und der Stadtwerdung Athens unter ausgiebiger Berücksichtigung archäologischen Materials vgl. Welwei (wie Anm. 71), bes. 76ff. 75 Eva T.H. Brann, Late Geometric and Protoattic pottery, The Athenian Agora 8, Princeton 1962, 107ff./ 111ff. 76 Robin Hägg, Zur Stadtwerdung des dorischen Argos, in: Dietrich Papenfuss/Volker Michael Strocka (Hgg.), Palast und Hütte, Mainz 1982, 300ff./302. Anne Foley, The Argolid 800-600 B.C. An archaeological survey, Studies in Mediterranean Archaeology 80, Göteborg 1988, 160ff. 77 Grundlegend dazu Roland Martin, Recherches sur l’agora grecque, Paris 1951; vgl. auch Lang (wie Anm. 4), 63ff.

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sondern auch ihr Zentrum in allen wichtigen Lebensbereichen und spiegelt deutlich die Verfaßtheit der Polisbevölkerung. Zunächst einmal ist sie das wichtigste ökonomische Zentrum und so angelegt, daß sie leicht vom Meer aus erreichbar ist. Neben dem kommer-ziellen spielt sich hier auch das politische Leben ab. Auf der Agora finden die Volks-versammlungen und Abstimmungen statt, um den Platz herum sammeln sich im Laufe der Zeit immer mehr Amtslokale der sich ausdifferenzierenden demokratischen Institutionen. Hier nimmt die Bündelung der politischen Kräfte durch die Metropole in vielfacher Form Gestalt an. Schließlich ist die Agora auch Sakralzone, in Athen z.B. zunächst der Tanzplatz für die Tragödienaufführungen im Dionysoskult.78 Im Laufe des 7. und 6. Jhs. v. Chr. treten dann im archäologischen Befund alle die Elemente auf, die anläßlich des Versuches einer Definition des Metropolenbegriffes im Umfeld der griechischen Stadt genannt worden sind: Handels- und Handwerkszentren und vor allem Kultplätze mit neuen, aufwendigen Tempelanlagen, die eine Art Aushängeschild der werdenden Städte als Resultat der gemeinsamen Anstrengungen ihrer Bürgerschaft sind. In Attika wirkt die Bevölkerungszunahme seit dem 9. Jh. v. Chr. deutlich in zwei Rich-tungen. Zum einen kommt es zu einer kontinuierlichen Stärkung Athens als politischem und religiösem Zentrum, was in der Ausstattung mit öffentlichen Bauten seit dem 6. Jh. v. Chr. deutlich Gestalt annimmt. Zum anderen ist auch eine Verdichtung der Besiedlung in Attika bemerkbar, wo sich an geographisch günstigen Stellen kleinere Subzentren bilden.79 Man hat von einer "Binnenkolonisation" gesprochen, weil Athen ja nicht expansiv nach außen wie andere Städte der Zeit tätig geworden ist, aber am Ende der archaischen Zeit als eine der wichtigen städtischen Zentren der griechischen Welt in Erscheinung tritt. Offenbar haben die relative Größe Attikas und seine Ressourcen zur Entstehung dieser "Großpolis" ausgereicht, die ja strenggenommen zunächst keine "Metropolis" war. Für das späte Zustandekommen "großstädtischer" Agglomerationen gibt es eine Reihe von Gründen, die auf den wesentlichen Charakteristika der griechischen Poleis beruhen. Von geographischer Seite ist besonders auf die naturräumlichen Bedingungen Griechenlands hingewiesen worden, die der Bevölkerungsvergrößerung enge Grenzen setzten. Die natür-liche Aufteilung des ägäischen Raumes in kleinräumige "Landschaftskammern" förderte von Anfang an die Entstehung räumlich und zahlenmäßig begrenzter Gemeinwesen. Durch geologische Bedingungen wie hohe Bergzüge, Flüsse oder die Küstenlinie waren sie oft deutlich voneinander getrennt. Da diese frühen Gesellschaften in der Hauptsache auf Weide- und Ackerwirtschaft angewiesen waren, gab es nur für eine begrenzte Bewohner-zahl ausreichende Nahrungsmittel. Eine deutliche Ausprägung finden diese Gegebenheiten in der religiösen und politischen Verfasstheit der frühen griechischen Gesellschaft, die sich aus den Verbindungen kleiner, selbständiger Gruppen zusammensetzt. Die Struktur der Poleis, für die ja eine möglichst aktive Teilnahme aller Vollbürger an den politischen Prozessen charakteristisch ist und damit die persönliche Anwesenheit auf der Agora voraussetzt, macht eine überschaubare Bürgerzahl für das Funktionieren des staatlichen 78 Zum sakralen Charakter auch von Handelszonen vgl. Hugh Bowden, The Greek settlement and sanctuaries at Naukratis. Herodotus and archaeology, in: Mogens Herman Hansen/Kurt Raflaub (Hgg.), More studies in the ancient Greek Polis, Stuttgart 1996, 17ff. 79 Eines dieser Zentren, der im Südwesten von Attika gelegene Demos Atene, ist exemplarisch in einer umfangreichen Monographie von Hans Lohmann, Atene, Köln 1995 untersucht worden.

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Organismus notwendig. Aus diesem Grunde geht es es in Verfassungsdiskussionen bei Aristoteles oder Plato z.B. immer wieder um eine relativ kleine ideale Anzahl von Vollbürgern. Letztlich resultiert auch die Begrenztheit des städtischen Raumes aus dem Funktionieren der griechischen Demokratie. Dazu scheint die Tatsache zu passen, daß wir aus den wenigen "großstädtischen" Siedlungszentren wie Korinth, Milet und Syrakus, wo sich die Bevölkerung rasch vergrößerte, zahlreiche Zeugnisse für die Errichtung von Tyrannenherrschaften haben, die sich oft auf untere Bevölkerungsgruppen stützte. Das Auftreten von Tyrannen in vielen griechischen Poleis seit dem ausgehenden 7. Jh. v. Chr. ist eine wichtige Etappe in der Ausgestaltung der urbanistischen Erscheinung. An manchen Orten, wie in Korinth unter den Kypseliden oder in Athen unter den Peisistra-tiden, bleibt die Macht über einen längeren Zeitraum in den Händen derselben Familie. In Sizilien stärken die Mitglieder der Familie der Deinomeniden ihre Macht durch Um-siedlung ganzer Städte, deren Bewohner teils in die Sklaverei verkauft, teils in der Residenzstadt Syrakus konzentriert werden.80 Syrakus wird damit zur flächen- und bevölkerungsmäßig größten "Megalopolis" des westlichen Mittelmeeres. Während die Angehörigen der anderen lokalen Aristokratenfamilien weiterhin in etwa gleichbleibendem Maße die städtischen Zentren als Bühne der Selbstdarstellung mit aufwendigen Grab-bauten und Weihegeschenken benutzen, können die Tyrannen durch Ausnutzung ihrer besonderen Machtposition und größerer Ressourcen noch viel gewaltigere Bauten ins Werk setzen.81 Einerseits sollen sie natürlich der Absicherung ihrer realen Macht dienen, wie die gewaltigen Befestigungen von Syrakus oder Samos zeigen.82 Viele Bauten scheinen ihre Entstehung aber auch einem gewissen Legitimationsbedürfnis der Tyrannen zu verdanken. Mit aufwendigen Sakralanlagen an prominten Stätten, die das Aussehen der Städte über lange Zeit prägen, treten die jeweiligen Machthaber der einzelnen Städte miteinander in Konkurrenz.83 Es sind aber auch Bauten, die der Infrastruktur im weitesten Sinne dienen, dem Verkehr und vor allem der Wasserversorgung und die den Städten neue "urbane" Qualitäten verleihen. Ihre weitreichenden Beziehungen nutzen die Tyrannen, um Spezialisten aus anderen Städten herbeizuholen; so beauftragt Polykrates von Samos den Ingenieur Eupalinos von Megara mit einer Wasserleitung zur Versorgung seiner Haupt-stadt.84 Nach dem Sturz der meisten Tyrannenregime am Ende der archaischen Periode wird die Macht in den neu eingerichteten Demokratien auf einen größeren Teil der Bevölkerung verteilt. Die Durchsetzung demokratischer Prinzipien führt im Verlauf des 5. Jhs. v. Chr. offenbar zu einem neuen Typus der Bürgerstadt, der nun überall aufritt, wo durch Neu-

80 Demand (wie Anm. 55), 45ff. 81 Am ausführlichsten ist unter diesem Aspekt die Herrschaft der Peisistratiden untersucht, vgl. Kolb (wie Anm. 50). Zu den Kypseliden vgl. Salmon (wie Anm. 9), 187ff. 82 Zu Samos vgl. Kienast (wie Anm. 20). 83 Der Riesenbau des von den Peisistratiden begonnenen Olympieions konnte jahrhundertelang nicht voll-endet werden, vgl. Renate Tölle-Kastenbein, Das Olympieion von Athen, Köln 1994. 84 Herrmann Kienast, Die Wasserleitung des Eupalinos auf Samos, Samos 19, Bonn 1995.

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gründung, Synoikosmos oder als Neubau auf den Ruinen der in den Perserkriegen zer-störten Altstädte neue Poliszentren entstehen. Die von nun an wirksamen planerischen Gesichtspunkte des "hippodamischen" Städtebaus beruhen aber, wie sich immer mehr zeigt, bereits auf Erfahrungen und Entwicklungen der archaischen Urbanistik, und in vielen Fällen bleiben Bauten und Strukturen der archaischen Städte prägend, vor allem in Heiligtümern, Plätzen, Hafenanlagen und Befestigungen. Im neuen politischen und städte-baulichen Gewand hat in den meisten Fällen die alte Rangordnung der Metropolen, nach den Kriterien, die eingangs skizziert wurden, weiterhin Bestand, bis die Neuordnung der politischen Verhältnisse im frühen Hellenismus und die Ausbreitung einer übergreifenden kulturellen "Koine" viele der ursprünglichen regionalen Einzelformen weitgehend über-deckt.

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Abb. 1 (links): Die Ausbreitung der Poleis im archaischen Grie-chenland, nach Anthony Snodgrass, Archaic Greece, London 1964, 45 Fig. 9. Abb. 2 (unten): Landschaftsstile der geometrischen Vasenmalerei, nach J. Nicholas Coldstream, The formation of the Greek Polis. Aristotle and archaeology, Rhei-nisch-Westfälische Akademie der Wissenschaf-ten. Vorträge G 272, Opladen 1984, 19 Fig. 1.

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ANDREAS SOHN, MÜNSTER/PARIS

RESIDENZENTWICKLUNG UND HAUPTSTADTBILDUNG IM HOCHMITTELALTERLICHEN FRANKREICH.

ZUR GENESE VON PARIS ALS METROPOLE1 Ein bedeutsames Charakteristikum vermag die Metropolen dieser Welt in zwei große Gruppen zu unterscheiden: die Hauptstadtrolle. So sind Städte wie New York, Rio de Janeiro, Kalkutta und Sydney lediglich Metropolen, andere wie Mexiko City, Kairo, Teheran, Tokio und Paris haben zugleich die Funktion einer Hauptstadt ihres Landes. Wenn man die Agglomeration der Seinestadt einbezieht, stellt sie eine der größten Metropolen Europas dar. Darüber hinaus gibt es Hauptstädte, die nicht als Metropolen gelten, so unter anderem Bern, Ankara, Canberra und Ottawa. Wenn wir den Blick gewissermaßen auf die "Schnittmenge" europäischer Metropolen und Hauptstädte richten, beispielsweise auch auf Berlin, Madrid, Rom, Wien, London, Brüssel und Moskau, läßt sich eine weitere aufschlußreiche Differenzierung vornehmen. Wie lange diese urbanen Zentren eine hauptstädtische Funktion besitzen, hebt sie deutlich von-einander ab. Gemessen an der Dauer dieser historischen Kontinuität ist Paris zuvörderst zu nennen, allenfalls ließe sich noch London in einer vergleichenden Weise anführen. Wenn die Hauptstadtrolle die Geschichte von Paris seit Jahrhunderten bestimmt und die Genese dieser Metropole bis zur Gegenwart wesentlich prägt, wie jüngst unter anderem Pierre Lavedan und Jean Bastié in einer urbanistischen Sicht anschaulich dargelegt haben,2 erscheint es reizvoll zu sein, sich den Anfängen dieser überaus langen historischen Ent-wicklung zuzuwenden. Hierbei ist es unerläßlich, die heute vielfältig, ja in den Massen-medien fast inflationär gebrauchten Begriffe Metropole und Hauptstadt - des öfteren bezogen auf Kunst, Kultur, Mode, Handel, Bankwesen, Sport usw. - im mittelalterlichen Kontext zu klären. Nach dem ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes, das ins Lateinische übernommen wurde, bedeutete metropolis die "Mutter-Stadt", von der städtische Neugründungen aus-gingen.3 Im östlichen Teil des Imperium Romanum hieß so auch das Zentrum einer Provinz, also der Sitz des Provinzstatthalters und der Provinzverwaltung. Die Bezeichnung 1 Der Beitrag ist nur mit den nötigsten Anmerkungen versehen worden. Hinsichtlich weiterer Belege und näherer Untersuchungen sei auf das Forschungsprojekt "Von der Residenz zur Hauptstadt. Paris im hohen Mittelalter", dem der Verf. am Deutschen Historischen Institut Paris nachgeht, und die in Vorbereitung befindliche Monographie verwiesen. 2 Pierre Lavedan/Jean Bastié, Histoire de l'Urbanisme à Paris, Nouvelle histoire de Paris, Paris 1993. 3 Zum Begriff Metropole siehe Evamaria Engel/Karen Lambrecht, Hauptstadt - Residenz - Residenzstadt - Metropole - Zentraler Ort. Probleme ihrer Definition und Charakterisierung, in: dies./Hanna Nogossek, Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Forschun-gen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Berlin 1995, 24-29; Hermenegild M. Biedermann, Art. Metropolit, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München/Zürich 1993, Sp. 584f. Vgl. Caspar Ehlers, Metropolis Germaniae. Studien zur Bedeutung Speyers für das Königtum (751-1250), Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 125, Göttingen 1996.

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wurde auf den Sitz des Bischofs in dieser Stadt übertragen, somit von der politischen oder administrativen Sphäre auf die kirchliche. Dies lag insofern nahe, als sich die kirchliche Provinzstruktur analog zur politischen seit dem beginnenden 4. Jh. ausbildete, die im übrigen das Erste Ökumenische Konzil von Nikaia 325 in seinen Beschlüssen voraussetzte. Fortan stand ein "Metropolit" der aus mehreren Diözesen bestehenden Kirchenprovinz vor. Wenn sich das lateinische Wort metropolis für Paris - soweit zu sehen - in den mittel-alterlichen Quellen nicht findet, hängt dies damit zusammen, daß die Seinestadt erst im Jahre 1622 zum Sitz eines Erzbischofs beziehungsweise eines Metropoliten erhoben wurde und bis dahin zur Kirchenprovinz Sens gehörte. Bis dahin war Paris "nur" ein Bistum unter manch anderen des französischen Königreiches. Daß der Einfluß des Pariser Bischofs tatsächlich denjenigen zahlreicher Amtsbrüder auf die Geschicke von Kirche und Gesell-schaft Frankreichs überragte, braucht eigentlich nicht betont zu werden. Die kirchen-rechtliche Bedeutung von Metropole bleibt für das Mittelalter bestimmend, was diese Epoche von der Moderne, zumal dem 19. und 20. Jh., ganz klar unterscheidet. Nicht selten wird freilich der Begriff Metropole von Historikern im Blick auf mittelalterliche Ver-hältnisse verwandt, ohne seine Bedeutung zuvor hinreichend geklärt beziehungsweise dem Leser dargelegt zu haben.4 Dann scheint ein epochenübergreifendes Verständnis des Begriffs vorausgesetzt zu werden. Gleiches gilt für den Begriff Hauptstadt, der interessanterweise umgangssprachlich häufig mit Metropole zusammenfällt. Daß die in mittelalterlichen Quellen aufzufindenden caput-Belege, zum Beispiel in der Verbindung caput regni, nicht ohne weiteres mit Hauptstadt - und schon gar nicht mit Metropole - zu übersetzen sind, ist bereits hervorgehoben worden.5 Wie läßt sich also der Begriff Hauptstadt hinsichtlich des Mittelalters angemessen verwenden? Im folgenden soll darunter nicht allein der "Sitz der zentralen Organe und Behörden eines Staates"6 verstanden werden. Ferner soll nicht ein topographisches Kri-terium ausschlaggebend sein, nämlich das Vorhandensein von Höfen und Palästen, die Bischöfe, Äbte und den hohen weltlichen Adel beherbergten und sich nahe bei der königlichen Hauptresidenz befanden.7 Statt dessen werden hier - eine Feststellung von Hermann Heimpel berücksichtigend, wonach der Begriff Hauptstadt auch "vom Mitein-ander staatlicher Macht, wirtschaftlicher Kraft, kultureller Blüte" geprägt ist,8 - vier Unter- 4 Vgl. Derek Keene, London im Jahre 1245. Eine Metropole - noch keine Hauptstadt?, in: Wilfried Hartmann (Hg.), Europas Städte zwischen Zwang und Freiheit. Die europäische Stadt um die Mitte des 13. Jahrhunderts, Schriftenreihe der Europa-Kolloquien im Alten Reichstag, Regensburg 1995, 141-154; Patrick Périn, Paris, merowingische Metropole, in: Reiss-Museum Mannheim, Die Franken - Wegbereiter Europas vor 1500 Jahren. König Chlodwig und seine Erben, Bd. 1, Mainz 1996, 121-128. 5 Siehe Engel/Lambrecht (wie Anm. 3), 12-18. 6 Edith Ennen, Funktions- und Bedeutungswandel der "Hauptstadt" vom Mittelalter zur Moderne, in: Theo-dor Schieder/Gerhard Brunn, Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten, Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts 12, München/Wien 1983, 155. 7 Carlrichard Brühl, Zum Hauptstadtproblem im frühen Mittelalter, in: Festschrift für Harald Keller. Zum sechzigsten Geburtstag dargebracht von seinen Schülern. Darmstadt 1963, 45-70, siehe hier 46, nochmals abgedruckt in: ders., Aus Mittelalter und Diplomatik. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Hildesheim/München/ Zürich 1989, 89-114, hier 90. 8 Hermann Heimpel, Hauptstädte Großdeutschlands, in: ders., Deutsches Mittelalter, Leipzig 1941, 146.

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suchungsebenen zugrunde gelegt: erstens die politisch-administrative Ebene, zweitens die wirtschaftliche, drittens die kirchlich-religiöse, viertens die kulturelle. Im folgenden soll hinsichtlich des Beispiels Paris, weithin als "Idealtyp einer Hauptstadt" im Sinne Max Webers angesehen, das Interesse besonders der Zentralfunktion auf der politisch-admini-strativen Untersuchungsebene gelten. Diese Zentralfunktion besitzt wohl die größere Be-deutung bei der Hauptstadtbildung, worauf bereits Jean Favier hinwies.9 Einem kausalhistorischen Ansatz für die Entstehung von Zentren überhaupt in der Geschichte folgend, der seine Nähe zur Zentralitäts- und Residenzenforschung nicht verleugnet,10 soll die Frage in den Mittelpunkt gestellt werden: Wie ist es dazu gekommen, daß sich Paris von einer unter mehreren kapetingischen Königsresidenzen (Compiègne, Senlis, Orléans, Étampes, Melun etc.) zu einer Hauptstadt entwickelt hat? Der zeitliche Untersuchungsraum erstreckt sich vom Herrschaftsantritt Hugo Capets im Jahre 987 bis hin zur Königsherrschaft Philipps II. (1180-1223). Die Zeit vom ausgehenden 10. bis zum beginnenden 13. Jh. war bekanntlich bedeutsam für das französische Königreich und die kapetingische Monarchie, die in Seitenlinien bis zur Französischen Revolution herrschen sollte. Ob und wie indes die Geschichte von Dynastie und Königreich im einzelnen mit der Hauptstadtwerdung verknüpft ist, bleibt noch näher zu erhellen. Daß die deutsche mediävistische Forschung, anscheinend eher als die französische, an der grenzüber-schreitenden Hauptstadtdiskussion - die gewählte Perspektive bezieht Paris oft ein - stark beteiligt ist, erklärt sich wohl aus der spezifischen politischen Situation Deutschlands im 20. Jh.11 Wer sich um die eigene Hauptstadt im unklaren weiß, fragt und diskutiert eher als derjenige, der sich ihrer sicher ist. Dies gilt für den Normalbürger ebenso wie für den Politiker und Historiker. Was die Erforschung des mittelalterlichen Paris anbelangt, so haben französische Mediä-visten anschauliche Darstellungen in der Reihe "Nouvelle histoire de Paris" vorgelegt.12 Die letzte Monographie zum Thema, freilich auch die Neuzeit bis zur Gegenwart um-greifend, stammt von Jean Favier.13 Kennzeichnend für unser Jahrhundert ist, daß urbane Gebilde gewöhnlich durch einen formalen Rechtsakt hauptstädtischen Rang erhielten: so zum Beispiel Brasilia, die neue, aus dem Boden gestampfte Hauptstadt Brasiliens, die im Jahre 1960 feierlich eingeweiht

9 Vgl. Jean Favier, Art. Paris. A. Stadt, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München/Zürich 1993, Sp. 1705-1711. 10 Ausführlich dargelegt in: Andreas Sohn, Von der Residenz zur Hauptstadt. Paris im hohen Mittelalter (in Vorbereitung). 11 Zur Hauptstadtdiskussion in Deutschland: Udo Wengst (Hg.), Historiker betrachten Deutschland. Beiträge zum Vereinigungsprozeß und zur Hauptstadtdiskussion (Februar 1990 - Juni 1991), Bonn/Berlin 1992; Uwe Schultz (Hg.), Die Hauptstädte der Deutschen. Von der Kaiserpfalz in Aachen zum Regierungssitz Berlin, München 1993; Hans-Michael Körner/Katharina Weigand (Hg.), Hauptstadt. Historische Perspektiven eines deutschen Themas, München 1995. 12 Jacques Boussard, Paris de la fin du siège de 885-886 à la mort de Philippe Auguste, Paris 1976; Raymond Cazelles, Paris de la fin du règne de Philippe Auguste à la mort de Charles V 1223-1380, Paris 1994; Jean Favier, Paris au XVe siècle (1380-1500), Paris 1974. Die ältere Literatur ist über diese Bände erschließbar. 13 Jean Favier, Deux mille ans d'histoire, Paris 1997.

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wurde und an die Stelle der Metropole Rio de Janeiro trat.14 Schon die Verfassung des Landes aus dem Jahre 1891 hatte festgelegt, die Hauptstadt ins Landesinnere zu verlegen. Die Neugründung war wesentlich von dem Vorhaben bestimmt, zur infrastrukturellen und logistischen Erschließung Zentralbrasiliens und des riesigen Amazonasgebietes beizu-tragen. Im Unterschied hierzu kann die Hauptstadtwerdung von Paris im Mittelalter - wie auch von anderen urbanen Gebilden in dieser historischen Epoche - nicht mit einem genauen historischen Datum angegeben werden, weil die Seinestadt nicht in einem formalen rechtlichen Akt zu einer solchen erhoben und eingeweiht worden ist. Insofern läßt sich also nur von einer Hauptstadtbildung, nicht von einer Hauptstadtgründung sprechen.

Paris im hohen Mittelalter Wann die historische Entwicklung dazu führte, daß Paris einen hauptstädtischen Rang erlangte, wird höchst unterschiedlich angegeben: sei es im Mittelalter, sei es in der frühen Neuzeit. In der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche behauptet Pierre Michaud-Quantin prägnant: "Mit der Thronbesteigung Hugo Capets (987-996) wurde Paris endgültig Hauptstadt."15 Ähnlich hatten sich zuvor unter anderem Louis Halphen und 14 Günter Mertins/Ulrich Karpen, Art. Brasilien (I, II, III), in: Staatslexikon, Bd. 6, 7Freiburg/Basel/Wien 1992, 459-462. 15 Pierre Michaud-Quantin, Art. Paris 1. Stadt, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, Freiburg 21963, Sp. 93. Vgl. Robert-Henri Bautier, Quand et comment Paris devint capitale, in: Bulletin de la Société de l'histoire de Paris et d'Ile-de-France 105, 1978, 17-46, nochmals gedruckt in ders., Recherches sur l'histoire

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Gustav Roloff in der Festschrift "Das Hauptstadtproblem in der Geschichte" geäußert, die zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes im Jahre 1952 erschien.16 Doch läßt sich eine solche Behauptung nicht länger aufrecht erhalten, weil Hugo Capet (987-996) und sein Sohn Robert II. (996-1031) ihren Herrschaftsmittelpunkt eher in Orléans an der Loire, einer Stadt, über welche das robertinische Geschlecht schon seit längerem verfügte, als in Paris hatten.17 Der Geschichtsschreiber Rodulfus Glaber († 1047), ein burgundischer Mönch, stellt die Bedeutung der Loirestadt als regnum Francorum principalis sedes heraus.18 Zum Kreis der bevorzugten königlichen Residenzorte während der Herrschaft Roberts II. gehörten nach seinem Biographen Helgald von Fleury zudem Paris, Senlis, Melun, Étampes und andere Orte, welche dieser als sedes regni bezeichnet.19 Hieran zeigt sich, wie sehr sich der Schwerpunkt der Königsmacht, der sich zur Zeit der Karolinger am nordöstlichen Rand Westfrankens befunden hatte, unter den Kapetingern geographisch in das Gebiet zwischen Orléans und Compiègne verlagerte. Zwischen beiden Städten er-streckte sich über 200 km die Krondomäne, die aus einem Geflecht von Rechten, Besitz und Einkünften bestand. Anders als sein Großvater und Vater verlegte Heinrich I. (1031-1060) um die Mitte des 11. Jhs. seinen Herrschaftsmittelpunkt von der Loire an die Seine. Diese politische Kurs-korrektur kann in ihrer Tragweite nicht unterschätzt werden. Die relativ meisten Königs-urkunden wurden von nun an in der Seinestadt ausgestellt. Darüber hinaus wählte Heinrich I. nicht Orléans, sondern Paris für seine größte Stiftung aus: Im Jahre 1060, kurz vor seinem Tode, gründete er vor den Toren der Stadt das Regularkanonikerstift Saint-Martin-des-Champs, das sein Sohn Philipp I. 19 Jahre später den Cluniacensern übergab (siehe Abb.).20 Saint-Martin-des-Champs spielte für die weitere Entwicklung von Paris, auch in urbanistischer Hinsicht auf dem rechten Seineufer, eine wichtige Rolle.21 Der Kloster-

de la France médiévale. Des Mérovingiens aux premiers Capétiens. (Collected Studies Series 351), Hamp-shire 1991, I, 17-46. 16 Louis Halphen, Paris sous les premiers Capétiens (987-1223). Étude de topographie historique, Biblio-thèque d'histoire de Paris, Paris 1909, 8; Gustav Roloff, Hauptstadt und Staat in Frankreich, in: Das Haupt-stadtproblem in der Geschichte. Festgabe zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes, gewidmet vom Friedrich-Meinecke-Institut an der Freien Universität Berlin, Jahrbuch des deutschen Ostens 1, Tübingen 1952, 249. 17 Carlrichard Brühl, Palatium und Civitas Studien zur Profantopographie spätantiker Civitates vom 3. bis zum 13. Jahrhundert, 1, Köln-Wien 1975, 11, 45. 18 Rodulfus Glaber, Historiarum libri quinque, ed. John France, Oxford Medieval Texts, Oxford 1989, 68. 19 Helgald von Fleury, Epitoma vitae regis Rotberti Pii, ed. Robert-Henri Bautier/Gillette Labory, Sources d'histoire médiévale 1, Paris 1965, 102. 20 Andreas Sohn, Vom Kanonikerstift zum Kloster und Klosterverband. Saint-Martin-des-Champs in Paris, in: Hagen Keller/Franz Neiske (Hg.), Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit. Akten des Internationalen Kolloquiums des Projekts L 2 im SFB 231 (22.-23. Februar 1996), Münstersche Mittelalter-Schriften 74,. München 1997, 206-238. 21 Andreas Sohn, Die Kapetinger und das Pariser Priorat Saint-Martin-des-Champs im 11. und 12. Jahr-hundert. Mit Ausblicken auf die Beziehungen zwischen dem Konvent und den englischen Königen, in: Francia 25/1, 1998.

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komplex, in dessen Kirche sich heute Exponate des ältesten Technikmuseums der Welt - von Umberto Eco eindrucksvoll in seinem Roman "Das Foucaultsche Pendel" beschrieben - befinden, erhebt sich an der alten römischen Straße, die Paris wie ein schnurgerader Strich durchzog. Über diese gelangten Pilger, die sich von Senlis, Flandern oder dem Rheinland aus nach Santiago de Compostela aufgemacht hatten, an die Seine. Was sich unter Heinrich I. als Herrschaftsmittelpunkt abzuzeichnen begann, gewann zu Zeiten seiner Nachfolger Philipp I. (1060-1108), Ludwig VI. (1108-1137) und Ludwig VII. (1137-1180) immer deutlichere und festere Konturen.22 Die relative Zahl der in Paris ausgestellten Königsurkunden nahm zu, die Aufenthalte der Herrscher dort wurden zahl-reicher, ihre Maßnahmen zur Umgestaltung der Stadt vervielfältigten sich. Das politische Machtgravitationszentrum des französischen Königreiches befand sich zweifellos fortan in Paris. Wie sehr sich die Seinestadt seit der zweiten Hälfte des 11. Jhs. veränderte und neue urbanistische Gesichtszüge gewann, läßt sich heute weitaus besser und klarer beschreiben als es der Forschung vor einigen Jahrzehnten oder zu Beginn unseres Jahrhunderts möglich war. Neben Quelleneditionen und Erschließungen neuer Überlieferungen hat hierzu die stadtarchäologische Forschung beigetragen, die in Paris in den letzten Jahren und Jahr-zehnten beachtliche Fortschritte gemacht hat.23 Der Umbruch im Paris des ausgehenden 11. und 12. Jh. war allenthalben zu greifen: Morastige Gebiete um den nördlichen Seinearm und auf dem rechten Ufer wurden trocken-gelegt, fruchtbare Äcker, blühende Felder und saftige Weiden traten an die Stelle von Sümpfen, neue Straßentrassen ergänzten das alte römische Wegenetz, Siedlungen (burgi) entstanden um Klöster und Stifte und formten sich rasch zu eigenen Vorstädten aus, gotische Pfarrkirchen für die schnell zunehmende Bevölkerung wuchsen in den Himmel, Häuser türmten sich auf den Seinebrücken, immer mehr Wassermühlen wurden hier vertäut usw. Um 1200 mögen etwa mehrere zehntausend Menschen in der Stadt gewohnt haben. Wie stark die hochmittelalterlichen Veränderungen Paris bis in unser Jahrhundert hinein prägen sollten, zeigt sich beispielhaft an dem Markt, den Ludwig VI. auf dem rechten Ufer hat anlegen lassen und dessen Hallen auf Betreiben Philipps II. errichtet worden sind.24 Daher sollte dieses Stadtviertel "Les Halles" genannt werden. Als der Markt von hier im Jahre 1969 nach Rungis verlegt wurde, verlor Paris nicht nur seinen berühmten "Bauch" (Émile Zola, 1873), sondern endete zugleich eine bemerkenswerte, mehr als 800 Jahre währende topographische Kontinuität. Doch kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Worauf beruhte die Dynamik dieser hochmittelalterlichen Entwicklung, die in der Retrospektive so unaufhaltsam erscheint und sich im Spätmittelalter ungebrochen fortsetzt? Wieso entfalteten sich die politischen Wirkkräfte gerade in Paris, warum nicht in anderen königlichen Residenzorten wie Senlis, 22 Siehe zu diesen Königen Rolf Große, Dietrich Lohrmann und Joachim Ehlers in Joachim Ehlers/Heribert Müller/Bernd Schneidmüller (Hg.), Die französischen Könige des Mittelalters. Von Odo bis Karl VIII. 888-1498, München 1996, 113-154. 23 Andreas Sohn, Zum hundertjährigen Bestehen der Commission du Vieux Paris, in: Francia 27/1, 2000 (im Druck). 24 Favier (wie Anm. 12), 240-246.

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Étampes, Melun, Compiègne oder Orléans? Und warum entschieden sich die französischen Könige überhaupt für die Seinestadt als Hauptsitz? Die relativ günstige Verkehrslage von Paris - im Schnittpunkt römischer Straßen, an der Flußverbindung zwischen dem Landesinneren und der Kanalküste - ist von der älteren stadthistorischen Forschung gewiß zu Recht hervorgehoben worden. Doch galt das nicht erst für Heinrich I., sondern schon für seinen Großvater Hugo Capet und seinen Vater Robert II., die freilich Orléans vorzogen. Wer überdies nicht an eine säkulare Prädesti-nationslehre von der Hauptstadtrolle von Paris glauben will,25 sollte wohl die damalige politische Gesamtlage entsprechend beachten. So ist meines Erachtens die Kurskorrektur Heinrichs I. wesentlich vor dem Hintergrund der neu entstandenen bipolaren Macht-konstellation zwischen dem Herzog von der Normandie und dem französischen König zu sehen, die um die Jahrhundertmitte zum Ausbruch erbitterter und anhaltender Kämpfe führte. Während Paris nach dem Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte im Jahre 911 von normannischen Angriffen verschont blieb, drohten fortan neue Eroberungszüge. Die militärisch-strategischen Interessen beider Seiten stießen im Vexin, dem großen Kalk-plateau nordwestlich von Paris, hart aufeinander. Ein forcierter Burgenbau beiderseits des Flusses Epte, der eine natürliche Grenze darstellte und von Paris etwa 60 bis 70 km entfernt liegt, war in den folgenden Jahrzehnten die Folge.26 Zur anglo-normannischen Bedrohung kamen die Gefahren hinzu, die von aufsässigen Burgherren und Grafen rings um Paris ausgingen. Deshalb war die Präsenz des französischen Königs mehr im geo-graphischen Mittelbereich seiner Krondomäne und damit auch in der Seinestadt er-forderlich. Orléans lag vergleichsweise eher abseits. Wie sehr im übrigen "äußere" und "innere" Sicherheit miteinander verklammert waren und unmittelbar Paris betrafen, zeigt ein Ereignis im März des Jahres 1111.27 Damals bemäch-tigte sich der Graf von Meulan, Robert I. von Beaumont († 1118), der nicht nur über großen Grundbesitz um die Kirche Saint-Gervais und den Hafen Grève auf dem rechten Ufer und im Vexin, sondern auch in der Normandie und im englischen Königreich verfügte, in einem Handstreich der Seineinsel und der königlichen Residenz. Damit rächte er sich für die Eroberungen seiner Güter durch Ludwig VI., der ihm seine Parteinahme für den englischen König Heinrich I. übelgenommen hatte. Robert I. ließ das königliche palatium plündern und die Holzbrücken abbrechen. Allein der bewaffnete Aufstand der Bürger, die auf der Insel wohnten, konnte den Grafen wieder vertreiben. Um künftigen Angriffen vorzubeugen, ließ der König, dessen strategische Macht an einem neuralgischen Punkt getroffen worden war, seine Residenz neu befestigen und die Seine-brücken wieder aufbauen.28 Ohne die Seineinsel konnte er Paris nicht beherrschen. Zum 25 Vgl. Camille Jullian, Les origines de Paris capitale, in: La Revue de Paris 6, 1912, 549f. 26 Siehe vorläufig die Hinweise zum "französischen" und "normannischen" Vexin in Jean Mesqui, Châteaux et enceintes de la France médiévale. De la défense à la résidence, 2 Bde., Paris 1991-1993. 27 Dargestellt in Robert-Henri Bautier, Paris au temps d'Abélard, in: Abélard en son temps. Actes du colloque international organisé à l'occasion du 9e centenaire de la naissance de Pierre Abélard (14-19 mai 1979), Paris 1981, 40f. 28 Grundlegend für die Geschichte der königlichen Residenz auf der Seineinsel: Jean Guerout, Le Palais de la Cité à Paris des origines à 1417. Essai topographique et archéologique, in: Mémoires de la Féderation des

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Schutz des königlichen palatium wurde ein großer, runder Festungsturm errichtet, der 11,70 m im Durchmesser maß. Die massiven Mauerwände der Basis hatten eine Dicke von 3 m. Der Turm galt als so sicher, daß von nun an der königliche Schatz dort aufbewahrt wurde. Außerdem ließ Ludwig VI. die Kapelle des heiligen Nikolaus, an deren Stelle sich später die Sainte-Chapelle seines Urenkels Ludwig des Heiligen erheben sollte, restau-rieren, dotierte sie reichlich und stellte einen Kaplan an. Von der hochmittelalterlichen Residenz, deren Grundriß nicht eruiert werden kann, ist wegen der Neubauten seit Ludwig dem Heiligen und Philipp dem Schönen kaum etwas erhalten. Einen Handstreich wie im Jahre 1111 sollte eine Festungsanlage auf dem rechten Ufer verhindern: das Châtelet. Es beherrschte den Zugang zur sogenannten großen Brücke. Ludwig VI., dessen Leibesfülle ihm den Beinamen "der Dicke" eintrug, plante ferner, eine größere Festung am Ufer weiter stromabwärts zu errichten. Solch ein Projekt sollte erst sein Enkel Philipp II. mit dem Bau des Louvre verwirklichen.29 Unter ihm sollte Paris zur hoch gerüsteten Festungsstadt ausgebaut werden. Eine wuchtige Stadtmauer mit vielen Wehrtürmen, von der sich beachtliche Reste erhalten haben, umgab die Stadt auf dem linken und rechten Ufer und schützte sie. Im Jahre 1204 gelang Philipp II. die Eroberung der Normandie, deren Bedeutung für die Geschichte des französischen Königreiches auf der Hand liegt. Wie sehr sich im 12. Jh. Politik und Administration in Paris zu zentrieren begannen, zeigen die aus einzelnen Ämtern am Königshof entstehenden Behörden und die Jahre der herr-scherlichen Stellvertretung an. Zu den Behörden, die ihren festen Sitz in Paris, entweder in der königlichen Residenz oder im näheren Umkreis, hatten, zählten unter anderem die Kanzlei, das Hofgericht und die Finanzverwaltung. An der Spitze der Verwaltungsbezirke stand jeweils ein vom König ernannter praepositus. Der Amtssitz des Pariser prévôt befand sich im Châtelet. Als Ludwig VII. und Philipp II. auf dem Kreuzzug außer Landes weilten, wirkten eingesetzte Regenten an ihrer Stelle: von 1147 bis 1149 der Abt Suger von Saint-Denis, in den Jahren 1190 und 1191 Philipps Mutter Adela von Blois-Champagne und ihr Bruder Wilhelm, damals Erzbischof von Reims.30 Diese beiden gaben den Bewohnern des Reiches an bestimmten Tagen in Paris Gelegenheit, Klagen vorzubringen. Dorthin sollten an drei Tagen im Jahre die Einkünfte und Steuern des Königreiches gebracht werden. Der Kronschatz war in die Obhut der Templer gegeben worden, die damals als finanzstärkste Bankiers agierten. Sechs prominenten Bürgern aus Paris waren die Schlüssel zu den Truhen anvertraut, darunter dem Geldwechsler Evraldus. Insgesamt zeigt sich deutlich, wie die politisch-administrative Entwicklung von Paris, genauer von dem dort hauptsächlich residierenden Königtum, gelenkt und zugleich auf Paris bezogen war.

Sociétés historiques et archéologiques de Paris et de l'Ile-de-France 1, 1949, 57-212; 2, 1950, 21-204; 3, 1951, 7-101, zum Hochmittelalter siehe im ersten Teil der Untersuchung. 29 Délégation à l'action artistique de la ville de Paris, L'enceinte et le Louvre de Philippe Auguste. A l'occasion du 90e anniversaire de la Commission du Vieux Paris 1988. 30 Boussard (wie Anm. 12), 306ff.

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Daß Paris seit der Zeit Heinrichs I. zunehmend Funktionen einer Hauptstadt zuwuchsen und diese sich bis zum Ende des Königtums Philipps II. verfestigten, entsprang einer konkreten historischen Gesamtlage und den Entscheidungen der französischen Monarchen. Militärischer Schutz und strategische Sicherheit schufen die Voraussetzungen dafür, daß sich der wirtschaftliche Aufschwung und das kulturelle Leben um die entstehende Universität in den Mauern der Seinestadt und darüber hinaus ungestört entfalten konnten. Während des gesamten Mittelalters sollte es im übrigen nicht zum Aufbau einer Kommune kommen. Der Monarch blieb Stadtherr von Paris - und war in "seiner Stadt" mächtiger als beispielsweise der Papst in Rom. Die Hauptstadtwerdung in Frankreich ging einher mit dem Erstarken der kapetingischen Königsmacht. Das sakral geschützte Königtum konnte sich in einem geographisch relativ eng umgrenzten Raum, nämlich der Krondomäne, ein verdichtetes Herrschaftsgebiet schaffen. Hier tritt bereits der eklatante Unterschied zu den Staufern zutage, die einen in den Dimensionen gewaltigen geographischen Raum zu kontrollieren hatten, der von der Nordsee bis zum Mittelmeer reichte. Paris wurde zunächst das Zentrum der Krondomäne, dann von ganz Frankreich. Die in der Nähe gelegene Abtei Saint-Denis, die mehr als nur das neue geistliche Zentrum, mehr als nur die Grablege des kapetingischen Königs-geschlechts und der Aufbewahrungsort der königlichen Insignien wurde, verstärkte diese Zentralität und wirkte auf die sich formende französische Nation einheitsstiftend. Bischöfe, Äbte und hohe weltliche Adelige suchten die Nähe des Königs und seiner Residenz und erbauten sich eigene Paläste in der Seinestadt. Im Verlauf des 13. Jhs. verlagerte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt von den Champagne-Messen nach Paris. Aus der königlichen Residenz auf der Seineinsel entwickelt sich also in vielfältigen Schüben und Wandlungen die Capitale Frankreichs. Mit der Herrschaft Philipps II. war wohl eine erste Phase in der Hauptstadtwerdung abgeschlossen. Wie sich die Hauptstadt-rolle von Paris im Spätmittelalter verfestigte, ist einem Brief des Königs Karl VI. vom 3. März 1402 oder 1403 zu entnehmen:

"En nostre ville de Paris, qui est la principale ville de nostre royaume et en laquelle noz prédécesseurs roys ont accoutumé, de très long et anciens tems, faire leur résidence, et [...] y est le siège souverain de la justice de nostredit royaume, ne doive estre aucune tache de répréhension, mais à la bonne police et au bon gouvernement d'icelle toutes les autres cités et villes de nostre royaume doivent prendre bon exemple."31

Der Prozeß der Hauptstadtbildung in Frankreich, der eine differenziertere Beurteilung ver-langt, als Beiträge der älteren stadthistorischen Forschung und von modernen Massen-medien popularisierte Bilder und Vorstellungen vermitteln, legte den Grund für die Ent-wicklung zur Metropole. Ohne Hauptstadt geworden zu sein, dürfte Paris wohl kaum den Rang einer Metropole erlangt haben. Ab wann von einer solchen gesprochen werden kann oder sollte - gewiß erst nach dem Hochmittelalter - , bedarf noch einer vertiefenden Unter-suchung. Jenseits der historischen Individualität des städtischen Gebildes von Paris stellt sich die Frage nach den Grundlagen und Bedingungsfaktoren der Genese einer Hauptstadt be- 31 Zit. nach Gustave Dupont-Ferrier, L'ascendant de Paris, in: Bulletin de la Société de l'histoire de Paris 67-68, 1940-1941, 15.

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ziehungsweise einer Metropole, besonders im Zeichen der Globalisierung. Die hier vor-getragenen skizzenhaften Bemerkungen mögen zu diesem wissenschaftlichen Diskurs einen bescheidenen Beitrag leisten. Die Frage drängt sich auf: Gibt es historisch eruierbare "Regeln" für das Werden eines multifunktionalen urbanen Zentrums? Und inwieweit lassen sich die am Fallbeispiel Paris gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinern? Wenn ich recht sehe, stehen wir - aus der Perspektive des Mediävisten formuliert und vornehmlich das Mittelalter im Blick - eher noch am Anfang einer solchen Diskussion. Daß von dieser weiterführende und ertragreiche Aufschlüsse - über die wissenschaftlichen Einzel-disziplinen hinaus - zu erwarten sind, steht schon jetzt außer Zweifel.

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VITTORIO FRANCHETTI PARDO, ROM

LE CITTÀ IDEALI NELLA CULTURA RINASCIMENTALE ITALIANA Il significato moderno del termine metropoli esprime il concetto ed il fenomeno territoriale di un tipo di città che svolge un ruolo di capoluogo: tanto in senso politico, quando quella città sia sede stabile dell'esercizio di un potere istituzionale e quando dunque svolge la funzione di capitale di una formazione statale, quanto anche in senso economico quando cioè essa si trovi ad essere il centro insediativo di una dinamica, appunto economica, il cui effetto si proietta ad interessare un'area più o meno estesa. Questa duplice valenza del significato moderno del termine è il punto di arrivo di una vicenda storica che nell' Occidente europeo prende le mosse dai primordi della formazione degli stati territoriali: a partire cioè dai primi esempi della tarda età medievale ma più generalmente e compiu-tamente dalla fase iniziale della cosiddetta età moderna. E ciò anche se, in verità, quel fenomeno era sostanzialmente avvertibile in alcuni fondamentali casi dell'antichità: dalla città di Alessandria in età ellenistica, alla Roma imperiale, e poi a Costantinopoli che, divenuta Bisanzio, mantiene questo ruolo almeno fino alla metà del Quattrocento. Però poi, per quanto attiene al mondo europeo occidentale, il fenomeno era scomparso dal quadrante storico perchè la duplice attuale valenza del concetto di metropoli è difficilmente appli-cabile alle città medievali europee. Va però sottolineato che anche entro l'ambito geostorico europeo il termine metropoli non ha avuto sempre il significato attuale. Nell'età greca arcaica, del tutto differentemente da oggi, il termine indicava infatti il ruolo di una città dalla quale un gruppo di cittadini si muoveva per andare a fondare, in altri territori, le cosiddette colonie: nuovi poli insediativi dotati di una certa autonomia tanto sul piano economico quanto anche su quello della vita politica. Il legame della colonia con la città di origine, cioè con la "città madre" (in greco appunto metropolis), si esplicitava dunque in altri aspetti di ordine culturale: nell'uso della lingua, nei costumi sociali, nelle forme istituzionali, nelle tradizioni cultuali religiose, nella cultura artistica, ecc. Anche se poi, nel prolungarsi del contatto con le preesistenze del contesto territoriale, anche questi aspetti, intersecandosi con le componenti e le pre-esistenze locali, hanno dato luogo a forme di sincretismo che modificavano le carat-teristiche e gli assetti originari della colonia. A tale riguardo ciò che qui mi interessa notare è il fatto che in un certo senso le colonie greche possono essere considerate come espres-sione urbana di una idealizzazione di quel concetto di città che i colonizzatori avevano maturato nella "città madre". Non sarà inutile ricordare, per esempio, che l'aspetto insedia-tivo delle colonie greche era anche il prodotto di una precisa cultura tecnica, di ordine geometrico, i cui effetti, vale a dire la configurazione e dimensione dei lotti edificatori, la rete dei tracciati delle strade, le tipologie edilizie e così via, si possono leggere anche come valori formali peculiari e specifiche di questo o quel gruppo di colonie. Per quanto si riferisce al tema che qui vado svolgendo, credo di poter sostenere che entrambi i significati del termine metropoli, quello attuale e quello antico, sono in varia misura presenti nella cultura urbana rinascimentale e postrinascimentale italiana; secondo combinazioni ed articolazioni non sempre facilmente individuabili. Invece la letteratura critica che si è occupata di questo argomento, ha in genere teso a riassumere la complessità del fenomeno riconducendolo e unificandolo nel troppo generico concetto di "città ideale";

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in tal modo trascurando spesso le non poche differenze che si colgono nel suo divenire storico. Per valutare meglio la portata e l'entità di quanto è sotteso al concetto di "città ideale", rinascimentale e postrinascimentale, italiana è così utile ed opportuno muovere dal quadro urbano che l'Italia presentava verso la metà del XVI secolo: per fare poi gli opportuni riferimenti all'indietro, riportandosi alla fase iniziale di questo processo cul-turale, ed in avanti, proiettandosi fino ad analizzarne i tardi sviluppi teorici e pratici. Nell'Italia della metà del Cinquecento, in seguito alle lotte tra le potenze italiane ed a quelle tra Francia e Spagna che avevano per oggetto i territori italiani, ed in conseguenza anche dei mutamenti negli equilibri politici ed economici nell'intero bacino mediterraneo, il quadro degli assetti statali varia in misura assai forte, andando ad assumere connotati e caratteri che saranno destinati a durare per lungo tempo. Ciascuno dei principali stati ita-liani (Genova, Milano, Mantova, Ferrara,Venezia, Firenze, Urbino, lo Stato della Chiesa, ed anche, al sud, gli stati dominati dall'impero) avvia una larga ed impegnativa politica di riassetto territoriale; che oltre a modificare i vari sistemi delle infrastrutture su larga scala, in particolare in materia di scelte strategico-difensive, di organizzazione economico-produttivistica, di organizzazione amministrativa e culturale e così via, avvia e promuove anche un processo di specializzazione nel ruolo assegnato a ciascuna città. Rispetto alla condizione territoriale precedente ora il quadro presenta molte novità. I signori che dominavano nelle città principali, o direttamente in forma principesca, o indirettamente attraverso organi istituzionali posti sotto il loro controllo, fondavano il loro potere sui gruppi di famiglie più influenti nella propria città ma anche su quelli delle città assoggettate. Così questi signori, mentre da un lato agivano in modo da privilegiare la città capoluogo, da altro lato ammettevano che le città dominate mantenessero alcune delle loro peculiarità; semprechè, naturalmente, queste non danneggiassero i loro interessi nella città dominante. Per effetto di questo processo di specializzazione funzionale, e di organizza-zione gerarchica del territorio, le città dominate perdono comunque il peso ed il significato che avevano avuto durante la fase comunale vera e propria, ed anche i ceti cittadini assumono ruoli e caratteristiche diversi da prima. Il precisarsi di sistemi politici su base monocratico-dinastica o su base oligarchica, produce una sempre maggiore divaricazione tra ricchi e potenti e gruppi impoveriti o comunque subordinati, mentre porta alla ribalta i nuovi ceti del funzionariato pubblico: amministrativo, giuridico, tecnico, militare, artistico, di corte e così via. La nuova realtà gioca anche in maniera determinante nel processo di riconnotazione funzionale e simbolico-ideologica delle città italiane:sia quelle già esistenti e sviluppate, sia quelle che subiscono un processo di vera e propria rifondazione, sia quelle fondate ex-novo. Il tema delle "città ideali" dell'Italia rinascimentale si attaglia meglio a questi due ultimi casi e più in particolare all'ultimo; di cui in ogni modo, si incontrano numerosi esempi tanto al nord come al sud della penisola italiana. Rispetto a tali casi occorre analizzare però se, e in quale misura, la componente "ideale" sia concretamente riconoscibile entro il più largo capitolo della cultura urbana dell'Italia della prima età moderna. Che è un capitolo nel quale vengono fatte confluire proposte teoriche e realizzazioni (parziali od integrali) le quali non sono poi sempre riconducibili entro un comune ed omogeneo orizzonte concettuale: anche perchè esse sono temporalmente dislocate entro un arco cronologico che, esteso come esso è tra metà Quattrocento ed inizi Seicento, risulta della durata di quasi due secoli ed attraversa una fase decisiva del passaggio dalla prima età moderna a quella che è stata definita come l'età delle società di "antico regime".

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Conviene entrare nel merito. Nel corso del Quattrocento, anche senza voler considerare i casi di forte modificazione di alcune delle città maggiori (da Firenze, a Roma, a Venezia, a Milano), le città di Pienza ed Urbino subiscono un processo di riconnotazione funzionale e formale pressochè integrale; tale cioè da poterle considerare, malgrado i non trascurabili condizionamenti delle preesistenze, come città di nuovo impianto. Nel Cinquecento gli esempi sono ancor più numerosi. Tra i più significativi vanno considerati le città toscane di Cosmopoli (oggi Portoferraio) del 1548-59, di Terra del Sole (1564), di Livorno (dal 1576); la città emiliana di Sabbioneta (1560); la città veneta di Palmanova (1593); la città di Castro tra Lazio e Toscana. Inoltre, in Puglia, già dal 1535 era in atto il processo di formazione del piccolo centro di Acaja ed altri centri si andavano costituendo in varie parti del territorio peninsulare ed insulare italiano. Vanno inoltre considerati cinquecenteschi altri importanti e primari centri urbani anche se per alcuni di questi si devono ricordare le premesse quattrocentesche: come nel caso della "addizione" promossa da Ercole d'Este per Ferrara, od in quello di Mantova sostenuto dai Gonzaga. Vi sono da prendere infine in considerazione anche importanti casi che pur riferendosi a centri esterni al territorio italiano, sono tuttavia strettamente collegati alla cultura italiana: i numerosi centri che i veneziani ed i Cavalieri dell'Ordine di Malta, o di Ordini similari, hanno fondato o rifondato lungo le coste o nelle isole del bacino adriatico e del Mediterraneo orientale. La distribuzione geografica di queste iniziative, da un lato, le diverse figure di committenti od ispiratori (papi, principi, feudatari di varia natura, governi oligarchico-principeschi o altro), dall'altro lato, sono gli elementi che ci consentono di capire come all'origine di ciascuna delle iniziative stessero motivazioni diverse, e come, quindi, da queste scaturissero anche soluzioni urbanistiche altrettanto diversificate: pur se è innegabile che esse sono tutte chiaramente collocate entro le linee ed i principi di una medesima cultura urbana. Così si deve in particolare sottolineare la centralità del tema geometrico nella configurazione dei tessuti urbani ed anche, sempre sul piano della organizzazione formale, il valore simbolico ed ideologico, ed in alcuni casi anche astrologico, che la scelta della figura veniva talvolta ad assumere. Un dato importante per il ragionamento che qui vado svolgendo è la circostanza che anche i sistemi fortificatori cittadini fossero caratterizzati da circuiti murari o bastionati con evidentissime connotazioni e configurazioni geometriche. È questo, credo, l'elemento che ha spinto molti studiosi della storia urbana a considerare gran parte dei centri urbani fondati o rifondati nel Cinquecento come le tappe e le conseguenze dello sviluppo delle proposte avanzate dai trattatisti quattrocenteschi in materia di modelli urbani: appunto i modelli delle "città ideali", che dovevano risultare alternativi o sostitutivi di quelli esistenti. In tal modo la figura urbana, la forma urbis, cioè l'immagine planimetrica della città, viene ad essere assunta come espressione ed essenza stessa delle nuove città. La trama geometrica di involucramento dello spazio cittadino, così come la geometria dei tracciati del tessuto edilizio, cioè l'universo urbano dove i cittadini nascono, crescono, lavorano, si svagano, formano famiglie, si uniscono in comunità religiose o in associazioni civili, si combattono, si arricchiscono, si impoveriscono, muoiono, sarebbero il corrispettivo della più generale lettura dello spazio fisico in quella chiave geometrico-prospettica che è propria della cultura del Rinascimento. In sostanza gli schemi di città che compaiono nei trattati del Filarete, di Francesco di Giorgio, del Dürer, sarebbero i punti di partenza di una modellistica urbana le cui ulteriori sistematizzazioni e sperimentazioni si dovrebbero cogliere nelle più tarde opere dei trattatisti italiani del tardo Cinquecento e dei primi del Seicento: Cataneo, Maggi, Bellucci, Lorini, De Marchi,

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Giorgio Vasari il Giovane, forse l'Ammannati; tanto per citare alcuni tra i più significativi. Il tramite tra i due diversi momenti di questa trattatistica, quello tardo-quattrocentesco e del primo Cinquecento e quello successivo, sarebbe individuabile da un lato soprattutto negli scritti del Serlio e del Palladio in materia di città, e dall'altro lato nell'opera di tecnici quali il Buontalenti, il Sammicheli, lo Scamozzi, il Laparelli, il Lanci, e così via. Pertanto, seguendo questo percorso storiografico, la "città ideale" del Quattrocento si sarebbe in-carnata e manifestata in alcune città cinque-seicentesche. Ma ciò mi appare sostenibile soltanto se si guarda alle città come prodotti di una cultura artistica; se si guarda cioè alle piante urbane come ad immagini figurali le quali, appunto sotto il profilo della figuratività, possono essere fatte rientrare all'interno di un paradigma storiografico predeterminato. Si approda invece a diverse conclusioni se si tiene contemporaneamente conto sia del ruolo territoriale assegnato a quelle città, sia delle caratteristiche della vita che in esse si svolgeva, sia del quadro culturale ed ideologico entro il quale sono maturate rispettiva-mente le proposizioni dei trattatisti del primo e del secondo momento. Conviene pertanto descrivere la sequenza cronologica dell'intera vicenda per correlarla agli sviluppi che nel frattempo si colgono nella società e nella cultura urbana italiana. All'incirca alla metà del Quattrocento Leon Battista Alberti scrive il suo celebre trattato De re aedificatoria nel quale il tema della città è svolto tenendo conto, razionalizzandole, delle esperienze sedimentate durante quasi due secoli dalla cultura urbana italiana. Compare così la distinzione tra città maggiori (quelle dominanti) e minori (quelle subalterne) per le quali sono consigliati tracciati viari e sistemi edificatori differenziati. Nelle prime vi saranno ampie strade rettilinee, nelle seconde, invece, vie sinuose e di sezione più ristretta. Ciò per considerazioni di ordine climatico (nelle grandi città si determinano situazioni particolari), di ordine militare (le strade sinuose si prestano meglio alla difesa, ma le grandi città hanno altri sistemi difensivi), infine di ordine concettuale e simbolico, cioè di immagine. Un'altra serie di considerazioni riguarda la classificazione di differenti di strade in relazione al fatto se esse siano esterne alla città e quindi riferite alle comunicazioni a largo raggio, o se, invece, esse siano all'interno del tessuto cittadino. Entrambi gli ordini di considerazioni riflettono direttamente la situazione territoriale che si era creata nelle città italiane dalla fine del Duecento e che perdurava sostanzialmente in quelle della metà del Quattrocento. Nel trattato albertiano vi è poi, come è del resto deliberatamente dichiarato, una serie di precisi riferimenti al trattato di Vitruvio che l'autore, dell'epoca di Augusto, aveva pubblicato nel clima politico e culturale della cosiddetta pax augustea; un clima con il quale si identificava ideologicamente la cultura umanistica di Firenze ma anche quella di altre città e corti del tempo (Milano, Urbino, Venezia, Ferrara, Roma, Napoli) anche alla luce delle componenti poi dette rinascimentali. Sotto questo profilo non appare sostenibile la tesi che individua nel trattato dell'Alberti elementi che anticipano nuovi modelli urbani: quanto contenuto nell'opera è, come detto, il punto di arrivo delle conoscenze passate che ora venivano sistematizzate e razionalizzate. Che è appunto il quadro culturale entro il quale, in concreto, agendo cioè nel senso di modificare per punti il tessuto cittadino esistente, operavano i committenti e gli architetti del primo Rinascimento italiano. Ne è un esempio, tra gli altri, il caso dell'iniziativa promossa da Pio II per trasformare l'antico centro fortificato di Corsignano nella nuova città di Pienza (a tale scopo elevata anche a sede episcopale) affidandone l'incarico progettuale e realizzativo, certo non casualmente, al Rossellino che era culturalmente e professionalmente molto vicino all'Alberti. E ne sono altri esempi le iniziative intraprese

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nelle principali città del tempo: a Firenze, a Roma, a Milano, a Venezia; dove l'impronta rinascimentale, cioè la proiezione di un modello "ideale" di città, compare soltanto in talune parti del tessuto cittadino e di solito in corrispondenza di interventi edilizi di notevole impegno: palazzi delle corti locali o del patriziato cittadino, chiese, ospedali, strutture pubbliche e simili. I cui committenti, per il loro peso politico od economico, riuscivano appunto talvolta, ma non sempre, a far modificare in senso "rinascimentale", e cioè in sintonia con il nuovo edificio, anche gli spazi urbani circostanti. Ed è proprio in questo tentativo dei potenti del tempo, di sovrapporre un preciso modello innovativo a quanto esisteva, che si è portati a cedere alla suggestione di cogliere una quasi certamente inconscia ed inconsapevole analogia tra l'atteggiamento "rinascimentale" e quello, antico, dei coloni della grecità; o, quanto meno, più credibilmente, i riflessi che la colonizzazione greca ha in parte avuto nella cultura insediativa romana. Quale fosse l'insieme della scena cittadina cui pensavano di pervenire gli architetti del tardo Quattrocento ce lo possono indicare tanto le due celebri "vedute" di città ideali di Urbino (forse attribuibile a Francesco di Giorgio) e di Berlino, quanto anche le numero-sissime altre "vedute" urbane che figurano nelle opere pittoriche e nelle spesso rafffina-tissime tarsie lignee (a decorazione di mobili, pannelli, sedili) dell'epoca. Sono scene nelle quali le piazze e le strade sono fiancheggiate da edifici "all'antica" (o addirittura antichi: archi trionfali, anfiteatri, rotonde, ecc.), cioè rinascimentali, che però danno vita ad un contesto dominato dalla "varietas" (un concetto molto caro alla cultura di quest'epoca), cioè dalla pragmatica casualità degli episodi architettonici. La città cui allora si pensava, si deve concludere, era cioè l'oggettivo, e realizzabile, prodotto della giustapposizione e confronto tra ambienti urbani tradizionali ed ambienti innovativi. Il nuovo nella qualità di vita e nel funzionamento di quelle "città ideali", o per meglio dire immaginate, si pensava cioè ottenibile soltanto in alcune zone ed a determinate condizioni: in particolare laddove erano situate le dimore signorili o patrizie (i palazzi), o in luoghi modificabili appunto in rapporto a tali nuove presenze architettoniche, oppure in conseguenza di interventi di un potente. Ne sono esempi emblematici, tra gli altri, i già ricordati casi degli interventi promossi dal duca Federico di Montefeltro per Urbino e da Pio II per Pienza, ma anche le iniziative di Nicolò V per sistemare la zona vaticana in Roma, la strutturazione formale della piazza di Vigevano, alcuni degli interventi di età laurenziana e post-laurenziana nella zona nord di Firenze, ecc. L'accelerazione nel processo di elaborazione di modelli urbani teorici si è però rivelata molto maggiore di quanto la effettiva loro realizzazione potesse consentire. L'ipotesi culturale innovativa si è così trovata ben presto disancorata dalla realtà sulla quale voleva incidere. Poco meno di un ventennio dopo il De re aedificatoria appare il trattato di Filarete (per formazione ed esperienza professionale figura sostanzialmente differente da quella dell'Alberti) e poco più tardi, in un momento compreso tra il 1470 ed il 1480, Francesco di Giorgio scrive i suoi trattati sull'architettura civile e l'ingegneria. Infine a cavallo tra XV e XVI secolo Leonardo da Vinci, forse nell'orbita del Bramante, traccia una serie di disegni nei quali sono rappresentati studi di nuovi tipi edilizi (palazzi, chiese a pianta centrale, stalle e così via) e proposte di nuovi schemi di città. Particolarmente interessanti, questi, perchè vi è prefigurata l'ipotesi di un tipo di città che si organizza in tre differenti e sovrapposti livelli funzionali corrispondenti anche alla gerarchia dei principali ceti sociali allora riconosciuti. È dunque nel periodo compreso tra gli ultimi decenni del Quattrocento ed i primissimi anni del Cinquecento che la riflessione teorica sulla città

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compie un salto qualitativo di notevole importanza: la "città ideale" assume caratteristiche diverse da quelle sperimentate nella realtà. Restano tuttavia forti gli agganci delle proposte con l'attualità e pertanto con la eventuale attuabilità dei nuovi modelli urbani; qualora, come nel quadro dell'Italia di allora sembrava possibile, le condizioni politiche ed i metodi di controllo sullo sviluppo urbano fossero mutati in un breve arco di tempo ponendo in essere le premesse per la riorganizzazione socioeconomica delle società cittadine. Nel trattato del Filarete, che per la verità ha avuto per tanto tempo scarsa accoglienza e fortuna critica (già il Vasari considerava il Filarete uno stravagante poco affidabile) e che solo in tempi recenti è stato ripreso ed analizzato con interesse, viene proposto ad un tempo un nuovo modello di città ed un corrispondente modello di struttura sociale urbana a carattere signorile e comunistico con vaghi richiami platonistici. La città di Sforzinda (il nome è allusivamente emblematico perchè nella sua ultima stesura il trattato è dedicato agli Sforza) è situata in una non ben precisata valle dell'Indo (ma affiora in ciò l'interesse, espressione dei tempi, per ambienti geografici diversi da quelli europei e forse anche una inconscia memoria di antiche e favoleggiate civiltà di quella remota asiatica regione) e propone tra l'altro un modello di società urbana nella quale l'educazione dei giovani, che vivono in una residenza collettiva, è affidata al pubblico governo; come del resto sono affidate ad una gestione pubblica molte altre istituzioni (luoghi e locali per svaghi culturali, l'ospedale, persino edifici per il meretricio) che caratterizzano il centro della città, riservando tutto il resto ad altre parti e zone del tessuto urbano. Lo schema di Sforzinda è deliberatamente geometrico: due quadrati ruotati di 45 gradi ed intersecati tra loro danno luogo ad una figura stellare ad otto punte i cui vertici sono situati su di un cerchio circoscritto ai quadrati. Geometria ed astrologia si sommano in questa figura, ma, come è stato anche osservato e come è facile percepire, non mancano possibili riferimenti a condizioni reali o realizzabili. Nel trattato è chiaro che i lati del poligono stellare rappresentano il disegno di un circuito murario cittadino; meno chiaro è il signi-ficato del cerchio. Non sembrando possibile che esso sia soltanto una figura per la costru-zione geometrica dell'insieme, si può immaginare che esso simbolizzi anche, in certo modo, la presenza di un eventuale fossato a difesa della città secondo le usanze del tempo. Nello stesso trattato è inoltre chiaramente indicato che le rette di collegamento tra il centro di figura del modello ed i punti di intersezione del poligono stellare individuano due diversificati sistemi di tracciati viari: quelli che vanno verso le porte cittadine e quelli che si dirigono verso le punte della stella dove sono situate le torri della cerchia. In sostanza, poichè la Milano tardo-quattrocentesca presentava un assetto viario riassumibile in un sistema radiale, e poichè alcuni degli edifici rappresentati nello schema riproducevano (anche nelle soluzioni eclettiche e sincretiche a cavallo tra componenti tardogotiche e componenti rinascimentali tipiche del tardo Quattrocento lombardo) gli schemi di edifici esistenti (in particolare l'ospedale) o perfettamente realizzabili; poichè inoltre, sia pure con acrostici e giochi di parole i personaggi del trattato richiamano figure reali del tempo (dal giovane Galeazzo allo stesso autore), non è illogico pensare che lo schema della città di Sforzinda possa alludere al modello che secondo il Filarete gli Sforza avrebbero potuto seguire per la trasformazione della città di Milano: che del resto era in atto a quel tempo. Apparentemente più concreto, in verità più astratto, è il carattere dei modelli urbani che Francesco di Giorgio delinea nel suo trattato. Qui il tema è affrontato considerandone la variegata casistica delle condizioni territoriali. Compaiono così schemi di città di pianura traversate o lambite da fiumi, città di collina con tracciati viari avvolgenti a spirale o a

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doppia spirale, città portuali e così via. Particolare attenzione viene inoltre riservata alla configurazione dei sistemi fortificati a protezione dei diversi tipi di città. Consapevole ed esperto, in quanto anche ingegnere militare, del mutare delle tecniche offensive con-seguenti al rapido progredire delle armi da fuoco, l'autore propone una notevole varietà di soluzioni: forme esagonali, pentagonali, quadrate, prototipi di sistemi bastionati ed altro ancora. Un elemento significativo è la circostanza che all'interno dei circuiti murari il tessuto edilizio cittadino è sempre rappresentato da una griglia tendenzialmente regolare, che dà spazio e forma a lotti edificatori generalmente quadrangolari e di superficie equi-valente. Le piazze, anch'esse di forma regolare, si inseriscono poi nella griglia secondo localizzazioni anch'esse riconducibili ad un'idea geometrica dello spazio cittadino. Fran-cesco di Giorgio, così come faranno Fra Giocondo (1511) ed il Dürer (1527), sembra cioè più interessato a fissare schemi "ideali", e perciò geometrici, che a stabilire condizioni e qualità di vita delle sue città. Questa stessa posizione sarà tenuta anche dal Caporali e dal Barbaro (le cui opere sono del 1536) che, pur proponendo un loro referente nel trattato di Vitruvio, sembrano interessati a seguire e riprendere la posizione martiniana. Linea portante di questa fase della trattatistica urbana è sempre la geometria delle figure urbane, e dei tracciati del tessuto cittadino, con un implicito o esplicito referente a concetti di universalità anche nel quadro di una concezione cosmologica od astrologica. Ma vi sono anche altri aspetti. Nel trattato di Francesco di Giorgio si allude direttamente al rapporto tra la figura umana e la forma della città; un rapporto che, secondo la cultura del tempo, poteva e doveva anche esprimere valori simbolici. Gli stessi temi, quelli geometrici e quelli simbolici, pur complicandosi e combinandosi tra loro con risultati formali più complessi, figurano anche nella trattatistica urbana del pieno Cinquecento e dei primi del Seicento. Dunque vi sarebbero qui buone ragioni a sostegno della tesi sulla continuità dal tardo Quattrocento al primo Seicento della modellistica urbana per la "città ideale". Ma in realtà, al di là delle apparenze formali, come andrò esponendo, le città proposte o realizzate in questo lungo arco di tempo hanno ben poche somiglianze tra loro: quando si guardi alle realtà funzionali e territoriali entro le quali esse sono immerse. Sabbioneta, definita la Atene del tempo, venne fondata da Vespasiano Gonzaga (i primi lavori del palazzo iniziarono circa nel 1560) per farne una "città ideale". L'impianto urbanistico, ispirato alle tematiche vitruviane, doveva riflettere nell'armonia degli spazi e degli edifici, l'equilibrio e la serenità dello spirito e l'impulso umanistico che caratterizzava la cultura di corte. Ma, come era già anche accaduto a Pienza, Sabbioneta non decolla territorialmente come città oltre le prime fasi attuative. Dopo la morte del suo ideatore la "città ideale" non regge alla verifica delle realtà socioeconomiche e politiche del tempo. Quasi analogo, nello svolgimento delle vicende, è il caso del piccolo, e meno conosciuto, centro pugliese di Acaja che precede di alcuni decenni quello più celebre di Sabbioneta. Acaja, fondata (1535) da Gian Giacomo dell'Acaja, si articola attorno al preesistente castello baronale che costituisce uno dei vertici dell'impianto riferibile a schemi martiniani e sangalleschi. Però l'iniziativa fallisce quasi sul nascere. I coloni ed i braccianti che abitavano il centro assurto a sede della baronia del suo fondatore, non divengono mai cittadini. La morte del fondatore di quel polo, che appare tipicamente feudale, decreta la decadenza, progressiva ed inarrestabile del centro. Ed è la vicenda stessa della sua defini-tiva distruzione ad opera dei Turchi (1714) che rivela come quel polo, al fondo, fosse stato pensato, in realtà, come un presidio militare molto più che come un centro urbano. Insomma Acaja appare molto più simile, nella funzione territoriale, a Palmanova, della

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quale però non condivide l'assetto planimetrico, che a Sabbioneta cui secondo una analisi puramente figurale, sembrerebbe formalmente assimilabile. Diverso appare invece il quadro delle città fondate, o rifondate, dai Medici; in particolare nei casi di Livorno, porto sulla costa tirrenica, e di Cosmopoli (oggi Portoferrraio) sull'isola d'Elba. Entrambe le città hanno avuto fin dall'inizio, e tuttoggi continuano ad avere, un preciso ed incisivo ruolo territoriale. Ma al di là del fatto che il loro impianto si riferisce ad una medesima matrice culturale urbana, poi, però, la diversità funzionale ed ambientale che caratterizza ciascuno dei due poli urbani non permette di stabilire alcuna logica e reale correlazione tra di essi. E ciò è vero anche se tanto Cosmopoli quanto Livorno sono state create come città portuali, ed anche se i rispettivi progetti urbanistici sono stati elaborati da tecnici (Buontalenti, Lorini, il Camerino, il Bellucci ed altri) che gravitavano entro la medesima cerchia culturale ed operavano per la medesima commitenza medicea (i granduchi Francesco e Ferdinando proseguono la linea impostata da Cosimo I). Cosmopoli è una vera e propria città-fortezza destinata a difendere l'entroterra da attacchi dal mare. Livorno, pur protetta anch'essa da sistemi fortificatori, è essenzialmente un porto inteso agli scambi mercantili internazionali. Quasi coeva alle iniziative toscane è la fondazione veneziana di Palmanova. L'impianto rigorosamente geometrico dell'insieme, nel quale gli elementi sono disposti in rapporto alla serie numerica tre (le porte), sei (le piazze minori), nove (i lati del poligono), così come la radialità del sistema viario che collega i bastioni e le tre porte con la piazza principale situata nel centro di figura (ove sono situati gli edifici principali), la regolarità della forma della cerchia bastionatacittadina, sono tutti elementi che provengono direttamente dalla trattatistica cinquecentesca; che, come già detto, alcuni considerano come diretta e fedele conseguenza applicativa delle teorie sulla "città ideale" del Rinascimento. Ma Palma è una città-fortezza. Dall'analisi di quanto sin qui esposto si deve ora concludere che non è certo per caso che la discussione sulla "città ideale", intesa nella interezza dei significati racchiusi nella definizione, e non soltanto in riferimento al tema della forma urbis colto nella sua valenza planimetrica, riprenda dopo questi episodi e queste esperienze su di un piano teorico assai diverso da quello precedente. Alle soglie del Seicento occorreva infatti prendere atto che che non era più possibile dare per scontato l'esistenza di uno stretto rapporto di interrelazione tra modello formale fisico della città e sistema organizzativo della società chiamata a vivervi. La "città ideale" ad impronta letterario-umanistico, sperata e delineata dai trattatisti e dagli architetti del primo Rinascimento, aveva dato luogo, nei fatti, a modelli insediativi che, contrariamente alle aspettative, non favorivano e non sostenevano sistemi sociali di "cittadini" umanisticamente e civicamente liberi. Corrispondevano in-vece, perfettamente, alle esigenze ideologico-politiche della suddivisione in ruoli tecnico-specialistici della società, quella urbana in senso stretto, ma anche, più latamente, quella territoriale, che scaturiva dalla formazione di stati e regimi principesco-assolutistici che nel frattempo si erano instaurati quasi ovunque in Italia. Così la discussione sulla "città ideale" doveva passare dal livello della definizione di un progetto di "modello fisico" a quello, assai più impegnativo, di costruzione di un progetto di riforma sociale. Ciò accade, proprio agli inizi del XVII secolo, con il trattato (del 1602 poi pubblicato nel 1628) La città del Sole di Tommaso Campanella e, poco dopo (1638), con La Nuova Atlantide di Francesco Bacone. In realtà questa linea di ricerca aveva già avuto dei precedenti quattro-cinquecenteschi, in genere trascurati da quella parte della storiografia

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che si è soprattutto interessata, pur legittimamente, alla analisi dei modelli formali per la "città ideale". Sono precedenti che, per così dire, si pongono su di una traiettoria parallela, ma indipendente, rispetto a quella delle opere sin qui ricordate. Questa linea è già avvertibile nel trattato del Filarete: che, come segnalato, oltre al modello formale e tipo-logico presenta anche una proposta di modello sociale alternativo a quello consueto nelle città del tempo. In questo caso, per quanto detto, non è dunque impossibile leggere il già ricordato ostracismo dato a Sforzinda, dai contemporanei e poi dal Vasari, come giudizio di indebita trasgressione compiuta dall'autore del trattato nei confronti dei canoni concettuali della cultura rinascimentale; che è però un giudizio espresso da parte di chi, governanti ed esponenti del mondo professionale e di corte che gravitava attorno ad essi, di quella cultura, considerata universale, si faceva promotore e sostenitore. Poco meno di mezzo secolo dopo Filarete, anche un inglese, Tommaso Moro, pubblica (1516) un'opera che descrive un nuovo modello di società da attuarsi con interventi di tipo urbanistico. In mancanza di referenti reali cui rivolgersi, come sperava invece l'italiano, l'autore inglese immagina che ciò si verifichi in un'isola immaginaria: Utopia, un luogo che nel nome indica, pessimisticamente, la realtà di un non luogo. Ma che esprime anche l'ansia di novità che si diffondeva in Europa dopo la scoperta del nuovo mondo e delle sue diverse civiltà e città. Circa alla metà del Cinquecento (1548) un altro italiano, Anton Francesco Doni, scrive il dialogo Il mondo pazzo e savio, e dopo di lui il toscano Francesco Patrizi propone una città, sull'Argentario, da lui indicata come la città felice. Infine quasi contemporanea-mente con le fasi di sviluppo delle città medicee e di quella veneziana di Palmanova, Ludovico Agostino scrive Repubblica immaginaria. Come si vede era pienamente sul tappeto il problema del rapporto che si pensava dovesse istituirsi tra modello fisico e modello sociale della nuova città dell'età moderna. Posso così tentare di concludere. È chiaro che quando si parla di "città ideale" del Rinasci-mento, trattando l'argomento nel quadro storico nel quale il tema si è effettivamente svolto e non in base a griglie critiche precostituite, si fa riferimento di fatto ad un duplice indirizzo di ricerca: l'uno più sganciato dalla realtà e dalle possibilità di concrete realizzazioni, l'altro proteso a ricercare invece possibili agganci operativi e dunque interessato a rapportarsi in certa misura alle contingenze locali. È evidente che è proprio questo secondo indirizzo quello dal quale sono scaturite più tangibili e riconoscibili interventi nel reale. Ma in questo caso la "città ideale" è soltanto il prodotto di una con-giuntura culturale di durata medio-lunga. In definitiva si tratta di una tra le tante tappe del plurisecolare svolgimento del fenomeno urbano inteso come proiezione di specifici momenti e modelli di vita. Sotto questo profilo i modelli di "città ideali", elaborati e graficamente delineati dagli architetti ed ingegneri italiani del periodo tardo-quattro-centesco e proto-cinquecentesco, non diferiscono, in sostanza, dagli omologhi e contempo-ranei modelli edilizi delineati anch'essi come proposte formali dotate di valore universa-listico. E non è certo per caso che tanto gli uni che gli altri siano effettivamente stati adottati pochi decenni dopo che essi erano apparsi nel panorama della cultura urbana; ma ciò, diversamente dall'ipotesi iniziale, è avvenuto essenzialmente in chiave tecnicistico-formale essendo quei modelli stati cioè interpretati quali elementi di un repertorio progettuale. Decontestualizzati dalla componente universalistica, quei modelli hanno cioè perso in concreto il concetto di "città ideale" e si sono metabolizzati in più applicazioni anche di ordine tecnico: come nel caso delle città-fortezza dove però l'elemento "città" è

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del tutto subordinato alle esigenze delle tecniche dell'ingegneria militare. Si potrebbe icasticamente sostenere che, secondo l'antica definizione di Isidoro di Siviglia, la "civitas" proposta dagli architetti rinascimentali si è metabolizzata in "urbs": in quanto, con Isidoro, "urbs ipsa moenia sunt". L'altro indirizzo di ricerca è stato così privato di ogni concreta conseguenza e relegato dalla cultura critica o nella sfera delle elucubrazioni filosofiche oppure in quella delle curiosità pseudo-scientifiche. Passeranno alcuni secoli, si dovrà giungere al XIX secolo perchè il tema utopico della ricerca di un preciso rapporto tra modello formale ed assetto sociale venga di nuovo posto con chiarezza sul tavolo della ricerca teorica urbana.

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"Infrastrukturentwicklung" 69

WOLFGANG BEHRINGER, BONN

INFRASTRUKTURENTWICKLUNG ALS KRITERIUM FÜR ZENTRALÖRTLICHKEIT IM FRÜHNEUZEITLICHEN DEUTSCHLAND1

Die Einführung der dynastischen Stafettensysteme im Europa der Renaissance eröffnete eine Dimension der Geschwindigkeit, die zuvor nur in anderen Hochkulturen, dem antiken Rom oder dem China Marco Polos, bekannt war. Die Auswirkungen dieser teuren Struktur waren für die Zeitgenossen unmittelbar erkennbar. Wo z.B. Kaiser Maximilian war, ver-änderten sich die Dimensionen von Raum und Zeit, Bewegungsabläufe beschleunigten sich, Raum verkleinerte sich.2 In dem Moment, wo sich der Kaiser in Augsburg, Freiburg, Markdorf etc. aufhielt, war dieser Ort von Brüssel oder Innsbruck aus doppelt so schnell erreichbar, der Raum dazwischen schien zusammenzuschrumpfen. Jeder Aufenthaltsort des Kaisers konnte aus der Entfernung wie mit dem Vergrößerungsglas beobachtet werden, die Nachrichten flossen nicht nur schneller, sondern auch in größerer Dichte. Durch die Ver-dichtung der Korrespondenz in der Umgebung des Machtzentrums fiel Licht auf Gegen-den, die sonst im Dunkel der Überlieferungslosigkeit verharrten. Der Herrscher konnte sich rascher und sicherer als andere über Neuigkeiten unterrichten und rascher seine Weisungen erteilen. Die Autobiographie des Freiherrn Sigmund von Herberstein (1486-1553) überliefert aus dem Jahr 1516 die Aussage des Kurfürsten Joachim I. von Branden-burg (1484-1535, reg. 1499-1535): "Es ist unnser khainer im Reich, der die Posten [...] wie der Khaiser unnderhalten möchte."3 Andere Reichsfürsten waren sich der Bedeutung der neuen Kommunikationstechnik bewußt und blickten mit Neid auf die Möglichkeiten der Habsburger.4 Reaktionen auf das neue Medium, verändertes Kommunikationsverhalten gab es zunächst in der Umgebung des Kaisers und in seinen Zentralbehörden, bei einem Personenkreis also, dem die Nutzungsmöglichkeit aus politischen Gründen zufiel. Maximilians Kanzler Sernthein und andere gewöhnten sich rasch an das überlegene Kommunikationsmittel, die Fugger und andere Augsburger Kaufleute wußten bereits vor 1520 daran zu partizipieren. Mit dem Regierungsantritt Karls V. wurden die unter Maximilian noch fluktuierenden Postkurse auch in Deutschland zur Institution, sie wurden auf feste Straßen, die Post-straßen, festgelegt. Mit dieser Fixierung und der Öffnung der Kanäle wurde das Stafetten-system der Post rasch für andere Kunden interessant, für Territorialherren, Kaufleute und Magistrate. Mit der Verregelmäßigung der Postreiter Ende der 1530er Jahre läßt sich eine überraschend weit gehende Verregelmäßigung der Korrespondenzen beobachten, die sich 1 Vgl. dazu grundsätzlich meine Habilitationsschrift: 'Die Welt in einen anderen Model gegossen'. Der Strukturwandel des frühneuzeitlichen Kommunikationwesens am Beispiel der Reichspost. Ein Abriß daraus: Wolfgang Behringer, Die Frühe Neuzeit als Epoche des Kommunikationswesens, in: Geschichte und Gesell-schaft, 1999 [in Vorbereitung]. 2 Zum Phänomen des 'shrinking space': Ronald Abler/John S. Adams/Peter Gould, Spacial Organization. The Geographer's View of the World, Englewood Cliffs/New Jersey 1971. 3 Adolf Korzendorfer, Die ersten hundert Jahre Taxispost in Deutschland, in: APB 6, 1930, 38-53. 41. 4 Fritz Ohmann, Die Anfänge des Postwesens und die Taxis, Leipzig 1909 [zugl. phil. Diss. Bonn 1909].

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aus dem Anschluß lokaler Boten an das internationale Postnetz erklärt. Die Landgrafen von Hessen oder die Magistrate von Köln oder Frankfurt schickten seit Beginn der 1540er Jahre ihre Boten zunehmend nur bis zum nächsten Postanschluß an die Hauptstrecke zwischen den Niederlanden und Italien. Heute ganz unbekannte Dörfer wie Bobenheim oder Wöllstein stiegen durch diese Relaisfunktion vorübergehend zu Bedeutung auf, das bischöfliche Dorf Rheinhausen wurde Sitz des ersten Postamtes in Deutschland.5 Daß dies nur eine Notlösung war, war den Zeitgenossen bewußt, denn eigentlich wäre die wenige Minuten entfernte Reichsstadt Speyer, Stadt der Reichstage und später des Reichs-kammergerichts, Etappenort gewesen. Kaiser Maximilian hatte sich im Juli 1490 direkt an die Reichsstadt wegen Einrichtung eines kaiserlichen Postamts gewandt,6 die Stadt igno-rierte jedoch dieses Anliegen, verweigerte sich, ein Vorgang, der noch zweihundert Jahre später als Exempel herangezogen wurde, weil die Verweigerung von Reichsstädten kein Einzelfall war, sondern zur Regel wurde.7 Direkt am frühen Hauptpostkurs lagen auch die Reichsstädte Kempten, Memmingen, Ulm, Esslingen und Worms etc. Sie alle verweigerten sich, und die Posten, die auf regelmäßige Etappenstationen angewiesen waren, mußten in benachbarte Dörfer eingelegt werden, Orte wie Elchingen, Deizisau, Bobenheim und Wöll-stein, die Reichsrittern, Reichsklöstern oder Territorien unterstanden. In Italien lagen dagegen die Posten in den Städten Siena, Florenz, Bologna, Mantua und Trient. Metro-polen wie Rom und Antwerpen waren selbstverständlich die Zentren der neuen Kommuni-kationstechnik, wie sie es der Kommunikationssoziologie zufolge auch sein sollten.8 Spielte also Infrastrukturentwicklung als Kriterium für Zentralörtlichkeit im frühneuzeit-lichen Deutschland gar keine Rolle? Das Beispiel Augsburgs, das seit 1520 als erste deutsche Stadt ständiger Sitz eines Postamtes wurde, kann diesen Eindruck widerlegen, denn Augsburg spielte als Hauptort des oberdeutschen Finanzkapitals, als Stadt der Fugger und Welser zeitweise eine metro-polenähnliche Rolle: Begriffe wie 'Confessio Augustana' und 'Augsburger Religions-frieden' künden von Augsburgs bevorzugter Stellung als Stadt der Reichstage dieser Zeit.9 5 Leopold Ennen, Geschichte des Postwesens in der Reichsstadt Köln, in: Zeitschrift für deutsche Kultur-geschichte NF 2, 1873, 289-302, 357-378, 425-445. 294ff.; Carl Löper, Das Botenwesen und die Anfänge der Posteinrichtungen im Elsaß, insbesondere in der freien Reichsstadt Straßburg, in: APT 4, 1876, 179-204, 231-241. 231; Bernhard Faulhaber, Geschichte des Postwesens in Frankfurt am Main. Nach archivalischen Quellen bearbeitet, Frankfurt 1883 [ND Leipzig 1973], 12; Heinrich Haass, Das hessische Postwesen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 44, 1910, 1-108 [zugl. Diss. Marburg 1910], 5. Werner Münkler, Entwicklungsgeschichte, Verfassung und Ver-waltung des Postregals in Hessen-Darmstadt bis 1806 und die Auseinandersetzung mit der taxisschen Reichspost, Diss. jur. Marburg 1973, 14. 6 Stadt-Archiv Speyer, Fasz. 157; Adolf Korzendorfer, Die Geburtsurkunde der deutschen Post, in: Bayern-land 34, 1922, Heft 1, 1-7. 7 Fürstliches Zentralarchiv Thurn und Taxis, Regensburg [= FZATTR], Postakten 4519, fol. 130f. 8 Garth S. Jowett, Toward a History of Communication, in: Journalism History 1, 1975, 34-37. 9 Wolfgang Behringer, Fugger und Taxis. Der Anteil Augsburger Kaufleute an der Entstehung des euro-päischen Kommunikationssystems, in: Johannes Burckhardt (Hg.), Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils, Berlin 1996, 241-248.

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Das Problem scheint in Deutschland woanders zu liegen, nämlich in der Frage der Verfügungsgewalt. Fürsten und Städte konnten gar nicht entsprechend einer im luftleeren Raum plazierten Modernisierungstheorie10 technische Innovationen anwenden, weil wich-tige wirtschaftliche und rechtliche Fragen ungeklärt waren: Zunächst schien die Rentabili-tät der überlegenen Kommunikationsmöglichkeiten ganz ungewiß, und laufende hohe Subventionen konnte sich nur die Weltmacht Spanien mit ihren Edelmetallimporten aus den Kolonien leisten, und dies auch nur bis zu den Staatsbankrotten. Vor allem aber gab es gravierende rechtliche Hindernisse, denn Kaiser Karl V. hatte das Postwesen ausdrücklich zu einem Monopolwesen erklärt. In den Postverträgen von 1516 und 1517 garantierte der spanische König, daß niemand außer dem ernannten Generalpostmeister den Postdienst ausüben und Postpferde halten dürfe.11 1545 und erneut 1551 bestätigte Karl V. dieses Privileg in seiner Eigenschaft als Kaiser.12 Während des Schmalkaldischen Krieges versuchten Reichsfürsten und Reichsstädte das Monopol zu brechen. Der Bund unterhielt zeitweise eigene Reiterstafetten. Augsburg vertrieb 1546 den katholischen Postmeister und ließ das Postamt abreißen. Mit seiner Zentralposition zwischen den beiden Weltwirtschaften des Mittelalters, der des Nord-Ostseeraumes und der des Mittelmeerraumes,13 der Äquidistanz zwischen Venedig und Antwerpen, war Augsburg sicher der aussichtsreichste Kandidat für eine rentable Kom-munikationseinrichtung in Deutschland. Der Versuch zur Übernahme der Linie Augsburg-Venedig scheiterte jedoch aus politischen Gründen. Die Stadt mußte die Wiedererrichtung des Postamtes zulassen, und während des 'Geharnischten Reichstags' sah sich der Augs-burger Rat genötigt, mit dem Erlaß der berühmten 'Venediger Boten Ordnung' (18. April 1555) die Nutzung von Relaisstationen, also den Pferdewechsel, sowie die Briefsammlung unterwegs zu verbieten und den Unterschied zwischen Post- und Botenwesen auch städtischerseits zu sanktionieren.14 Dieses Augsburger Vorspiel und das Verhalten der Städte nach dem Zusammenbruch des spanischen Postwesens im Gefolge der Staatsbankrotte zeigen, daß die Städte dem Infra-strukturproblem keineswegs verständnislos gegenüberstanden. Schlagartig entstanden um 10 Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. 11 FZATTR, Posturkunden Nr. 2, Regest: Martin Dallmeier, Quellen zur Geschichte des europäischen Postwesens 1501-1806, 3 Bde., Kallmünz 1977/1987 [Teil I: Quellen - Literatur - Einleitung, Kallmünz 1977; Teil II: Urkunden - Regesten, Kallmünz 1977; Teil III: Register, Kallmünz 1987], II, 4f. 12 FZATTR, Posturkunden Nr. 16 (8. Mai 1545), Regest: Dallmeier II, 14; FZATTR, Posturkunden Nr. 10 (14. Juli 1551), Regest: Dallmeier II, 16. 13 Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York u.a. 1974 (dt.: Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert. Übers. v. Angelika Schweikhart, Frankfurt am Main 1986). 14 Abdruck in: Kränzler, Die Augsburger Botenanstalt, in: APT 4, 1876, 658-662. Fotografie des Libells: Martin Dallmeier/Erwin Probst (Red.), 500 Jahre Post. Thurn und Taxis. Ausstellung anläßlich der Anfänge der Post in Mitteleuropa 1490-1990, Regensburg 1990, 334; Paul Krinner, Die Venediger Botenordnung der Reichsstadt Augsburg, in: APB 1, 1925, 15-18; Bernd Roeck, Reisende und Reisewege von Augsburg nach Venedig in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Uta Lindgren (Hg.), Alpenübergänge vor 1850. Landkarten - Straßen - Verkehr, VSWG Beiheft 83, Stuttgart 1987, 179-187.

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1570 Botensysteme von Ordinari-Boten in den "Metropolen" Augsburg, Nürnberg, Frank-furt, Köln und Hamburg, um nur die wichtigsten zu nennen, mit Außenbeziehungen nach Lyon, Amsterdam, Breslau, Wien und Venedig. Die Städte bzw. ihre neu eingesetzten Botenmeister vereinbarten Briefsammlung und Arbeitsteiligkeit inklusive des Pferde-wechsels, versuchten also, ihre traditionellen Boten entgegen dem kaiserlichen Verbot in ein dezentrales, auf Verträgen beruhendes Postwesen zu transformieren. Freie Unternehmer aus den Reihen der Städter traten zudem auf den Plan, die diversen Fürsten anboten, gegen Privilegierung auf eigene Kosten - ohne Subventionen - funktionierende Postwesen aufzubauen. Plötzlich bestand eine lebhafte Konkurrenz um das Kommunikationswesen, mehrere technisch gangbare Wege eröffneten den Weg in eine neue Medienzukunft. Ohne Einschreiten des Kaisers15 hätte diese Entwicklung binnen kurzem zu einer Dezentralisierung des Kommunikationswesens nach holländischem Muster geführt, die kaiserliche Kanzlei verdächtigte die Städte ohnehin der Sympathien für die aufständischen Konfessionsverwandten.16 Zur Zerstörung der zentralen städtischen Kommunikationslinie Augsburg-Frankfurt-Köln-Antwerpen, die natürlich nicht über die Dörfer, sondern durch die Städte führte, startete die Reichskanzlei den Angriff auf die einzige katholische Reichsstadt von Bedeutung: Köln. Ziel war ein zentralisiertes Kommunikationswesen in Abhängigkeit vom Hause Habsburg. Da der weitere Unterhalt der Post in Deutschland durch die verhaßten Spanier nicht mehr vermittelbar war,17 konnte dies nur heißen: Die Post mußte zu einer Institution des Reiches werden, zur 'Reichspost'. Tatsächlich endete die mit den Staatsbankrotten beginnende Periode der "Postreformation" 1597 mit der Proklamation eines kaiserlichen Postregals, dem jüngsten und letzten aller Regalien, das ein Kaiser für sich reservieren wollte.18 Die Einsetzung eines kaiserlichen Postmeisters, die bereits in Köln nur mit Gewalt und Unter-stützung der katholischen Kurfürsten von Köln, Mainz und Trier hatte durchgesetzt werden können, wurde in allen folgenden Fällen zu einem dramatischen Akt: Frankfurt 1598/1615, Nürnberg 1615 und Hamburg 1616 hießen die ersten Stationen, in denen teils mit diplo-matischen Mitteln, teils mit Zwangsmaßnahmen kaiserliche Postämter in die deutschen "Metropolen" eingepflanzt wurden. Denn auch nach der Abwendung der "spanischen Gefahr" war die Errichtung von Reichspostämtern für die Reichsstädte mit gravierenden Einschnitten verbunden: Postmeister des Reiches durchlöcherten die Hoheitsrechte der Stadt, denn sie genossen als Untertanen des Reichsgeneralpostmeisters:

- Steuerbefreiung - Befreiung von der städtischen Gerichtshoheit - Befreiung von der Regel der Kulthoheit.

15 Dallmeier I, 62f.; II, 25 (Regest Nr. 49). 16 Grundsätzlich zu diesem Komplex: Ludwig Kalmus, Weltgeschichte der Post. Mit besonderer Berück-sichtigung des deutschen Sprachgebietes, Wien 1937. 17 K. Köhler, Entstehung und Entwicklung der maximilianischen, spanisch-niederländischen und kaiserlich taxisschen Posten, der Postkurse und Poststellen in der Grafschaft, im Herzogtum und Kurfürstentum Würt-temberg, in: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde 12, 1932/33, 93-130. 106. 18 Dallmeier II, 58-60 nach: FZATTR, Posturkunden Nr. 48. Druck bei: C. Turrianus, Glorwürdiger Adler, 1694, 80ff.; J.J. Moser, Teutsches Staatsrecht, V, Frankfurt/Leipzig 1752, 29-33.

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Die Postämter waren jedoch nicht nur "Staaten im Staat", die die Verfügungsgewalt der Magistrate in Frage stellten, sondern sie bedrohten auch die Nahrung derjenigen bürger-lichen Untertanen, die vom Kommunikationsbereich lebten, namentlich der Boten und später auch der Fuhrleute. Und es war die Furcht der Stadtobrigkeiten vor der Agitation dieser Gruppen und den hinter ihnen stehenden Kaufleuten, die sie konfliktbereit machte. Auf den Städtetagen der Jahre 1598-1618 genoß das Postthema hohe Priorität.19 Der Ausgang des Machtkampfes schien durchaus offen, obwohl die Botenwesen bei freier Konkurrenz nicht gegen das kaiserliche Postwesen bestehen konnten, wie sich immer wieder zeigte: Das Versenden von Briefen mit Boten war nicht nur erheblich teurer, sondern auch erheblich langsamer. So stellten die Kölner und Frankfurter Boten nach wenigen Wochen ihren Betrieb entlang der Postlinien ein, so wie im 19. Jh. die Kutschen der Eisenbahn weichen mußten.20 Die Entwicklung eines völlig neuen Mediums, das an die Infrastruktur des Postwesens angebunden war, beeinträchtigte die Autorität der Lokalregierungen weiter. Gemeint ist die Entstehung der periodischen Presse im ersten Jahrzehnt des 17. Jhs. Während die Straßburger Relation und der Wolfenbütteler Aviso quasi als Ableger des Nachrichten-zentrums Augsburg erschienen, wurde mit der neuen Postzentrale Frankfurt 1615 erstmals eine Metropole zum Zeitungsverlagsort: Noch bevor in den westeuropäischen Ländern die Innovation übernommen wurde, konkurrierten hier 1617 drei Zeitungen, darunter die Postzeitung des Frankfurter Reichspostmeisters von den Birghden. Sie zielte keineswegs auf einen lokalen Markt, sondern wie bereits die Kölner Meßrelationen der 1580er Jahre auf einen nationalen Nachrichtenmarkt. Wenn auch bereits in den 1620er Jahren der Aufstieg Amsterdams und Londons auf dem internationalen Zeitungsmarkt begann und auch in den deutschen Residenzen Wien, Berlin, München Zeitungen gegründet wurden, so bleibt doch die Regel bestehen, daß hier erneut eine Innovation im Kommuni-kationsbereich gegen den Willen der konservativen alten Zentren durchgesetzt worden war: Augsburg und Nürnberg verhinderten jahrzehntelang den Zeitungsdruck in ihren Mauern, Köln und Hamburg versuchten dies ebenfalls, wenn auch vergeblich.21 Der Dreißigjährige Krieg und die hier durchgesetzte territorialstaatliche Souveränität legten die reichsstädtischen Ordnungsvorstellungen binnen weniger Jahre in Trümmer. Die Reichspost hatte ihr Netz über den ganzen Westen Deutschlands ausgedehnt. Doch schlimmer noch erging es ehemals freien Städten im Bannkreis der mit neuer Souveränität ausgestatteten Territorien: Städte wie Leipzig oder Lüneburg mußten sich unterordnen, und selbst aufsteigende Metropolen wie Hamburg mußten die Kappung ihrer traditionellen Botenlinien an den Landesgrenzen Kurbrandenburgs hinnehmen. Hamburg machte aus der

19 Johannes Müller, Der Konflikt Kaiser Rudolfs mit den deutschen Reichsstädten, in: Westdeutsche Zeit-schrift für Geschichte und Kunst 14, 1895, 257-293. 20 Wilhelm Hirtsiefer, Die Post im Spiegel der Vergangenheit, in: AdPG 1955, Heft 2, 45 nach: F. Lau (Hg.), Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 4. Band, Bonn 1898, 244ff. 21 Else Bogel/Elger Blühm, Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsnachweis mit histo-rischen und bibliographischen Angaben, Bd. I/II Bremen 1971/Bd. III München u.a. 1985; Wolfgang Behringer, Veränderung der Raum-Zeit-Relation. Zur Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Hans Medick/Benigna von Krusenstern (Hgg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1998, 25-68.

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Not eine Tugend und löste das Kommunikationsproblem, indem es Postämter aller Inter-essenten zuließ. Außer der Reichspost und den eigenen Boten waren dies: Schweden, Dänemark, Braunschweig-Lüneburg/Kurhannover, Kurbrandenburg/Preußen und die Reichsstadt Nürnberg. Aufgrund dieser Vielfalt konnte Hamburg zur führenden Zeitungs-stadt Deutschlands aufsteigen, Georg Greflingers Nordischer Mercurius zum Prototyp der politischen Zeitschrift werden.22 Während das selbstbewußte Hamburg alle Monopolisten durch seine Pluralität düpierte, kämpften süddeutsche Städte immer noch den verzweifelten Kampf gegen jegliche Post. Als die Reichspost nach dem Verlust Straßburgs 1680 ihr Netz im Süden restrukturierte und reihenweise Postämter in die kleinen Reichsstädte legte, schlossen sich die Städte Ulm, Augsburg, Nürnberg und Lindau zu einer Front zusammen, klagten vor dem Reichs-hofrat und versuchten, die Reichsöffentlichkeit zu mobilisieren.23 Währenddessen führten einige absolutistische Territorien vor, wie man mit Postnetzen Raumerschließung betreiben konnte: Kurbrandenburg integrierte sein neugewonnenes Riesenreich zwischen Königsberg und Kleve mit dem neuen administrativen Zentrum Berlin,24 Kursachsen versah das Wirtschaftszentrum Leipzig seit den 1690er Jahren mit einer einzigartigen geometrischen Kommunikationsstruktur, wobei der Aufbau des Post-netzes mit Kutschenbetrieb durch Landvermessung, Straßenbeschilderung, Straßenbau, Kartographie und der Publikation eines Kursbuches flankiert wurde.25 Kursächsische Theologen priesen den Aufbau dieser Kommunikationsstruktur als Zeichen für Gottes Segen auf diesem Land, Aufklärer mochten es im Sinne des Philosophen Christian Wolff als Verwirklichung der "praestabilierten Harmonie" begreifen.26 Wie in Kurhannover und Preußen wurden in Sachsen die Boten einfach verboten. In den süd- und westdeutschen Reichslanden waren solche Willkürakte nicht möglich, doch zeichnete sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jhs. mit dem Erstarken des Handels- und Industriebürgertums das Ende der städtischen Donquichotterie ab. Mehr und mehr sah sich die Reichspost mit Bitten um Anschluß an ihr Fahrpostnetz konfrontiert: die Fürther Juden wollten ihre Wechselbriefe rascher befördert wissen, die Cannstatter Cotton-Fabrikanten ihre Waren-

22 Max Teubner, Das Hamburger Stadtbotenwesen bis zum Ausgange des 17. Jahrhunderts. Auf archi-valischer Grundlage, in: APT, 1926, 214-220; Johannes Weber, Götter-Both Mercurius. Die Urgeschichte der politischen Zeitschrift in Deutschland, Bremen 1994. 23 Carl Löper, Das Botenwesen und die Anfänge der Posteinrichtungen im Elsaß, insbesondere in der freien Reichsstadt Straßburg, in: APT 4, 1876, 179-204, 231-241; Joseph Lentner, Postmeister Bernhardin Pichl-mayr. Sein Leben und sein Werk, in: APB 1975, 244-262; Edmund Gutekunst, Structure & Evolution du réseau postal en Alsace-Moselle, Strasbourg 1974; Jean Braun, Les routes postales en Alsace, Strasbourg 1982. 24 Heinrich von Stephan, Geschichte der preußischen Post (bis 1858). Neubearbeitet und fortgeführt bis 1868 von Karl Sautter, Berlin 1928. 25 Kurt Krebs, Das kursächsische Postwesen zur Zeit der Oberpostmeister Johann Jacob Kees I und II, Leipzig/Berlin 1914. 26 Wolfgang Behringer, Der Fahrplan der Welt. Anmerkungen zu den Anfängen der europäischen Verkehrs-revolution, in: Hellmut Trischler/Hans-Liudger Dienel (Hgg.), Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Ver-kehrskonzepte von der frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt/New York 1997, 40-57.

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muster, der Kurfürst von Trier unterstützte die Gemeinde Niederselters beim Export ihres Wassers.27 Überraschenderweise konnte der Entwicklungsvorteil, den die Landesposten in absolutisti-schen Territorien wegen der Einheit von Policey und Postverwaltung besaßen, im Verlauf des 18. Jhs. in Gebieten der Reichspost ausgeglichen werden, sogar auf dem Gebiet des Straßenbaus. Erst nach dem Ende des Alten Reiches führte die Umgestaltung der poli-tischen Landkarte zum Aufstieg bestimmter deutscher Hauptstädte zu Metropolen, bei denen Zentralörtlichkeit und Infrastrukturentwicklung generell zusammenfielen. Daß dieser Prozeß unter den Vorzeichen staatlicher Lenkung vollzogen wurde, war ein Erbe der absolutistischen Staatsbürokratie, die von Anfang an in Kurbrandenburg das Postwesen dominiert und anderen deutschen Ländern zunehmend als Vorbild gedient hatte. Zusammenfassend kann man festhalten, daß Infrastrukturentwicklung und Zentralörtlich-keit in der Geschichte des frühneuzeitlichen Deutschland in einem eigentümlichen Span-nungsverhältnis standen, das sich nicht in eine reine Kausalitätsbeziehung auflösen läßt. Man kann erkennen, daß bestimmte Zentralorte aus politischen Gründen der Übernahme neuer Techniken entgegensteuerten, während andere sich öffneten. Die zunehmenden Forderungen nach der Verbesserung bestimmter Kommunikationsfunktionen lassen ver-muten, daß deren gezielte Einführung - wie im Falle Leipzigs - einen positiven Effekt auf die wirtschaftliche Entwicklung hatte.28 In jedem Fall wurden Effekte für die Effizienz der Verwaltung erwartet; dies war 1490 bei den Habsburgern ebenso der Fall wie 1649 bei den Hohenzollern.29 In Zedlers Universal-Lexicon wurde schließlich jene Absicht artikuliert, die zur Grundüberzeugung des Zeitalters der Aufklärung wurde: Der Zustand der Infra-struktur des Kommunikationswesens war ein Gradmesser für das Entwicklungsstadium eines Landes.30 27 Robert Staudenraus, Beiträge zur Geschichte des Postwesens in Fürth, in: APB 2, 1926, 103-111; APB 4, 1928, 27-34, 106; Thomas Holub, Vom Landboten zur Taxisschen Schnellpostlinie. Aus der Geschichte des Postwesens in Württemberg 1648-1775, in: Beiträge zur Landeskunde. Regelmäßige Beilage zum Staats-anzeiger für Baden-Württemberg 1987, Nr. 1, 11-17. 16; Kurtrier: FZATTR, Posturkunden Nr. 766. Dall-meier II, 595-598; FZATTR, Kartensammlung 677; Stationsverlegungen: H.J. Becker, Der Postkurs Brüssel-Innsbruck im Eifel-, Mosel- und Hunsrückraum, in: PB Saarbrücken 5, 1982, Nr. 1, 12-17; Nr. 2, 4-10. 6f.; Helmut Herborn, 250 Jahre Post in Limburg an der Lahn, in: Hessische Postgeschichte 34, 1989, 1-309. 93. 28 "[...] it is clear that improvements in both the reliability and speed of communication in Europe profoundly influenced the processes of change in the early modern period." (Marc Brayshay, Post-Haste by Post Horse?, in: History Today 42, 9/1992, 35-41. 41). 29 Joachim-Ernst von Beust, Versuch einer ausführlichen Erklärung des Post-Regals, und was deme anhängig [...], 3 Bde., Jena 1747/48, I, 44f., 95. 30 Zedler, Großes Universal-Lexicon, Bd. 28 (1741), Sp. 1785. Vgl. Johann Christian Olearius, Allgemein-nützliche Postnachrichten, oder summarischer Auszug eines vollständigen Post-Systems [...], Zweyter Theil, Wien 1779, 193: "Das Postwesen ist bey allen diesen angeführten eine ohnentbehrliche Nothwendigkeit, welche mit der Größe der Wolfahrt deren Unterthanen und Länder auch zugleich mit größer wird."

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"Bilder von Metropolis"

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PETER GERLACH, AACHEN

BILDER VON METROPOLIS. METROPOLIS IM PANORAMA UND IM DETAIL

Den Überblick zu gewinnen bedurfte es - gemäß der Forderung Albertis1 - vieler Mühen und sinnreicher Einfälle. Die Zeit der anschaulichen Überblicke war dann aber irgendwann vorbei. Die Totale suggerierte zugleich Erfaßbarkeit. Sie gelang und gelingt nur unter dem Verzicht auf differenziertere Darstellung von sozialer Wirklichkeit. Umgekehrt wird die differenzierte Darstellung sozialer Wirklichkeit mit einem erheblichen Verlust an sinnlich-bildlicher Anschaulichkeit erkauft. Das Eine schließt immer wieder das Andere aus. Das ist der Fall in den literarischen Utopien2 von Platons "Der Staat" (Atlantis) über Filarete (Sforzinda), Thomas Morus (Utopia 15163), Campanella (Civitas Solis, 1602/16124) und Francis Bacon (Neu-Atlantis 1624) bis hin zu den gezeichneten Stadt-Utopien von Filarete5 bis Garniers6 Cité industrielle oder Gropius' Gartenstadt.7

1 Zu Albertis Auffassung einer Stadt als eines ganzheitlichen Organismus (in: Della Pittura, 1463), der das Ethos der Gemeinschaft zum Ausdruck bringt, vgl. Anthony Blunt, Artistic Theory in Italy. 1450-1600, Oxford 21956, 7. 2 Alberto Mangue/Giovanni Guadalupi, Von Atlantis bis Utopia. Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur. Bearbeitete und erweiterte deutsche Ausgabe mit einem Vorwort von Herbert Rodendorfer, München 1981. 3 Carroll William Westfall, The two Ideal Cities of the Early Renaissance. Republican and Ducal Thought in Quattrocento Architectural Treatises, PhD Columbia Univ. 1967. 4 Tommaso Campanella, Realis philosophiae epilogisticae Partes Quatuor, Hoc est de rerum natura, hominum moribus, politica, (cui Civitas Solis iuncta est) & oeconomica. Cum annotationibus Physiologicis. A Thobiam Adami nunc primum editae, Frankfurt am Main, G. Tambach, 1623. Seltene erste Ausgabe mit Sonnenstaat. Diese Utopie des 16. Jh., verfaßt während einer 26jährigen Haft, 1599-1626 wegen Kon-spiration gegen die spanische Regierung, nach Thomas Morus' Utopia und vor Francis Bacons Neu-Atlantis, entwirft ein theokratisch-sozialistisches Gesellschaftsmodell totalitären Zuschnitts. Vgl. Platon, Staat, Robespierre, Kult des höchsten Wesens, und Orwell, 1984. 5 W. von Oettingen, Antonio Averlino Filarete's Tractat über die Baukunst. Nebst seinen Büchern von der Zeichenkunst und den Bauten der Medici, Wien 1896, 436f., 722f.; H. Saalman, Early Renaissance Archi-tectural Theory and Practice in Antonio Filarete's Trattato di Architettura, in: The Art Bulletin 41, 1959, 89; P. Tigler, Die Architekturtheorie des Filarete, Neue Münchner Beiträge zur Kunstgeschichte 5, Berlin 1963. Datierung: 7f., Verbreitung: 13ff.; S. Lang, Sforzinda. Filarete und Filelfo, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 35, 1972, 391-397; L. Olivato, La Città Reale del Filarete, in: Arte Lombarda 18, 1973, 144-149; J. Ponten, Architektur die nicht gebaut wurde, Stuttgart 1925 [ND 1987], 32-38; Erstausgabe des Manuskriptes (Faksimile) mit engl. Übers. und Kommentar von J.R. Spencer 1965. Zu den Manuskripten vgl. ebd., XVII-XIX. 6 Louis Piessat, Tony Garnier. Introd. par Pierre Dufournet, Lyon 1988; Alain Guiheux/Olivier Cinqualbre (Hgg.), Tony Garnier. L'œuvre complète, Paris 1989; Rene Jullian, Tony Garnier constructeur et utopiste, Paris 1989; Riccardo Mariani (Hg.), Tony Garnier. Une cité industrielle, New York 1990; Francois Loyer, Utopie en béton, in: Beaux Arts magazine 1990, 78, 86-93. Abb.: Zur Ausstellung Tony Garnier im Centre

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Von Groß-Moskau wird noch heute ein ständig aktualisiertes hölzernes Modell im zentra-len Planungsamt8 benutzt, in dem jedes einzelne Gebäude für Planungsvorhaben gleich einem Bauklötzchen herausgenommen oder ersetzt werden kann. Noch im ausgehenden 19. Jh. entstanden mehr oder weniger großformatige einheitliche Gesamtansichten von allen größeren Städten. Sie entstanden als Planungsgrundlagen nach dem Fall der mittelalterlichen Festungsringe.9 Der Blick aus der Vogelperspektive als Holz- oder Stahlstiche bzw. Lithographien wurde bevorzugt, der einen immensen Aufwand an zeichnerischen Detailaufnahmen voraussetzte. Kurz zuvor hatte Nadar mit seinen ersten Luftaufnahmen10 aus dem Ballon indessen schon demonstrieren können, daß dieses Phänomen "Metropolis" selbst mit den Mitteln einer avancierten Technik sich der bildlichen Darstellbarkeit in seiner Totalität letztlich entzog. Nicht, weil das Gesamte einer ausgedehnten Millionenstadt nicht mehr als Bild realisierbar war - jede Satellitenaufnahme aus einer gehörigen Distanz kann weit größere terrestrische Regionen im Bild einfangen -, sondern weil der sinnliche Anspruch beim Blick auf die Totalität des Ganzen noch auf die Identifizierbarkeit des Details aus war, geriet die traditionelle Strategie der Darstellungs-konvention an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Das Satellitenfoto umfaßt alles. Es läßt indessen nach der gehörigen Filterung immer nur sehr spezifische Details - und eben nur diese - für uns sichtbar werden. Alles übrige, in der Aufnahme virtuell ebenso Vorhandene, bleibt in diesem Moment aus technischer Notwendigkeit dem menschlichen Blick unerschlossen. Langs "Metropolis"11 und Ruttmanns filmische Bildmontage "Berlin. Symphonie einer Großstadt" (beide 1927) markieren die späteste Phase.12 Soziales Leben und städtische Topographie im Detail zu erfassen, begann in gewisser Weise zugleich mit der Zurschau-stellung territorialen Besitzes innerhalb und außerhalb der eigenen Stadt, z.B. im Fresko

de Création Industrielle in Paris 1990, Abriß seiner Laufbahn als Architekt und Anmerkungen zu seinem Projekt einer "cité industrielle" ebd., 15. 7 Zum ganzen Themenkomplex: Stadt und Utopie. Modelle idealer Gemeinschaften. Ausst.-Kat. Neuer Berliner Kunstverein in der Staatlichen Kunsthalle Berlin, Berlin 1982. Darin u.a.: Inken Nowald, Stadt und Utopie. Beispiele aus der Vergangenheit, 15-48 und Lucie Schauer, Die dynamischen Utopien des industri-ellen Zeitalters, 49-92; T.A. Markus, The 18th Century Roots of the 19th Century Industrial Town, in: Kwartalnik Architektury i Urbanistyki Warszawa 29, 1984, 17-40. 8 MOS-Projekt, GLAV-APU, Moskau. 9 Z.B. zu Köln: Hiltrud Kier, Die Kölner Neustadt. Planung, Entstehung, Nutzung. 1. Hauptband. 2. Karten, Beiträge zu den Bau- u. Kunstdenkmälern Rheinland 23, Düsseldorf 1978, Taf. I, II, Abb. 15-30, Ansichten von Köln 1886 und 1896 von J. Scheiner, Aquarell. 10 Philippe Mellot, Paris sans dessus-dessous. Marville et Nadar photographies 1852-1870, Neuilly 1991, 303ff. mit Bibliographie. 11 Anton Kaes, Machine aesthetics and the dialectics of modernity. On Fritz Lang's Metropolis, in: Künst-lerischer Austausch - Artistic exchange. Ed. by Thomas W. Gaethgens, Berlin 1993, Bd. 3, 165-177. 12 Vgl. unter einem etwas anderen Gesichtspunkt, aber mit vergleichbaren Folgerungen Michael de Groot, Dem Alltag entwischen. Filme zum Thema Stadt und Utopie, in: Stadt und Utopie 1982 (wie Anm. 7), 161-175.

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des Sieneser Rathauses als Ort des "Guten Regimes".13 Diese Darstellungsart ist indessen schon der zweite Schritt. Pläne zur genauen Bestimmung von Eigentumsgrenzen sind uns bereits zuvor überliefert, als vollständige Stadtpläne nur in einzelnen Fällen (Venedig vor 1141, nur aus Kopien bekannt; Siena 1218-1262, aber unvollständig). Sie dienten der Kontrolle von Wasserwegen, Wegerechten und öffentlichem Eigentum.14 Was nachfolgend in den detaillierten Stadtansichten der Weltchroniken Hartmann Schedel (1493),15 Seba-stian Münster,16 Braun-Hogenberg (ab 1572) oder Matthäus Merian (1593-1630)17 durch die Vogelperspektive für jede beliebige Großstadt ihrer Welt noch anstandslos zu be-wältigen wußten - nämlich eine Ansammlung von Signifikantem18 nach Maßgabe der Auftraggeber zu gewichten und differenziert ins Bild zu setzen19 (gleichzeitig entstanden 13 Ambrogio Lorenzetti (um 1290-1348), gemalt 1338/39, vgl. Uta Feldges, Landschaft als topographisches Porträt. Der Wiederbeginn der europäischen Landschaftsmalerei in Siena, Bern 1980, 53-64; L. Koch, Two Lorenzetti Landscapes. Documents of Siena's Territorial Expansion, in: The Rutgers Art Review. The Journal of Graduate Research in Art History 7, 1986, 21-42; Enrico Castelnuovo/A. Bagnoli/F. Bougnolo/M. Donato, Ambrogio Lorenzetti. Il Buon Governo, Milano 1995. 14 Zu den durchaus seltenen mittelalterlichen Stadtplänen vgl. L. Bagrowe, History of Cartography, London 1964 und Einleitung zu P.D.A. Harvey/R.A. Skelton (eds.), Local Maps and Plans from Medieval England, Oxford 1979. 15 E. Rücker, Die Schedelsche Weltchronik. Das größte Buchunternehmen der Dürerzeit. Mit einem Katalog der Städteansichten, München 1973; H. Gollob, Die Schedelsche Weltchronik und das Supplementum Chro-nicarum, in: Gutenberg-Jahrbuch 1974, 86-89; L. Nuti, Alle origini del Grand Tour. Immagini e cultura della città italiana negli atlanti e nelle cosmografie del secolo XVI, in: Storia Urbana Milano 27, 1984, 3-54; Die Schedelsche Weltchronik von 1493. Kommentiert von Rudolf Pörtner, Die bibliophilen Taschenbücher 64, Dortmund 1978. 16 K.H. Burmeister, Sebastian Münster. Versuch eines biographischen Gesamtbildes, Basel/Stuttgart 1963; H.J.W. Horch, Bibliographische Notizen zu den Ausgaben der "Kosmographie" Sebastian Münsters in ita-lienischer Sprache, in: Gutenberg-Jahrbuch 1976, 237-247; Nuti 1984 (wie Anm. 15). 17 Matthäus Merian, Topographia Germaniae, 30 Bde., Frankfurt am Main 1642-1688. 18 M. Schmitt, Vorbild, Abbild und Kopie. Zur Entwicklung von Sehweisen und Darstellungsarten in druck-graphischen Stadtabbildungen des 15. bis 18. Jahrhunderts am Beispiel Aachen, in: H. Jäger (Hg.), Civi-tatum communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift für Heinz Stoob, Städteforschung A 21, Köln/Wien 1984, 322-354. Zu Köln: Johann Daniel Friedrich Sotzmann, Über des Antonius von Worms Abbildung der Stadt Köln aus dem Jahre 1531, Köln 1819; Wolfgang Braunfels, Anton Woensams Köln-Prospekt von 1531 in der Geschichte des Sehens, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 22, 1960, 115-136; Udo Mainzer, Köln in historischen Ansichten, Wuppertal 1977. Zu Frankfurt: F. Lübbecke, Das Antlitz der Stadt nach Frankfurts Plänen von Faber, Merian und Delkeskamp 1562-1864, Frankfurt am Main 1983. 19 Zum Venedig-Plan von 1500, im Auftrag des Nürnberger Kaufmanns Anton Kolb im Holzschnitt ver-öffentlicht nach den Entwürfen Jacopo de' Barbaris vgl. Juergen Schulz, Jacopo de' Barbari's View of Venice. Map Making, City Views, and Moralized Geography Before the Year 1500, in: The Art Bulletin 60, 1978, 425-474; der Augsburger Plan von 1521, gezeichnet vom Goldschmiedemeister Jörg Seld (um 1454-1526/27), umgezeichnet für den Holzschnitt auf 12 Platten durch Hans Weiditz (um 1500-1530) und den Petrarcameister, gedruckt durch Sigmund Grimm und Marx Wirsung. Einblick in die Forschungslage zu diesen großen Ansichten aus der Vogelperspektive: Wolfgang Behringer, Vergleichende Städte-Ikono-graphie als Forschungsgegenstand, in: Jochen Brüning/Björn R. Kommer (Hgg.), Stadtbilder. Augsburger Ansichten des 15. bis 19. Jahrhunderts. Ausst.-Kat. Städtische Kunstsammlungen Augsburg. Graphische Sammlung, Augsburg 1992, 7-14.

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die ersten plastischen Stadtmodelle in Holz: Dresden und Augsburg 152120) -, geriet späte-stens mit Nadar an die Grenzen dieser Darstellungsverfahren. Am Beginn des 16. Jhs. fühlten sich die Bürger durch die sich entwickelnde Ballistik, die neue Schußtechnik zunehmend im Inneren ihrer Städte hinter den bisher schützenden, als uneinnehmbar geltenden Mauern bedroht. Nunmehr rechnete man am Ende des 19. Jhs. mit einer ebenso unausweichlichen Bedrohung aus der Luft. Noch konnte 1829 auf einer Fläche von 2300 m² ein Panorama von London dem Publikum präsentiert werden. Auf diesem gelang es, gleichsam aus der Perspektive eines Grundstücksmaklers auf dem Bild mehr im Detail sichtbar werden zu lassen, als unter normalen Umständen zu sehen war: Honors gemalte Darstellung von London im Panorama war genauer und vollständiger als das reale London selbst.21 Es begann unmerklich und scheinbar ohne Übergang und Sprünge. Die Vedute,22 mit einem Höhepunkt im späten 18. Jh. bei den italienischen Großmeistern aus Venedig, Canaletto und Guardi, setzt sich ungebrochen auch heute noch fort. Alle Darstellungs-varianten, die schon vor dem Beginn des 16. Jhs. ins Spiel gebracht worden waren, standen den unterschiedlichen Interessen der Auftraggeber zur Verfügung und wurden und werden weiterhin angewendet. Das Pars pro Toto aus touristischer Perspektive hat sich selbst im Foto bewahrt. Nebensachen - zahlenmäßig weitaus überlegen - gehörten nicht dazu, waren und sind überflüssig, weil das Ausgewählte für das Gesamte stand. Touristik-Büros, die eine Informations-Broschüre herzustellen haben, wissen um dieses Problem. Sie erfinden keine neue Strategie, sie benutzen die älteste, die Strategie der spätmittelalterlichen Pilger-pläne: Nur die wenigen für den jeweiligen Zweck bemerkenswerten Ziele (Gebäude, Orte) sind durch einen auffälligen Grad an Detailliertheit hervorgehoben.23 Das kennen wir heute für jede Stadt. Allerdings erfahren wir aus diesen Plänen nichts über den metropolen Charakter. Wir erfahren allenfalls etwas über das, was die Gäste erfahren, weil sie es erfahren sollen. Stadtpläne gibt es für jeden Berufs- oder Interessenvertreter. Jede dieser unterschiedlichen Ansichten ist anders als die für andere, denn sie brauchen nur Be-stimmtes zu erfahren, weil die Übereinanderlagerung jeder dieser Interessen ein bildliches Chaos, also Redundanz erzeugen würde. Der Ausweg war das Detail. Insofern ergeben Zilles Berlin-Studien kein Bild von einer Metropole, was Garnier24 noch zu leisten ver-

20 L.H. Heydenreich, Architekturmodell, in: Reallexikon zur Deutschen Kunst, Bd. 1, 1937, Sp. 933. 21 Stefan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt am Main 1980, 103ff. 22 Alessandro Gambuti, L'Architettura dei Pittori nel Quattrocento Italiano, Florenz 1995. Veduten u.a. von Gozzoli (San Gimignano 1464-1465), Carpaccio (Venedig 1494) und Botticelli (1505). 23 Zu den Pilgerplänen, die zugleich die frühesten neuzeitlichen Stadtpläne im 15. Jh. sind, vgl. E. Ober-hummer, Der Stadtplan. Seine Entwicklung und geographische Bedeutung, 1907, 19ff., 84f. 24 Cité Industrielle. Zu unterscheiden ist hiervon jener Aspekt, der die Tradition von Konzeptionen und Ent-würfen einer Idealstadt kennzeichnet - vor Garnier wäre Ledoux mit seinem Entwurf für Chaux (1785/89) zu nennen. In diesen geht es um geordnete Systematik auch der imaginierten sozialen Realität, deren Beschrei-bungsvehikel der architektonische Gesamtplan wird, für den Arnold Mercators Ansicht von Köln in 16 Teilen von 1571 einen frühen exemplarischen Fall darstellt. Vgl. Hermann Maertens, Der optische Maßstab oder die Theorie und Praxis des ästhetischen Sehens in den bildenden Künsten, Bonn 1877.

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suchte. Das Problem tat sich dort auf, wo die Menge des Vorhandenen kaum mehr noch Detailliertheit zuließ. Der formale Anschein der Vedute mußte das Panorama, den Gesamt-plan ersetzen. Andererseits aber blieb der Gesamtplan so wenig aussagekräftig, daß er zur chiffrierten Topographie verkommt, nur lesbar für Spezialisten. Zwischen dem Satelliten-foto und dem touristischen Schnappschuß hatte man sich aber längst vor Erfindung der Photographie zu entscheiden. Diese Entscheidung fiel zugunsten der mikroskopischen Momentaufnahme aus. Menzels Paris-Bilder aus den 50er Jahren des 19. Jhs. belegen das ebenso deutlich wie Dorées Szenen aus Londoner Armenvierteln aus den 70er Jahren.25 Die französischen Impressionisten fanden, außer in den malerischen Mitteln, ebensowenig eine Alternative wie die italienischen Futuristen. Die Maler des Expressionismus setzten dann schließlich in aller Konsequenz auf die noch radikaler gekürzte Nahsicht, aufs leben-dige Inventar von Metropolis, wenn auch die wenigen Collagen Hartfields, Webers oder Citroens26 eine "summa" bildlicher Imagination gegen diese sozial-realistische Variante der bildlichen Erscheinung von Metropolis zu setzen wußten.27 Die neusachliche Vedute des Banalen (eines unspektakulären, ereignisarmen, beliebigen Ortes innerhalb von Metro-polis) verdeutlicht in ihrer scheinbaren Gegenposition zur expressionistischen Detail-Radikalität, daß Menzel recht hatte und die lokale Innenperspektive - der Blick auf die Straßenflucht oder die Kreuzung von Verkehrssträngen - die einzig noch mögliche Per-spektive auf das Gesamte bildlich ausmachen könne.28 Nicht mehr eine als verbindlich unter den gebildeten Zeitgenossen anerkannte historische Bedeutsamkeit, die Basis für den touristischen Marktwert einer Vedute, gab den Ausschlag, sondern die Komplexität und Modernität des scheinbar zufälligen Details - der beliebige Ausschnitt mit seiner Häufung moderner Kommunikationsknoten aus Brücken, Straßen und Verkehrsmitteln steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er lenkte die Imagination des Blickes auf die jenseits der Bildgrenzen liegenden tausendfachen Wiederholungen des immer wieder Ähnlichen im Zentrum der Metropole. Die sozial bedingte Wahrnehmung lehrte es jeden. Von daher ahnte jeder, daß die Peripherien - oder anders formuliert: jeder weitere Schritt in Richtung auf die Peripherie - das gleiche präsentierten, nur eben in einem geringeren Grad an Kom-plexität, nicht in gleicher Konzentration.

25 Celina Fox (Hg.), Metropole London. 1800-1840, Ausst.-Kat. Essen, Villa Hügel, 6.6.-8.11.1992. 26 Edouard Jäger, Surrealistische Photographie. Zwischen Traum und Wirklichkeit, Köln 1982, 26f.; Paul Citroen, Metropolis. Foto-Assemblage, Amsterdam 1923-1924. 27 Birgit Schwarz, Otto Dix. Großstadt. Eine Kunstmonographie, Frankfurt am Main/Leipzig 1993. Analyse des Triptychons "Metropolis", 1927-28, Stuttgart, Galerie der Stadt von Otto Dix, 1891-1969. Beeke Sell Tower, Envisioning America. Prints, drawings, and photographs by George Grosz and his contemporaries, 1915-1933. Ausst.-Kat. Cambridge (MA), 19.4.-24.6.1990; Timothy O. Benson (Hg.), Expressionist utopias. Paradise, metropolis, architectural fantasy. Mit Beiträgen von Reinhold Heller, David Frisby, Iain Boyd Whyte, Anton Kaes. Ausst.-Kat. Los Angeles, Los Angeles County Museum of Art, 21.10.1993-16.1.1994. Daß in der expressiven Malerei nach 1930 sich die Thematik nicht wesentlich verschiebt, lehrt ein Blick in den Ausst.-Kat. "Aspekte Großstadt". Künstlerhaus Bethanien, Kunstverein Hannover, Kunstverein Frank-furt, Berlin 1977. 28 Martina Padberg, Großstadtbild und Großstadtmetaphorik in der deutschen Malerei. Vorstufen und Entfaltung 1870-1918, Bonner Studien zur Kunstgeschichte 10, Münster/Hamburg 1995 [zugl. phil. Diss.].

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Was ist und was war von einer Metropole bildlich darstellbar? In der Antike und im Mittelalter ist es die Reduktion auf ein Piktrogramm des städtischen Mauerringes als Aus-weis privilegierter Machtstellung als Teil von Weltkarten, sei es des römischen, sei es des christlichen Weltreiches mit durchaus symbolischem Gehalt unter Verzicht auf topo-graphische Präzision, die im Detail durchaus bereits früh - mit den je zur Verfügung stehenden Mitteln - angestrebt wurde.29 Erst die Pilgerpläne des späteren Mittelalters vereinigen in einem geometrischen, symbolisch deutbaren Schema als Umriß der Stadt überkommene kartographische Verfahren mit der Ansicht einzelner hervorragender Gebäude in Ansicht.30 Ersteres gilt für den Aachener Barbarossaleuchter ebenso, wie für alle weiteren derartigen Abbreviaturen mittelalterlicher Metropolen-Darstellungen: Sie sind befestigter Ort. Die großformatigen Stadtansichten des 15. und 16. Jhs. gehen einen entscheidenden Schritt weiter in die Details der Metropole. Sie heben durch Beschriftung innerhalb dieses befestigten Ortes beispielsweise die Behälter der kostbaren Reliquien-schätze hervor: die Kirchenarchitektur. Diese wies den Reichtum der städtischen Gemein-schaft innerhalb der Metropole aus. Er begründete zugleich ihren zusätzlichen Ruhm und Vorrang, und in der kompositionellen Kombination aus Detailstudie und technischer Präzision erweisen sie sich als Kunstwerke, die wesentlich aus der Imagination eines Gesamtbildes entstanden sind. Die Gleichzeitigkeit der Entstehung anderer Kunstformen, wie der Landschaftsmalerei und der ersten Denkmäler als nicht mehr architekturgebundene Skulptur auf dem öffentlichen Platz weist auch für diese Stadtansichten auf das bildlich realisierte Identifikationsbedürfnis der städtischen Bevölkerung. Weltliche Macht und Besitz ist das movens dieser Aufträge an die künstlerische Phantasie. Demnach verbirgt sich selbst unter dem Anschein von lebendiger Vielfalt allenfalls noch die Häufung von Diversifikation des immer gleichen, keineswegs ausschließlich das Ansinnen auf topographisch präzise Totalität, die zuvor (seit dem 12. Jh. etwa) bereits in topographi-schen Plänen für Verwaltungs- und Rechtsbedürfnisse von speziellen Ämtern erstellt, indessen nicht für öffentliche Repräsentationsbedürfnisse zugänglich, sondern nur für interne Verwendung ausgebildet worden war.31 Die totale Übersichtlichkeit geht schließlich in einem ästhetisch kaum mehr lösbaren Konflikt zwischen Unüberschaubarkeit und Banalität der gleichmachenden Uniformität der gewöhnlichen Straßenkarte unter. Ersetzbar ist die Unmöglichkeit zur sinnlichen Präsentierbarkeit der Totalität nur durch die rationale Reduktion auf ein abstraktes kartographisches Zeichensystem, wie es Kartographen aus dem Bedürfnis von Planern konventionalisiert haben32 und Laien sich 29 Zur Funktion von älteren Stadtansichten als Illustration mit religiösem und historischem Hintergrund in didaktischer Absicht und ihre Verwendung in Dekorationen öffentlicher Gebäude vgl. Schulz 1978 (wie Anm. 19), 446-454. 30 Z.B. Hyginus Gromaticus, Corpus Agrimensorum Romanorum (ca. 500 n. Chr.), Abb. in: David Wood-ward, Art and Cartography, Chicago/London 1987, Fig. 1,8. Zahlreich sind vergleichbare Darstellungen auf römisch-historischen Reliefs, wie etwa dem der Trajanssäule. Zur Darstellungsart mit der typischen Be-schränkung auf wenige Bauwerke, eine Mischung aus Topographie und Vedute vgl. Schulz 1978 (wie Anm. 19), 456. 31 Schulz 1978 (wie Anm. 19), 440 für Venedig. 32 Vierhundert Jahre Mercator. Vierhundert Jahre Atlas. Die ganze Welt zwischen zwei Buchdeckeln. Eine Geschichte der Atlanten. Hrsgg. von H. Wolff anläßlich der Ausst. Bayerische Staatsbibliothek München

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mühsam - und weitgehend erfolglos - über wohlmeinende Kompromisse, wie wir sie alle als Straßenkarten kennen - täglich wieder und wieder anzueignen versuchen. Sie finden den gesuchten Ort als ein Detail, finden indessen nie einen Überblick auf ein Gesamtbild. Darüber aber verfügt selbst kaum noch jemand, der am Ort geboren und seine gesamte Lebenszeit dort verbracht haben mag. Denn auch als neugieriger und aufgeschlossener Zeitgenosse würde er jedem Dritten sehr schnell darüber Auskunft geben können, wohin zu gehen bestimmt nicht lohnt. Und dies rührt daher weil er im Zweifelsfall selber nie Anlaß gehabt hat, bestimmte Regionen seiner Metropolis überhaupt je zu betreten, geschweige denn aufmerksam zu durchstreifen. Dort überall ist nicht sein sozialer Ort, der den Blick und die Interessen unausweichlich bestimmt. In dem Maße wie die fortschreitenden Möglichkeiten der technischen Präzision - vorrangig für militärische Zwecke33 - gesteigert wurden, übereignet die Anschaulichkeit sich der immer freier agierenden künstlerischen Phantasie. Die bildenden Künstler reagierten in ihren Werken schließlich seit De Chirico und Kokoschka bis hin zu Hopper und ihren Nachfolgern mit dem beschränkenden Rückzug auf die Darstellung sonnenbeschienenen oder nächtlich schweigsamen Lebens im Ausschnitt.34

1995, Weißenhorn 1995. Zu den Details solcher Systeme David Woodward (ed.), Art and Cartography. Six Historical Essays, Chicago/London 1987. 33 Zum ganzen Komplex der Darstellungen von Belagerungen von Städten und allen weiteren militärischen Anwendungen von Stadtplänen und Stadtansichten kann hier nicht weiter eingegangen werden. 34 Dominic Ricciotti, The Urban Scene. Images of the City in American Painting 1890-1930, PhD Indiana Univ. 1977.

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EVELYNE COHEN, PARIS

PARIS, MÉTROPOLE DES ANNÉES 30 Paris des années 30 est une capitale à la fois glorieuse et endeuillée qui se sent quelque peu "sinistrée de la guerre". C'est une ville de trois millions d'habitants,1 que l'on continue d'appeler "Paris intra-muros", entourée d'une agglomération de trois à quatre millions, selon l'extension qu'on lui confère. Le développement de ce "Grand Paris" de six à sept millions remonte au XIXème siècle avec l'essor des banlieues, il s'est consolidé au XXème; après la Grande Guerre, les contemporains se trouvent confrontés au phénomène de l'"ex-tension" incontrôlée, désordonnée de Paris, aux conditions nouvelles de la vie urbaine dominée en France par le poids de l'agglomération parisienne dans une population devenue majoritairement urbaine depuis 1931, date-tournant. Ils en appellent à une "mise en ordre" que ce soit celle des hommes de l'art, les urbanistes ou celle des hommes politiques et de l'Etat. André Morizet, sénateur de la Seine, maire de Boulogne, constate le phénomène:

"Le Paris de César Birotteau, limité par les boulevards de Louis XIV, est mort. Celui d'Haussmann enclos dans l'enceinte de Thiers également. Un autre, qu'on baptise tantôt le "Grand Paris", tantôt "l'agglomération parisienne" les a tous les deux ab-sorbés".2

Dans le Bulletin de la Statistique générale de la France, Henri Bunle commente cette mutation qui a radicalement transformé la capitale: La ville des piétons s'est transformée en une agglomération dont l'influence se fait sentir dans un rayon de 40 à 45 km et où s'organisent et se développent des transports en commun:

"En même temps que les moyens de transport étaient développés, la durée jour-nalière du travail a été réduite; la propriété familiale a été rendue plus accessible; le séjour des villes devenait physiquement ou moralement plus pénible à certaines parties de la population; et la crise des habitations ou des logements se faisait plus ou moins lourdement sentir en différents points".3

1 Population, mai-juin 1984, 471: 1801 - 547.756; 1856 - 1.500.219 [limites du nouveau Paris]; 1921 - 2.906.472; 1931 - 2.891.020; 1954 - 2.850.189. 2 André Morizet, Du vieux Paris au Paris moderne, Paris 1931, p. 340. Le chapitre qui s'intitule de façon significative: "Maintenant... la Région Parisienne", se décompose en trois parties: I. Une agglomération de sept millions d'habitants, II. Programme pour l'achèvement du vieux Paris, III. Le Plan d'aménagement du Paris Nouveau. Morizet (qui est socialiste, sénateur de la Seine et maire de Boulogne-Billancourt) précise que "L'agglomération parisienne au total groupe sept millions d'individus", cinq dans le département de la Seine et deux sur son pourtour (id., 344). 3 Henri Bunle, Migrations alternantes dans la Région Parisienne, in: Bulletin de la Statistique générale de la France, 21 octobre 1931-septembre 1932, 581-640.

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Illustration: "Carte administrative du département de la Seine (1931)" Source: A. Demangeon, Paris. La ville et sa banlieue, Paris 1931. I. L'Extension du Grand Paris L'équilibre entre Paris et ses banlieues, entre Paris et la France et finalement entre Paris et le monde s'est modifié. A l'image courante au XIXème siècle de Paris, ville tentaculaire dans une France hydrocéphale, qui draine vers elle l'afflux des provinces françaises, domine "la" province, s'est substituée progressivement celle d'une capitale menacée dans son être, dans sa "personnalité" par ceux qui, affluant vers elle, la transforment, l'investissent, lui confèrent un caractère de grande ville moderne, de Babel, de Cosmopolis. L'opinion semble dominée par la conscience de l'omniprésence des étrangers. Les titres des œuvres littéraires et cinématographiques sont significatifs à cet égard.4 De plus en plus la réalité du Grand Paris s'impose que ce soit à travers le nombre, la masse ou l'espace qui s'ouvre grâce à la destruction entre 1919 et 1930, des fortifications de Thiers, la dernière enceinte de Paris.

4 Voir Ralph Schor, L'opinion française et les étrangers 1919-1939, Publications de la Sorbonne 1985. En particulier p. 91-274. "A Paris sous l'œil des métèques" de Jean-José Frappa (1926), "Les étrangères à Paris" de Maurice Bedel (1935), "La solitude à Paris" d'Etienne Gril et Arthur Fleischer (1934).

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Illustration: "Carte des limites du département de la Seine et de la Région parisienne" Source: L'Illustration, 25 mai 1938.

"Le NOMBRE de PARIS occupe, obsède, assiège mon esprit", écrit Paul Valéry dans "Regards sur le monde actuel". Le Corbusier propose à l'Exposition des Arts Décoratifs et Industriels Modernes de 1925 le Plan Voisin, "Plan pour une ville de trois millions d'habitants" qui n'est autre que Paris. Les projets de "Ville Radieuse" élaborés par Le Corbusier à partir de 1931 visent à loger dans Paris intra-muros 8 millions d'habitants. La "zone" (ancienne zone militaire qui entoure l'enceinte) qui sépare la ville de sa banlieue devient un espace libre, un lieu sur lequel se matérialisent les conceptions du lien, de l'"attache" entre ville et campagne, entre Paris et sa banlieue, tour à tour considérée comme une ceinture noire (peuplée de chiffonniers et de marginaux), verte (les poumons de la ville) ou rose (les briques roses des logements sociaux). Une fois admis le principe de la démolition des fortifications de Paris, dès 1882,5 les arguments hygiénistes insistèrent sur la nécessité d'assainir physiquement et moralement la ceinture noire. En 1908, le projet Dausset pour la ceinture de Paris s'inscrit dans la continuité du schéma de croissance de la ville par cercles concentriques. Paris reste cein-turée que ce soit par la zone militaire, la couche de population qui s'est installée au pied des fortifications, la ceinture verte que l'on tentera sans succès de lui donner. Les terrains des fortifications et de la zone sont déclassés. Une partie est réservée à des constructions

5 Séance du Conseil Municipal de Paris le 20 novembre 1882.

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de logements sociaux (Le Corbusier les appellera ironiquement des "poils sur la ceinture"), l'autre à des espaces verts. L'entre-deux-guerres voit s'y développer la spéculation, et un certain nombre de constructions: des logements sociaux, la Cité Internationale Universi-taire de Paris, le Parc des Expositions. Les terrains les plus chers de l'ouest de la ceinture sont mis en vente par la ville et réservés à des constructions plus luxueuses. Ainsi Paris a vu l'échec du projet de ceinture de parcs; l'espace entre ville et banlieue est resté coupé, ceci étant accentué par la politique des transports urbains de la Ville de Paris: les lignes du métropolitain s'arrêtent aux portes-même de la capitale.; les romanciers comme Eugène Dabit ou Léon Daudet attestent de cette coupure, eux y trouvent encore un charme désuet, une atmosphère particulière, qui n'est ni celle de la ville ni celle de la banlieue. Mais cet espace consacre la séparation, matérielle et morale entre Paris et sa banlieue. Certains comme Albert Guérard parlent même du "mur fiscal et du mur moral entre Paris et sa banlieue [...] plus formidables encore que les fortifications de Thiers".6

Illustration: "Coupe du boulevard, des fortifications et de la zone. Modification après 1920" Source: Bernard Rouleau, Villages et faubourgs de l'ancien Paris, Paris 1985, 286.

II. Le débat intellectuel sur le "Paris Nouveau" Les intellectuels, tous corps de métiers confondus, des hygiénistes aux hommes de lettres dépeignent une ville malade, désordonnée. Dès 1928, ils aperçoivent la fin d'une époque glorieuse de Paris. Céline donne à voir la noirceur et le caractère morbide de la banlieue parisienne dans son "Voyage au bout de la nuit" qui fait événement et reçoit le prix Renaudot en 1932.

6 Albert Guérard, L'avenir de Paris, Paris 1929, 116-117.

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Entre les hommes de lettres, les urbanistes, les hommes politiques, les gestionnaires, les techniciens de la ville se développe un débat très riche sur l'avenir de Paris, sur le "Paris nouveau". Dans ce débat, les urbanistes occupent une place centrale. Les lettres françaises de Valéry à Giraudoux se tournent vers l'architecte dans les années 20, vers l'urbaniste dans les années 30. Paul Valéry dans "Eupalinos",7 "qualifie l'architecte comme un in-tellectuel chargé d'une haute et générale mission morale".8 Giraudoux fonde en 1928 avec Raoul Dautry une Ligue Urbaine "pour la défense de la beauté et de la salubrité de Paris". Giraudoux considérant en effet que l'écrivain a une "position morale" vis-à-vis du pays dénonce le rôle des pouvoirs publics et municipaux qui, dans leur action méconnaissent la nécessité de l'urbanisme, et en particulier de l'urbanisme parisien.9 Les urbanistes exposent leurs conceptions, en révèlent les enjeux dans les pavillons futuristes des Expositions Internationales en 1925 et en 1937. L'opinion les crédite d'un savoir-faire, d'une réflexion, d'une capacité à mettre en ordre la ville qui en a tant besoin. Deux courants synthétisent les débats d'urbanisme: autour de Marcel Poëte le courant évolutionniste anime une réflexion sur la ville, l'histoire de Paris qu'il voit comme celle d'un organisme vivant conditionné par son passé. Le Paris nouveau se doit de respecter les grandes orientations issues de l'histoire, celle vers l'ouest du pouvoir, du luxe et de la vie mondaine, les localisations industrielles dans la banlieue nord - puisque la rive droite est le centre des affaires -, le lien entre rive gauche et université, et enfin garder le souvenir de ses origines dans la Cité, avec le Palais et la Cathédrale. Il faut décongestionner la ville. Les urbanistes modernes, progressistes réunis autour des Congrès internationaux de l'architecture moderne considèrent que Paris n'est plus la cité des Temps Modernes, mais qu'il faut conserver la centralité parisienne, développer les grandes fonctions urbaines (habiter, travailler, se recréer, circuler) pour faire de Paris une "Ville Contemporaine", une grande ville moderne. Au Pavillon des Temps Nouveaux de l'Exposition des Arts et Techniques dans la Vie Moderne, en 1937, Le Corbusier soutient qu'on pourra dans un type de "Ville Radieuse" loger jusqu'à huit millions d'habitants, avec 12% de bâti et 88% de parcs. Il affirme qu'il "faut rentrer en ville", qu'

"il est fou d'aller en banlieue d'équiper la banlieue, de consentir l'effroyable gaspillage des banlieues, d'imposer le martyre des banlieusards à deux millions d'habitants. IL FAUT RENTRER EN VILLE. Telle est la tendance et non pas celle de l'exode".10

Plusieurs publications, entre 1928 et 1930, rendent comptent du contenu du débat sur l'aménagement de la capitale et de sa région: 7 Paul Valéry, Eupalinos, Paris 1921/1993. Eupalinos est une œuvre de commande. On y lit, p. 100: "Or, de tous les actes, le plus complet est celui de construire". 8 Gérard Monnier, Un Retour à l'ordre. Architecture, géométrie, société, in: Le Retour à l'ordre dans les arts plastiques et l'architecture. 1919-1925, Université de St-Étienne, 45-54. 9 Cf. Jean Giraudoux, L'urbanisme et le rôle présent de l'écrivain. Conférence prononcée à l'occasion du dîner La Bonne Marmite en mai 1935, in: Jean Giraudoux, Pleins Pouvoirs, 21: "Je voudrais […] vous montrer sur votre ville même, sur Paris, les ravages causés par cette méconnaissance de l'urbanisme, qui est simplement la méconnaissance de notre passé et de notre avenir". 10 Le Corbusier, Des canons, des munitions, des logis S.V.P., Paris 1937, 58.

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* Albert Guérard, professeur à la faculté des lettres de l'Université Stanford, publie L'Avenir de Paris11 en 1929. Ce livre part d'une réflexion sur l'urbanisme, sur l'évo-lution de Paris et de la législation, et il propose une "Charte du plus grand Paris".

* Les Cahiers de la République des Lettres, des Sciences et des Arts publient en 1929, "Vers un Paris nouveau".12

* François Latour, président du Conseil municipal, publie en 1931: Le plus grand Paris, problème d'autorité. Il s'interroge sur les attributions du pouvoir exécutif dans la région parisienne et il rappelle l'historique du régime d'exception parisien.

* En 1932, André Morizet fait paraître "Du vieux Paris au Paris moderne", Hauss-mann et ses prédécesseurs.13

Le "Congrès du Paris Nouveau" organisé par le Journal entre le 16 et le 20 juin 193014 dans le grand amphithéâtre de la Sorbonne rend compte de ces discussions. Il est le fruit de plusieurs mois d'études de plus de cent personnes et rassemble, en présence des respon-sables politiques, les experts urbains de la Ligue Urbaine, du Musée Social, du Comité Supérieur d'Aménagement de la région parisienne. Pendant le Congrès on dénonce le désordre de la ville, son déclin, l'absence de direction dans l'organisation régionale, mais on souligne aussi que Paris représente un "exemple pour le monde". C'est un appel à l'aménagement rationnel, une tentative de trouver les meilleurs formes pour l'organisation administrative de la Région. Les intellectuels sentent que la suprématie de Paris dans le monde moderne est mise en question par New York, Berlin, Chicago etc. L'enjeu est donc de s'appuyer sur le prestige de la Ville-Lumière, ville du patrimoine, de l'histoire et de la transformer en capitale des Temps Modernes tout en poursuivant ce que Le Corbusier appelle la "tradition de Paris" celle des bâtisseurs de Notre-Dame, de Colbert et de Haussmann. La question de l'Unité du Grand Paris (ouest-est, Paris-banlieue) est liée à cette puissance parisienne. Ceux qui veulent la consolider, la recréer se heurtent à toutes sortes d'obstacles, que ce soit la force des schémas mentaux qui empêchent de penser un espace qui ne soit pas radioconcentrique ou encore les intérêts politiques étroits des conseillers municipaux de la ville, attachés à défendre les intérêts particuliers d'un quartier, d'une ville dont ils se sentent les citoyens dépossédés. 11 A. Guérard, op. cit. 12 Vers un Paris nouveau, Cahiers de la République des Lettres, des Sciences et des Arts, Paris 1929, dans lequel sont publiés des articles pluridisciplinaires de Louis Béraud, Jean-Jacques Brousson, Le Corbusier, Louis Dausset, Georges Delavenne, Lucien Dubech, Pierre d'Espezel, Maurice de Fleury, Georges Hilaire, Fernand Léger, Henri Lucas, André Morizet, Henry Puget, Gil Robin, Léandre Vaillat, Lucien Zimmer. 13 Ce livre distingue trois parties: 1ère partie: Les embellissements de Paris de 1800 à 1853 - 2ème partie: Haussmann et la transformation de Paris (1853-1870) - 3ème partie: Vers le Grand Paris qui se divise en deux chapitres: 1. Depuis... la liquidation d'Haussmann (1870-1929). 2. Maintenant... La région parisienne. Morizet analyse en praticien les problèmes de l'agglomération des sept millions d'habitants, les difficultés à résoudre en matière d'habitation, de transports, de finances, d'administration. 14 Congrès du Paris Nouveau, organisé par Le Journal, sous la présidence de Tardieu, président du Conseil des Ministres, 16-20 juin 1930.

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III. L'appel aux hommes politiques Les Hommes de lettres (Paul Valéry, Jean Giraudoux) invoquent les urbanistes. Les urbanistes, à leur tour, se tournent vers les hommes politiques, en appellent à l'intervention de l'Etat. Ainsi Le Corbusier appelle de ses vœux un Colbert. A partir de 1928 les mesures se multiplient. Un Comité Supérieur d'Aménagement de la Région Parisienne est créé. Plusieurs lois contribuent à l'aménagement du Grand Paris; surtout en 1932 la région pari-sienne en tant que telle, est définie dans la loi qui crée ainsi un cadre d'intervention possible. Droite et gauche s'affrontent alors sur la politique à mener en matière d'urbanisme. La droite (certains groupes comme le Redressement Français, en particulier) centre sa pensée sur la lutte contre le communisme en banlieue qui constitue autour de Paris ce que l'on appelle une "ceinture rouge". Les communistes, en effet affirment depuis 1924 qu'ils veu-lent encercler Paris, reconquérir le Paris des Révolutions du XIXème siècle, reprendre le centre de la ville depuis ses banlieues. La droite et les radicaux manifestent, face à cela leur volonté de dissoudre la ceinture rouge en limitant l'essor de l'agglomération parisienne et en éliminant les mécontentements sociaux qui contribuent au développement du communisme. La droite en appelle à une action politique forte, à une unité de commande-ment. A gauche, un groupe actif de réformateurs sociaux animé par le maire socialiste de Sures-nes, André Sellier, par André Morizet et par d'autres s'intéresse à l'abolition du statut particulier de la Ville de Paris, à une réforme administrative du Grand Paris, à une gestion qui contribue à résorber les inégalités entre Paris et sa banlieue, à développer ce que l'on peut appeler une politique du logement social. Il semble important de souligner l'émer-gence au travers de perspectives gestionnaires d'un groupe d'aménageurs qui, transcendant ses clivages politiques, esquisse une ébauche de politique urbaine. Parmi eux il faut citer le maréchal Lyautey, ancient résident général au Maroc, l'architecte-urbaniste Henri Prost, le polytechnicien Raoul Dautry, qui travaillent quelquefois en commun avec des réfor-mateurs de gauche comme Henri Sellier ou André Morizet et voient dans l'urbanisme nouveau un facteur de paix sociale. Dans ces débats nous retrouvons beaucoup des polémiques qui ont troublé l'entre-deux-guerres tiraillé entre un repli frileux sur le passé concrétisé par un émiettement de l'action urbaine et une volonté de construire une capitale des Temps Modernes qui prenne en compte les dimensions et les exigences du Grand Paris, ceci ne pouvant se réaliser qu'avec une volonté claire, ordonnée et centralisée. Le premier plan régional en est issu. Il voit le jour en 1939 mais ne trouve son application qu'après la deuxième guerre mondiale. Selon nous une ligne de clivage importante sépare ceux parmi les hommes de lettres, les urbanistes, les hommes politiques qui bornent leur espace aux murailles de la ville (même après qu'elles soient démolies) et ceux qui poussent leur regard et leurs analyses au-delà des murailles dans un espace qui englobe la totalité du Grand Paris. Nous en retrouvons les prolongements sous le régime de Vichy.

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DETLEF BRIESEN, SIEGEN

BERLIN - DAS SCHAUFENSTER DES NATIONALSOZIALISMUS?

"Wenn die Engländer etwas in Rom oder Florenz zerstören, so ist das ein Verbrechen. Um Moskau ist es nicht schade, und - leider - auch bei Berlin wäre es heute noch kein Verlust."1

"'Die Große Reichshalle ist das größte Gebäude auf Erden. Sie erhebt sich in eine Höhe von über einem Viertel Kilometer, und an bestimmten Tagen - wie etwa heute - ver-schwindet die Spitze ihrer Kuppel aus der Sicht. Die Kuppel selbst mißt 140 Meter im Durchmesser, und der Petersdom zu Rom paßt 16mal hinein.' Sie hatten das Ende der großen Allee erreicht und fuhren auf den Adolf-Hitler-Platz. Zur Linken begrenzte den Platz das Hauptquartier des Oberkommandos der Wehrmacht, zur Rechten die neue Reichskanzlei und der Palast des Führers. Davor lag die Halle. März hatte das alles schon früher gehört".2 Eine Episode aus "Vaterland", einem Kriminalroman des Briten Robert Harris. Der Roman spielt im Berlin der 60er Jahre, in einer Reichshauptstadt, welche nach dem fiktiven Sieg der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg nach den Plänen Albert Speers zur Welt-hauptstadt ausgestaltet worden ist. So kann sich der Protagonist der Geschichte, der Kriminalbeamte Xaver März, auf eine fiktive Stadtrundfahrt begeben; zusammen mit aus-ländischen Besuchern der Welthauptstadt und deutschen "Ostkolonisten", welche sich vor der Monumentalität der Großen Halle, des Triumphbogens, der Großen Straße gleichsam in die Sitze ihres Reisebusses zu ducken scheinen. Zum Glück für uns Nachgeborene sollte allerdings diese Unterwerfungs- und Über-wältigungsarchitektur niemals Wirklichkeit werden; sie bleibt der Fiktion der Romane überlassen. Gleichwohl fällt es uns nicht schwer auszumalen, daß ein solches gewaltiges Schaufenster des Nationalsozialismus, als das sich Berlin im Roman von Robert Harris präsentiert, nicht allein durch seinen "Brutalismus" überwältigt hätte: Die zum Glück ja nicht errichtete Welthauptstadt Berlin-Germania wäre darüber hinaus sicher auch der Ort gewaltiger Kundgebungen und Paraden geworden. Sicher wäre Berlin dann auch in Film, Fernsehen und Druckerzeugnissen insbesondere auch mit Blick auf das (noch) nicht unterworfene Ausland in einer Weise vorgestellt worden, welche seiner Brachial-architektur entsprochen und diese adäquat gespiegelt hätte. Mit anderen Worten: Berlin wäre in dreierlei Hinsicht ein überwältigend-erschreckendes Schaufenster, ein nach innen und außen repräsentativer Ort des Nationalsozialismus geworden: in architektonischer Gestalt, als Schauplatz der großen Umzüge und triumphalen Politik sowie als Vorzeige-objekt für in- wie auch ausländische Besucher und Touristen. Seien wir nicht nur froh, daß es dazu niemals kommen sollte: Auch die Wirklichkeit der Jahre zwischen 1933 und 1939, und erst recht die des Krieges, sah sehr viel bescheidener aus. Denn Berlin war ein "Schau-fenster des Nazismus", mit dem die Nationalsozialisten ihre Probleme hatten. 1 Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hg. von Werner Jochmann, Hamburg 1980. Monolog am 21./22. 7.1941, 44. Im folgenden zitiert als Monolog. 2 Robert Harris, Vaterland, München 1992, 35.

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I. Berlin und der Nationalsozialismus Diese oben angesprochenen "Probleme" resultierten dabei allerdings weniger als man zu-nächst vermuten könnte aus einer spezifischen, programmatischen und prinzipiellen "Großstadtfeindschaft", bzw. allgemeiner einem genuinen "Anti-Modernismus" "des" Nationalsozialismus. Letzterer war in seinem Aufstieg als politische Massenbewegung bis zur Machtergreifung, daran haben insbesondere die jüngsten Forschungsarbeiten zu Recht erinnern müssen, vorrangig als politische Sammlungsbewegung an die Öffentlichkeit herangetreten.3 Das bedeutete, daß "der" Nationalsozialismus, mehr oder weniger unsyste-matisch, die breite Palette des traditionell rechten bis faschistoiden Gedankengutes in Deutschland, aber auch Forderungen anderer politischer Lager, zusammenzufassen ver-suchte. Dieses gesamte Ideen- und Ideologienkonglomerat wurde dann propagandistisch auf die Forderung nach einer eben nicht "kommunistischen" sondern "nationalen" und somit "deutschen" Revolution, Erhebung, Wiedergeburt usw. zugespitzt. Typisch war am Nationalsozialismus dann wahrscheinlich nur, daß die entsprechenden - zum Teil traditionsreichen, aber sich auch widersprechenden - Forderungen aus allen Teilen des politischen Spektrums auf extreme Schlagworte (und damit radikale Vereinfachungen) sowie auf die Person Adolf Hitlers (deshalb verzeichneten die entsprechenden Wahlzettel die Nationalsozialisten auch als "Hitler-Bewegung") zugespitzt wurden. Diese mehrdeutige Verschlagwortung gestattete es der Bewegung insofern, sich an breite Wählerschichten zu wenden und sie auch tatsächlich zur Wahlentscheidung zu führen. Eine wichtige Folge davon war, daß "der" Nationalsozialismus bis 1933 tatsächlich ein breites Spektrum politischer Grundüberzeugungen abdecken und Wähler sowie Aktivisten verschieden-artiger Provenienz und Zielsetzungen für sich gewinnen konnte. Eine solche extreme Verschlagwortung politischer Grundüberzeugungen zeigt sich auch am Beispiel Berlins. Bis 1933 fungierte die Stadt dabei als vielleicht eine der bedeut-samsten Projektionsflächen der nationalsozialistischen Massenagitation: Alles, was die Nationalsozialisten bekämpften, was sie als die verderblichen Übel der Zeit bezeichneten - Judentum, Marxismus, Internationalismus, Liberalismus, Demokratie, Kapitalismus etc. -, projizierten sie auch auf diese Großstadt. Dieser Tatbestand darf allerdings nicht mit genuin anti-berlinischen Ressentiments, mit pauschaler Großstadtfeindschaft oder einem bei allen "Nationalsozialisten" offenen oder latenten "Antiurbanismus" gleichgesetzt werden. In der derart skizzierten Rolle fungierte Berlin lediglich als Indikator, als Symbol für die insgesamt diffamierten Zustände der späten Weimarer Republik: Der Kampf gegen Berlin meinte daher weniger einen Feldzug zu führen gegen die preußisch-deutsche Haupt-stadt, als von den bislang Regierenden die Macht zu erobern. Daß es bis 1933 insofern kaum um das "empirische" Berlin gehen konnte, verdeutlicht - beispielhaft - die Haltung von Joseph Goebbels zu seiner Gau-Hauptstadt. Er schrieb:

3 Daß die Fülle der Arbeiten zum Nationalsozialismus nicht mehr darstellbar ist, gehört inzwischen zu den Stereotypen des Themas. Wichtig sind des weiteren vor allem Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991; zur "Repolitisierung" der Diskussion um NS-Staat und -Bewegung Jeffrey Herf, Reactionary Moder-nism. Technology, culture and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984; Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984. Die beiden letztgenannten Arbeiten zeigen das breite Spektrum der NS-Bewegung in ideologischer Hinsicht von den Blut- und Bodendenkern bis zu den reaktionären Modernisten auf.

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"Großes, fantastisches Berlin. Stadt der Bürgerlichkeit und Stadt des großen Geldes. Stadt der Zeitungen und Stadt der Theater. Stadt des Fleißes und Stadt der Korrup-tion. Der Jude sitzt am Alexanderplatz. Der Jude macht die öffentliche Meinung. Der Jude macht das Theater. Der Jude hat das Geld, und der Jude besitzt die Häuser. Er bestimmt den Charakter dieses Stadtungeheuers."4

Auch Hitler war fasziniert von den großen europäischen Hauptstädten und erkannte den nationalen Zentren die Funktion zu, mit einer entsprechenden architektonischen Aus-gestaltung, mit monumentalen Gebäuden und großen Repräsentationsachsen, die Größe der Nation und ihr politisches System zu repräsentieren. Hitler blickte bewundernd auf das, was insbesondere in Paris,5 Wien und Rom bereits erbaut worden war. Dagegen galt ihm, der sich ja vorrangig als Architekt verstand, die Reichshauptstadt lediglich als eine sinnlose Zusammenfassung oder Aneinanderreihung von Wohn- und Geschäftshäusern.6 In den Augen Hitlers war Berlin eine Hauptstadt, deren Deutschland würdige Gestalt erst noch zu erbauen sei. Da es dem Nationalsozialismus darum ging, die Macht in Deutsch-land zu erringen, bewegte ihn auch der Wunsch nach einem Berlin, das seiner Macht den angemessenen Ausdruck verleihen könne, nach einem "deutschen" Berlin als Symbol deut-scher nationaler Größte und Macht. Zwar gibt es von Hitler zu kaum einer anderen Stadt so viele Äußerungen des Abscheus wie zu Berlin, aber auch ihn hatte die Stadt bei seinem ersten Besuch im Jahre 1917 stark beeindruckt: "Die Stadt ist großartig. So richtig eine Weltstadt".7 Und 1920 schrieb er:

"Die Fehler und Schattenseiten Berlins erscheinen uns nicht als unzertrennlich von dieser Stadt an für sich, sondern nur als notwendige Folge einer sogenannten Kultur, die in ihrem Wesen nicht sehr bestimmt wird durch Einflüsse germanischer Rassen-art, sondern jüdischer."8

Zwar betonte Hitler 1925, daß die nationalsozialistische Bewegung von München ausge-gangen sei und dort auch bleiben solle, da "niemals in der Weltgeschichte [...] eine Nation von einer Hauptstadt aus, die verseucht war, aus der Verseuchung herausgekommen"9 sei, aber seit dem mißglückten Putsch von München im Jahre 1923 richtete sich sein Herrschaftswille auf Berlin, das wie Rom durch Mussolini von außen erobert werden solle, wie er einmal sagte.10 An anderer Stelle betonte er einen seiner Meinung nach not- 4 Joseph Goebbels, Das erwachende Berlin, München 1934, 38. 5 "Die Berliner habe ich alle nach Paris geschickt, damit sie die Notwendigkeit der Umgestaltung von Berlin begreifen". Monolog am 22.8.1942, 363. 6 Zu den Planungen allgemein: Stephen D. Helmer, Hitler's Berlin. The Speer Plans for Reshaping the Central City, Ann Arbor 1985; Lars Olof Larsson, Die Neugestaltung der Reichshauptstadt. Albert Speers Generalbebauungsplan für Berlin, Uppsala 1978. 7 Jäckel/ Kuhn, 82. 8 Ebd., 112. 9 Ebd., 116. 10 Ebd., 448.

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wendigen überragenden zentralen Ort als Mittelpunkt einer politischen Bewegung: "Nur das Vorhandensein eines solchen mit dem magischen Zauber eines Mekka oder Rom umgebenen Ortes kann auf die Dauer einer Bewegung die Kraft schenken, die in der inneren Einheit und der Anerkennung einer diese Einheit repräsentierenden Spitze be-gründet liegt."11 Es ist anzunehmen, daß mit einer solchen Zentrale im Falle eines national-sozialistischen Sieges nur Berlin gemeint sein konnte. Zumindest beschäftigte sich Hitler Mitte der 20er Jahre mit der baulichen Ausgestaltung Berlins als künftiger Zentrale eines nationalsozialistischen Deutschland. Seiner Auffassung gemäß, daß es unmöglich sei, "einem Volk einen starken, inneren Halt zu geben, wenn nicht die großen Bauten der Allgemeinheit sich wesentlich über die Werke erheben, die doch mehr oder weniger den kapitalistischen Interessen einzelner ihre Entstehung und Erhaltung verdanken"12 skizzierte er schon 1925/26 Entwürfe für den riesigen Triumphbogen und die gewaltige Kuppelhalle, die als Herzstücke der megalomanen Planungen der 30er und 40er Jahre fungierten, und befaßte sich im Februar 1932 mit dem grandiosen Umbau der Reichshauptstadt, Pläne, die er noch in der Nacht seiner Ernennung zum Reichskanzler in großen Zügen seinen engen Mitarbeitern vorstellte.13 Nun war die Perspektive geöffnet, aus Berlin eine "neue Hauptstadt des Reiches" zu machen, ein Symbol des Nationalsozialismus oder, wie es in einer späteren Selbst-darstellung hieß, ein "Sinnbild von deutscher Einigkeit, deutscher Größe und deutscher Kultur."14 Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft und den nun dort regierenden Nazis wurde Berlin selbstverständlich ein Schaufenster Deutschlands, so wie ganz Deutschland nach dem Willen der Nationalsozialisten ein Schaufenster seiner selbst werden sollte. Daß Berlin künftig alle anderen Hauptstädte der Welt übertrumpfen sollte, stand dabei in langer Sicht außer Frage. Vorerst jedoch mußte zumindest einmal der Zu-stand erreicht werden, wie er in traditionsreicheren europäischen - ja sogar in anderen deutschen - Hauptstädten schon seit längerem bestand. Dies hat Hitler selbst zum Ausdruck gebracht:

"Die ehemalige Residenz Hohenzollernscher Fürsten, Könige und Kaiser soll nun-mehr zur ewigen Hauptstadt des ersten deutschen Volksreiches werden. In ihr wird für alle Zukunft jene Not behoben sein, die einen großen Historiker zu der erkennt-nisreichen Feststellung führte, daß es stets das Unglück der Deutschen gewesen sei, wohl Hauptstädte, aber niemals eine wahre Hauptstadt besessen zu haben [...]. So wie aber das Deutsche Reich das späte Ergebnis eines wechselvollen Ringens ver-

11 Zitiert nach Ralf Stremmel, Modell und Moloch. Berlin in der Wahrnehmung deutscher Politiker vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Bonn 1992, 235. 12 Der Parteitag der Freiheit vom 10.-16. September 1935. Offizieller Bericht über den Verlauf des Reichsparteitages mit sämtlichen Kongressreden, München 41936, 67f. 13 Jost Dülffer/Jochen Thies/Josef Henke, Hitlers Städte. Baupolitik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Köln 1978, 145; Albert Speer, Erinnerungen, Frankfurt am Main/Berlin 1982, 224; Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern (vom 1. Januar 1932 bis 1. Mai 1933), O.O. 71935, 38. 14 A. Hugenberg (Hg.), Die neue Stadt. Gesichtspunkte, Organisationsformen und Gesetzesvorschläge für die Umgestaltung deutscher Großstädte, Berlin 1935, 92.

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schiedener deutscher Stämme und Staaten nach einer staatlich-politischen Einheit unseres Volkes ist, so fehlt dieser nunmehr endlich erreichten Staatsgründung gerade deshalb die natürliche überragende machtpolitische Zentrale. Denn wir wollen für die Bedeutung einer solchen Hauptstadt nicht so sehr die Zahl ihrer Einwohner als vielmehr die Größe und den Umfang ihres Gesamtbildes und damit ihres Gesamt-wertes ansehen. Den Einwohnern nach ist Berlin mit 4 1/4 Millionen Menschen ohne weiteres die Hauptstadt des Reiches. Sie ist es aber nicht, wenn wir darüber hinaus das Gewicht ihrer kulturellen und monumentalen Bedeutung und Gestaltung in Ver-gleich setzen zu den ähnlichen Werten anderer deutscher Städte. Es ist daher mein unabänderlicher Wille und Entschluß, Berlin nunmehr mit jenen Straßen, Bauten und öffentlichen Plätzen zu versehen, die es für alle Zeiten als geeignet und würdig erscheinen lassen werden, die Hauptstadt des Deutschen Reiches zu sein."15

Zu dieser wahrlich angemessenenen Gestalt des deutschen Schaufensters Berlin sollte es jedoch niemals kommen. Die Gigantonomie der Planungen des "Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt Berlin", Albert Speer, von Hitler schon bald nach der "Macht-ergreifung" beauftragt, war bisher in Berlin ungesehen und erschreckt noch heute. Speer wollte alle repräsentativen Defizite und verkehrstechnischen Probleme der Berliner Stadt-struktur gleichsam mit einem architektonischen Keulenschlag lösen. Zum Glück sollten nur wenige dieser Planungen, vor allem die Neue Reichskanzlei und das Haus des Deutschen Fremdenverkehrs, vor dem Untergang des Regimes fertiggestellt werden.16 Auf die gigantomanischen Planungen und Bekundungen Hitlers und Speers zur grandiosen Zukunft der Reichshauptstadt fällt aber nicht nur der Schatten einer Architektur, die das Unmenschliche glorifizieren sollte. Denn betrachtet man die Situation genauer, dann war Berlin sogar als "Schaufenster im Werden" nicht ohne Konkurrenz innerhalb des Deut-schen Reiches. Noch im Bunker an der Wolfsschanze blickte der "Führer" mit Skepsis auf die ja erst werdende Hauptstadt Berlin; Berlin sei nun einmal die Reichshauptstadt und werde es vor allem deshalb auch bleiben: "Ich hatte früher einmal die Absicht, die Haupt-stadt des Reiches ganz woanders hinzubauen, an der Müritz," soll Hitler dort gesagt haben. "Aber Speer hat mir davon abgeraten: dort war der Boden zum Bauen genauso schlecht wie der Berliner Baugrund [...]. Treitschke hat einmal gesagt, Deutschland hat Städte, aber keine Hauptstadt. Aber es wird und muß jetzt eine bekommen."17 Bekommen sollte Deutschland nach dem Willen seines "Führers" allerdings nicht nur ein "Schaufenster" an der Spree. Seine Bekundungen zur künftig einzigartigen Stellung Berlins konterkarierte Hitler selbst in gewisser Weise dadurch, daß er die Ausgestaltung weiterer repräsentativer Orte des Nationalsozialismus in Auftrag gab. Vorläufig war die zu erneuernde Reichs-hauptstadt daher nur eines, und das vielleicht nicht einmal vorrangigste, Bau- und Prestige-objekt des "Neuen Deutschland".

15 Adolf Hitler bei der Grundsteinlegung der Wehrtechnischen Fakultät Berlin, 27.11.1937, in: Dülffer u.a. (wie Anm. 13), 31-32. 16 Vgl. dazu Angela Schönberger, Die Neue Reichskanzlei von Albert Speer. Zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und Architektur, Berlin 1981. 17 Monolog (wie Anm. 1) am 25.6.1943, 404f.

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Hitler war bereits auf dem Nürnberger Parteitag 1933 mit gigantomanischen Plänen an die Öffentlichkeit getreten: "Berlin als Reichshauptstadt, Hamburg und Bremen als Haupt-städte der deutschen Schiffahrt, Leipzig und Köln als Metropolen des Handels, Essen und Chemnitz als industrielles Pendant, sowie München als Hauptstadt der deutschen Kunst wurden anschließend als Vorhaben aufgezählt, zu denen Nürnberg noch hinzutrat, nach-dem Hitler sich dazu entschlossen hatte, die Reichsparteitage für immer dort abzuhalten."18 Die Reihe der besonders zu fördernden Städte sollte sich dann bis zum Kriegsausbruch auf die fünf sogenannten "Führerstädte" verdichten.19 Künftig Schaufenster nach innen und außen zu sein, diese Rolle sollte neben der Reichshauptstadt Berlin auch den anderen "Führerstädten" Hamburg, München, Linz und Nürnberg zukommen: Zusammen mit den später zu berücksichtigenden Gauhauptstädten sowie mit weiteren symbolischen Orten des Nationalsozialismus wie Graz als "Stadt der Volkserhebung", Stuttgart als "Stadt der Aus-landsdeutschen", Frankfurt als "Stadt des deutschen Handwerks", der Reichsbauernstadt "Goslar" sowie der "Reichsmessestadt" Leipzig. In Nürnberg etwa war geplant, ein zehn mal sechs Kilometer großes Parteitagsgelände zu schaffen. Dort hätten rund eine Million Menschen gleichzeitig Platz gefunden. Auch diese riesenhaft geplante Nürnberger Anlage sollte wie die künftige Reichshauptstadt Zeichen nach innen und außen setzen: Hier ging es ebenfalls um die Macht des Dritten Reiches, den weit ausgreifenden Herrschaftsanspruch Hitlers und die Geschlossenheit der Nation. Das Reichsparteitagsgelände, nicht Berlin, war daher bis Kriegsbeginn die größte Baustelle Deutschlands, vielleicht sogar der Welt.20 Die bayerische Metropole München sollte sich zu einem weiteren Schaufenster ent-wickeln: Der projektierte Münchner Großbahnhof für die Mega-Eisenbahn nach der Krim - Schaustück der "Hauptstadt der Bewegung" München - hätte die Berliner "Große Halle", auf die eingangs bereits verwiesen wurde, an Größe und Volumen noch bei weitem übertroffen. Daher konnte der Münchner Hermann Giesler, "Generalbaurat für die Haupt-stadt der Bewegung", durchaus an Auftragsvolumen mit dem "Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin", Albert Speer, konkurrieren, war es doch Aufgabe Gieslers, die Planungen für eine Stadt München voranzutreiben, "die in ihrer Großzügigkeit ihrer Aufgabe, Mittelpunkt der europäischen Kultur zu werden, würdig ist."21 II. Berlin als Repräsentationszentrum des "Neuen Deutschland" in den 30er Jahren Offenkundig hatten sich die Nationalsozialisten mit Berlin als Hauptstadt und potentiellem Schaufenster ihrer Bewegung zunächst erst abfinden müssen. Die Lösung bestand darin, 18 Vgl. Jochen Thies, Architekt der Weltherrschaft. Die "Endziele" Hitlers, Düsseldorf 1976. Mit Bezug auf Hitlers Parteitagsreden 1933 ohne weitere Angaben. 19 Vgl. Dülffer u.a. (wie Anm. 13), 50ff. 20 Vgl. Norbert Fritzsch, Nürnberg unterm Hakenkreuz. Im Dritten Reich 1933-1939, Düsseldorf 1990, 60f. 21 Thies (wie Anm. 18), 93; so Gieslers Eindruck aus Vorträgen bei Hitler, vgl. Bundesarchiv Koblenz A R 43 II/1020, Bl. 33.

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Berlin zur erst werdenden Hauptstadt zu erklären. Die Gegenwart, mithin die Realität der Jahre 1933 bis 1939 war jedoch wesentlich bescheidener. Das lag auch daran, daß sich in Berlin längst nicht alle repräsentativen Ereignisse des Nationalsozialismus und die große Politik fokussierten. Selbstverständlich war Berlin politisch-administrative Hauptstadt und auch die ansonsten mit Abstand bedeutendste Stadt des Deutschen Reiches. Berlin war ein zentraler Punkt des sich im Jahresrythmus wiederholenden - politischen, wirtschaftlichen und, so in diesen Jahren möglich, auch kulturellen - Repräsentationsgeschäftes, das, sieht man von den Absonderlichkeiten des Nazismus ab, auch die Hauptstädte nicht-totalitärer Staaten prägte. Das bedeutete, daß in Berlin das diplomatische Corps residierte und daß viele Ausländer aus politischen, touristischen und vor allem aber auch wirtschaftlichen Gründen die Stadt besuchten oder zumindest durch diese reisten. Diese Zentralität Berlins dokumentierte sich erstens in repräsentativen Veranstaltungen, über die auch im und für das Ausland berichtet wurde: etwa der jährliche Neujahrsempfang Hitlers "für die Vertreter der Wehrmacht und der Reichshauptstadt und den in Berlin beglaubigten Vertretern der fremden Mächte".22 Hinzu kamen zweitens die gewaltigen Umzüge und Paraden, so wie diese vor allem zur Wiederkehr der "Machtergreifung", zum "Heldengedenktag", zu "Führers Geburtstag" sowie zum "Nationalen Tag der Arbeit" abgehalten wurden. Diese Außenwirkung Berlins, die von der Innenwirkung der Stadt nicht getrennt werden kann, ergänzte sich drittens durch Ereignisse mit internationalem Anspruch, die von allen deutschen Städten vorrangig in Berlin abgehalten wurden. Dazu zählten zum einen internationale Kongresse und Tagungen. Zum anderen war Berlin auch der Ort für jenen - nicht nur - nazistischen Mix von Schau- und Verkaufsveranstaltungen, die neben dem In- selbstverständlich auch auf das Ausland zielten. Hier verdienen vor allem Görings "Grüne Woche", eine landwirt-schaftliche Produktionsschau, Erwähnung, sowie die Berliner Funkausstellung und ins-besondere der Berliner Automobilsalon, der sich der besonderen Protektion Hitlers erfreute. Der Automobilsalon soll sich bereits kurz nachdem er vom "Führer" ins Leben gerufen worden war, zur größten Veranstaltung dieser Art in der Welt entwickelt haben.23 Im Messe- und Ausstellungswesen galt allerdings auch den Nationalsozialisten weiterhin die "Reichsmessestadt" Leipzig als eigentlicher "Treffpunkt der Nationen".24 Diese sich regelmäßig wiederholenden, repräsentativen Ereignisse in Berlin wurden ferner erweitert durch Sonderausstellungen wie die "Dokumentation" 'Gebt mir vier Jahre Zeit' im Frühjahr 1937, welche die Einlösung der nazistischen Versprechungen zu den Reichs-tagswahlen des Jahres 1933 beweisen sollten. Hinzu kamen sogenannte "Große Bahnhöfe", mithin besonders prachtvolle Empfänge, Paraden und Reden, die das Regime selbst-verständlich auch mit Blick auf die Außenwirkung für auserwählte ausländische Besucher in Berlin inszenierte. Hier verdient besonders der Empfang Mussolinis hervorgehoben zu 22 Chronik der Hauptstadt Berlin 1936, Berlin 1937, 19. Man beachte diese Reihenfolge der Teilnehmenden an den Führerempfängen, die sicher auch eine gewisse Reihenfolge der Wertschätzung zum Ausdruck bringen soll. 23 Vgl. Heinz A. Küke, Germany invites the World to a Motor Show in Berlin, in: Germany. Published by the Reich Committee for Tourist Traffic, Januar 1936, 4ff. 24 Vgl. Konrad Krieger, Leipzig - the Meeting-place of the Nations, in: Germany. Published by the Reich Committee for Tourist Traffic, Februar 1937, 24f.

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werden, der im Herbst 1937 auf seiner Deutschlandreise neben München auch Berlin be-suchte. Aber auch dem ungarischen Innenminister, Nikolaus von Kozma, wurde ein ent-sprechendes Programm geboten. Vielleicht mag es lohnend sein, auf dieses einmal näher einzugehen: Kozmas Besuch begann mit einem Empfang durch die "Leibstandarte SS Adolf Hitler" auf dem Anhalter Bahnhof. Nach dem Besuch bei seinem deutschen Kolle-gen Frick erstattete der Ungar dem Ehrenmal Unter den Linden seine Reverenz. Nach-mittags wurde Kozma von seinen Gastgebern "auf die neuen Aufgaben der Erb- und Rassepflege einschließlich der Eheberatung hingewiesen."25 Bei seinem Gespräch mit Goebbels lernte Kozma am Abend des ersten Besuchtages "die soziale Leistung des deutschen Winterhilfswerks" kennen. Der zweite Tag war dem intensiven Studium der Errungenschaften des Reichsarbeitsdienstes gewidmet. Am vierten Tag durfte Kozma dann die Geheime Staatspolizei besichtigen und lernte deren "Arbeitsweise" kennen. Höhe-punkte seiner Visite waren weiterhin der deutsche Eintopfsonntag (zusammen mit Goeb-bels), ein Staatsempfang in der Staatsoper, auf dem "wir auch den Königlich italienischen Botschafter Attolico, den Kaiserlich japanischen Botschafter Mushakoji und den öster-reichischen Gesandten Tauschitz" sehen.26 Einige Tage später empfing auch der "Führer" von Kozma. Mag man sich fragen, warum die ansonsten so knappgefaßte "Chronik der Hauptstadt Berlin" dem Besuch eines ungarischen Innenministers so breiten Raum beimißt. Eine mög-lich Antwort ist die internationale Isolation Deutschlands während der gesamten Zeit zwischen 1914 und 1955. Besonders in den 30er Jahren hat man daher keineswegs den Eindruck, als hätten sich internationale Prominenz und hochrangige Staatsgäste in Berlin "die Klinke in die Hand gegeben". Diese Impression verdichtet sich noch, schaut man in die "Chronik der Hauptstadt Berlin"; ein Kalendarium, das von der Stadtverwaltung herausgegeben wurde, um in der Zeit der ohne Zweifel größten internationalen Akzeptanz des Regimes, der Jahre 1936 und 1937, von den großen Ereignissen in der Reichshaupt-stadt zu künden. Worin aber bestanden diese hochrangigen, internationalen Besucher? Im Januar 1936 tagte die deutsch-englische Gesellschaft in der Reichshauptstadt, im April weilte der chinesische Minister Tang Leang-Li dort, im Mai der Chef der polnischen Staatspolizei, General Zamorski sowie der Oberbürgermeister Athens, Kodzias und der italienische Luftfahrtminister Valle. Für die zweite Jahreshälfte vermeldete der Kalender den Besuch von 17 englischen Frontkämpfern und 75 Londoner Volkshochschülern in Berlin sowie von 150 "internationalen" Wissenschaftlern. Läßt man einmal die Olympia-zeit beiseite, auf die noch einzugehen sein wird, folgten im September der französische Handelsminister sowie der stellvertretende Bürgermeister von Tokio und der Präsident der indischen Handelskammer. Die größte im Jahre 1936 vermeldete internationale Delegation war eine 500köpfige Abordnung des italienischen Journalistenverbandes, die auf ihrer Deutschlandreise auch Berlin besuchte. Im Oktober hielten sich der ägyptische Minister-präsident Nahas Pascha in Berlin auf sowie der italienische Außenminister Graf Ciano. Das Jahr endete mit Besuchen des österreichischen Außenstaatssekretärs, des ungarischen Innenministers sowie des polnischen Vizeverkehrsministers. Auch das folgende Jahr ver-mittelt das gleiche Bild: mehrere italienische und japanische Delegationen, darunter, hoch- 25 Chronik (wie Anm. 22), 277. 26 Vgl. ebd., 277ff.

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rangig versteht sich, Mussolini persönlich, ein iranischer Parlamentspräsident, ein hollän-discher Sozial- und ein chinesischer Finanzminister sowie Majestäten aus dem Norden Europas auf der Durchreise in Berlin. Diese zwar nicht Abwesenheit, aber auch nicht überbordende Fülle zu nennende Präsenz internationaler Prominenz in Berlin hatte neben der Isoliertheit des Regimes und der Konzentration auf die Pflege der Beziehungen insbesondere zu Italien, Japan und Ungarn noch einen weiteren Grund: Hitler, der "Führer" und wichtigste Repräsentant der NS-Bewegung hielt sich seltener in Berlin auf, als man dies vielleicht vermuten könnte. Neben München, wo Hitler eine weitere Wohnung besaß und ebenfalls gerne hohe Staatsgäste empfing (und wo auch die Parteikanzlei der NSDAP blieb), bevorzugte der "Führer" vor allem lange Aufenthalte auf dem Obersalzberg in der Nähe der bayerischen Stadt Berchtes-gaden. Dort besaß er den Berghof, seinen eigentlichen, privaten Wohnsitz. In dessen unmittelbarer Nähe siedelten sich bis zum Kriegsausbruch auch diejenigen NS-Größen an, die als die Führungsmannschaft des Nationalsozialismus zu gelten hatten: Goebbels, Göring, Bormann und Speer.27 Hitler, seinem Selbstverständnis nach kein Beamter, son-dern ein politischer Künstler, richtete es vor dem Krieg ein, daß er das Wochenende so häufig wie möglich in Bayern verbringen konnte. Daher war er freitags und montags häufig für die Berliner Beamten wie auch dortige Repräsentationsaufgaben unerreichbar. Im Sommer verbrachte er sogar mehrere Wochen hintereinander nur auf dem Berghof.28 Ein großer Teil der Berliner Repräsentationsaufgaben und Staatsempfänge, so diese denn nicht ganz in München oder auf dem Berghof stattfanden, oblag daher Mitgliedern des Hitlerschen "Küchenkabinetts" mit stärkerer Präsenz in der Reichshauptstadt Berlin, allen voran Göring als preußischer Ministerpräsident und Goebbels als Gauleiter von Berlin. Die bis zum Kriegsausbruch wichtigste Repräsentationsfigur der Nationalsozialisten in Berlin war Hermann Göring. Der auch offiziell zum Nachfolger Hitlers bestellte Reichs-marschall widmete sich mit Vorliebe der "Großen Politik" und bemühte sich, der Öffent-lichkeit und seinen Gesprächspartnern zu demonstrieren, daß er allein der "zweite Mann" im Staate war. Seine Heirat mit der Schauspielerin Emmy Sonnemann am 11. April 1935 trug wesentlich zu dieser Selbststilisierung bei. Die "Hochzeit des Jahres" im Berliner Dom erregte internationales Aufsehen und bescherte Emmy Sonnemann die Rolle der "First Lady" des Reiches. Der Rahmen der standesamtlichen wie kirchlichen Trauung zeigte stark monarchistische Anklänge und rief das Erstaunen ausländischer Beobachter hervor.29 Kaum verwunderlich, daß Göring vor der Fertigstellung der Reichskanzlei in seinem Palais im Zentrum Berlins sowie in der Peripherie seines Landhauses "Carinhall" zunächst wesentlich repräsentativer als selbst Hitler untergebracht war.30 27 Dazu: Obersalzberg. Bilddokumentation, Berchtesgaden 1976; William Carr, Adolf Hitler. Persönlichkeit und politisches Handeln, Stuttgart 1980, 68. Vgl. auch Alan Bullock, Hitler und Stalin, Berlin o.J., 500-508. 28 Vgl. Carr (wie Anm. 27), 61. Nach dem Ausbruch des Krieges sollte sich Hitler dann fast dreieinhalb Jahre lang - von Juni 1941 bis Dezember 1944 - fast ausschließlich in den Bunkern seines Hauptquartiers, der ostpreußischen "Wolfsschanze" aufhalten, unterbrochen nur von kurzen Erholungspausen in Winniza in der Ukraine und auf dem Berghof. Vgl. Carr (wie Anm. 27), 194. 29 Vgl. Alfred Kube, Pour le mérite und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986, 28. 30 Vgl. dazu: Willi Frischauer, Ein Marschallstab zerbrach. Eine Göring-Biographie, Ulm 1951, 122f.; Ste-fan Martens, Hermann Göring. "Erster Paladin des Führers" und "Zweiter Mann im Reich", Paderborn 1985.

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Dritter Mann, nach Göring, war ohne Zweifel Joseph Goebbels in seiner Eigenschaft als Minister und Gauleiter von Berlin. Goebbels war es auch, der repräsentative Veranstaltun-gen im großen Stil inszenierte und nach Berlin zu ziehen versuchte. Dabei konkurrierte er mit anderen Gauleitern, insbesondere mit den politischen Leitern der übrigen Führerstädte sowie der weiteren für den Nationalsozialismus relevanten Orte. Dies betraf besonders die zahlreichen nationalsozialistischen Ehren- und Staatsfeiertage. Diese fanden keineswegs alle in Berlin statt, ja die wichtigsten, jährlich wiederkehrenden Selbstdarstellungen des "Neuen Deutschlands" waren ohne Zweifel die Reichsparteitage in Nürnberg. Vor allem diese stellte die Propaganda naheliegenderweise als die gewichtigsten Feierlichkeiten des Regimes in Wort, Ton und Bild ganz besonders heraus. Gleichzeitig hatte der Nürnberger Parteitag eine zentrale außenpolitische Funktion, die kein Berliner Ereignis jemals erreichen konnte: Nürnberg war die Heerschau, die dem Ausland die Ge-schlossenheit der Nation demonstrieren und gleichzeitig abschrecken sollte.31 Die Nürnberger Reichsparteitage galten als Generalappelle des Deutschen Volkes und sollten - in einer Art "direkter Demokratie" - die Institution der mittelalterlichen Reichs-tage wiederbeleben. Etwas überspitzt gesagt war daher sogar im Grunde Nürnberg wäh-rend der Parteitage die Hauptstadt des Reiches und dessen ureigenstes Schaufenster, geprägt von Umzügen und Paraden von Hitler-Jugend, Arbeitsmännern, SA, Funktionären der Partei, den gewaltigsten Wehrmachtsparaden, nächtlichen "Weihestunden" sowie der Verleihung des Deutschen Nationalpreises für Kunst und Wissenschaft. Die "stolzeste Woche" des Reiches fand sicherlich nicht in Berlin, sondern in Nürnberg statt. Aber auch der übrige, durchaus umfangreiche, nationalsozialistische Festtagskalender be-dachte Berlin erst in der zweiten Reihe: Die zentrale Kundgebung zum 9. November als dem Jahrestag des Putsches von 1923, wahrscheinlich der wichtigste Gedenktag der Nazis, wurde ebenso in München gefeiert wie der 24. Februar, der Tag der Gründung der Partei 1920. Hitler beging diesen Tag exklusiv mit der alten Garde der Partei im Münchner Hofbräuhaus.32 Auch Hitlers Geburtstag im April wurde ab 1936 durch eine nächtliche Vereidigung der politischen Leiter auf dem Königsplatz in München gefeiert. Genuin Berliner Festtage waren dagegen die Feier des 30. Januars, also Hitlers Ernennung zum Reichskanzler 1933, sowie der 16. März als Heldengedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Hier fand eine zentrale Veranstaltung am Reichsehrenmal in Berlin vor der Neuen Wache statt. Die Machtergreifung dagegen wurde als zentraler Staatsakt durch die Wiederholung des Fackelzuges durch das Brandenburger Tor sowie durch eine reichseinheitliche Feier mit Rundfunkübertragungen der Reden Hitlers und Goebbels' aus Berlin in alle Schulen und viele Betriebe des Deutschen Reiches begangen.33

31 Vgl. Thies (wie Anm. 18), 90. 32 Vgl. Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des National-sozialismus, Göttingen 1971, 75. 33 Vgl. ebd.

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III. Berlin in der deutschen Auslandspropaganda Ohne Zweifel war Berlin also ein Ort, dem im Rahmen des politischen Alltagsgeschäftes, aber auch bei den Weihestunden des Regimes eine besondere Bedeutung innerhalb Deutschlands zukam. Es ist sicher zutreffend, daß diese hohe Bedeutung Berlins durch die Nazis propagandistisch und die ausländischen Kritiker skeptisch nach außen transportiert wurde. Aber: Auch in der NS-Zeit wirkte die polyzentrische Folie, auf der sich in Deutschland Machtansprüche und Repräsentationsbedürfnisse zu bewähren haben. Sowohl in der "Realität" der 30er Jahre, als auch in den Planungen für die - zum Glück dann so nicht eintreffende Zukunft - war Berlin daher nur eine, wenn auch sicher die wichtigste unter den deutschen Führerstädten gewesen. Einen solchen Eindruck vermittelt auch ein Blick in die deutsche Auslandspropaganda der 30er Jahre. Diese hatte mächtige Impulse aus der Tatsache erhalten, daß die national-sozialistische Machtergreifung international ein so negatives Echo gefunden hatte. Späte-stens seit den noch negativeren Reaktionen auf den sogenannten "Röhm-Putsch" Anfang 1934 waren die neuen Machthaber deshalb intensiv um eine Verbesserung ihres Außen-images bemüht. Diese Bemühungen waren vor allem auf die angelsächsische Welt und insbesondere auf Großbritannien gerichtet. Hitler sah Großbritannien als potentiellen Bundesgenossen Deutschlands zur Aufteilung der Welt, ohne freilich einsehen zu wollen, daß das Empire an einem solchen Bündnis überhaupt nicht interessiert sein konnte. So bemühte sich das "Neue Deutschland" in den 30er Jahren unablässig um das nach Hitlers Vorstellungen konzipierte Bündnis, ein Werben, das aufgrund der Unvereinbarkeit der Standpunkte von Anfang an vergeblich war.34 Bis zum Kriegsausbruch bewegten sich diese Bemühungen um Großbritannien, aber auch um die anderen westlichen Großmächte USA und Frankreich vor allem auf drei Ebenen. Erstens wurde versucht, Einfluß auf die Deutschlandberichte der im Reich akkreditierten ausländischen Journalisten zu nehmen. Bei letzteren agierte das Regime, wie in totalitären Systemen üblich, mit der Strategie von "Zuckerbrot und Peitsche", also etwa mit Exklusiv-berichten und Ausweisungen, eine Strategie mithin, die hier aus naheliegenden Gründen auch nicht weiter beschäftigen soll. Zweitens bemühte sich das Regime um persönliche Kontakte und Deutschlandreisen insbesondere britischer und amerikanischer, aber auch französischer Prominenz. Diese sollte, oftmals auf Staatskosten, im "Neuen Deutschland" herumgeführt, beim ersten Propagandisten des Dritten Reiches vorgelassen oder auch zu den pompösen Selbstinszenierungen des Regimes nach Nürnberg eingeladen werden. Drittens schließlich warb die Reichsführung auch in verstärktem Maße um sogenannte "Durchschnittstouristen", denen Deutschland als billiges, reizvolles und sicheres Reiseland angepriesen wurde. Den Zweck dieser forcierten Tourismuswerbung sollte der zuständige Walther Funk folgendermaßen zusammenfassen:

"Während die Systemregierungen sich schämen mußten, den Ausländern ein ver-armtes, schlecht verwaltetes, heruntergekommenes Deutschland zu zeigen, ist es das Bestreben der nationalsozialistischen Regierung, Ausländer in möglichst großer Zahl nach Deutschland zu holen. Hierin erblicken wir auch eine der wirkungsvollsten

34 Vgl. Angela Schwarz, Die Reise ins Dritte Reich. Britische Augenzeugen im nationalsozialistischen Deutschland (1933-39), Göttingen 1993, 78.

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Abwehrmaßnahmen gegen die Lügenberichterstattung über Deutschland im Aus-land."35

In der bei den Nationalsozialisten üblichen Manier, das normale Tagesgeschäft, hier den Tourismus, geschickt mit weltanschaulichen Zielsetzungen zu vermischen und auszu-nutzen, wurde also die scheinbar unpolitische Tourismuswerbung propagandistisch aus-geschlachtet. Statt der "großen" Propaganda für das Ausland, die wahrscheinlich auch auf politische Schwierigkeiten in Großbritannien, Frankreich oder den USA gestoßen wäre, bemühte sich das Regime um viele "kleine" Propagandisten. Nicht zufällig unterstanden daher die Institutionen, die sich mit Tourismuswerbung/Auslandspropaganda zu beschäf-tigen hatten, alle der Abteilung Tourismus des Reichsministeriums für Propaganda und Volksaufklärung in Berlin. Neben der wirtschaftlichen Förderung der Reisen nach Deutschland für Jedermann, etwa durch verbilligte Fahrpreise, günstige Umtausch-möglichkeiten, Zuschüsse an Reiseveranstalter wie die Firma Thomas Cook und reduzierte Visagebühren warben vor allem Hochglanzbroschüren für die Fahrt in das "Neue Reich". Welches Bild von Deutschland und insbesondere von Berlin wurde den potentiellen Besuchern dabei vermittelt? Schaut man noch einmal in das Prestigeobjekt des Reichsausschusses für Fremdenverkehr, die Zeitschrift "Germany" der Jahre 1934 bis 1939, so wird man dort eine regional und thematisch ausgewogene Berichterstattung über ganz Deutschland feststellen können. Die einzelnen Artikel sind stark auf spezifische Ereignisse, Städte, Bauwerke, Jahreszeiten oder Regionen bezogen. Die Hefte zeichnen sich zum einen durch das - vom Jahresrhythmus abhängige - Preisen der Vorzüge und Errungenschaften Deutschlands aus: Skifahren im Winter, Karneval im Frühjahr, Kuren im Frühsommer, Badeurlaub im Hochsommer, Weinlese und Wandern im Herbst usw. Zum anderen werden die vielfältigen Aktivitäten nicht nur des "Neuen Deutschland" ausführlich vorgestellt: Oberammergauer Passionsspiele, Wagner- und Mozart-Festivals in München, Bayreuth, Frühjahrs- und Herbstmessen in Leipzig, Reichstheaterwochen in Dresden, Kieler Woche und als besondere Berliner Attraktionen der Automobilsalon und die Funkaustellung. Weiterhin wird dem "deutschen" Schiffsbau und der Kunst "seiner" Flieger besonderer Raum beigemessen sowie natürlich dem propagandistischen Schaustück des Regimes, dem Bau der Reichsautobahnen. Selbstverständlich wird über die Olympiaden in Garmisch-Partenkirchen und Berlin intensiv berichtet, aber der im folgenden Jahr in Düsseldorf stattfindenden Ausstellung "Schaffendes Volk" wird zumindest in "Germany" ein beinahe ähnlicher Raum gewährt wie der Berliner Sommerolympiade. Überhaupt: Auch regional deckte diese Monatszeitschrift das Reich relativ gleichmäßig ab, und berücksichtigt man die Berichte mit eindeutig regionalem oder lokalem Bezug, so hat man keineswegs den Eindruck, als ob hier Berlin eine besondere Bedeutung als dem zentralen "Schaufenster" des deutschen Reiches beigemessen wurde. Dazu mag eine kleine Inhaltsanalyse sinnvoll sein: Die Zeitschrift "Germany" enthielt von ihrer Gründung 1934 bis zur Einstellung im ersten Kriegsmonat insgesamt 515 Artikel mit einer Länge zwischen zwei und acht Seiten. Von diesen Artikeln berichten 90 oder insgesamt 17,5% über Bayern, das heißt hauptsächlich über die Alpen und die nazistischen

35 Niederschrift über die 4. Sitzung des Reichsausschusses für Fremdenverkehr 4. Juli 1936 in Bad Godesberg, 7, Bundesarchiv Koblenz, R55/365.

"Berlin - das Schaufenster des Nationalsozialismus" 105

Hauptstädte Nürnberg und München. Dann kommen das Rheinland von Kleve bis Mainz mit 40 (7,8%) sowie Baden und Württemberg mit 36 (7,0%) Berichten. Dann erst folgen die vielfältigen Attraktionen Berlins mit insgesamt 23 Artikeln (4,5%) im gesamten Zeit-raum zwischen 1934 und 1939. Davon sind alleine zehn, also beinahe die Hälfte, in den Heften des Olympia-Jahres 1936 erschienen! Oben wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Nationalsozialisten Berlin als eine Haupt-stadt ansahen, deren Ausgestaltung erst künftig ihren Aufgaben entsprechen würde. Diese Auffassung zirkulierte allerdings nicht nur in den engen Kreisen der nazistischen Machtelite: Diese erst künftig dem Deutschen Reich und seiner Macht und Herrlichkeit adäquate Hauptstadt wurde den Lesern von "Germany" auch als eine solche präsentiert, so etwa zur 700-Jahr-Feier der Stadt Berlin 1937. Im Bericht zum Thema wurde unverblümt auf den noch provisorischen Charakter Berlins als Reichshauptstadt verwiesen:

"The architectural appearance of Berlin is still strongly marked by the traces of this hasty completion, and as this haste occurred at a time that could not develop any style of its own, and made a random selection from all possible styles, a town with millions of inhabitants which is lacked [sic] genuine artistic architectural expression was created."36

Diese unzureichende Gestalt habe die nationalsozialistische Regierung abzuändern be-schlossen:

"Thus a new monumental will, based on a great idea, is at work modifying the architectural appearance of Berlin and making it the expression of the new centrali-zation of the State and the nation. In view of the energy with which the Führer himself is conducting these plans, within a decade Berlin will probably have the architectural appearance in accordance with its position as the capital of the Reich and a world city."37

Auch für das Ausland sollte Berlin somit eine werdende Hauptstadt sein. Es verwundert daher nicht, daß auch in der Außendarstellung der zu erwartende Glanz vor allem der Führerstädte München und Nürnberg mit dem der Reichshauptstadt konkurrieren konnte. In gewisser Weise war deren Glanz sogar weniger zukünftig als der Berlins. Dazu nochmals ein Blick in "Germany"; dort heißt es etwa über Nürnberg: "Berlin is Germany's capital and administrative centre, and Munich is the capital of the National-Socialist movement, but Nürnberg is Germany's heart."38 Und über München wird hervorgehoben, daß der "Führer" persönlich über die "Hauptstadt der Bewegung" wache, daß er dieser die Parteileitung reserviert habe, und daß er wünsche, diesen Ort zu erhalten und zu ver-schönern.39 Denn: "No other town in Germany was so well suited as Munich to be the 36 Otto Ernst Hesse, The new architectural appearance of the Capital of the Reich. A study in the occasion of Berlin's 7th Centenary Celebrations, in: Germany, August 1937, 3-9, hier 4. 37 Ebd., 9. 38 Wilfried Bade, Nürnberg. The town of the Party Congresses, in: Germany, August 1935, 5-8, hier 6. 39 Ernst Hohenstatter, München. Capital of National Socialism, Germany 1936, 2, 20-24, hier 21.

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cradle of National Socialism and to provide the soil in which the idea of a national community could take root."40 Bei Berlin hingegen wurde - für Zwecke der Auslandspropaganda/Tourismuswerbung - mit geradezu erstaunlicher Offenheit auf die aktuellen Defizite verwiesen. Aufschlußreich dafür ist etwa ein Text, den der Berliner Oberbürgermeister Julius Lippert in der Zeitschrift "Germany" verfaßte, einem Organ, das ja eigentlich für Deutschland als Reiseland und damit auch für Berlin werben sollte:

"This Berlin, which has grown faster and faster in the course of the past eighty years, has also been much sinned against. The 'founder years' after the war of 1870 [...] provided the German capital with dwelling and business quarters of which all that can be said is that it would have been better if they had never been built."41

Berlin als Schaufenster sei also erst zu erbauen, und Lippert ließ keinen Zweifel daran, daß dazu große Teile des damals existenten Berlin zu verschwinden hätten. Was war dann für die Nationalsozialisten überhaupt vorzeigbar an der Reichshauptstadt? Lippert verwies dazu, wie auch Hitler bei verschiedenen Gelegenheiten, auf das archi-tektonische Erbe, das mit dem preußisch-märkischen Klassizismus etwa bis in die 1820er Jahre verbunden war. Dies vor allem galt als vorzeig- und erhaltenswerte historische Bau-substanz von Berlin. Hinzu trat jedoch eine weitere Qualität, die den potentiellen aus-ländischen Besuchern besonders empfohlen wurde:

"It was left for our young post-war generation to discover the rich and manifold beauties of the surroundings of the German capital with its often surprising pro-longations into the countryside and, on the other Hand [!], the frequently amazing transition from town to real country. Within a circumference of 30 miles round Berlin there are over a thousand lakes and other watercourses open to boats and swimmers".42

Abgesehen von dieser Anpassungsleistung an das "bukolische" Deutschland, die Lippert beim "enormous organism"43 Berlin zu erbringen suchte, war aber ansonsten durchaus unklar, was eigentlich typisch für Berlin sein sollte. Der Berliner oder die Berlinerin konn-te es - so zumindest der oberste Berliner der 30er Jahre, der Oberbürgermeister mithin - jedenfalls nicht sein:

"If we examine the matter closely, the Berliner is only an expression and not a reality, like the Rhinelander, the Bavarian highlander or the Lower Saxon, for in-stance, in other parts of Germany. Berlin is a German colony, both literally and metaphorically. All the German tribes have sent their most venturesome, cleverest and freshest men to Berlin as pioneers in the course of the last hundred years. But these multiform elements have not been absorbed in the great melting pot in which

40 Adolf Dresler, Munich as Capital of the National-Socialist Movement, in: Germany, Juni 1935, 6-8, hier 6. 41 Julius Lippert, Berlin and the Berliners, in: Germany, April 1934, 4-7, hier 4. 42 Ebd., 4. 43 Ebd., 6.

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millions are reduced to uniformity, as has been the case in other international cities. The layman is surprised to learn that there are over a thousand associations in Berlin in which the members, while mutally maintaining their individuality, cultivate their own dialects and cherish the memory of their country origin".44

IV. Olympia 1936 - Scheitern Berlins als Schaufenster des Nationalsozialismus? All diese Probleme und Unklarheiten der Nationalsozialisten mit der übrigen Welt und insbesondere mit ihrem Berlin lassen es ratsam erscheinen, Berlin in einer nur ein-geschränkten Weise als das große Schaufenster des Nationalsozialismus in den 30er Jahren zu begreifen. Die mangelnde Monumentalität und Repräsentativität der Stadt, ihre - so sahen es zumindest die Nazis - fehlende Spezifik als angebliche "ostdeutsche Kolonial-stadt", ihre Konkurrenz mit anderen symbolischen Orten des Nazismus und den übrigen Städten politischen Alltagsgeschäftes verbanden sich während der gesamten Zeit mit der internationalen Isoliertheit des die Stadt beherrschenden Regimes und dessen letztlich vergeblichem Kampf um die Anerkennung der Völkergemeinschaft. Berlin, kein Schau-fenster des Nationalsozialismus, wäre allerdings ein falscher Schluß, denn immerhin war das Regime ja um die Herstellung eines solchen Zustandes bemüht. Dies trat besonders deutlich während der Olympischen Spiele 1936 zutage, als Berlin, wenn jemals, dann zu diesem Zeitpunkt, ein Schaufenster des deutschen Nazismus war, das nach außen strahlen sollte und vielleicht gerade deshalb zum Scheitern verurteilt war. Denn die Nazis versuchten 1936 ihr Berlin und ihr Deutschland für das Ausland schöner zu machen, als beide tatsächlich sein konnten. Vor den Spielen wurde sogar im März 1936 der "Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung von Verunstaltungen in der Hauptstadt Ber-lin" vom Preußischen Finanzministerium vorgelegt. Das Gesetz folgte einer Anregung des Staatskommissars von Berlin, Julius Lippert. Im Gesetzentwurf heißt es unter anderem:

"Für die Stadt Berlin als die Hauptstadt des Reichs und des Landes Preußen muß in besonderem Maße die Forderung erhoben werden, daß ihre Straßen und Plätze für Besucher und Bewohner einen freundlichen und würdigen Anblick bieten. Diese Forderung ist vor allem für diejenigen Stadtteile begründet, denen nach ihrer Lage und ihrer städtebaulichen Gestaltung eine repräsentative Bedeutung für den Gesamt-eindruck der Stadt zukommt. Vielfach sind aber gerade diese Stadtteile durch Verun-staltungen mannigfacher Art empfindlich entstellt, vor allem durch geschmacklose Auf- und Anbauten, aufdringliche Werbevorrichtungen, häßliche Baulücken und Brandmauern, verwahrloste Häuserfronten, verfallene Bauteile u. dgl."45

Auch die Olympischen Spiele waren daher weniger gezielte Inszenierungen von Berlin und des "Berlinischen", als vielmehr Veranstaltungen des nationalsozialistischen Regimes in Berlin: Auch bei der Olympiade ging es weniger um Berlin als vielmehr um Deutschland, ja um das Deutschsein schlechthin. Dieser kleine, aber wahrscheinlich entscheidende Unterschied zu heutigen Stadtinszenierungen zeigte sich etwa in der sogenannten "Via 44 Ebd., 6. 45 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, A R55/348, 1.

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Triumphalis", der Olympischen Prachtstraße. Auf deren über 10 km überbordete im August 1936 geradezu der Fahnen- und Girlandenschmuck. So hieß es im offiziellen Olympia-Buch über die olympische Feststraße:

"Nicht Berlin, nicht das Reich, das Deutschtum der Welt schimmerte in dem stolzen und prächtigen Festgewand [...]. Häuserhoch ragten die Masten, die in nahen Ab-ständen in vierfachen Reihen das Stadtbild verschönten. Die mittleren Reihen der Promenade trugen riesige Hakenkreuzbanner, an den Säumen der Straße fesselten die bunten und farbenreichen Fahnen deutscher Städte, deren unteren Mastenteile mit markanten Bildern in künstlerischer Wiedergabe einen besonderen Reiz boten. Eine Deutschlandausstellung in verkleinertem Maße, die in ihrer Gedrängtheit und Über-sicht den wunderbaren Reichtum unseres Vaterlandes an Schönheit und Kultur-werken vor Augen führte. Stolz und Freude erfüllte die Augen aller Deutschen, Bewunderung und Hochachtung spiegelten sich auf den Gesichtern der Ausländer."46

Wenn diese Ausländer denn nach Berlin gekommen wären! Hier muß daher eine weitere Einschränkung einer erfolgreichen Schaufenster-Funktion Berlins für das Dritte Reich angebracht werden. Einerseits waren trotz der internationalen Werbung und der günstigen finanziellen Bedingungen längst nicht so viele finanzkräftige und politisch bedeutende Ausländer zur Olympiade nach Berlin gekommen wie die Nazis sich eigentlich erhofft hatten:47 Insgesamt 5401 Franzosen und 9432 Briten hielten sich in den Sommermonaten 1936 in Berlin auf, darunter jedoch kaum politische Prominenz. Prominentester Engländer war der Staatssekretär im Foreign Office, Sir Robert Vansittart, Schwager des englischen Botschafters in Berlin. Am Hitler-Empfang am 12. August für das Olympische Komitee sowie die gesamte Berliner Gesellschaft nahmen insgesamt nur 30 ausländische Gäste teil.48 Andererseits wird man auch das von der Nazipropaganda gezeichnete Bild einer einhellig begeisterten Auslandspresse bezweifeln können, selbst wenn es auch noch heute das kollektive Gedächtnis vor allem der deutschen Zeitgenossen zu bestimmen scheint.49

Dabei waren die Anstrengungen des Regimes gewaltig gewesen. Schon frühzeitig hatten die Nationalsozialisten den Olympischen Spielen in Garmisch-Partenkirchen und ins-besondere in Berlin, die sie als willkommenes Erbe der ansonsten so verhaßten "System-zeit" übernommen hatten, überragende Bedeutung gerade für die Außenpräsentation des "Neuen Deutschland" beigemessen: "Die Olympischen Spiele 1936 werden für das nationalsozialistische Deutschland von geradezu ungeheurer Bedeutung sein!", hieß es bereits im Reichssportblatt von 1935. Und mit geradezu erstaunlicher Offenheit wurde dafür auch der Grund angegeben: "Diese Behauptung wird jedem sofort einleuchten, der nur einen Augenblick darüber nachdenkt, daß durch die Olympiade 1936 unser Vaterland

46 Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Fotomechanischer Nachdruck des Olympia Albums 1936, Frank-furt am Main 1972, 6f. 47 Vgl. Richard Mandell, Hitlers Olympiade. Berlin 1936, München 1980, 135. 48 Vgl. Hans Joachim Teichler, Internationale Sportpolitik im Dritten Reich, Schorndorf 1991, 616. 49 Vgl. ebd., 181.

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wochenlang in den Mittelpunkt des Weltgeschehens gerückt wird. Mit diesen Spielen ist uns ein unschätzbares Propagandamittel in die Hand gegeben worden."50 Die Olympiade in Berlin war daher von Beginn an als gewaltige Propagandaschau des "Neuen Reiches" nach außen und innen geplant und schließlich auch so durchgeführt worden. Zahlreiche Maßnahmen - vor allem zur Verbesserung des deutschen und national-sozialistischen Außenimages - wurden in der Berliner "Olympiazeit" unternommen, alle häßlichen, anstößigen und besonders in den USA und Großbritannien kritisierbaren "Er-rungenschaften" oder "Mißstände" des Regimes wurden beseitigt oder zumindest herab-gemindert. In Berlin sollte sich Deutschland als friedliebendes, arbeitsames und diszipli-niertes Land mit Weltgeltung, Retter alter abendländischer Kulturwerte, vorstellen.51 Einzelmaßnahmen für diese Kosmetik waren etwa: Uniform-, Sing- und Versammlungs-verbote für Parteiorganisationen während der Spiele in ganz Berlin, Zuschauer sollten in den Sportstadien keine Uniformen tragen, Programme des Rundfunks wurde von Marsch-musik gereinigt, die Leibstandarte "Adolf Hitler" wachte ohne Bajonett über ihren Führer, Gastwirte erhielten Anordnung auch "jüdisch" aussehende Ausländer anstandslos zu bewirten, die Schaukästen des berüchtigten antisemitischen Hetzblattes "Der Stürmer" ver-schwanden nicht nur aus der Reichshauptstadt.52 Subventionierte Preise, strenge Preis-kontrollen für Hotels und Restaurants, Sonderkommandos der Polizei, verstärkte Ver-brechensbekämpfung sowie die "Reinigung" der Stadt von Bettlern und sozial Minder-bemittelten sollten für die Sicherheit und das Wohlbefinden vor allem der ausländischen Besucher Berlins sorgen. Darüber hinaus sorgten sich die nationalsozialistischen Macht-haber sogar um die berüchtigte Unbefangenheit der Berliner: "Die Berliner müssen beherrscht sein und ihre Gäste mit freundlichen Gesichtern empfangen", forderte des Goebbelssche Hetzblatt "Der Angriff,"53 und weiterhin: "Wir müssen charmanter als die Pariser sein, leichtlebiger als die Wiener, lebhafter als die Römer, kosmopolitischer als die Londoner, praktischer als die New Yorker."54 Allerdings sollten die Bemühungen des Regimes, die sich sogar auf Verhaltensmaßregeln nicht nur für die Berliner, sondern die gesamte Reichsbevölkerung erstreckten, letztlich nur geringen Ertrag erbringen. Dies zeigt deutlich der Blick etwa in die Olympiabericht-erstattung französischer und britischer Zeitungen, welche die Nationalsozialisten nach den Spielen ob des Erfolges ihrer Propagandaaktion "Olympiade Berlin" ausführlich analy-sieren ließen. Britische Blätter berichten knapp, aber sachlich über die reinen Sportereignisse: Die Times etwa widmete dem olympischen Sport aus Berlin an einem normalen Wettkampftag nur eine Spalte. So mußten die Presseberichterstattung des Reichspropagandaministeriums und des Reichssportführers einhellig resigniert konstatieren: "Im Verlauf der Spiele, als das 50 Vgl. F. Angermeier, Hymne an Berlin, in: Reichssportblatt 2, 1935, 583. 51 Mandell (wie Anm. 47), 133. 52 Vgl. Teichler (wie Anm. 48), 165ff. 53 Der Angriff, zitiert nach The New York Times, 18. Juli 1936. Mandell (wie Anm. 47), 143. 54 Der Angriff, zitiert nach The New York Times, 6. Juli 1936. Mandell (wie Anm. 47), 134.

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reine Sportgeschehen im Vordergrund stand, war oftmals eine sachbezogene, zuweilen auch positive Tendenz im Sportteil, bei gleichzeitiger gleichbleibend kritischer Bericht-erstattung und Kommentierung im politischen Teil der Zeitungen zu beobachten."55 Diese las sich am Beispiel des "Manchester Guardian" folgendermaßen:

"In diesem Jahr sehen wir zum ersten Mal, daß [die olympischen Spiele] in Berlin nicht für den Frieden der Welt benutzt werden, nicht einmal für den Stolz einer Nation sondern als Propaganda für eine politische Partei. Der Aufzug der Spiele ist eine Demonstration für die Vorzüge des Nazismus".56

Das Presse-Echo zur Berliner Olympiade war in Frankreich differenzierter und die jeweilige Reaktion stärker vom politischen Standpunkt der Blätter abhängig als in Groß-britannien. Zum einen war Frankreich daher - neben den USA - das Zentrum der Protest-bewegung gegen die sogenannte "Hitler-Olympiade". Zum anderen aber wurden besonders von den französischen Rechtsblättern die Ordnungsliebe, Geschlossenheit, der Trainings-fleiß und Jubel um Hitler und Göring deutlich hervorgehoben und ihren Lesern als Vorbild für eine Änderung der Zustände in Frankreich angepriesen. Selbst die royalistische "Action française", die sich darüber ereiferte, daß die von dem französischen Idealisten Coubertin erneuerten Olympischen Spiele "im Jahre 1936 zu einem Propaganda-Instrument in den Händen der Hitler-Leute und zu einem Triumph der Neger wurden",57 beneidete die Deutschen um den stolzen Gebrauch ihrer nationalen Symbole. Besonders aufschlußreich ist jedoch die auffällige Wendung von der Zustimmung zur Kritik, welche insbesondere die auflagenstarken französischen Blätter "Paris-Soir" und "L'Auto" während der Spiele vollzogen. Zunächst mit großen Delegationen angereist und erwartungsvoll-unbefangen in der Berichterstattung wurden die Artikel der beiden Massenblätter zusehends kritischer und schließlich von polemischer Schärfe:

"Zu oft haben wir das 'Deutschland über alles' und das 'Hitlerlied' brüllen hören, nicht mehr der Sportler wurde gefeiert, sondern die ganze Nation, der Sieg der Rasse, der Regierung, des Heeres! Vor allem die Art, wie die Deutschen sich über ihre Reitersiege begeisterten, war provozierend für die Ausländer. Die Deutschen hatten den Krieg - Verzeihung die Spiele - gewonnen! Die deutsche, vom Siege trunkene Menge trat die elementarsten Regeln mit Füßen! Das darf nicht mehr geschehen! Keine Regierung soll sich mehr der Spiele bedienen dürfen, um ihr Volk zu fanatisieren und um zu versuchen, den Ausländer zu demütigen!"58

Insgesamt war daher die Olympiade in Berlin 1936 gerade im Ausland nur ein mittel-mäßiger "Erfolg" des Regimes. Das Schaufenster Berlin verursachte äußerst zwiespältige Reaktionen. "The greatest propaganda stunt in history" (New York Times)59 hatte vor 55 Teichler (wie Anm. 48), 171. 56 Ebd.; Bundesarchiv Koblenz, A NSD 15/12a; APA Nr. 140,7. Teichler gibt nicht die Ausgabe des Manchester Guardian an. 57 Teichler (wie Anm. 48), 176. 58 Paris-Soir am 20.8.1936. 59 Teichler (wie Anm. 48), 184.

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allem innenpolitische Folgen: Die mit der Teilnahme von 50 Nationen dokumentierte internationale Anerkennung des Regimes mußte Opposition und Widerstand entmutigen; der sportliche Erfolg suggerierte vor allem der Jugend das Gefühl deutscher Stärke und Überlegenheit. Daraus zog Hitler dann auch nach der Berliner Olympiade eine für ihn bezeichnende Konsequenz. Er verkündete: "Berlin war die letzte internationale Olympiade an der Deutschland teilgenommen hat. In Zukunft werden wir hier in Nürnberg die großartigsten Sportveranstaltung der Welt und die größten Sportwettkämpfe, die je statt-gefunden haben, in eigener Regie unter uns abhalten."60 Dazu gab Hitler daher auch in der "Stadt der Reichsparteitage" ein Stadion für über 400.000 Zuschauer in Auftrag, das die doppelte Breite und fünffache Höhe der Berliner Olympia-Anlage besessen hätte. Eine Olympiade in Berlin aber hätte es nie mehr gegeben.

60 Thies (wie Anm. 18) , 91. Zitiert nach Otto Dietrich, Zwölf Jahre mit Hitler, München 1955, 175f.

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KLAUS FEHN, BONN

STADTRANDPHÄNOMENE - HINDERNISSE ODER CHANCEN FÜR DIE ENTWICKLUNG DER MITTELEUROPÄISCHEN METROPOLEN?

MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG VON BERLIN I. Allgemeines Im Jahre 1936 veröffentlichte der Geograph Herbert Louis einen bemerkenswerten Aufsatz über "Die geographische Gliederung von Groß-Berlin"1. In diesem mit zwei sehr auf-schlußreichen Karten versehenen Beitrag finden sich folgende Ausführungen: "Jede alte oder neue Stadtgrenze, welche längere Zeit bestehen bleibt, wirkt sich durch eine Reihe charakteristischer Erscheinungen aus, durch Auflockerung der Bebauung, durch typisch randständige Bauanlagen wie größere Gewerbebetriebe, Krankenhäuser und Friedhöfe, militärische Anlagen, jüngere öffentliche Gebäude, Vergnügungsstätten, ferner durch Änderungen des Straßennetzes, endlich durch Namen. Wenn dann wie weithin in Berlin, der Fortgang der Stadtentwicklung zur Überflutung und völligen Einbauung der alten Stadtgrenze führt, so erscheint später der einzelne Friedhof, das Krankenhaus, das Theater, die Kaserne, die Brauerei oder Fabrik regellos im Häusermeer verstreut. Im ganzen betrachtet aber behält die alte Stadtgrenze durch ihre Häufung öffentlicher Einrichtungen und größerer Arbeitsstätten eine besondere Funktion im Bereich der umgebenden Wohn-viertel. Die alte Grenze hat sich zu einer Zone gesteigerten städtischen Lebens weiter-entwickelt, welche nur derjenige versteht, der den historischen Vorgang im Gedächtnis hat".2 Zum Deutschen Geographentag 1959 in Berlin erschien eine Festschrift "Zum Problem der Weltstadt"3. In seiner Einleitung machte der Herausgeber Joachim-Heinrich Schultze zahl-reiche Forschungsdefizite deutlich und regte u.a. an, das Zellengefüge der Stadtland-schaften für die Weltstädte zu untersuchen.4 Eine Verbindung dieses Wunsches zu dem Forschungsansatz der Stadtranderscheinungen stellte der Raumplaner Martin Pfannschmidt in seinem Festschriftbeitrag "Probleme der Weltstadt Berlin" her.5 Es folgte die Jahrestagung des von mir 1974 gegründeten und seither geleiteten "Arbeits-kreises für genetische Siedlungsforschung in Mitteleuropa" 1982 in Berlin, die sich ex-plizit dem Thema "Stadtrandphänomene" widmete. Die Vorträge dieser Tagung sind im

1 Herbert Louis, Die geographische Gliederung von Groß-Berlin, in: Länderkundliche Forschung. Festschrift für Norbert Krebs, Berlin 1936, 146-171. 2 Ebd., 147. 3 Joachim H. Schultze (Hg.), Zum Problem der Weltstadt. Festschrift zum 32. Deutschen Geographentag in Berlin 1959, Berlin 1959. 4 Joachim H. Schultze, Die Weltstadt als Objekt geographischer Forschung, in: ders. (wie Anm. 3), IX-XX. 5 Martin Pfannschmidt, Probleme der Weltstadt Berlin, in: Schultze (wie Anm. 3), 1-16.

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Band 1 der Zeitschrift "Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie", dem Veröffentlichungsorgan des Arbeitskreises, erschienen.6 Den Anstoß zur Formulierung des Themas meines Beitrags erhielt ich einerseits durch das kontinuierliche Erleben der gewaltigen Veränderungen im Berliner Raum und andererseits durch die immer intensiver werdende Beschäftigung mit der Angewandten Historischen Geographie. Ein Stichwort muß hier genügen: Konversion von Militärflächen.7 An Beispielen aus München, Wien und Köln8 möchte ich zunächst das Gegensatzpaar "Hindernisse" und "Chancen" im Titel meines Beitrags verdeutlichen. Das Münchner Olympiagelände war nacheinander ein militärischer Übungsplatz, ein militärischer Flug-platz und ein ziviler Flugplatz. Bereits für das 17. und 18. Jh., als München eine starke Barockfestung war, sind erste Ansätze zur militärischen Nutzung der ertragsarmen Wiesen- und Ödlandflächen im Norden der Stadt zu belegen. Mitte des 19. Jhs. begann eine kontinuierliche Verlagerung militärischer Einrichtungen aus dem zentralen Bereich der Stadt vorwiegend in nördliche Richtung, wobei einerseits immer wieder neue Flächen vom Militär beansprucht wurden, andererseits aber auch Möglichkeiten für Nachnutzungen von aufgegebenen Flächen entstanden. Schon seit 1890 hatte auf dem Nordteil des Exerzierplatzes auf dem Oberwiesenfeld die mit Fesselballons ausgerüstete Luftschiffer-Lehrabteilung geübt; noch vor dem Ersten Weltkrieg war die Nutzung als Start- und Landebahn für Motorflugzeuge hinzugekommen. 1927-1930 wurde hier Münchens erster Verkehrsflughafen angelegt, der nach der Anlage des Flughafens Riem kurz vor dem Zweiten Weltkrieg noch bis in die 50er Jahre als Sportflughafen weiterdiente. Für die Olympiade 1972 wurde das Gelände mit zahlreichen Sportanlagen überzogen, wobei es sich makabrerweise als sehr günstig erwies, daß hier nach dem Zweiten Weltkrieg ein großer Teil des Münchner Trümmerschutts zu einem Berg aufgetürmt worden war.9 Es wurde schon darauf hingewiesen, daß ab der Mitte des 19. Jhs. immer größere Flächen im Norden der Stadt vom Militär beansprucht wurden. Im Zusammenhang mit der Aufrüstung im Dritten Reich entstand geradezu ein ausgedehnter Sperrgürtel aus militärisch genutzten 6 Winfried Schich, Stadtrandphänomene bei den Städten im Großberliner Raum (Berlin-Cölln, Spandau und Köpenick) vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, in: Siedlungsforschung 1, 1983, 65-85. 7 Klaus Fehn, Erhalt von historischen Kulturlandschaften sowie Natur- und Landschaftsschutz als Ergebnis der Konversion, in: Konversion. Ökonomisch, ökologisch und sozial verträgliche Umnutzung von entbehr-lichen militärischen Liegenschaften. Chancen und Probleme in Mecklenburg-Vorpommern, Beiträge des Innovations- und Bildungszentrums Hohen Luckow e.V. 1975, Heft 1, Hohen Luckow 1975, 55-74. 8 Klaus Fehn, Darstellungstypologische Betrachtungen zur neueren Veröffentlichungen über die Historische Geographie der deutschsprachigen Millionenstädte mit besonderer Berücksichtigung Berlins, in: Der nord-atlantische Raum. Festschrift für Gerhard Oberbeck, Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Ham-burg 80, Hamburg 1990, 267- 283. 9 Max Megele, Baugeschichtlicher Atlas der Landeshauptstadt München, Neue Schriftenreihe des Stadt-archivs München 3, 7 und 10, München 1951, 196; Peter Breitling, Die großstädtische Entwicklung Mün-chens im 19. Jahrhundert, in: Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Städteforschung A5, Köln 1978, 178-196; München. Ein sozialgeographischer Exkursionsführer, hg. von R. Geipel und G. Heinritz, Münchner geographische Hefte 55/56, Kallmünz 1987; Günter Heinritz/Elisabeth Lichtenberger, Munich and Vienna. A Cross-national Comparison, in: dies. (Hgg.), The Take-off of Suburbia and the Crisis of the Central City, Erdkundliches Wissen 76, Stuttgart 1986, 1-29.

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Gebieten, der im Norden der Stadt eine der damaligen Zeit entsprechende städtische Entwicklung im guten wie im schlechten Sinne verhinderte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zunächst zu ungeregelten und illegalen Überbauungen, zu Nutzungen als Not-quartiere und zur Entstehung neuer Standorte für Gewerbebetriebe und Industrien.10 Durch die Nachfolgenutzungen der ehemaligen militärischen Flächen wurden gelegentlich Fakten geschaffen, die die spätere Raumordnung stark behinderten. Andererseits stand mit dem militärischen Gelände ein Potential zur Verfügung, zu dessen Nutzung ganz unterschied-liche Vorstellungen entwickelt werden konnten. Diese reichten von kompletten Satelliten-städten bis zu Naturschutzgebieten. Eine klassische Stadtrandzone ist auch das Gebiet der Wiener Ringstraße.11 Da die Stadt bis 1857 eine Festung war, mußte bis zu diesem Zeitpunkt ein Glacis freigehalten werden, das die Innenstadt hermetisch von den Vorstädten und Vororten abriegelte. Nach dem Verzicht des Kaisers Franz Joseph auf die militärische Zone konnte in engster Nachbar-schaft zu außerordentlich dicht bebauten Stadtvierteln das städtebauliche Gesamtkunst-werk der Ringstraße entstehen. Die grundlegende Veränderung der Situation geben zahl-reiche Karten der Wiener Geographin Elisabeth Lichtenberger anschaulich wieder.12 Ähnliche Betrachtungen könnte man auch für Köln anstellen, wo im Bereich des Inneren Festungsgürtels die Neustadt entstand und der Äußere Festungsgürtel in eine ausgedehnte Grünzone umgewandelt wurde.13 Bevor ich mich nun detailliert der Entwicklung der Stadtrandphänomene im Großraum Berlin zuwende, ist es unbedingt nötig, noch einige theoretische Betrachtungen anzustellen und den Forschungsgegenstand zu charakterisieren. Ganz allgemein ist zu konstatieren, daß es nur sehr wenige grundlegende Beiträge hierzu gibt. Als deren Verfasser zu nennen sind hier außer Louis14 vor allem der englische Geograph Conzen15 und der deutsche 10 Hans Fehn, Zeitbedingte Wachstumserscheinungen an den Großstadträndern der Gegenwart, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 8, 1950, 296-300; Burkhard Bleyer, Verlauf einer Stadtteilkarriere. München-Milbertshofen, Münchner Geographische Hefte 58, Kallmünz 1988; Fehn (wie Anm. 7). 11 Elisabeth Lichtenberger, Wirtschaftsfunktion und Sozialstruktur der Wiener Ringstraße, Die Wiener Ring-straße - Bild einer Epoche 6, Wien 1970. 12 Elisabeth Lichtenberger, Entwicklung und Raumordnungsprobleme Wiens im 19. Jahrhundert, in: Raum-ordnung im 19. Jahrhundert. 2. Teil, Historische Raumforschung 6, Hannover 1967, 195-225; dies. (wie Anm. 11); dies., Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City, Wien 1977; dies., Wien, in: Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter (wie Anm. 9), 197-219; Hans Bobek/Elisa-beth Lichtenberger, Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, Köln/Graz 1966; F. Czeike/R.. Banik-Schweitzer (Hgg.), Österreichischer Städteatlas, Wien 1982ff.; Historischer Atlas von Wien, Wien 1981ff. 13 Henriette Meynen, Wachstumshemmnisse und Siedlungsanreize in Kölner Stadtrandbereichen. Wirt-schaftliche Entwicklung, Siedlungsstruktur und bauliche Ausformung, in: Siedlungsforschung 1, 1983, 151-166; Hiltrud Kier, Die Kölner Neustadt. Planung, Entstehung, Nutzung, Düsseldorf 1978; Henriette Meynen, Die Kölner Grünanlagen, Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland 25, Düsseldorf 1979. 14 Louis (wie Anm. 1). 15 Michael R.G. Conzen, Zur Morphologie der englischen Stadt im Industriezeitalter, in: Probleme des Städte-wesens im industriellen Zeitalter (wie Anm. 9), 1-48.

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historische Geograph von der Dollen,16 der auch den systematisch orientierten Einleitungs-vortrag auf der schon erwähnten Spezialtagung des "Arbeitskreises für genetische Siedlungsforschung in Mitteleuropa" 1982 gehalten hat.17 Diese Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf die am Rande der vorindustriellen und frühindustriellen Stadt entstandenen Stadtrandphänomene und ihre weitere Entwicklung. Umstritten ist, ob der Aspekt der Stadtrandphänomene als heuristisches Prinzip auch auf die nachfolgende Zeit bis zur Gegenwart anzuwenden ist. Von der Dollen verneint dies, da es für diese Periode keine klar abgrenzbaren Stadtränder mehr gebe und dementsprechend auch die Stadtrand-phänomene nicht eindeutig genug zu erfassen seien. Im folgenden schließe ich mich dieser Meinung nicht an und versuche, die Fragestellung auch für neueste Entwicklungen anzuwenden. Es ist an dieser Stelle unmöglich, die zahlreichen Aspekte bei der Erforschung der Stadt-randphänomene auch nur einigermaßen erschöpfend abzuhandeln.18 Es müssen einige Stichworte reichen. Unter Stadtrand wird meist die Grenze der geschlossenen städtischen Bebauung ver-standen; es ist aber durchaus möglich, auch der einschlägigen Bedeutung einer Verwal-tungsgrenze nachzuspüren. Zu beachten ist der Unterschied zwischen dem physiognomisch faßbaren Verbauungsbereich und der funktionellen Stadtregion. Der Stadtrand ist in dem Zusammenhang kein beliebiger Wachstumsring, sondern nach der Definition von Busso von der Dollen "die Zone, in der sich Elemente angesammelt haben, die der Stadtkörper aufgrund innerer Differenzierung und Umstrukturierung an seinen Rand geschoben hat".19 16 Busso von der Dollen, Forschungsschwerpunkte und Zukunftsaufgaben der Historischen Geographie: Städtische Siedlungen, in: Erdkunde 36, 1982, 96-102; ders., Stadtrandphänomene in historisch-geographi-scher Sicht, in: Siedlungsforschung 1, 1983, 15-37; ders., Stadtrandphänomene. Bericht über die 9. Arbeits-tagung des Arbeitskreises für genetische Siedlungsforschung in Mitteleuropa in Berlin 1982, in: Die Erde 114, 1985, 69ff. 17 Stadtrandphänomene (Schwerpunktthema), in: Siedlungsforschung 1, 1983, 15-166. 18 Dietrich Denecke, Stadtgeographie als geographische Gesamtdarstellung und komplexe geographische Analyse einer Stadt, in: Die Alte Stadt 16, 1989, 3-23; Von der Dollen 1982 (wie Anm. 16); Christian Engeli, Siedlungsstruktur und Verwaltungsgrenzen der Stadt im Verstädterungsprozeß, in: Die Alte Stadt 4, 1977, 288-307; Hermann Hambloch, Die moderne Stadt als zentraler Ort, in: Heinz Stoob (Hg.), Die Stadt. Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeitalter, Köln/Wien 1979, 243-274; Heinz Heineberg, Stadt-geographie, Paderborn 21989; Burkhard Hofmeister, Der Stadtbegriff des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Geographie, in: Die Alte Stadt 11, 1984, 197-213; ders., Stadtgeographie, Braunschweig 61994; ders., Die Stadtstruktur. Ihre Ausprägung in den verschiedenen Kulturräumen der Erde, Darmstadt 31996; Wolfgang R. Krabbe, Eingemeindungsprobleme vor dem Ersten Weltkrieg. Motive, Widerstände und Verfahrensweise, in: Die Alte Stadt 7, 1980, 369-387; Jan-Michael Kresse, Die Industrie-Standorte in mitteleuropäischen Großstädten, Berliner Geographische Studien 3, Berlin 1977; Elisabeth Lichtenberger, Die Stadtentwicklung in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Die Städte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert, Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas VIII, Linz 1984, 1-40; dies., Stadtmodelle. Reflexionen zur For-schungsgeschichte, in: A. Steinecke (Hg.), Stadt- und Wirtschaftsraum. Festschrift für B. Hofmeister zum 65. Geburtstag, Berliner geographische Studien 44, Berlin 1996, 1-12; Elisabeth Pfeil, Großstadtforschung. Entwicklung und gegenwärtiger Stand, Hannover 1972; Raumordnung und Landesplanung im 20. Jahr-hundert, Historische Raumforschung 10, Hannover 1971; Peter Schöller, Die deutschen Städte, Erdkund-liches Wissen 17, Wiesbaden 1967; Gabriele Schwarz, Allgemeine Siedlungsgeographie, Lehrbuch der Allgemeinen Geographie VI, Berlin 41988. 19 Von der Dollen 1983 (wie Anm. 16).

"Stadtrandphänomene" 117

Diese Zone wird bei der Entwicklung der Stadt, bei der Entstehung neuer Wachstumsringe vor allem in Gestalt von neuen Wohngebieten meist übersprungen oder doch zumindest nicht flächig verändert. Es ergeben sich zunächst Sperrlinien und Sperrflächen für die Ent-wicklung, Wachstumshemmnisse vor allem für die Wohnbebauung. Zu einem späteren Zeitpunkt können die aus der "normalen" Entwicklung ausgeklammerten Flächen aber ein bedeutendes Potential für Neunutzungen bilden, die sich wegen der Ausdehnung der funk-tional anders strukturierten Nachbarbereiche als notwendig erweisen. Der Druck auf die innerste Stadtrandzone geht durchweg von der Cityerweiterung aus. Die alte Stadtrandzone wird zu einem funktionalen Ergänzungsraum der City und aus einem in erheblichem Um-fange negativ beurteilten Bereich zu einem Gebiet gesteigerten städtischen Lebens mit hoher Akzeptanz. Um welche Phänomene handelt es sich bei den Stadtrandelementen? Diese Frage muß hier ganz kurz schon allgemein beantwortet werden, damit die Spannweite des Problemfeldes deutlich wird. Es können hochrangige Anlagen der Herrschaft, der Zentralverwaltung und des Militärs wie z.B. Burgen bzw. Schlösser, öffentliche Großbauten, Kasernen und Truppenübungsplätze sein. Weiterhin zu nennen sind raumbeanspruchende Infrastruktur-elemente wie z.B. Bahnhöfe, Flugplätze, Erholungsparks, Krankenhäuser oder Friedhöfe. Zu den die Stadt belastenden Einrichtungen, die aus ästhetischen oder hygienischen Grün-den außerhalb der Bebauungsgrenze ihren Standort finden, gehören Kläranlagen, umwelt-schädliche Industriebetriebe, Anlagen der Materialentnahme wie Ziegeleien, aber auch Versorgungsbetriebe wie Gasanstalten, Großmarkthallen oder Lagerplätze verschiedenster Art. Auch im Bereich der Landwirtschaft gibt es randorientierte Nutzungsformen wie die Intensivwirtschaftszonen. Schließlich können bestimmte Formen der Wohnbebauung am Stadtrand entstehen, die durchweg nur eine geringe Qualität aufweisen, oft nur vor-übergehend bestehen und meist nicht geplant angelegt werden. Ganz allgemein ist die Bebauung in den Stadtrandzonen heterogen, sowohl was die Gebäudetypen als auch was Parzellengröße und -zuschnitt betrifft. Die Veränderungen der Stadtrandphänomene entstehen durch die Ausdehnung der Stadt. Sie können zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen.

1. Aufriß und Grundriß werden zerstört. 2. Nur der Aufriß wird zerstört. 3. Aufriß und Grundriß bleiben erhalten, die Funktion wird aber verändert. 4. Aufriß, Grundriß und Funktion erhalten sich.

Anders ausgedrückt kann es in dem einen Fall zu einer funktionalen und physischen Integration der Stadtrandelemente kommen; im anderen Fall handelt es sich um die Neu-nutzung eines Standorts. In beiden Fällen entstehen Konstellationen, die ohne das Vor-handensein von Stadtrandelementen nicht vorstellbar sind. Das Werden und Vergehen einer Stadtrandzone spielt sich häufig idealtypisch gesehen folgendermaßen ab:

1. Einzelne Elemente werden an den Stadtrand verlegt. 2. Durch die zunehmende Ansammlung von Stadtrandelementen verschiedener

Art dehnt sich die Zone nach außen aus und verdichtet sich.

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3. Die vorhandenen Stadtrandelemente füllen sich im Zuge intensivierter Nutzung mit zusätzlichen Gebäuden und Anlagen auf.

4. Die Stadtrandelemente gruppieren sich zu spezialisierten Funktionalsektoren. 5. Die Stadtrandzone wird durch das Wachstum der Stadt zunehmend eingeengt

und im Inneren verändert. Es bleiben aber fossile Überreste, durchscheinende Altmuster und viele für den jeweiligen Standort ungewöhnliche Nutzungen.

6. Es folgen immer häufiger unterschiedliche Stadtrandelemente auf ein und der-selben Parzelle.

7. Nach der vollständigen Einbeziehung der Stadtrandzone in die städtischen Ent-wicklungsprozesse verschwinden viele Stadtrandelemente.

Die oft großflächigen Sondernutzungen durch Stadtrandelemente und die Blockierung von vielen Einzelstandorten in den Wachstumszonen behinderten sehr häufig die Stadt- und Raumplanung. Auf der anderen Seite ermöglichten aber diese Flächen zu einer späteren Zeit oft Nutzungen, die bei einer dichteren Bebauung z.B. mit Mietskasernen aber auch bei einer intensiven Zersiedlung nicht hätten realisiert werden können. Gelegentlich blockierte auch das eine Stadtrandelement ein anderes Stadtrandelement, z.B. die Militärnutzung die Nutzung durch Industrie oder Verkehr. Ob bei der Entwicklung einer Stadt die negativen oder die positiven Aspekte überwogen, muß für den Einzelfall detailliert untersucht werden. Die Neunutzung von Standorten ist eine Erscheinung, die nicht nur in Metropolen also in der Spitzengruppe der Großstädte, vorkommt. Da die Entwicklung sich in diesem Stadt-typus aber vor allem im 19. und 20. Jh. besonders rasch vollzog, war die Verfügbarkeit über geeignete Standorte für die Verortung neuer Funktionen besonders wichtig. Die Metropolen bauten sich einerseits in erheblichem Umfange immer wieder selbst an den jeweiligen Stadträndern große Hindernisse für die weitere Entwicklung auf. Andererseits erwiesen sich diese im Hinblick auf die spätere Situation unfreiwilligen Sperrungen bzw. Blockierungen von Standorten paradoxerweise nicht selten als Chancen für spätere höher-rangigere Nutzungen. Dieser Wechsel läßt sich gut für die eigentlichen Metropolen nach-weisen, deren Entwicklung im wesentlichen von einem Zentrum aus gesteuert wurde. In polyzentrischen Stadtagglomerationen, wie z.B. dem Ruhrgebiet, ist mit dem herme-neutischen Ansatz der "Stadtrandphänomene" nur eingeschränkt zu operieren. Wenn der Ansatz aber etwas weiter gefaßt wird, wie dies in diesen Beitrag der Fall ist, lassen sich auch für solche Gebiete wichtige Ergebnisse erzielen. Auch die besten Stadtplaner sind nicht in der Lage, die Entwicklung der nächsten Jahr-zehnte derartig genau vorauszusehen, daß kein Bedarf nach Flächenumnutzung entstände. Es wird immer wieder Standrandphänomene geben, die von der Stadt geschaffen und von der Stadt auch wieder beseitigt oder verändert werden. Ohne die zunehmend fort-schreitende Einbindung des Umlandes ist die Metropolenentwicklung nicht möglich. Es handelt sich dabei aber nicht um eine kontinuierliche Übernahme nichtstädtischen Ge-ländes und eine definitive Neugestaltung, sondern um das Vorsichherschieben eines Stadt-randes, der durch Dauerumgestaltungen charakterisiert ist. Dabei ist es schwierig zu ent-scheiden, was dabei bewußte Stadtplanung und was naturwüchsige Expansion im Sinne der sozialökologischen Chicagoer Schule ist, deren Gedanken sowohl in der Kultur-

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geographie als auch in der Stadtgeschichte eine wichtige Rolle spielen. Bei den Standort-veränderungen spielen sowohl Pull-Faktoren, die bestimmte Funktionen an den Stadtrand ziehen, als auch Push-Faktoren, wie vor allem die Cityexpansion, eine Rolle. Die Untersuchung von Stadtrandphänomenen bei den Metropolen in Form von Raum-Zeit-Vergleichen20 ist von hoher Aktualität. Auf der Weltkonferenz Habitat II in Istanbul vom 3. bis 14. Juni 199621 wurde erschreckend deutlich, daß die "Megastädte" "Megaprobleme" schaffen und sogar zumindest einigen von ihnen das "Megachaos" droht. Deutlich an-gesprochen wurde von den Rednern das Fehlen der nötigen Infrastrukturen, aber auch der riesige Flächenverbrauch durch unkontrolliertes Wuchern der Bebauung ohne ausreichen-de Nutzung der einzelnen Ressourcen. Viele Flächen sind sowohl in ökologischen als auch in sozialverträglicher Hinsicht echte Standrandphänomene, die auf eine Inwertsetzung im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung warten. Wenn auch die Schlagworte "Not und Hoffnung treiben die Menschen in die Metropolen" oder "Flucht in den Moloch" für die mitteleuropäischen Metropolen nur in sehr eingeschränktem Umfange zutreffen, so besteht das Problem der Abstimmung der Metropolenentwicklung mit dem Umland auch hier. Es müssen hier die legitimen Interessen der Metropolen mit den ebenso berechtigten des Umlandes in Einklang gebracht werden. Wenn dies wirklich von beiden Seiten ernsthaft angestrebt wird, entsteht für die Stadtrandphänomene eine grundlegend neue Situation. Die fraglichen Gebiete sind dann nicht mehr nur Flächenreserven für die Metropole, sondern Teilelemente einer umfassenden Regionalplanung. II. Stadtrandphänomene im Berliner Raum für die Zeitschnitte 1650, 1750, 1860, 1920, 1945, 1989 und 199622

1. Zeitschnitt 1650 Der erste Berliner Stadtplan stammt aus dem Jahr 1650. Er zeigt die Doppel-Stadt Berlin-Cölln mit ihren Grundrissen aus der kolonialen Gründungszeit im Zuge der Ost-kolonisation. Die mittelalterliche Stadtmauer bildete eine klare bauliche Grenze. Im Bereich der späteren Agglomeration Berlins lagen (nicht im Stadtplan dargestellt) die Kleinstädte Spandau und Köpenick, zahlreiche planmäßige Angerdörfer aus der Zeit der Ostkolonisation sowie Gutssiedlungen. In der Umgebung fanden sich erste Ansätze zu einer Residenzlandschaft mit Schlössern und Parkanlagen. Stadtrandphänomene lassen sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadtmauer feststellen. Zu nennen ist die 20 Eugen Wirth, Die Bedeutung der historischen Dimension für Kulturgeographie und Theoretische Geo-graphie, in: ders., Theoretische Geographie. Grundzüge einer Theoretischen Kulturgeographie, Stuttgart 1979, 75-100; vgl. dazu demnächst die Vorträge der Fachsitzung "Der Raum-Zeit-Vergleich in der Histo-rischen Geographie" des Deutschen Geographentags 1997 in Bonn. 21 UN-Konferenz Habitat II in Istanbul 3.-14.6.1996, in: Generalanzeiger Bonn, 22.05.1996; Petra Pinzler, Flucht in den Moloch. Die UN-Konferenz Habitat II sucht Lösungen für die sozialen und ökologischen Pro-bleme, in: Die Zeit, 21.05.1996; Dirk Bronger, Megastädte, in: Geographische Rundschau 48, 1996, 74-81. 22 Vgl. hierzu die Literaturauswahl zur Entwicklung der städtischen Agglomeration Berlins und ihres Um-landes am Ende des Beitrags.

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individuelle meist sehr kümmerliche Vorstadtbebauung, die noch keine geschlossenen Zonen bildete, sondern durchwegs aus verstreuten Einzelbauten bestand. Dem sozialen Bereich dienten Hospitäler, Pestbaracken und Schützenhäuser. Gewerbliche Stadtrand-elemente waren Ziegeleien, Kalköfen und Gerberhäuser, ebensolche des Verkehrs die neuen Alleen: erste Hinweise auf die sich allmählich herausbildende Residenzlandschaft. Besonders markant waren schließlich die Prägungen der Stadtrandzonen durch die Herr-schaft. 1443 war außerhalb der Stadt Cölln die Stadtburg der Hohenzollern erbaut worden, die 1538 erweitert wurde. Die benachbarten Bauten und Anlagen - der Wirtschaftshof, eine Mühle, ein Nutzgarten und ein Ziergarten - waren auf das herrschaftliche Schloß hin orientiert.

2. Zeitschnitt 1750 Ab 1658 war die Doppelstadt zu einer barocken Festungsanlage ausgebaut worden. Diesen Maßnahmen fielen die meisten Stadtrandelemente zum Opfer, einige wurden jedoch auch in die Festungsanlage einbezogen. Hierzu gehörten vor allem das Schloß mit seinen An-lagen. Bereits im frühen 18. Jh. wurde die Festung aufgegeben und damit Raum für grund-legende städtebauliche Veränderungen geschaffen. Die Festungsanlagen wurden teilweise abgerissen, teilweise blieben aber zunächst Überreste in Form von Wassergräben und alten Mustern im Straßengrundriß erhalten. Für die weitere Entwicklung der Stadtrandphänomene wurde die Anlage der Zollmauer von 1734 von grundlegender Bedeutung. Sie verdankte vor allem fiskalischen Gründen ihre Entstehung und umspannte ein weites Gebiet im Anschluß an den Bereich der ehemaligen Barockfestung, der ganz unterschiedlich gestaltet war. Zunächst sind die im Westen planmäßig angelegten Neustädte des späten 17. und späten 18. Jhs. zu nennen, die geplante Stadterweiterungsgebiete darstellen. Von ihnen unterscheiden sich die Vorstädte als ungeplante Erweiterungsgebiete, die sich an den Ausfallstraßen im Norden, Nordosten, Osten und Südosten gebildet hatten. An der Zollmauer hatten sich bereits neue Stadt-randelemente ankristallisiert, die durchwegs noch keine größeren Flächen beanspruchten, sondern noch meist durch ihre punktuelle Ausprägung gekennzeichnet waren. Im einzelnen handelte es sich im militärischen Bereich um Pulvermühlen, im gewerblichen um Holz-ablagen, Bierkeller und einzelne Manufakturen, im kirchlich-karitativen um Friedhöfe, die nun in wachsender Zahl aus dem bebauten Bereich nach außen verlegt wurden, und im landwirtschaftlichen Bereich um Weinberge. In der Umgebung schritt der Ausbau der Residenzlandschaft vor allem im Bereich des Grunewalds und im Potsdamer Gebiet fort, wobei es in der Forschung umstritten ist, inwieweit die dabei entstehenden Schlösser, Parks und Alleensysteme noch als Stadtrand-phänomene anzusehen sind.

3. Zeitschnitt 1860 Die Gemarkung der Stadt Berlin, die im frühen 18. Jh. durch den Zusammenschluß von fünf selbständigen Städten entstanden war, erlebte 1825, 1841, 1861 und schließlich auch noch 1881 zwar einige Erweiterungen, bis zur Bildung von Groß-Berlin 1920 entwickelten sich aber der Verwaltungsbereich und der bebaute Bereich in extremem Maße auseinander.

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Zunächst wurde das Gebiet innerhalb der Zollmauer weitgehend bebaut; mit dem Hobrechtplan entstand aber 1862 ein umfassender Plan für eine systematische kon-zentrische Erweiterung. Einige ältere Siedlungskerne wurden in dieser Zeit von der fort-schreitenden Bebauung erfaßt und zu städtischen Vororten umgewandelt. Insgesamt reichten die Auswirkungen der Urbanisierung aber noch nicht sehr weit ins Umland. Von den älteren Stadtrandelementen war noch die Festungszone weitgehend, wenn auch ohne militärische Funktionen, erhalten (hauptsächlich im Nordosten). Im Anschluß an das Schloß hatte sich ein breiter Streifen fiskalischen Geländes mit typischen herrschaftlichen Nutzungen wie Kasernen, Exerzierplätze, Tiergarten und Botanischer Garten erhalten. Weitgehend eingebaut war in diesem Zeitpunkt bereits der breite Rand vorstädtischer Be-siedlung, vor allem im Nordosten. Im Umland hatten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. zahlreiche merkantilistisch orientierte neue Siedlungsansätze herausgebildet, die teils der Landwirtschaft, teils dem Gewerbe dienten. Von großer Bedeutung für die weitere Ent-wicklung der Großstadt Berlin wurden die neuen Stadtrandelemente, die sich unmittelbar an die Zollmauer anlehnten. Zu nennen sind Exerzierplätze und Kasernen, Bahnhöfe, Gleisanlagen mit den dazugehörenden Dämmen und Einschnitten, erste Fabriken in der Oranienburger Vorstadt im Norden, ein erster städtischer Park in Friedrichshain im Osten sowie weitere Friedhöfe, nicht selten in geschlossenen Anlagen für mehrere Pfarreien.

4. Zeitschnitt 1920 Die Grundstruktur des heutigen Berliner Raumes wurde in der zweiten Hälfte des 19. und im ersten Drittel des 20. Jhs. geschaffen. Nach 1860 schob sich die Zone der geschlossenen Bebauung weit ins Umland vor. Es entstand der berühmt-berüchtigte Mietskasernengürtel, wobei 1887 eine wichtige Bebauungsgrenze festgelegt wurde, die für bestimmte Gebiete eine derartig kompakte Bebauung ausschloß. Sehr negativ wirkte sich nun auch die fehlen-de Deckung von Verwaltungsgebiet mit bebautem Bereich aus. Die Gesamtentwicklung verlief häufig unkoordiniert; es bildeten sich polyzentrische Strukturen heraus. Für diese Zeit müssen also die einschlägigen Aktivitäten von zahlreichen unterschiedlichen Zentren beachtet werden, wovon selbstverständlich Berlin das bedeutendste war. Die dort an-setzende Citybildung übte einen zunehmenden Druck auf die benachbarten Räume aus und beanspruchte immer größere Flächen. Die städtische Bebauung griff in moderateren, lockereren Formen auch zunehmend in das Umland ein. Besonders zu erwähnen sind die Entstehung von Kolonien für die gehobenen Schichten und von Stadtrandsiedlungen, was durch die Einführung der S-Bahn wesentlich erleichtert wurde. Was die Stadtrandelemente betrifft, so hatte die ausufernde Bebauung die ungeplante Vorstadtbebauung fast voll-ständig aufgesogen. Im Gegensatz dazu waren aber Schlösser, Parks, Kasernen, Truppen-übungsplätze, Friedhöfe meist erhalten geblieben, und sie bildeten nun gewissermaßen Inseln im Meer der neuen Wohnbauten. Teilweise kam es auch zu Verlegungen, wodurch Flächen für Nachnutzungen frei wurden. Aussagefähige Beispiele sind der Botanische Garten, der von der Schloßinsel zunächst nach Schöneberg und dann nach Dahlem verlegt wurde, der Truppenübungsplatz Tempelhof, dessen neuer Standort Jüterbog wurde, die Fabrikanlagen von Borsig, die von ihrem ersten Standort in der Oranienburger Vorstadt nach Moabit und später nach Tegel wanderten. Die freigewordenen Flächen wurden durch-weg durch Infrastrukturanlagen der wachsenden Großstadt genutzt; ein Beispiel ist die

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Verwendung der noch erhaltenen Festungsanlagen im Nordosten der alten Kurfürstenstadt für die Trasse der neuen Stadtbahn. An dieser Stelle sollen im Vorgriff auf die Entwick-lung nach 1920 noch ergänzend einige weitere Beispiele für Verlegungen genannt werden: Auf dem freigewordenen Truppenübungsplatz Tempelhof wurde teils eine Wohnsiedlung errichtet, teils ein Flughafen installiert (1923). Das am Rande des Tempelhofs 1883 als modernster Berliner Kasernenbau errichtete Fouragemagazin des Versorgungs- und Nach-schubbataillons wurde nach dem Ersten Weltkrieg für das Telegraphentechnische Reichs-amt, nach dem Zweiten Weltkrieg als Fernmeldeamt der Bundespost und seit der Wende 1989 als Magazin des Berliner Postmuseums genutzt. Der Truppenübungsplatz Moabit gab 1926 Raum für die Anlage des Poststadions und nach dem Zweiten Weltkrieg für die Einrichtung des Fritz-Schloß-Parks. An der Außengrenze der Bebauung entwickelten sich zunehmend neue Stadtrandelemente, die teils auf Verlegungen zurückzuführen waren wie die Truppenübungsplätze Jüterbog und Döberitz sowie gewisse Industriebetriebe (Borsig in Tegel und Siemens in Siemensstadt). Meist handelte es sich nun aber um völlig neue Typen von Stadtrandelementen, die in engem Zusammenhang mit der sich im Aufbau befindlichen Infrastruktur einer Weltstadt standen. Gaswerke, Wasserwerke, Elektrizitäts-werke für die Versorgung, Rieselfelder für die Entsorgung, Krankenhäuser, Badeanstalten, Vorstadtbauten, aber auch bestimmte Kirchen und Verwaltungsgebäude entstanden am Rande der Agglomeration. Schienen- und Wasserverkehr beanspruchten immer größere Flächen; vor allem die Verschiebebahnhöfe und die Güterbahnhöfe setzten deutliche land-schaftliche Akzente. Erstmals wurden nun Überlegungen angestellt, die Entstehung eines geschlossenen Rings von Stadtrandelementen, wozu auch die nach außen verlegten oder neuen Industrieanlagen gehörten, zu verhindern. Das wichtigste Ergebnis dieser Bemühun-gen war der Kauf ausgedehnter Forstflächen des Preußischen Staates durch die Stadt Berlin während des Ersten Weltkriegs. Nicht vergessen werden dürfen in der Aufzählung von Stadtrandelementen der Zeit um 1920 die Intensivzonen der Landwirtschaft, die der Versorgung der großstädtischen Bevölkerung mit bestimmten Produkten dienten. Der S-Bahn-Ring war inzwischen schon an vielen Stellen von der Entwicklung übersprungen worden, spielte aber als Orientierungssystem für Standortentscheidungen immer noch eine herausragende Rolle, ähnlich wie die Wasserstraßen. Besonders zu erwähnen sind für den Zeitabschnitt zwischen 1860 und 1920 die Ver-änderungen im Zusammenhang mit dem Ausbau Berlins zur Reichshauptstadt. So entstand ein eigenes neues "Reichstagsviertel" im Gebiet westlich der Ende der 1860er Jahre abge-tragenen Akzisemauer u.a. mit dem Reichstag, dem statistischen Reichsamt, der Reichs-versicherung und dem Reichsmarineamt. Die Standorte der neuen Institutionen wurden bewußt in diese ehemalige Stadtrandzone gelegt, da hier ein adäquates Umfeld vorhanden schien. Dieses Umfeld war unter Überspringen der alten Stadtrandzone im Laufe des späten 18. und des frühen 19. Jhs. geschaffen worden. Die Abfolge von Stadtvierteln, Vor-städten und Vororten im Westen und Südwesten des alten Zentrums unterschied sich damit schon damals grundlegend von derjenigen nach anderen Himmelsrichtungen.

5. Zeitschnitt 1945 Zwischen 1920 und 1945 kam es zur funktionellen Ausweitung des Berliner Raumes zur Stadtregion; die Suburbanisierung löste die Grenzen zwischen Stadt und Land auf. Obwohl

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durch die Bildung von Groß-Berlin insgesamt 7 Städte, 59 Landgemeinden und 27 Guts-besitze zusammengeschlossen worden waren und dadurch für die Stadt ein Zuwachs von 81.238 ha Fläche mit 1,9 Millionen Menschen realisiert wurde, vollzogen sich die kommenden Entwicklungen keinesfalls nur innerhalb der neuen Stadtgrenzen. Vor allem entlang der Vorortbahnlinien stießen Wachstumsspitzen ins Umland vor; dazwischen blieben jedoch noch weite Flächen außerhalb, teilweise auch innerhalb der Stadtgrenzen nahezu unberührt. Die Interessengegensätze der wachsenden Weltstadt und ihres Umlandes wurden nun zunehmend deutlicher. Während einerseits Pläne für eine Weltstadt von 10-12 Millionen Einwohnern erarbeitet und entsprechende Eingemeindungs-forderungen gestellt wurden, kämpften andere Gruppen für die planmäßige raum-wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes ohne die ausschließliche Orientierung auf die Interessen von Berlin. Ein besonderes Problemfeld für die Stadtplanung war die sich kontinuierlich fortsetzende Citybildung, für die Landesplanung das weit ausufernde extensive, weitgehend planlose Randwachstum. Die Konversion von Militäranlagen spielte unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eine große Rolle, wenn auch nochmals darauf hinzuweisen ist, daß es auch schon vorher Standortverschiebungen gegeben hatte. Aus Exerzierplätzen, Truppenübungsplätzen und Kasernen wurden Flugplätze, Ausstellungs-hallen, Grünanlagen und Sportplätze. Von den älteren Stadtrandelementen erwiesen sich die Bahnanlagen als besonders persistent; nur selten kam es zu Verlegungen. Hier sind besonders die neu errichteten flächenintensiven Verschiebebahnhöfe zu nennen. Neue Stadtrandelemente entwickelten sich an der Bebauungsgrenze der Agglomeration und vor allem an der Verwaltungsgrenze zum Umland. In der Zeit des Dritten Reiches entstanden ab 1935 zahlreiche neue Standorte für Militäranlagen, aber auch für die Rüstungsindustrie außerhalb der Stadtgrenze. Als Stadtrandelemente können auch die häufig illegalen Einfachsiedlungen sowie zahlreiche Kleingartenanlagen bezeichnet werden. Der Spezial-anbaugürtel verdichtete sich; als Stichworte müssen hier das Obst von Werder und die Gartenbausiedlung Eden ausreichen. Einflüsse der Berliner Agglomeration ließen sich in dieser Zeit bis über die Endpunkte der S-Bahnen hinaus in einer Zone von nahezu 100 km Entfernung vom Zentrum feststellen.

6. Zeitschnitt 1989 Große Teile der Weltstadt Berlin wurden im Zweiten Weltkrieg ganz oder teilweise zer-stört. Für die Periode zwischen 1945 und 1989 wirkten sich die Deformierungen der Weltstadtentwicklung durch die Trennung zwischen Ost- und Westberlin und die Ab-schirmung Westberlins von Ostberlin und dem Brandenburger Umland aus. In Westberlin wurde die Suburbanisierung ins Umland hinaus gestoppt; die weitere Entwicklung mußte sich auf den Innenbereich beschränken. Dadurch vergrößerte sich der Flächenverbrauch dramatisch und es entstand durch die Binnensuburbanisierung eine ausgeprägte innere Stadtrandzone. Besonders fielen die neuen Phänomene an der Grenze zum Sowjetischen Sektor aus dem Rahmen der üblichen Stadtentwicklung. Die Citybildung wurde nicht nur gestoppt, sondern es kam in bestimmten Gebieten auch zu ausgeprägten Rückbildungen. In unmittelbarer Nachbarschaft der Mauer entstanden ungeplant, aber auch geplant spezi-fische Stadtrandelemente. Hierzu ist durchaus auch die Zone der Internationalen Bau-ausstellung in Kreuzberg zu rechnen. In Ostberlin wurde die alte City radikal umgestaltet;

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zugunsten von Repräsentationsfunktionen wurden große Teile der innerstädtischen Flächennutzung nach außen verlagert. Insgesamt ist zu beachten, daß die Flächen-nutzungen zentralstaatlich gelenkt wurden. In diesem Zusammenhang wurden gezielt ältere Stadtrandelemente umgenutzt. Ein markantes Beispiel sind die Großwohnanlagen im Nordosten und Osten, die häufig auf ehemaligen Rieselfeldern entstanden. Ähnlich wie in Westberlin ist deshalb auch innerhalb von Ostberlin eine starke Suburbanisierung festzustellen, während die Suburbanisierung außerhalb der Stadtgrenzen gehemmt blieb. 1989 wohnten im Umland von München bzw. Hamburg prozentual zum Stadtgebiet doppelt so viele Menschen wie im Umland von Berlin. Ein wichtiger Grund darf nicht unerwähnt bleiben. Die ausgedehnten Militäranlagen wurden nicht nur nicht verkleinert, sondern noch erheblich erweitert. Dadurch entstand ein breiter Gürtel um Berlin herum, wo viele Flächen für die zivile Nutzung gesperrt waren. Zusätzlich verstärkte sich auch der Anteil der Industrieflächen in der Zone im unmittelbaren Anschluß an die Stadtgrenze, deren an sich schon gute Verkehrsinfrastruktur noch weiter verbessert wurde.

7. Zeitschnitt 1996 Nach der Wende änderten sich die Rahmenbedingungen grundlegend. Dadurch wurde die Citybildung von Berlin wieder in die "Normal"-Entwicklung der westlichen Weltstädte eingeklinkt. Es treten nun aber auch wieder alte Differenzen bei den Leitbildern in den Vordergrund. Wie schon in den 20er und 30er Jahren standen sich die Befürworter einer Konzentration auf die Entwicklung der Metropole und die Anhänger einer dezentralen Konzentration gegenüber, die der Erhaltung der vielgliedrigen Raum- und Siedlungs-strukturen, der Polyzentralität, Priorität einvermeinten. Die Konzepte für eine Verbindung von Berlin nach Brandenburg sind umstritten. Der Zuschnitt der brandenburgischen Land-kreise wie Tortenstücke mit Verwaltungsmittelpunkten in großer Entfernung von Berlin erschwert ganz sicher die Bildung eines Regionalverbundes. Wie emotionsgeladen die Situation ist, hat sich 1996 bei der Abstimmung über eine Fusion von Berlin und Branden-burg gezeigt, die zu einer Ablehnung dieses Planes führte. Die Suburbanisierung wird in atemberaubendem Tempo nachgeholt; sie konzentriert sich auf den "Speckgürtel" rund um Berlin, besonders auf den südlichen Teil zwischen Stadtgrenze und Autobahnaußenring. Bestrebungen, den Gürtel in "Speckstreifen" zu zerteilen, um neben neuen Siedlungs-ballungen auch Grünflächen und andere Elemente im stadtnahen Bereich realisieren zu können, sind ebenso umstritten wie die gleichmäßige Aufteilung des Zuwachses auf das Stadtgebiet und den "Speckgürtel" von Berlin und schließlich die Förderung der abge-legenen Räume in Brandenburg, die unter einer starken Sogwirkung stehen. Zahlreiche alte Stadtrandelemente wurden nach 1989 aufgegeben, wodurch ein umfangreiches Potential von Flächen zur Verfügung gestellt wurde, die für eine Neunutzung naturgemäß nicht in gleichem Maße geeignet waren. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, im einzelnen auf die ehemaligen Militärflächen und Militäranlagen, die ehemaligen politischen Sperräume wie z.B. Jagdgebiete, die Rüstungsindustrie, die übrigen Betriebe vor allem die Schwer-industrie, die Bergbauflächen, die Rieselfelder, die Intensivlandwirtschaftszonen und die Kleingartenanlagen einzugehen, die nun völlig oder zumindest größtenteils ihre ältere angestammte Nutzung verloren. Ein Teil dieser Flächen wurde durch die neuen Stadtrand-elemente wie Gewerbeparks, Einkaufszentren, Freizeitanlagen und neue Industrie-

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unternehmen genutzt, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß nicht selten auf die grüne Wiese gebaut wurde, obwohl Altflächen zur Verfügung standen. Im Zusammenhang mit dem "Speckgürtel" wurden auch schon die Verteilungen erwähnt, die wenig zer-siedelten Zwischenräume mit einer noch weitgehend intakten Landschaft zu erhalten und Grünzonen zu schaffen. Diese Pläne, die teilweise bereits realisiert sind, zielen u.a. auf die Verbindung von Wald- und Seengebieten und die Festlegung von Großschutzgebieten vor allem in Form von Biosphärenreservaten. Besonders deutlich prallen die verschiedenen Interessen im Potsdamer Gebiet aufeinander, das durch ein Neben- und Zueinander von Altstadt und Neustadt mit den angrenzenden Schloß- und Parkkomplexen, Dörfern und Feldfluren, Wäldern und Seen gekennzeichnet ist. Einige zentrale Teile dieser Potsdamer Kulturlandschaft wurden 1990 als Gesamtkunstwerk in die UNESCO-Liste des Welt-kulturerbes aufgenommen. Es hat sich inzwischen herausgestellt, daß die Kennzeichnung einzelner wertvoller Bauwerke, Ensembles und Parkanlagen nicht ausreicht, um eine ein-malige Kulturlandschaft gegen hohen Siedlungsdruck, die Versiegelung weiter Flächen, den erhöhten Bedarf an Freizeiteinrichtungen, die Verdichtung der Verkehrsströme und die Umstrukturierung der Land- und Forstwirtschaft genügend schützen zu können. Als sehr negativ hat sich auch herausgestellt, daß durch militärische Überlegungen geschaffene raumplanerisch sehr bedenkliche Standorte im Stadtrandbereich nicht einfach beseitigt werden können, sondern nicht selten Ansatzpunkte für eine verhängnisvolle Neunutzung in sensiblen Gebieten wurden.

Nach der "Karte zur geographischen Gliederung von Groß-Berlin" von Herbert Louis. Beilage zu Herbert Louis, Die geographische Gliederung von Groß-Berlin. In: Länderkundliche Forschung. Festschrift Norbert Krebs, Berlin 1936, S.146-171.

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"Industriemetropolen"

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ECKART PANKOKE, ESSEN

INDUSTRIEMETROPOLEN. ZENTRALITÄT, SUBZENTRALITÄT, POLYZENTRALITÄT

IM RUHRGEBIET 1. 'Polis' und 'Regio' "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts": Walter Benjamins Würdigung von Paris als Metropole der bürgerlichen Moderne beleuchtet eine epochale Schwelle, mit der im Zuge imperialer Konzentration und in ihrem Schutz das Geld und der Geist sich in metropolitanen Zentren wie London und Paris zu konzentrieren begannen. So ballten sich hier auch die "sozialen Fragen" zu explosiven Feldern "sozialer Bewegung". Zugleich aber steigerte sich mit dem "Tempo des Lebens" (Simmel) auch kulturelle Dynamik. In Deutschland als "verspäteter Nation" verzögerte sich allerdings auch das Wachstum metropolitaner Strukturen. Vieles hielt sich kulturell wie politisch in der Gemütlichkeit von provinzieller Residenz. Zu Urbanisierungsschüben kam es erst im Zuge der deutschen Reichsgründung und den gleichzeitigen Gründerjahren des industriellen Ausbaus. Neben der Entwicklung der Reichshauptstadt Berlin zur modernen 'Großstadt' - kam es mit der montan-industriellen Kolonialisierung an Rhein und Ruhr zum unkontrollierten Wachstum von 'großer Stadt' - allerdings ohne die Urbanität der bürgerlichen Moderne. Heute liegt die hohe Zeit europäischer Polis-Kultur längst hinter uns. Die sich dem-gegenüber durchsetzenden "post-urbanen" Muster werden besonders deutlich in den neuen sozialräumlichen Formationen von 'Ballung' und 'Streuung', wie sie zu beobachten sind im Ruhrgebiet und dessen Ausuferungen, wo bürgerliche Urbanität wohl nie an Zentralität gewinnen konnte. "Große Stadt und Großstadt": In dieser idealtypologischen Abstufung hatte auf dem Hintergrund der industriellen und urbanen Revolutionen des 19. Jhs. der Geschichtsdenker und Gesellschaftstheoretiker Lorenz von Stein den Verstädterungsprozeß auf den Begriff gebracht. Stein unterstellte damit einen Umschlag des Quantitativen ins Qualitative: das quantitative Wachstum einer ausufernden Verstädterung konnte unter bestimmten Bedin-gungen umschlagen in eine neue Qualität urbanen Lebens. Steins Aufsatz zielte auf die im 19. Jh. zu beobachtende Entwicklung einstiger Residenz-städte zu den weltbeherrschenden Metropolen der industriellen Moderne. Aber: Während die klassischen Metropolen der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur Geld und Güter, son-dern auch Kultur und Intelligenz anzogen und zu produktiven Synergien verdichteten, entwickelten sich die ganz anderen Konzentrationen industrieller Ballung weniger als Kristallisations- und Attraktionszentren bürgerlichen Reichtums, denn als Sammelbecken proletarischer Armut. Die auf der Suche nach Arbeit in die industriellen Zentren getriebenen Arbeitskräfte fanden hier neue Heimat, auch wenn der von ihnen erarbeitete Reichtum der Regionen in Form von Bodenschätzen und Industrieprodukten auf fremde Märkte und in fremde Kassen weitgehend abfließen konnte. Nicht zufällig benannte man die im Schatten der Arbeits-plätze hingesetzten Arbeitersiedlungen als "Colonien".

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Bei der industriellen "Kolonisierung" des Ruhrgebietes blieben die typischen Muster der bürgerlichen Stadtkultur eher unterentwickelt. In diesem dicht bevölkerten Industrie-Revier gab es lange Zeit kaum eine politische Kultur lokaler und regionaler Öffentlichkeit, es fehlte an kultureller Infrastruktur, gerade im Bereich der bildungsbürgerlichen Re-präsentativkultur, es gab weniger höhere Schulen als sonst und bis in die 1960er Jahre keine Universitäten. Die funktionale Rationalität des industriellen Ballungsraumes hat die Region-Rhein-Ruhr gewiß geprägt; doch sind die alten Industriekulturen von 'Kohle und Stahl' heute längst überlagert durch neue Probleme und Potentiale. Andere Muster einer in ihrer Planlosigkeit außer Kontrolle laufenden Verstädterung beobachten wir heute in vielen Regionen industrieller Unterentwicklung. Die heute nicht mehr unter Kontrolle zu bringende Chaotik einer alles überwuchernden Verstädterung in den Mega-Städten wie Mexiko-City, Sao Paulo, Kairo verschärft die Probleme des post-kolonialen Umbruchs, weil die zusammenbrechenden Kolonialgesellschaften eben nicht durch industrielle Arbeitsgesellschaften abgelöst werden konnten, so daß die aus dem Elend und der Enge der ländlichen Überbevölkerung und Unterernährung in die Städte getriebene Massen dort zwar vom Lichterglanz der modernen Welt und den ver-führerischen Versprechungen eines besseren Lebens angezogen werden, jedoch nicht mehr produktive Arbeitsplätze vorfinden, die eine selbstverdiente Mindest-Versorgung garan-tieren. Mit den klassischen Industrie-Metropolen sind diese unkontrolliert wuchernden Megapolen der 'Dritten Welt' in ihrer Konzentration heimat- und arbeitsloser Armut kaum noch zu vergleichen. Gerade deshalb kann der Rückblick auf die geordnete und geplante Raumordnung und Regionalentwicklung der klassischen Industrieregionen lehrreich sein. Das andere Kontrastbild zur Bestimmung der Entwicklungsprobleme und -perspektiven industrieller Ballung ist die mit der Entwicklung von "großer Stadt" zu "Großstadt" in den Metropolen des 19. Jhs. zu beobachtende Urbanität, wie sie sich allerdings in den funk-tionalen Zonen und Zentren der industriellen Revolution damals wie heute nicht ent-wickeln konnte. Für die soziologische Klassik um 1900 wurde die bürgerliche Urbanität der modernen "Großstadt" zum Bezugspunkt sozial- und kulturkritischer Selbstverständigung. Zugleich verdeutlichten die Probleme der modernen Verstädterung die Paradoxien der Moderne: das "eherne Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber) oder die "Tragödie der Kultur" (Simmel). Die Praktiker kommunaler Politik und ihrer Verwaltung wußten damals schon, daß die sich wechselseitig steigernden Modernisierungsschübe von Industrialisierung und Urbani-sierung einerseits an die Grenzen des Wachstums trieben und so den Rahmen klassischer Polis-Kultur sprengen mußten. Zugleich wurde deutlich, daß die Dynamik der neuen Industrieregionen alle älteren Werte der europäischen 'Polis' wie die klassischen Muster stadtbürgerlicher 'Urbanität' weit hinter sich lassen mußte. Beschreibt "Polis" einen sozialen Raum öffentlichen Lebens, so steht "Regio" für die flächendeckend beherrschten und verplanten funktionalen Zonen gesellschaftlicher Pro-duktion und Konsumtion.1 'Urbanität' bedeutet bei der Beschreibung moderner Verstädterung ein sozialräumliches Arrangement, über welches gesellschaftliche Interessen, kulturelle Ideen und politische Ziele bei aller Unterschiedlichkeit öffentlich darstellbar und vermittelbar werden. Die City - als kommerzieller Fokus wie kulturelles Forum - bot die zentralen Treffs 1 Zur Unterscheidung von 'Polis' und 'Regio' vgl. Eckart Pankoke, Polis und Regio. Sozialräumliche Dimen-sionen politischer Kultur, in: Sociologia Internationalis 16, 1977, 30-62.

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urbanen Lebens. Die Medien bürgerlicher Vergesellschaftung - Geld, Macht oder Geist - zielten auf Zentralität, die in den urbanen Zentren und Foren ihren Fluchtpunkt fand. In den modernen Metropolen der bürgerlichen Hochkultur spiegelte sich der Anspruch auf Universalität in kulturellen Verhaltensmustern einer Mondänität, die kulturell überall zu Hause ist, weil sie alles Heimische und Heimatliche als "provinziell' hinter sich läßt. Diese von Weber, Simmel und Benjamin beschriebene Muster moderner Weltläufigkeit scheinen heute jedoch längst in einer sich überschlagenden Mobilität des "jet set" und des "inter-net" von den Metropolen gelöst. Im "Tempo des Lebens" beginnt heute die auf dem Boden klassischer Stadtkultur entwickelte Urbanität diesen Boden zu verlieren. Ist die Kultur der Metropole damit nur noch eine Thema rückschauender Stadtkulturgeschichte? Die kulturellen Muster einer metropolitanen Mondänität scheinen in den industriellen Metropolen überspült und unterlaufen durch sozialräumliche Muster, die sich weniger beziehen auf die Kultur der POLIS, jener durch Gemeinsinn konstituierten Gemeinschaft des Raumes, als auf die Strukturen von REGIO, als den planmäßig beherrschten, ver-messenen und verrechneten Großräumen und Funktionszonen. Damit löst sich urbane wie metropolitane Zentralität auf in die Sub- und Polyzentralität sozialräumlicher Dezentrierung. Dies zeigte sich zunächst in den Ballungsräumen der "großen Industrie", zunehmend aber auch in den Streulagen spätmoderner Dienstleistungs-gesellschaften. In der regionalen Formation industrieller Ballung schien der 'Sinngehalt' (Weber) sozial-räumlicher Gestalt weniger bestimmt als 'freies Feld' handelnder und verhandelnder Bür-ger; auch in der räumlichen Struktur manifestierte sich das 'eherne Gehäuse' (Weber) einer industriellen 'Organisation der Arbeit'. Die industriellen Metropolen entstanden nicht, weil hier die bürgerlichen Interessen an offenen Märkten sich treffen konnten, sondern weil Arbeitskräfte im Zuge industrieller Konzentration hier ihre Erwerbschance fanden. Beispielhaft für die Entwicklung industrieller Ballungsräume wurde das rheinisch-westfälische Industriegebiet, heute 'Rhein-Ruhr-Region', diese alte Industrielandschaft, die sich lange so schwer tat, eine Stadtkultur bürgerlicher Urbanität zu entwickeln. Im logistisch verplanten polyzentrischen Städteschwarm des Ruhrkohlenbezirks wurde die Standortqualität der kurzen und schnellen Wege zwischen Kohle und Stahl das ent-scheidende Motiv der Anziehung an Arbeitskräften und industriellem Kapital. Dieser Trend einer in die post-urbanen Verkehrsverhältnisse und Lebensformen von 'Ballung' und 'Streuung' umschlagenden Industrialisierung fand seinen Höhepunkt - und zugleich Wendepunkt - mit der regionalen Konzentration der Schwerindustrie im Ruhr-gebiet. Dieser im Verbund von Kohle und Stahl im Ruhr-Revier - als "Union der festen Hand" (so Erik Regers Roman des Ruhrgebiets von 1931) - sich festigenden sozial-räumlichen Formationen industrieller 'Ballung' boten in ihrer strukturellen Gewalt der klassischen Stadtkultur bürgerlicher Urbanität keinen Raum mehr. Doch gerade diese wurde zur Herausforderung einer planmäßigen Gestaltung der Industrielandschaft zur Kulturlandschaft. Schon 1912 wurde der Architekt Robert Schmidt vom Regierungspräsident Düsseldorf beauftragt, für den alle bisherigen Maßstäbe sprengenden Ruhrkohlenbezirk einen "General-Siedlungsplan" zu entwerfen. Die hier beschriebenen Folgeprobleme der Indu-strialisierung, welche die Mittel und Maßstäbe kommunaler Selbstverwaltung überfordern mußten, gaben den Anstoß zur späteren Gründung des "Siedlungsverbandes Ruhrkohlen-bezirk" 1922 (SVR, später umgebaut und umbenannt in den "Kommunalverband Ruhr").

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Für die damit neu eingerichtete Planungsinstanz einer regionalen Selbstverwaltung ging es so auch nicht um den Erhalt bzw. die Erneuerung des unter den Bedingungen industrieller Ballung gefährdeten Typus der industriellen Stadt (mit ihrer urbanen und kommunalen Kultur) sondern um Arbeitsstätten und Arbeitersiedlungen und ihre regionale Ordnung und Planung. Doch das Fehlen bürgerlicher wie bürgerschaftlicher Urbanität eröffnet auch neue Wege, hier komplexere und flexiblere Netzwerke entwickeln zu müssen als in den auf Zentralität fixierten Metropolen der bürgerlichen Moderne. 2. 'Tempo des Lebens' Modernisierungstheoretisch ließe sich der Aufbruch und Umbruch ins Industriezeitalter auf die Formel bringen, daß umgestellt wurde von der Bedeutung des Raumes zur Bewertung von Zeit. Nicht mehr das Ethos des Ortes, sondern das "Tempo des Lebens" wurde zur zentralen Bezugsgröße. Die 'stabilitas loci' löste sich auf, in eine sich über alle sozial-räumlichen Grenzen hinwegsetzende funktionale Mobilität. In Simmels berühmtem Aufsatz: "Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens", dem späteren Schlußkapitel seiner "Philosophie des Geldes", wird die Zentralität der großen Städte zum Kristallisationspunkt moderner Tempo-Erfahrung: Hier treffen all die Bewegungen und Beschleunigungen der Moderne aufeinander:

"Die Tendenz des Geldes, zusammenzufließen und sich, wenn auch nicht in der Hand eines Einzelnen, so doch in lokal eng begrenzten Zentren zu akkumulieren, die Interessen der Individuen und damit sie selbst an solchen zusammenzuführen, sie auf einem gemeinsamen Boden in Berührung zu bringen. [...] Diese Tendenz und Fähigkeit des Geldes hat den physischen Erfolg, die Buntheit und Fülle des Lebens und - was eben nur ein anderer Ausdruck dafür ist - sein Tempo zu steigern."2

Zum anderen aber eröffnete erst die Geldbeziehung jene neuen Möglichkeiten der offenen Verknüpfung ("Assoziation") einander fremder und fremd bleibender Menschen - ein Muster des modernen Vergesellschaftungstypus bürgerlicher 'Urbanität':

"Das Geld nimmt den Dingen, und in hohem Maße den Menschen die gegenseitige Unzugänglichkeit, es führt sie aus ihrer ursprünglichen Isolierung in Beziehung, Vergleichbarkeit, Wechselwirkung über. Hierdurch aber entsteht eine außerordent-liche Vermannigfaltigung und Belebtheit der Vorstellungsreihen. Wenn wir die Erhöhung des Lebenstempos in die Fülle und Verschiedenheit der Vorstellungen gesetzt haben, so ist doch als wesentlich zu ergänzen, daß diese Vorstellungen [...] durch Assoziationsfäden verbunden sind." 3

Entscheidend für das Schicksal der großen Metropolen wurde ihre Erreichbarkeit im Netzwerk der modernen Verkehrsverhältnisse. Industrie-Metropolen entwickelten sich dort, wo die Ströme des wirtschaftlichen Verkehrs sich trafen und zugleich mit zu-

2 Georg Simmel, Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens, in: Neue Deutsche Rundschau 8, 1897, 111-122, zit. nach Eckart Pankoke, Gesellschaftslehre, Frankfurt 1991, 776-797, hier 785. 3 Ebd., 786.

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nehmender Konzentration industrieller Massenproduktion die Arbeitskräfte sich 'ballten'. Die Rationalitätskriterien industrieller Rationalität aber kamen in den Zugzwang des industriellen Prinzips von "Zeit ist Geld". War der offene Markt das Symbol der klassi-schen Polis, so symbolisieren moderne Metropolen ihre Zentralität in den großen Bahn-höfen. Industrielle Ballungsräume wie postindustrielle Streulagen strukturieren sich hin-gegen über die Knotenpunkte im Wegenetz eines hochmobilen Nah- und Fernverkehrs des Massen-Transports von Material und Menschen. Ein Unterschied zwischen der für die klassischen Metropolen typischen Zentralität urbaner Verdichtung und der im industriellen Ballungsraum gegebenen Polyzentralität funktionaler Vernetzung kann darin liegen, daß das Erleben und Beherrschen des urbanen Lebensraums sich 'territorial' orientierte, etwa an der urbanen 'Nähe' und 'Dichte' eines gemeinsamen Lebensraumes und ihrer symbolischen Ortsbezogenheit, während industrielle Zentren sich eher funktional organisieren, so daß sich die moderne 'Organisationsgesellschaft' von jeder sozialräumlichen Bodenhaftung tendenziell 'abhebt'. In weitverzweigten Industrieregionen sind die räumlichen Kategorien unmittelbarer 'Nähe' abgelöst durch eher in Zeit- und Transportkosten kalkulierte 'Netze'. Mit räumlich ausgreifender Vernetzung wird Ver-kehrszeit knapp und kostbar. Nicht mehr die räumliche Dichte urbaner Nähe, sondern die zeitsparende Schaltung regionaler Netze wurde zum entscheidenden Standortfaktor indu-strieller Zentren. Die abendländische Stadt prägte in ihrer typischen Sozialgestalt. Dies fand seine "sym-bolische Ortsbezogenheit" (Treinen 1965) in dem auf den Marktplatz zentrierten "Stadt-bild". Darunter verstehen wir weniger die maßstabgerechte Vermessung des Planers als die innere Einbildung der Bürger, die in ihrer 'cognitive map' die Form ihrer Stadt bildhaft ins Reine steigern. Hier erst findet sich Fokus und Forum für marktförmige Kommunikation in der Balance von Wählen und Werben. Anders als im Sog metropolitaner Zentraliät kommt es in der polyzentralen Vielfalt des Ballungsraumes aber weniger zu offenen Szenen als zu geschlossenen Nischen. So kommt es bei der Entwicklung des polyzentralen Ballungsraumes an Rhein und Ruhr immer wieder zu Kommunikationssperren: Die musikalische etwa hat es hier schwerer, auf gleichgesinnte Partner und Publika zu stoßen, als wenn es sich um unterschiedliche Quartiere ein und derselben Stadt handelt. Zum anderen hat auch der Avantgardemusiker im 'Revier' doch noch größeren Rückhalt in seiner Ortsbezogenheit. Er ist nicht nur zu hause in der funktional ins Reine gesteigerten Musik-Szene, sondern auch das Speziali-sierte und Profilierte findet zugleich Resonanz in der Kulturszene "vor Ort". Die große Stadt war der Ort zunächst einer repräsentativen Öffentlichkeit; aber die Metro-pole ist zugleich der Ort nicht nur von Repräsentativkultur, sondern von Reflexionskultur. Hier ist der Treffpunkt der Intelligenz, also nicht nur das ökonomische und politische Zentrum, sondern auch das modische und kulturelle Forum. Stadtkultur bietet ein Klima, sich das Fremde nah zu machen, sich sensibilisieren zu lassen für das Andere. Nicht Repräsentanz eines Allgemeinen, sondern Toleranz wird dann zum Leitbegriff einer post-urbanen Metropol-Kultur. Metropole Kultur, das bot die Konzentration des Repräsentativen. Die "Scala" wird zur 'Skyline', zur ins Virtuose gesteigerten Spitzenleistung. Hier findet Repräsentation ihre öffentliche Präsenz. Weltstadtkultur, das ist Life-Kultur, dort lebt, was sich sonst nur aus der Konserve bietet. Zu beachten ist allerdings, daß die bildungsbürgerliche Repräsentativkultur an vor-

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industriellen Produktivitätsmustern festhält. Orchester, Theater, Oper: das läßt sich eben nicht nach der Logik von Kulturindustrie industrialisieren, nicht einmal rationalisieren. Wir haben es hier mit personell extensiver wie intensiver Produktivität zu tun. Zugleich gibt es im Umfeld der ästhetischen Produktivität immer auch vielfältig Handwerkliches. Wir wissen aus der Dienstleistungsökonomie, daß gerade bei der sozialen und kulturellen Infra-struktur des Kultur- und Wohlfahrtsstaates die Betriebskosten, vor allem die Personal-kosten heute in die Höhe schnellen, letztlich so hoch, daß sich über den Markt keine adäquate Nachfrage mehr wird identifizieren lassen. Gerade die Oper - als der symbolische Ort metropolitaner Hochkultur - kommt in Preis-Kosten-Relationen hinein, die ein Über-nehmen fraglich werden lassen; den reellen Preis für die nach oben schnellenden Produktionskosten will niemand mehr zahlen. Über den Markt der unmittelbaren Publika lassen sich die Produktionskosten nicht mehr einspielen. Bald können die Herstellungs-kosten für "Life-Kultur" durch Präsenz-Publikum nicht mehr aufgebracht werden. Während in der hohen Zeit bildungsbürgerlicher Repräsentationskultur es großstädtische Zentralität noch möglich machte, ein Publikum zu sammeln, vor dem auch aufwendige Präsentation sich lohnen könnte, sind die Kosten dafür über kulturelle Märkte kaum mehr aufzubringen. Auch qualitativ stößt der stadtbürgerliche Kulturbetrieb an Grenzen, wenn das Reprä-sentative sich auflöst ins Plurale. Doch die komplexe Pluralität post-moderner Perspektiv-Kulturen ist über Präsenzpublikum kaum mehr zu finanzieren. Gerade weil unter den Bedingungen kultureller Ballung die infrastrukturellen Herausforderungen der städtischen Entwicklung, der wirtschaftlichen wie kulturellen Versorgung den Rahmen klassischer Stadtpolitik, selbst Großstadtpolitik zu sprengen drohen, stellen sich Fragen und Forderungen nach einer institutionellen Umstellung auf großformatigere Lösungen. Die post-moderne Stadt ist allerdings kaum mehr der Ort, in der sich über Repräsentations-kultur ein repräsentativer Gemeinsinn als Konsens vermittelt. Vielmehr ist die moderne Stadt jener Bereich, indem sich Besonderheit in ihrer Verschiedenheit profilieren kann. Hier findet der Kenner die vielfältigen Spielstätten, in denen sich die musikalischen Sub-kulturen, sei es Klassik oder Folk, Pop oder Avantgarde alltäglich in ihren Szenen repräsentieren. Was die Metropole ausmacht, ist, daß auch das Exklusive, Exotische oder Exzentrische einer kulturellen Szene ihre öffentliche Präsenz und Resonanz finden kann. 3. Regionalkultur zwischen Ballung und Streuung Daß die Entwicklung zur "großen Stadt" und die damit verbundene Aufhebung und Auflösung räumlicher Verbundenheit neuartige soziale und auch politische Folgeprobleme nach sich zog, wurde bereits von den Klassikern der Großstadtkritik herausgestellt, wobei im Begriff der "Entfremdung" das "Fremdwerden" sozialräumlicher Bezüge bildhaft wird. Längst aber scheinen die klassischen Leitbilder von 'Polis-Kultur' und 'urbaner Lebens-führung' aufgelöst in den post-urbanen Formationen mobiler Vergesellschaftung, in 'Ballung' und 'Streuung'. Schlüsselfigur mobiler Lebensführung wurde der Pendler, dem es zur Alltagsroutine geworden war, die private Lebenswelt von anderen Funktionszonen - insbesondere von den Produktions- und Konsumptionsstandorten - räumlich abzukoppeln. Voraussetzung war hier die Möglichkeit und Bereitschaft, von einer verkehrsgünstig plazierten Randlage aus

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unterschiedlichste Angebote und Anregungen erschließen zu können. Bezugsrahmen urbaner Freiheit war dann allerdings nicht mehr die lokale Vertrautheit und zugleich kommunale Öffentlichkeit der Polis, sondern der in der Vielfältigkeit punktueller Optionen polyzentrische Großraum.4 Auf der Schwelle zur westdeutschen Motorisierungswelle konnte der damals im Großraum Hamburg lebende Soziologe Helmut Schelsky an seiner eigenen Pendlersituation zwischen City und einem zentrifugalen Gürtel der Streuung ins Grüne demonstrieren, wie unter der Bedingung regional mobilisierbarer Bedarfsorientierung "im Leben des Großstädters die Arbeit immer sachlicher, die Freizeit aber immer privater geworden ist". So fungierte der Wohnbereich nur noch als ausgelagerter Drehpunkt, von dem aus - entlastet von sozial-räumlicher Verbundenheit - ein weitgefächertes Optionen- und Interessenspektrum je nach "Neigung und Belieben", weiträumig mobilisiert werden konnte. Das Pendeln zwischen funktionalen Zonen, die Ausdifferenzierung bedarfsgerechter Ver-sorgungssysteme und die damit verbundene Mobilität funktionsorientierter Bedarfs-deckung führte zu gegenläufigen Tendenzen der Siedlungsentwicklung - je nachdem, ob das Wohnverhalten mehr auf den "Arbeitskern" oder mehr auf den "Freizeitmantel" bezogen war. Gemeinsam ist beiden Siedlungstypen, die typologisch mit dem Begriffspaar "Ballung" und "Streuung" zu unterscheiden sind, die Ablösung und Auflösung des stadt-bürgerlichen Lebensstils. Zwischen einer auf industrielle und administrative Zentren zen-trierten Arbeitswelt und den weit ins Weichbild der Städte ausstreuenden Wohnbereichen vermittelt nun eine sich ausweitende Mobilisierung durch private Motorisierung. Die Transformation des Orientierungshorizontes "große Stadt" zum regional geplanten "Großraum", in welchem auch die individuelle Lebensführung über Zeitpläne und Fahr-pläne, über planmäßige Aktionen des "Groß-Einkaufens" und des "Groß-Ausgehens" ratio-nalisierbar wurde, fand längst seine Entsprechung in weiträumig orientierten Konzen-trationsbewegungen des Konsum- und Freizeitangebotes. Auch hier wird eine auf Pendler-Mobilität setzende Angebotsstruktur deutlich mit der Verlegung von wohnungsnaher Versorgung in die funktionalen Zentren von Kulturindustrie und Massenkonsum. Aller-dings stellt sich die Frage, ob dieses planmäßig angelegte Netzwerk funktionaler Orien-tierungsschienen den kulturellen und politischen Orientierungsrahmen der Polis nicht sprengen muß. Sozialräumliche Verbundenheit erscheint dann allenfalls noch als elementares "Inter-aktionssubstrat", (Luhmann) dessen Reichweite auf Horizonte "situationsgebundener Wahrnehmungsräume" reduziert bleibt.. Doch mit der zeitlichen Schrumpfung der Distan-zen werden die räumlichen Bezüge immer dünner: war es die Folge des Bahnverkehrs, daß sich um die großen Bahndrehpunkte die Zentren industrieller Verdichtung konzentrierten, so erfahren wir heute als die sozialräumliche Folge motorisierter Individualmobilität, daß nur der Ballung meiden kann, wer sich Streuung, also weite Wege, leisten darf. So siedelt man möglichst weit weg von den Verkehrsknoten im Grünen. Doch der demonstrative Anspruch auf private Mobilität hält den Nachbarn auf Abstand. Geselligkeit findet sich nun nicht mehr über die Gemeinschaft wohnlicher Nähe, sondern muß jeweils weit her-geholt werden. Gerade die Pflege von lockeren Netzen kostet Weg und Zeit. 4 Vgl. Helmut Schelsky, Ist der Großstädter wirklich einsam?, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Köln 1970, 305-310.

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4. Raumordnung und Regionalentwicklung im Ruhrgebiet Bei einer Bewertung der Raumordnung und Regionalentwicklung in der Rhein-Ruhr-Region ist zu bedenken, daß das Ruhrgebiet sich in seiner Kolonisationsphase auszeichnete durch enge Räume und kurze Wege. Die weiträumig eingeworbene Arbeitsbevölkerung wohnte in den 'Kolonien' in unmittelbarer Nähe zu den Arbeitsplätzen von Kohle und Stahl. Auch die anderen Bezugspunkte wie Konsum, Kneipe und Kirche lagen in einer Reichweite, die von den Planern treffsicher als "Pantoffel-Meile" charakterisiert wurde. Erst die Montankrise brachte die Menschen dann auch im Berufsverkehr in Bewegung. Heute ist das Ruhrgebiet als Verkehrslandschaft geprägt durch intensive Automobilität, extensive Staus und eine nur selektive Nutzung der Angebote des öffentlichen Nah-verkehrs. Die Landesplanung NRW der 1970er Jahre versuchte die anstehende Modernisierung des Ruhr-Reviers mit der anschwellenden Motorisierung zu koppeln. In neuer Rasterung sollte die Region durch ein enger gezogenes Gitterwerk neuer Schnellstraßen parzelliert werden. Ins Kreuz der Verkehrsschneisen sollten dann jeweils funktionale Zentren, insbesondere Einkaufszentren für die schnelle und komfortable Marktentnahme, gelegt werden. Zwischen den Siedlungsschwerpunkten in den seit den 1920er Jahren durch die Frei-raumplanung des damaligen Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk (SVR) unbebaut be-lassenen sog. "Verbandsgrünstreifen" sollten sog. "Revierparks" auch das Freiheit- und Grünangebot polyzentral konzentrieren und so rationalisierbar machen. "Ein 10 x 10 km Neutralraster von Autobahnen und Schnellstraßen, von regionalen Supermärkten und regionalen Freizeit- und Amüsierparks sollte die quartiersbezogene Versorgung ergänzen, was unter Größen- und Preiskonkurrenz hieß, sie mehr und mehr ruinieren".5 Doch eine Regionalpolitik der funktionalen Konzentration im Verbund mit einem Umbau aus der Fläche in die Höhe erwies sich mit den im Ruhrgebiet eingelebten Wohn-gewohnheiten nicht kompatibel. Der Straßenbau verschlang bald die Kosten, die eigentlich für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gefordert wären. Gravierender noch schienen die mit diesem Konzept der polyzentralen Konzentration verbundenen Sanierungsprobleme der Wohninfrastruktur. Die neue Wertigkeit von Immobilien in zentraler Verkehrslage für eine neue "Gentry" von Wohnungseigentümern mußte zugleich zu der Verdrängung älterer Mietpopulationen führen. ("Gentrification") Die ökologische Aufwertung der residentiellen Lebensweise und der Rückkehr in die urbanen Kerne hat allerdings ökonomische Folgen, insofern die neue Residenz in der City andere Nutzungen und Nutzer verdrängen könnte: Zu beobachten ist eine neue Klassen-bildung, in der sich die ökonomische Umwertung ökologischer Standortfaktoren durch-setzt. Das Unbehagen an den weiten und schnellen Wegen der Tempogesellschaft lädt eine neue Avantgarde dazu ein, zurück in die Stadt zu ziehen. Die neue Attraktivität urbaner Dichte wird zum Trend-Setting für neue Stadtkultur. Der soziale Gebrauchswert von Zentralität im Ballungskern steigt. Und das verkehrsaufwendige Aussiedeln in die wohn-kostengünstigere Streulage überläßt man den jungen Familien und alten Leuten, die aus den teuren Städten verdrängt werden. So verändert der neue Gebrauchswert des City-Wohnens auf dem Wohnmarkt auch die Tauschwerte. In dem Maße wie die neue Gentry der überdurchschnittlich solventen und mobilen Yuppies und Singles in die City zurück- 5 Sebastian Müller, Der Niedergang von Stadt im Ruhrgebiet. Mit Strukturpolitik hat er nicht aufgehört, in: H.G. Helms (Hg.), Die Stadt als Gabentisch, Leipzig 1992, 268-281, hier 276.

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strömen und damit dort nicht nur der Wert von Wohneigentum, sondern auch der Geschäfts- und Dienstleistungsflächen ansteigt, führt dieser Prozeß der 'gentrification' und ihrer Steuerung und Verantwortung zur Verdrängung der eingesessenen Stadtbevölkerung. Das soziale Gefälle der Segmentierung zwischen Kern- und Randbezirken beginnt sich zu drehen. Während früher die modernen und mobilen Schichten die urbanen Verdichtungs-zentren eher meiden wollten und in weit abgelegener Streulage ihr grünes Glück suchten, wird es künftig eher umgekehrt sein: die explosiven Wohnkosten in den exklusiven Verdichtungskernen werden sich bald nur noch diejenigen leisten können, die hier ohne großen Verkehrsaufwand attraktive Wohn- und Arbeitsplätze zu verbinden. Durch die hohen Wohnkosten verdrängt werden insbesondere die älteren Menschen, aber auch Familien mit Kindern, die nun in Billigregionen ausweichen, die weniger angebunden sind an die immer schnelleren Trassen für das 'Tempo des Lebens'. Auch dies spiegelt und steigert die "Gesellschaftsspaltung" - nun auch in Mobile und Immobile. Nur langsam begann das Umdenken und Gegensteuern: Eine neue Weichenstellung markierte die Ruhrgebietskonferenz mit der landesplanerischen Zielvorgabe: "Abbruch der regionalisierten Sicht und Stopp der Flächensanierung. Lokale, städtische Raumentwick-lung und Stärkung der sozialen Netze in Wohnquartieren". Der Ausbau der Schnellstraßen sollte ein Gegengewicht finden im quartiersbezogenen Verbund von Verkehrsberuhigung und Wohnumfeldverbesserung. "Straßen und Plätze sollten für Fußgänger, Radfahrer, Kinder und alte Menschen" zurückgewonnen werden, so die Forderungen eines mini-steriellen Runderlasses für die behutsame Modernisierung einer "kleinteiligen, erhaltenden Stadterneuerung."6 5. Koordinaten und Codierung neuer Mobilität Frühe Sensibilität für Brüche der Moderne entwickelte Georg Simmel: In seiner "Sozio-logie des Raumes" weist er darauf hin, daß ein sozialer Raum nicht nur geographisch zu vermessen und zu begrenzen ist, sondern immer auch als soziale Gestalt und Gestaltung soziologisch zu beobachten und zu beschreiben ist, also nicht nur als "eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern auch als eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt".7 Soziologische Regionalforschung wird neben der Rekonstruktion sozialer Infrastruktur daran interessiert sein, jene Deutungsmuster, Orientierungs- und Organisationsprinzipien zu rekonstruieren, die das 'sozialräumliche' Verhalten dokumentieren und programmieren: Über welche Muster also konstituiert sich die gesellschaftliche Wirklichkeit sozialer Räume? Die dabei bewußt werdende Frage, ob im industriellen Ballungsraum die räumliche Dimension und Definition sozialer Wirklichkeit an Bedeutung und Deutlichkeit verlieren könnte, stellt sich heute unter der Bedingung der Pluralisierung und der Indivi-dualisierung der Lebensstile gewiß schärfer. Unsere Fragen nach der räumlichen Wirkung des Sozialen und der sozialen Bedeutung des Räumlichen stellen sich im Blick auf die sich abzeichnende Post-Moderne einer post-industriellen und post-urbanen "Erlebnisgesell- 6 Ebd., 278. 7 Georg Simmel, Soziologie des Raums, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung, und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 27, 1903, 32.

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schaft" neu und anders. Das neue Interesse für die 'innere Form' gesellschaftlicher Wirklichkeit und für die Rekonstruktion der 'cognitive maps' ist nicht nur eine methodische Mode. Soziologische Methoden spiegeln immer auch historische Konfigurationen. Viel-leicht ist die derzeit beobachtbare Erosion der sozialräumlich verankerten sozial-moralischen Milieus und der strukturell wie kulturell erklärbare Individualisierungsschub ein Grund, daß die räumliche Dimension neu zum Problem wird.8 Vor allem die jüngere Generation fixiert sich weniger auf die heimatlichen Ligaturen, sondern orientiert sich eher an den Optionen weiträumiger Vernetzung:

"Wir setzen uns in Duisburg in den Zug und fahren nach Düsseldorf mit der S-Bahn oder nach Köln. Ist ja nicht weit, nicht einmal eine Stunde Bahnfahrt. [...] Es ist ja eben ein Ballungsgebiet, im Prinzip ist man ja in fünf Minuten in der einen Stadt und dann ist man schon wieder raus in der anderen. Es ist ja alles eins, man merkt das gar nicht."9

Vieles spricht dafür, daß sich auch in der Umstellung der kognitiven Kartierung ein Generationsbruch abzeichnet: von der Arbeitsgesellschaft zur 'Erlebnisgesellschaft'. Viel-leicht bedeutet die Pluralisierung und die Individualisierung der Lebensstile auch ein anderes Verhältnis zum Raum, der nun bewußter in seinen Optionen akzeptiert und akti-viert werden kann. Nehmen wir die jüngere und mobilere Aktivbevölkerung in den Blick, so rückt ein neuer Typ ins Bild. Ein junges erlebnisrationales Konsumverhalten, das mit Fahrplan, Ver-anstaltungsplan und Straßenkarte sich eine kognitive Kartierung bildet, in der die Region als polyzentral vernetzter Options- und Aktionsraum an Attraktivität gewinnt. In dieser Altersgruppe scheint der ältere Typ des sozialräumlich und soziokulturell eingebundenen Milieus allerdings längst abgelöst durch polyvalent vernetzte 'Szenen', deren Ortsbezug nicht mehr durch Tradition vorgegeben sind, sondern wo die Wirklichkeit des Sozialen bewußt konstituiert wird als Programm und Projekt, Konstrukt und Kontrakt, Konsens und Konflikt. Die Beobachtung der neuen Reichweiten und Maßstäbe regionaler 'Märkte' - sowohl für die Anbieter wie für die Nachfrager - bestätigt zunächst, daß mit den neuen Verkehrs-techniken weiträumiger Orientierung und Mobilisierung sich der Horizont der sozial-räumlichen Orientierung ins 'Regionale' (hier im Sinne von 'überörtlich') gewandelt hat. In diesem quantitativen Trend (der sich auch messen läßt etwa in der Marktforschung durch eine Kontrolle der Kaufkraftströme oder der kulturellen Einzugsbereiche durch Besucher-analysen) ist nicht nur eine sich ausweitende Mobilität der Nachfragen nach Konsum oder Kultur zu erkennen, sondern auch ein qualitativer Wandel funktions- und sozialräumlicher Orientierung. Doch mit der Steigerung der 'Optionen' durch die Weitung der Märkte stellt sich zugleich die Frage nach einer neuen Gestaltung von Ligaturen. Es ist zu vermuten, daß die Ligaturen des Ortsbezuges sich mit der weitläufigen Attraktivität der Optionen lockern. 8 Vgl. Detlef Briesen/Jürgen Reulecke, Regionale Identität und Regionalgeschichte. Kognitive Kartografie und die Konstruktion von Regionalbewußtsein durch Geschichte am Beispiel des Ruhrgebiets, in: Wendelin Strubelt (Hg.), Entwicklungen und Probleme der Agglomerationsräume in Deutschland, Bonn 1994. 9 Vgl. Christa Becker/Ulf Matthiesen/Hartmut Neuendorff u.a., Kontrastierende Fallanalysen zum Wandel von arbeitsbezogenen Deutungsmustern und Lebensentwürfen in einer Stahlstadt, UMBRÜCHE. Studien des Instituts für empirische Kultursoziologie, Dortmund, 1987.

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6. Von der 'Metropole' zur 'Megapolis' Wie sehr 'schnelle Wege' immer wieder die Koordinaten von Raum und Zeit verändern können, zeigt aber auch die Beschleunigung des europäischen Verkehrssystems durch den neuen Kanaltunnel, womit nun London mit den westeuropäischen Metropolen durch Schnellverkehr verbindbar wird. Auf Zukunft setzt die Großbaustelle des auf jährlich 30 Millionen Passagiere angelegten Euro-Terminals in der nordfranzösischen Industriestadt Lille als neues Verkehrszentrum zwischen London (die Fahrzeit schrumpft von 7 auf 2 Stunden), Paris (1 Stunde) und Brüssel (30 Minuten), der im Radius von 700 Kilometern Schnellverkehr für 70 Millionen Menschen erreichbar wird. Schon jetzt spekuliert die Planung auf megapole Großveranstaltungen für Kultur und Kommerz, auf den bequemen Treffpunkt für Euro-Konferenzen, aber auch auf einen günstigen Standort für Großbüros und die Kommandozentren multi-nationaler Organisationen. Gegenüber der Attraktivität und Rentabilität einer solchen Europolis könnten dann die klassischen nationalen Haupt-städte ihre Zentralität verlieren. Die Auswirkungen des für die nächsten 20 Jahre geplanten Ausbaus des europäischen Schnellbahnnetzes von jetzt 12.000 km auf 30.000 km wird die soziale Gestalt der europäischen Städte entscheidend verändern:

"Der erschreckende, aber unaufhaltsame Umbruch des Städtebaus [...] besteht darin, daß vormals stabile Raum- und Ortsgefüge durch den Hochleistungsverkehr radikal verzeitlicht und abstrahiert werden. Je näher der Massentransport die ortlose, in-stabile Peripherie an die alten Zentren heranrückt und je mehr diese Ränder in Kon-kurrenz zur Mitte treten, desto schwächer und überflüssiger werden die tradierten städtebaulichen Ordnungen, die solche Kräfte und Baumassen nicht mehr aus-halten."10

An Rhein und Ruhr sind die aktuellen Tendenzen der raumplanerischen Konversion alter Industrielandschaften zu einer neuen, megapolen Zentralität für Kommunikation und Kommerz allerdings umstritten. Die planmäßige Durchsetzung überregionaler Zentren, womit die Kaufkraftströme nunmehr im Europa-Horizont mobilisiert und konzentriert werden sollen, könnte die polyzentrische Balance des alten Ruhrgebiets empfindlich stören, wenn nicht zerstören. Hinzuweisen ist auf die umstrittene Konversion der riesigen Industriebrache im geräumten Montan-Zentrum bei Oberhausen zum kommerziellen wie kulturindustriellen Großprojekt "Centr-O", das die umliegenden Subzentren von Duisburg bis Essen zu 'deplazieren' droht. Im globalen Maßstab kommt es zu neuem Zentralisierungsschub: Die einst in den Metro-polen konzentrierten Schaltstellen der Weltmacht, der Weltwirtschaft, des Weltverkehrs und einer Weltkultur scheinen sich heute aufzuheben in neuen Mustern megapolitaner Vernetzung. Zugleich sehen sich die klassischen Industrieregionen an den Rand gedrängt, zumal sich die industrielle Ballung von Arbeitskräften im Informationszeitalter mehr und mehr als dysfunktional erweist. Neben neuer 'Ballung' um die zentral gelegenen 'Termini' der europäischen Verkehrs- und Kommunikationsnetze beobachten wir aber längst noch andere Trends. Neue Kommu-nikationsmedien, die schneller schalten als Körper sich bewegen lassen, verbinden in 10 Michael Mönninger, Der Angriff der Zukunft auf den Raum und die Zeit. Londons neuer Vorort Lille. Der Knotenpunkt europäischer Schnellzüge wird umgekrempelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.01.1994, 31.

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radikaler Simultanität die Terminals der Kommunikationsgesellschaft, unabhängig vom Standort. Eine gewiß radikalere Form, "den Raum zu töten" - so Heinrich Heine vor 150 Jahren mit Verweis auf die neue Eisenbahn - entwickelt sich längst mit der gesellschaftlich expandierenden Nutzung von Elektronik und Telematik. In diesem 'postmodernen' Raum werden keine Körper, sondern nur noch Informationen bewegt. Damit sind Tendenzen markiert, die eine zumindest partielle Irrelevanz klassischer Raumordnung signalisieren mögen. Tendenzen eines solchen 'Verkehrs ohne Körper' lassen sich heute überall beobachten. Die sozialräumlichen Folgen einer solchen Entwicklung führen möglicherweise aber auch zu neuen Formen einer 'residenziellen Lebensweise', für welche die Anwesenheit an anderen Orten überflüssig wird, weil man sich jederzeit in Echtzeit 'einschalten' kann. Wer in großer Reichweite und Beziehungsdichte kommunizieren will, bleibt künftig besser "zu hause" am Terminal. Oder aber: Wird neuer Bewegungsdrang in der Freizeit dann zur Kompensation für die Abstraktionsschübe der auf Elektronik fixierten Arbeitsplätze? Führt dies nun zu einem Verlassen der Zentren megapoler 'Ballung' und zu einer ausufernden "Streuung" ins Grüne und damit zu einer weiteren Mobilisierung des Individualverkehrs, der sich allerdings nicht mehr programmiert über die Erfordernisse des Berufsverkehrs, wohl aber durch die sozio-kulturelle Dynamik einer post-industriellen wie post-urbanen 'Erlebnisgesellschaft'? Wer-den nun auch die post-urbanen Strukturen industrieller Ballung auflösbar in die neuartigen sozialräumlichen Konstellationen der globalen Kommunikationsgesellschaft? Im 'internet' der 'digitalen Stadt' wird urbane Nähe durch eine globale Omni-Präsenz überspielt. Die bisherigen Standortfaktoren urbaner oder industrieller Modernität sehen sich heute unter den neuen Mustern telematischer Vernetzung entwertet. Die Ablösung der Kommunikation von den Kostenfaktoren 'Raum' und 'Zeit' ermöglicht sozialräumliche Formationen in beliebiger 'Streuung'. Die kommunikative Utopie vom 'globalen Dorf' verbindet sich durchaus mit post-urbanen wie post-industriellen Mustern einer 'Verdorfung' des Alltags. Im Horizont einer auf uns zukommenden 'globalen Streuung', die sich längst von den Lebensformen einer urbanen Verdichtung wie auch von der regionalen Vernetzung industrieller Ballung abzulösen beginnt, konnte der Rückblick auf ältere sollten wir die jeweils durch Zentralität strukturierten Muster und Werte klassischer Urbanität wie auch industrieller Regionalität durchaus auch Kriterien festigen, die aktuellen Tendenzen einer sich beschleunigenden Entstädterung des (post-)modernen (posturbanen) Lebens kritisch zu beobachten. 7. Ausblick: Kulturentwicklung in der Rhein-Ruhr-Region Vielleicht eröffnen sich heute im Ruhrgebiet, gerade weil sich nie die Zentralität und Kon-zentration einer bürgerlichen Kultur-Metropole entwickeln konnte, besondere Chancen, daß sich hier in einer "Kultur vor Ort" noch sozialräumlich und lebensweltlich ein-gebundene Felder und eine dichte Vielfalt kultureller Szenen lebendig bleiben - bewußt auch als Alternative zu den Mega-Kulturen kommunikationsgesellschaftlicher Globali-sierung. Die dem alten Revier oft angelastete kulturelle Rückständigkeit könnte dann aktiviert werden als Widerständigkeit gegen kulturindustrielle Gleichschaltung.

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Heute scheint in den kulturellen Bereich Bewegung zu kommen: Dies eröffnet Chancen der regionalen Kulturentwicklung von der Industrieprovinz zur Kulturregion. Steht das Provinzielle für die Schranken selbstgenügsamer Geschlossenheit, so steht das Regionale für eine Öffnung der Horizonte, für den innovativen Sprung über die Schatten von Rat-häusern, Kirchtürmen und Fabrikschloten. Was sich kulturell ereignet in Bottrop oder Herne, bleibt längst nicht mehr lokal, sondern wird beobachtet und verhandelt in regionaler Öffentlichkeit und Offenheit. Der 'Blick über den Tellerrand', wie man hier sagt, und der unmittelbare Austausch mit kulturellen Ak-teuren rundum schafft kooperative Netzwerke und damit professionellen Kontext, wie er sich kaum entfalten würde, wenn man selbstherrlich unter sich bliebe. Konkurrenz steigert das Geschäft, Kommunikation hebt das Niveau und Konflikt treibt auf neue Wege. Daß sich die Ruhrgebietspolitiker, auch im Policy-Feld "Kultur", wechselseitig beobachten und untereinander kennen und treffen, wird dann zur Chance institutioneller Lernprozesse. Auch die Gegenseite, das freie Feld der 'autonomen' Initiativen und Alternativen stellt sich im Horizont regionaler Vernetzung anders dar, als im Alleingang der lokalen Arenen. Was für die Skyline gilt, die Ausstrahlung und Anziehung in weite Einzugsbereiche, gilt auch für Alternativen und Avantgarden. Auch hier sind Sympathisantenfelder und Bündnis-bereiche weiter geschnitten als in den Solitärstädten mitten in der Provinz, wo kulturelle Experimente "allein auf weiter Flur" es offensichtlich schwerer haben, sich durchzusetzen. Zumindest für die kulturelle Entwicklung dürfen wir heute hoffen, daß die Region zu aktiver Öffentlichkeit zusammenwächst, wobei der 'Maßstab Ruhr' gewiß nicht mehr in den weitgesteckten Grenzen des einstigen 'Ruhrkohlenbezirks' zu identifizieren ist. Zeichnen sich doch gerade im Kulturbereich neue Konstellationen regionaler Zusammen-arbeit ab, die bewußt kleinräumiger geschnitten sind als das alte Montanrevier, die aber gerade deshalb im überschaubaren Rahmen regionaler Nachbarschaft zu intensiverer Zusammenarbeit finden - wie der Aufbruch eines sich selbstbewußt entwickelnden "Kulturraums Niederrhein" oder jetzt die zu regionalen Abstimmung sich neu formierende Vernetzung der Teilregion Emscher-Lippe. Immer wenn im Ruhrgebiet neue Wege gesucht werden, bilden sich solche Kristallisations-punkte regionaler Öffnung. Dazu zeigen die Suchprozesse zur "Internationalen Bau-ausstellung Emscherpark"(IBA), daß Kultur in der Region farbiger wird, wenn sich Hori-zonte öffnen und innere Vernetzung die Kombinatorik steigert. Entscheidend aber wird, daß im dicht besetzten Städteschwarm, nicht alle einheitlich das Gleiche bieten, sondern die Möglichkeiten einer bewußt regionalen Steuerung von Nach-fragen und Angeboten zur Chance werden, das Besondere nicht nur zu erhalten, sondern in seiner Vielfarbigkeit zu steigern. Erst die Regionalisierung des kulturellen Lebens eröffnet neue Wege und Netze einer Differenzierung und Profilierung der Angebote. Dabei geht es gewiß auch um die ver-führerische Möglichkeit, das Kulturleben umzustellen von der Förderung durch Stadt und Staat auf das Steuerungsprinzip Markt. Dabei könnten die neuen telematischen Medien und Techniken einer "Stadt im Netz"11 auch der Aufmerksamkeit für kulturelle Angebote neue Horizonte eröffnen. Doch sollte bewußt bleiben, daß der öffentliche Kulturauftrag sich nicht dadurch abwälzen läßt, daß man die Künste den Kräften des Marktes ausliefert. 11 Vgl. Ökologie-Stiftung NRW/Heinrich-Böll-Stiftung (Hgg.), Stadt im Netz, Medien. Markt. Moral 2, Essen 1996.

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Zu lernen wäre deshalb eher von dem mobilen, flexiblen und reflexiven Such- und Wahl-verhalten eine neuen Kulturpublikums, das sich bewußt regional zu orientieren und zu organisieren beginnt. So wie die kulturell aktiven Szenen ihre kulturellen Anlaufstellen re-gional zu vernetzen wissen, könnte kommunale Kulturentwicklung neues Profil gewinnen, wenn sie für innovative Lernprozesse und für regionale Netzwerke offener wird. Die Wege zum Nachbarn sind kürzer geworden, die geschlossenen Milieus längst auf-gebrochen. So ist es zwischen Ruhr, Emscher und Lippe kaum mehr schwierig, sich bei gleichem Sinn und gleichem Interesse zu treffen und auszutauschen, etwa innerhalb der 'Kulturpolitischen Gesellschaft', im Rahmen parteiinterner Willensbildung, in kirchlichen Akademien, alternativen Nischen oder universitären Seminaren. Wirksam als Foren kulturpolitischer Selbstverständigung werden heute auch neue In-stanzen und Instrumente der regionalen Steuerung und Selbststeuerung, wie die vom Land Nordrhein-Westfalen für die Koordination zwischen den Städten eingerichteten "Sekre-tariate für Gemeinsame Kulturarbeit", die immer wieder zu 'rundem Tisch' rufen und damit eine Professionalisierung der Akteure und so auch die Profilierung der Programme ent-scheidend vorantreiben. Was an innovativer Dynamik sich bei regionaler Koordination und Kommunikation entfalten läßt, zeigte der von über 30 Städten lokal wie regional geführte Diskurs "Kultur 90 Forderungen der Gesellschaft an die kommunale Kulturpolitik". Bedeutet 'Post-Moderne', daß die Komplexität kultureller Dynamik nicht mehr durch eindeutige Muster zu repräsentieren ist, sondern kulturelle Vielfalt neuen Bewegungsraum fordert, so wird auch im Ruhrgebiet die Autonomie kultureller Felder im Horizont regio-naler Profile zum entscheidenden Kriterium für die Lernfähigkeit kommunaler Politik und zugleich für die Lebendigkeit 'offener Gesellschaft'. Schließlich wäre bei aller grenzübergreifenden Dynamik verkehrstechnischer Erschließung und telematischer Vernetzung im Ruhrgebiets daran zu erinnern, daß die Sozialkultur des alten Reviers gründete in einer ‘starken Kultur’ der sozialen Nähe. Davon zeugt ein heute immer noch lebendiges Gemeinschaftsleben und Vereinswesen auf der Ebene der Wohn-siedlungen und Stadtteilen. Diese Sozialformen bürgerschaftlichen Engagements gewinnen heute neues Interesse, nicht nur auf theoretischen Foren eines modisch gewordenen Kommunitarismus-Diskurses sondern auch in den praktischen Belangen als Gegengewicht zur Verknappung der öffent-lichen Mittel und der Verengung kommunaler Spielräume. Im Sinne einer Sicherung und Weiterentwicklung der soziokulturellen Infrastruktur könnten gerade die Lernprozesse einer regionalen Vermittlung und Vernetzung dazu beitragen, daß das ruhrgebietstypische Vereinswesen, insbesondere die in lokale Nähe eingebundenen Bürgervereine aus ihrer traditionellen ‘Selbstgenügsamkeit’ aufwachen. Bürgergesellschaftliches Engagement könnte sich dann entwickeln und vernetzen zu Aktivposten sozialer und kultureller Selbst-steuerung in einer sich neu formierenden Kulturregion Rhein-Ruhr.

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HELMUT SCHNEIDER, DÜSSELDORF

BANGKOK: GENESE UND FUNKTION EINER MODERNEN METROPOLE EXTREME METROPOLISIERUNG

UNTER NICHT-KOLONIALEN BEDINGUNGEN

I. Einleitung Die thailändische Hauptstadt Bangkok ist nicht nur demographisch und funktional das unbestrittene metropolitane Zentrum des Landes, sie ist zugleich auch ein weltweit beson-ders markantes Beispiel der Metropolisierung. Im Vordergrund des folgenden Beitrages stehen weniger die Beschreibung von metropolitanen Erscheinungsformen und Planungs-problemen der thailändischen Hauptstadt,1 als vielmehr die Frage, welche Gründe sich für die exzeptionelle Stellung der Stadt im Siedlungssystem des Landes identifizieren lassen. Bangkok wurde erst 1782 am Unterlauf des Menam Chao Praya als neue Hauptstadt des nach einer vernichtenden Niederlage gegen Burma wieder konsolidierten siamesischen Reiches gegründet. Das rund 70 km nördlich, ebenfalls am Chao Praya gelegene Ayutthaya, über 400 Jahre Hauptstadt Siams, war 1766 nach der Eroberung durch eine burmesische Armee vollständig zerstört und als Siedlungsplatz aufgegeben worden (Abb.1). Die heutige Metropole Bangkok - Bangkok Metropolis oder Bangkok Metro-politan Administration (BMA), zugleich auch Changwat (Provinz) Krung Thep Maha Nakhon - wurde als administrative Einheit aus planungspragmatischen Gründen aus den ursprünglich separaten Provinzen Phra Nakhon (Bangkok) am Ost- sowie Thon Buri am Westufer des Flusses Menam Chao Praya gebildet. Bangkok Metropolis untergliedert sich weiter in 36 kleinere Raumeinheiten (Khaet oder Distrikte). Davon zu unterscheiden ist die räumlich wesentlich weiter gefaßte Planungsregion Bangkok Metropolitan Region (BMR), zu der außer Bangkok Metropolis (Changwat Krung Thep Maha Nakhon) selber auch die fünf benachbarten Provinzen (Nakhon Pathom, Nonthaburi, Pathum Thani, Samut Prakan und Samut Sakhon) gehören. Die zunehmende funktionale Verflechtung der ballungsnahen Provinzen mit Bangkok haben zu dieser Erweiterung des Planungsraumes Groß-Bangkok geführt, zu dem neben Bangkok Metropolis ursprünglich nur noch die beiden Nachbar-provinzen Samut Prakan und Nonthaburi (= Greater Bangkok) gehört hatten (Abb.2). Soweit nicht anders vermerkt wird im folgenden die Abgrenzung der Bangkok Metro-politan Administration (=Bangkok Metropolis) zugrunde gelegt, wenn von der Metropole Bangkok die Rede ist.

1 Vgl. dazu F. Kraas, Bangkok. Probleme einer Megastadt in den Tropen Südostasiens, Problemräume der Welt 16, Köln 1995 sowie F. Kraas, Bangkok. Ungeplante Megastadtentwicklung durch Wirtschaftsboom und soziokulturelle Persistenzen, in: Geographische Rundschau 48, 1996, H. 2, 89-96; M. Krongkaew, The Changing Urban System in a Fast-growing City and Economy. The Case of Bangkok and Thailand, in: Fu-chen Lo/Yue-man Yeung (Eds.), Emerging World Cities in Pacific Asia, Tokyo 1996, 286-334.

Helmut Schneider

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Abb. 1: Thailand - Übersicht und Bevölkerungsdichte nach Provinzen 1990

Entwurf: H. Schneider; Kartographie: U. Beha/C. Dehling Quelle: National Statistics Office 1994 (wie Anm. 13)

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Abb. 2: Großraum Bangkok: Abgrenzungen und Überbauung von 1900 bis 1989

Entwurf: H. Schneider; Kartographie: U. Beha Quelle: verändert nach Kraas 1995 (wie Anm. 1), 4f.

II. Begriffsklärungen: Metropole und Primatstadt Obwohl die Begriffe Metropole und Metropolisierung zur Abgrenzung administrativer Einheiten in der Stadtplanung, aber auch alltagssprachlich weit verbreitet sind, mangelt ihnen aus stadtgeographischer Sicht nach wie vor eine exakte und allgemein akzeptierte Definition.2 Der Begriff Metropole wird zumeist mit der Hauptstadtfunktion eines Landes, mit einer an der Bevölkerungszahl gemessenen überdurchschnittlichen Größe sowie öko-nomischer, vor allem auch weltwirtschaftlicher Bedeutung und kultureller Ausstrahlung assoziiert. Metropolen gelten als die "führenden" Städte eines Landes, es sind teilweise "Weltstädte" im klassischen Sinn;3 neuerdings wird der Begriff aber auch mit den welt-

2 Vgl. dazu D. Bronger, Metropolisierung als Entwicklungsproblem in den Ländern der Dritten Welt. Ein Beitrag zur Begriffsbestimmung, in: Geographische Zeitschrift 72, 1984, H. 3, 138-158; A. Borsdorf, Moloch Großstadt. Metropolisierung in der Dritten Welt, in: Jahrbuch Dritte Welt 1992, München 1991, 113-125. 3 P. Hall, The World Cities, London/New York 1966.

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umspannenden Kontroll- und Steuerfunktionen einer zunehmend globalisierten Welt-wirtschaft in Verbindung gebracht, die in den neuen "Metropolen des Weltmarktes", den Global Cities, konzentriert sind.4 Gegenüber diesen unterschiedlichen und teilweise diffusen Bedeutungsgehalten wird in der Stadtgeographie der Begriff Metropole inzwischen zumeist im Sinne einer - allerdings verschieden definierten - Überkonzentration von Bevölkerung und wichtigen Funktionen verwandt. Absolute demographische Schwellenwerte - z.B. die verbreitete Annahme einer 1.000.000-Einwohner-Grenze für Metropolen, ähnlich auch die 5.000.000-Einwohner-Grenze für sogenannte Megastädte,5 sagen freilich aufgrund international unterschiedlicher Verstädterungsgrade im Vergleich wenig aus. Aussagekräftiger sind dafür relative An-gaben, die z.B. die größte Stadt eines Landes - die Metropole oder Primatstadt - ins Ver-hältnis zur zweitgrößten Stadt oder zur zusammengefaßten Bevölkerungszahl mehrerer nachrangiger Städte setzen. Zur Beschreibung der demographischen Dominanz bestimmter Städte wurde bereits Ende der 30er Jahren durch Jefferson die Bezeichnung "primate city" in die geographische Diskussion eingeführt.6 Die Vorrang- oder Primatstellung einer Stadt läßt sich danach daran ablesen, um das Wievielfache sie größer als die zweitgrößte Stadt ist ("primacy" oder "primacy-index"). Jeffersons Hinweis, daß die Ausformung von Primatstädten in engem Zusammenhang mit der Entfaltung des modernen Nationalstaats zu stehen scheint, ist dabei für die thailändische Situation von besonderem Interesse. Demographische Kennziffern allein sind jedoch zur Bestimmung der metropolitanen Vorrangstellung nicht ausreichend. Funktionale Kriterien müssen hinzutreten und haben zur Beurteilung der "primacy" einer Stadt gewöhnlich größere Bedeutung. Aus dem Verhältnis des Anteils der metropolitanen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Landes (= Metropolisierungsquote) und der entsprechenden auf die Metropole entfallenden Anteile des Bruttoinlandsprodukts, der Industrieabeitsplätze, hochrangiger Bildungs- und Verwaltungsfunktionen usw. lassen sich sog. "primacy-ratios", Indikatoren funktionaler "primacy", ableiten: Werte größer 1 signalisieren dann eine überdurchschnittliche Konzen-tration der betreffenden Funktionen in der Metropole.7 III. Entwicklung und Metropolisierung in Thailand Unter den Ländern der sogenannten Dritten Welt8 zeichnet sich Thailand - bis 1932 und kurzfristig nach dem Zweiten Weltkrieg war Siam der offizielle Staatsname - in mehr-facher Hinsicht durch Besonderheiten aus: 4 S. Sassen, Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt am Main/New York 1996. 5 D. Bronger, Megastädte, in: Geographische Rundschau 48, 1996, H. 2, 74-81. 6 M. Jefferson, The Law of the Primate City, in: Geographical Review 29, 1939, 226-232. 7 Bronger (wie Anm. 2). 8 Das Ende der weltpolitischen Blockkonfrontation hat die Problematik des in diesem Kontext entstandenen Begriffs "Dritte Welt" besonders deutlich gemacht. Fragwürdig war allerdings schon länger, ob die zu-nehmend heterogene Gruppe der sogenannten Entwicklungsländer noch sinnvoll mit einer zusammen-

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1. Das Land gehört zu der kleinen Gruppe von Staaten, die trotz wechselhafter Ge-schichte nie ihre politische Unabhängigkeit verloren haben und auch in der Hochphase des modernen Imperialismus im 19. und 20. Jh. nicht zur Kolonie einer der damaligen Groß-mächte Großbritannien oder Frankreich wurden.

2. Eine weltmarktorientierte Politik, aber auch Spin-off-Effekte des Vietnamkrieges wie z.B. die Expansion des tertiären Sektors und der Zugang zu günstigen Krediten haben seit 1960 zu einem Wachstum des Bruttoinlandprodukts um durchschnittlich 7,5% pro Jahr geführt; Ende der 80er Jahre wurden sogar zweistellige Wachstumsraten erzielt. In-zwischen machen zwar Exportrückgänge, sinkende Unternehmensrenditen, die Finanz- und Währungskrise Ende 1997 und als Folge ein abgeschwächtes Wirtschaftswachstum die Grenzen des thailändischen "Wirtschaftswunders" deutlich. Für 1997 und 1998 muß des-wegen erstmals mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,4% - 3,5% gerechnet werden.9 Thailand galt bis zu der Finanzkrise Ende 1997 als das am schnellsten wachsende Entwicklungsland und als aussichtsreicher Kandidat für die Gruppe ost- und südost-asiatischer "Tigerökonomien"; für einige Autoren ist Thailand sogar bereits nach Taiwan, Südkorea, Singapur und Hong Kong zum fünften "Tiger" aufgestiegen.10 Das 1994 erzielte Bruttosozialprodukt (BSP)/Kopf von 2.410 US-$ wird in Südostasien - abgesehen von Singapur und Hongkong - nur von Malaysia (3.480 US$) übertroffen; zum Vergleich: Deutschland 1994: BSP/Kopf 25.580 US-$.11

3. Die wirtschaftliche Entwicklung Thailands ist bislang in hohem und noch wachsen-dem Maß räumlich ungleichgewichtig verlaufen: Wertschöpfung im sekundären und ter-tiären Sektor wie auch die ausländischen Investitionen sind weit überproportional in Bang-kok Metropolis bzw. dem weiteren Planungsraum Bangkok Metropolitan Region konzen-triert. Der Anteil von Bangkok Metropolis an der Erwirtschaftung des Bruttoinlands-produkts lag Anfang der 90er Jahre bereits bei 53%, auf die industrielle Wertschöpfung entfiel sogar ein Anteil von über 60%. Ähnliche Anteile gelten auch für Handel und Dienstleistungen. Alle größeren Konsumgüterproduzenten sowie die exportorientierte oder importabhängige Industrie sind mehrheitlich in Bangkok konzentriert. Im wichtigsten Tief- fassenden, inhaltlich definierten Kategorie bezeichnet werden kann. Mangels überzeugender Alternative wird der Begriff "Dritte Welt" hier aber als deskriptive Kategorie beibehalten: In Anlehnung an D. Nohlen und F. Nuscheler, "Ende der Dritten Welt"?, in: dies. (Hgg.), Handbuch der Dritten Welt. Bd. 1: Grund-probleme, Theorien, Strategien, Bonn ²1992, 30, werden damit jene Staaten bezeichnet, die bezüglich der Indikatoren Pro-Kopf-Einkommen und Industrialisierungsgrad gering entwickelt sind und die durch die Organisation kollektiver Gegenmacht (z.B. Gruppe der 77) versuchen, ihre weltwirtschaftliche Situation zu verbessern. 9 Neue Zürcher Zeitung vom 25.2.1998. 10 So zum Beispiel R.J. Muscat, The Fifth Tiger. A Study of Thai Development Policy, Armonk (N.J.)/Tokyo 1994. Die erheblichen strukturellen, kulturellen und politischen Unterschiede zwischen den genannten Staaten verbieten es allerdings, von einem verallgemeinerbaren Modell erfolgreicher "Tigerökonomien" zu sprechen. So beruht z.B. der thailändische Erfolg nicht wie in Taiwan und Südkorea auf einer stark dirigistischen Wirtschaftspolitik, sondern auf einem Mittelweg zwischen völligem Marktliberalismus und Staatsintervention. Vgl. auch F. Kraas, Thailand - ein Newly Industrialized Country? Die industrielle Ent-wicklung seit Ende der achtziger Jahre, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 40, 1996, H. 4, 241-257. 11 Weltbank, Vom Plan zum Markt. Weltentwicklungsbericht 1996, Washington 1996, 222f.

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seehafen des Landes - Khlong Toey - werden nahezu alle Exporte und 85% der Importe umgeschlagen.12

4. Bei derzeit schätzungsweise rund 60 Mio. Einwohnern - nach der letzten Bevöl-kerungszählung von 1990 waren es knapp 55 Mio.13 - weist Thailand eine sehr geringe Bevölkerungswachstumsrate auf. Für 1995-2000 wird sie im Jahresdurchschnitt auf 1% geschätzt; sie liegt damit nicht nur unter den Prognosen für die weniger und am wenigsten entwickelten Länder insgesamt (1,8% bzw. 2,7%), sondern auch unter dem globalen Durchschnitt (1,5%). Aber auch die für diesen Zeitraum prognostizierten Zuwachsraten der städtischen Bevölkerung (durchschnittlich 2,8% pro Jahr) liegen sowohl unter dem regionalen Durchschnitt (3,7%) als auch unter dem weltweiten Durchschnitt für weniger und am wenigsten entwickelte Länder (3,3% bzw. 5,2%) und nur wenig über dem globalen Wert (2,5%). Das geringe Wachstum der städtischen Bevölkerung ist um so bemerkens-werter, als es auf einer niedrigen Ausgangsbasis ansetzt: Thailand zählt weltweit zu den Ländern mit dem geringsten Verstädterungsgrad. Lediglich 20% der Bevölkerung lebten 1995 in Städten. Zum Vergleich: Südostasien insgesamt 34%, Malaysia und Philippinen sogar 54%, weltweit 45%, in den weniger entwickelten Ländern im Durchschnitt 38%, in den am wenigsten entwickelten Ländern immerhin 22%.14 Ein stärkerer Abwanderungs-druck hat sich in den ländlichen Räumen, vor allem in dem durch natürliche Ungunst-faktoren benachteiligten Nordosten, aber auch im Norden des Landes erst allmählich entwickelt. Gründe dafür waren noch vorhandene landwirtschaftlich nutzbare Flächen-reserven und eine vorwiegend klein- und mittelbetriebliche Besitzstruktur. Erst in den 70er Jahren kam die agrarische Flächenerschließung zum Stillstand.

5. Die städtische Bevölkerung Thailands ist in hohem Maße in der Metropole Bangkok konzentriert. Ein hierarchisch gestuftes Netz von Siedlungen oberhalb der Ebene länd-licher Marktorte und insbesondere die Herausbildung von bedeutenderen regionalen Zentren ist wenig entwickelt.15 Nach dem letzten Bevölkerungszensus von 1990 hatte Bangkok Metropolis rund 5,9 Mio. Einwohner, 1995 waren es nach offizieller Schätzung 12 Zu Art und Ausmaß regionaler Disparitäten in Thailand vgl. S. Schlörke, Regionalentwicklung und De-zentralisierungspolitik in Thailand. Eine regionalökonomische Analyse, Hannoversche Geographische Arbeiten 47, Münster/Hamburg 1992; K. Vorlaufer, Regionale Disparitäten, Tourismus und Regional-entwicklung in Thailand, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 139, 1995, H. 5/6, 353-381; Kraas 1995 (wie Anm. 1). 13 Vgl. NSO (National Statistics Office), 1990 Population and Housing Census: Whole Kingdom, Bangkok 1994. 14 Vgl. zu diesen Angaben UNFPA, Weltbevölkerungsbericht, Bonn 1996, 75. Internationale Vergleiche von Verstädterungsraten und -graden können allerdings nur als grobe Hinweise auf Größenordnungen inter-pretiert werden, da die Definitionen und Abgrenzungen von städtischen Siedlungen von Land zu Land unterschiedlich sind und zudem häufig wechseln. Bei Zeitreihenvergleichen ist zu berücksichtigen, daß das statistische Wachstum städtischer Bevölkerung nicht nur eine Funktion der natürlichen Bevölkerungs-bewegung und des Wanderungssaldos ist, sondern auch durch die administrative Erweiterung der Stadtfläche beeinflußt wird: Vormals als ländlich klassifizierte Bevölkerungsgruppen werden so durch neue Grenz-ziehungen statistisch zu Städtern. 15 Vgl. H. Schneider/K. Vorlaufer, Secondary City Urbanization in Cross-cultural Perspective, in: Schneider, H./Vorlaufer, K. (Eds.), Employment and Housing. Central Aspects of Urbanization in Secondary Cities in Cross-cultural Perspective, Aldershot 1997, 1-20.

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bereits 6,2 Mio., tatsächlich dürfte die Einwohnerzahl aber bereits über 9 Mio. Einwohnern liegen. Bangkok weist zudem einen hohen Anteil statistisch nicht erfaßter temporärer Stadtbewohner auf, die saisonal während der agrarwirtschaftlich arbeitsarmen Trockenzeit insbesondere aus der Nordostregion zuwandern. Mit voraussichtlich 10-12 Mio. Ein-wohnern wird Bangkok im Jahr 2000 zu den 20 größten Städten der Welt gehören.16 Seit Anfang der 80er Jahre hat sich die zusammenhängend überbaute Stadtfläche bereits über die Grenzen von Bangkok Metropolis in südlicher und nördlicher Richtung ausgedehnt (vgl. Abb. 2). In Bangkok Metropolis leben - je nach Schätzung - 10% - 15% der thailändischen Bevölkerung, dies entspricht 52% - 75% der städtischen Bevölkerung des Landes insgesamt; 1945 lag dieser Anteil noch bei 45%.17 Das ohnehin relativ geringe städtische Bevölkerungswachstum ist also in hohem Maße auf Bangkok konzentriert.

6. Die exzeptionelle Stellung Bangkoks im Gefüge des thailändischen Siedlungssystems zeigt sich aber vor allem in dem markanten, weltweit nahezu einzigartigen demo-graphischen Primatcharakter der Stadt: Abgesehen von Stadtstaaten wie z.B. Singapur weist nur noch die Hauptstadt Surinams, Paramaribo, einen vergleichbaren Primatcharakter auf. Schon 1947 war der Ballungsraum Bangkok bereits fast 20-fach größer als die damals zweitgrößte Stadt Chiang Mai, bis Anfang der 90er Jahre ist dieser Abstand von Bangkok Metropolis zur zweitgrößten Stadt - inzwischen ist dies die im Nordosten gelegene Stadt Nakhon Ratchasima (ehemals Khorat) - auf das rund 33-fache gewachsen (Primacy- oder P-Index). Auch im Vergleich zur zusammengefaßten Einwohnerzahl der drei nächst-größten Städte ist Bangkok Metropolis immer noch fast 13-mal größer (Vierstädte- oder V-Index).18 Seit 1980 deutet sich möglicherweise eine Abschwächung der Primatstellung Bangkoks an; inwieweit dies jedoch wirklich eine Trendumkehr signalisiert, oder aber lediglich auf Unzulänglichkeiten der amtlichen Statistik und der administrativen Stadt-definitionen zurückzuführen ist, bedarf noch genauerer Prüfung.19

7. Die extrem herausgehobene Stellung der Metropole Bangkok bezieht sich jedoch nicht nur auf demographische und wirtschaftliche Indikatoren. In noch stärkerem Maße gilt dies für die hochrangigen politischen, kulturellen und administrativen Funktionen, die hochgradig in Bangkok konzentriert sind: Hier befinden sich nicht nur königlicher Palast, Sitz von Parlament und Regierung, landesweit bedeutsame religiös-symbolische Ein-richtungen (buddhistische Klöster mit überörtlich verehrten Buddha-Statuen), sondern auch alle Ministerien - einschließlich der für die 76 Provinzen zuständigen Planungs-behörden.20 Bis in die 60er Jahre war Bangkok auch der einzige Universitätsstandort des Landes.

16 NSO (wie Anm. 13); Kraas 1995 (wie Anm. 1) und Kraas 1996 (wie Anm. 1). 17 M. Falkus, The Economic History of Thailand, in: Australian Economic History Review, Jg. 31, H. 1, 68. 18 NSO (wie Anm. 13); siehe auch Abb. 3. 19 Vgl. auch Schlörke (wie Anm. 12), 86. 20 Vgl. Kraas 1995 (wie Anm. 1).

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IV. Erklärungsansätze für Metropolisierung und Formierung von Primatstädten Welche Erklärungsansätze lassen sich für die Herausbildung von Metropolen mit hoher "primacy" benennen? Verallgemeinernd können dazu die über den konkreten Einzelfall hinausgehenden Argumente zu zwei allerdings nicht streng zu trennenden Gruppen zu-sammengefaßt werden: Zum einen werden die Gründe für Metropolisierung und Primat-stadtentwicklung in einem relativ niedrigen sozioökonomischen Entwicklungsniveau und den Besonderheiten nachholender Entwicklung gesehen. In diesem eher dem moderni-sierungstheoretischen Paradigma verpflichteten Argumentationsstrang wird in der Regel der transitorische Charakter dieser Form der Siedlungsentwicklung betont. Zum anderen werden historische Gründe, insbesondere das raumwirtschaftliche Erbe des Kolonialismus und die Folgen abhängiger Entwicklung hervorgehoben. In dieser stärker an den Depen-denztheorien orientierten Argumentation wird zumeist auf die relative Dauerhaftigkeit und die zirkuläre Selbstverstärkung der Metropolisierung hingewiesen. Korrekturen dieser Ent-wicklung sind danach nur durch gezielte und massive staatliche Eingriffe möglich. IV.1. Primatstädte - entwicklungsbedingte Abweichungen von der Ranggrößenregel? Die der ersten Gruppe zuzurechnenden Argumentationen knüpfen vielfach an Regel-mäßigkeiten an, die sich bei einigen Ländern in den empirischen Verteilungsmustern demographisch definierter Stadtgrößen erkennen lassen. Nach der meist aus der Stadt-größenverteilung der USA - "the classic case and base of comparison"21 - abgeleiteten Ranggrößenregel oder Rank-size-rule ergeben sich die theoretischen Einwohnerzahlen der Städte einer nationalen Siedlungshierarchie in der einfachsten Form aus der Division der Einwohnerzahl der größten, rangersten Stadt durch die entsprechenden Rangplatzziffern der folgenden Städte. Die zweitgrößte Stadt sollte danach die halbe Einwohnerzahl, die drittgrößte ein Drittel der Einwohner der größten Stadt haben usw. Eine bessere Anpassung dieser einfachen Verteilungsregel an die realen Größenrelationen läßt sich durch die Einführung von Konstanten erzielen. Rang-Größen-Verteilungen werden aber nicht nur bei Siedlungssystemen, sondern auch in völlig anderen Bereichen wie der Verteilung von Pflanzenarten oder der Benutzungshäufigkeit von Wörtern beobachtet. Aus systemtheoretischer Sicht ist daraus der Schluß gezogen worden, es handele sich bei diesem Verteilungsmuster um eine allgemeine Eigenschaft stabiler Wachstumsprozesse. Im Verhältnis zur ursprünglichen Zufallsgröße wächst danach jede Einheit (z.B. eine Stadt) exponentiell, was - wie sich zeigen läßt - mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer Ordnung der Systemelemente ungefähr nach der Rang-Größen-Regel führt.22 Eine Stadtgrößenverteilung genau entsprechend der Ranggrößenregel wird in einem Dia-gramm, in dem Einwohnerzahlen und Rangplatzziffern in logarithmischem Maßstab ab-getragen sind, als gerade Linie mit der Steigung -1 abgebildet. Mit dieser theoretischen Bezugsgröße läßt sich die empirisch beobachtbare Größenverteilung vergleichen, die z.B.

21 B.J.L. Berry, City Size and Economic Development. Conceptual Synthesis and Policy Problems. With Special Reference to South and Southeast Asia, in: Jacobson, L./Prakash, V. (Eds.), Urbanization and National Development, Beverly Hills 1971, 111-155. 22 P. Haggett, Geographie. Eine moderne Synthese, Stuttgart ²1991, 458ff.

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wie im Falle Thailands durch die überproportionale Größe der größten Stadt erheblich von dem theoretischen Wert abweichen kann. Für länderübergreifende Vergleiche wird jedoch meist nicht die Größenverteilung der einzelnen Städte, sondern die Regressionsgerade der Ranggrößenverteilung zugrundegelegt.23 Damit ist auch ein quantitativer Beurteilungs-maßstab für die Primatstellung einer oder mehrerer Metropolen gegeben. Das Rank-size-Diagramm für Thailand berücksichtigt die 40 größten Städte des Landes und spiegelt für den Zeitraum 1970-1992 eine weitere Zunahme der Vorrangstellung Bangkoks wider (Anwachsen der Steigung a der Regressionsgeraden; vgl. Abb. 3). Gleichzeitig hat sich aber auch die Beschreibung der empirischen Stadtgrößenverteilung durch das Regressions-modell verbessert (wachsender Wert des Bestimmtheitsmaßes r²). Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß es trotz wachsender "primacy" Bangkoks unterhalb der metropolitanen oder Primatstadtebene, insbesondere durch das wirtschaftlich bedingte stärkere Wachstum von Sekundärzentren wie Nakhon Ratchasima, Khon Kaen, Chiang Mai u.a., eine Tendenz zur Annäherung an eine logarithmische Normalverteilung gibt (vgl. auch die leichte Ab-schwächung des Vierstädte-Index). Die extrem starke Zunahme der "primacy" Bangkoks von 1970 bis 1980 wird hier dagegen nicht weiter berücksichtigt, da sie vermutlich zu einem großen Teil auf Unzulänglichkeiten administrativer Abgrenzungen beruht.24 Länder-übergreifende Vergleiche werden durch solche Abgrenzungsprobleme und die großen Un-terschiede bei den verwandten administrativ-statistischen Definitionen jedoch erheblich er-schwert. Die Ranggrößenregel läßt darüber hinaus auch keine Aussage über die räumliche Verteilung städtischer Siedlungen und damit über den Grad räumlicher Disparitäten zu. Die eigentliche Bedeutung der zunächst nur deskriptiven Größenverteilungsregel erschließt sich jedoch erst über ihre inhaltliche Interpretation: Eine Stadtgrößenverteilung, die der Ranggrößenregel entspricht oder ihr zumindest sehr nahe kommt, wird danach als Aus druck eines integrierten Siedlungssystems ökonomisch entwickelter Staaten verstanden, die Primatstellung einer oder auch mehrerer Metropolen gilt dagegen als Indikator für "Über-" oder "Hyperurbanisierung", politische und ökonomische Abhängigkeit und Unter-entwicklung.25 "In the developed nations, the distribution of cities by size follows the rank-

23 C.A. Vapnarsky, On Rank-Size Distributions of Cities. An Ecological Approach, in: Economic Develop-ment and Cultural Change 17, 1968, H. 1, 584-595; P.P. Karan, The Distribution of City Sizes in Asian Countries, in: Dutt, A.K. et al. (Eds.), The Asian City. Processes of Development, Characteristics and Planning, Dordrecht 1994, 53-70. 24 Thailändische Städte sind in der Regel unterbegrenzt; für Städte auf mittlerer Hierarchiestufe wird ge-schätzt, daß die tatsächliche Bevölkerungszahl um durchschnittlich 40% über den auf der administrativen Abgrenzung beruhenden Zensusangaben liegt, vgl. H.D. Kammeier, Thailand's Small Towns. Exploring Facts and Figures Beyond Population Statistics, in: Husa, K. et al. (Eds.), Beiträge zur Bevölkerungs-forschung, Wien 1986, 299-320. In Chiang Mai, bis in die 80er Jahre Thailands zweitgrößte Stadt, entfällt ein großer Teil der städtischen Bevölkerungszunahme auf Siedlungsgebiete außerhalb der administrativen Stadtgrenze. Dies wurde 1983 durch die Erweiterung des Stadtgebietes von 17,5 km² auf 40 km² teilweise korrigiert. Die Einwohnerzahl der Stadt nahm damit um 44.000 zu. Vgl. dazu H. Schneider, Social Networks and Access to Employment and Accomodation. An Intercultural Comparison, in: Schneider/Vorlaufer (wie Anm. 15), 233-257. Die mit dem Primacy-Index ausgedrückten Größenrelationen zwischen größter und zweitgrößter Stadt werden durch solche Mängel und Veränderungen der administrativen Abgrenzungen natürlich erheblich verzerrt. 25 J.Q. Stewart, Empirical Mathematical Rules Concerning the Distribution and Equilibrium of Population, in: Geographical Review 37, 1941, 461-485; G.K. Zipf, Human Behavior and the Principle of Least Effort,

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Abb. 3: Ranggrößen-Diagramm der 40 größten Städte Thailands 1970, 1980 und 1992

Entwurf: H. Schneider; Computergrafik: T. Picker Quelle: National Statistics Office,

Statistical Yearbook Thailand, Bangkok (div. Jgg.)

Cambridge 1949; B.J.L. Berry, City Size Distribution and Economic Development, in: Economic Develop-ment and Cultural Change 9, 1961, H. 4, 573-588; B.J.L. Berry/F.E. Horton, Geographic Perspectives on Urban Systems, Engelwood Cliffs 1970, 64ff.; B. London, Metropolis and Nation in Thailand. The Political Economy of Uneven Development, Boulder (Col.) 1980; vgl. auch B.J.L. Berry/J.D. Kasarda, Contemporary Urban Ecology, New York/London 1977, 391ff.

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size pattern has thus been interpreted as the ‘functional’ outcome of economic growth, with the result that it is deviations from the rank-size distribution that have exited the greatest interest in the developing nations."26 Gestützt wurde diese Interpretation durch die Beobachtung, daß sich Verteilungsmuster entsprechend der Ranggrößenregel am ehesten in relativ geschlossenen Siedlungssystemen herausbilden, wie sie für sozioökonomisch entwickelte Staaten typisch sind. Dagegen haben Städte, die als koloniale Brückenköpfe gerade Ausdruck der Öffnung gegenüber politisch und ökonomisch überlegenen Nationen waren, vielfach eine ausgeprägte "primacy" entwickelt.27 Ein theoretisch ableitbares Entwicklungsmodell von Stadtgrößen-verteilungen, das über mehrere Zwischenstadien von extremer "primacy" zu logarith-mischer Normalverteilung entsprechend der Ranggrößenregel führt, hat sich empirisch allerdings nur bedingt bewährt. Berry selbst hat schon in den 60er Jahren nachgewiesen, daß es zwischen ökonomischem Entwicklungsniveau und einem Verteilungsmuster städti-scher Siedlungen entsprechend der Ranggrößenregel oder aber der Herausbildung von Metropolen mit ausgeprägter "primacy" offensichtlich keinen zwingenden Zusammenhang gibt.28 Aus dem Vergleich der Stadtgrößenverteilung von 38 Ländern mit unterschied-lichem Entwicklungsniveau zog er den Schluß: "[...] different city size distributions are in no way related to the relative economic development of countries. Rank size is not the culmination of a process in which national unity is expressed in a system of cities. Primacy is not confined to lesser developed countries."29 Metropolisierung und "primacy" lassen sich offenkundig nicht als nur durch das sozioökonomische Entwicklungsniveau eines Landes verursachte Abweichungen von der Ranggrößenregel interpretieren. Zusätzlich müssen andere Faktoren zur Erklärung herangezogen werden: Stadtgrößenverteilungen entsprechend der Ranggrößenregel werden auch durch die Größe eines Landes, eine lange Stadtgeschichte und den Grad regionaler Eigenständigkeit begünstigt.30 Die Primatstellung von Metropolen ist wiederum stark durch eine koloniale Brückenkopffunktion, aber auch durch historisch-spezifische und politisch-administrative Strukturen sowie das kulturelle Umfeld bedingt.31

26 Berry/Kasarda (wie Anm. 25), 391. 27 Vgl. Vapnarsky (wie Anm. 23). 28 Vgl. Berry (wie Anm. 25); Berry (wie Anm. 21); vgl. auch J. Bähr et al., Bevölkerungsgeographie, Berlin/ New York 1992, 312-316; Berry/Horton (wie Anm. 25); J.R. Miller, Extreme Urban Primacy in Thailand. Regional Anomaly or Regional Norm?, Dptm. of Geography/Syracuse Univ. Discussion Paper 63, Syracuse 1980, 10. 29 Berry (wie Anm. 25), 585. Auf einer erheblich erweiterten und verbesserten Datengrundlage (GEOPOLIS data base) kommt Pumain in einem weltweiten Vergleich von Stadtgrößenverteilungen zu einem ähnlichen Schluß, vgl. D. Pumain, City Size Distributions und Metropolisation, in: GeoJournal 43, 1997, 307-314. 30 Vgl. Pumain 1997 (wie Anm. 29), 309f. 31 Berry (wie Anm. 21), 138ff.

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IV.2. Metropolisierung - effiziente Allokation knapper Ressourcen? Aber auch wenn in einer Siedlungshierarchie Abweichungen von der Ranggrößenregel nicht als typischer Ausdruck und zuverlässiger Indikator eines niedrigen sozioöko-nomischen Entwicklungsniveaus interpretiert werden können, lassen sich gleichwohl ökonomische Gründe für räumliche Konzentrationsprozesse anführen. Im Vordergrund stehen dabei Agglomerationsvorteile, die sich im wesentlichen durch die räumliche Konzentration von Bevölkerung, Infrastrukturen und ökonomischen Aktivitäten in einem oder wenigen metropolitanen Zentren ergeben. Die dadurch möglichen Kostenersparnisse spielen angesichts knapper Ressourcen - im Zuge der Industrialisierung handelt es sich dabei insbesondere um Investitionskapital und qualifizierte Arbeitskräfte - gerade in den ersten Phasen einer nachholenden marktwirtschaftlichen Entwicklung eine erhebliche Rolle. Strittig ist in der entwicklungs- und raumwirtschaftstheoretischen Diskussion aller-dings nach wie vor, ob räumliche Disparitäten im allgemeinen und Metropolisierung im besonderen dauerhafte, sich möglicherweise sogar kumulativ verstärkende Merkmale von Entwicklungsökonomien sind, oder ob sie sich zumindest längerfristig und mit fort-schreitender Entwicklung abschwächen.32 Nach der "Polarization-Reversal"-Hypothese Richardsons,33 in der neoklassische und polarisationstheoretische Hypothesen verknüpft werden, kommt es im Anfangsstadium nachholender Entwicklung zunächst zu verstärkter räumlicher Polarisierung, die sich dann im weiteren Verlauf, nicht zuletzt aufgrund wachsender Agglomerationsnachteile, allmählich wieder zurückbildet. Ob sich mit dieser modelltheoretischen, zeitlich unbestimmten Dehnung des räumlichen Ausgleichsmechanis-mus das neoklassische Gleichgewichtstheorem retten läßt,34 oder ob nicht doch Gunnar Myrdals Annahme,"[...] daß das freie Spiel der Kräfte gewöhnlich eher zu einer Ver-größerung als zu einer Verkleinerung der Ungleichheiten zwischen verschiedenen Regi-onen führt",35 größere Plausibilität beanspruchen kann, kann hier nicht weiter vertieft werden. Offen bleiben muß auch, ob und wie je nach theoretischer Ausgangshypothese regionalpolitische Eingriffe zur Milderung räumlicher Disparitäten beitragen können. Realistisch dürfte jedoch die Annahme eines unaufhebbaren Zielkonflikts sein, der die "permanente Entscheidung zwischen Wachstum und Gerechtigkeit" erfordert.36 Die funktionale und demographische Primatstellung der Metropole Bangkok hat sich in den zurückliegenden 20-25 Jahren allerdings trotz der beachtlichen Entwicklungserfolge Thailands noch weiter verstärkt37 und auch im Zuge der rasanten Wirtschaftsentwicklung 32 Vgl. dazu den Überblick bei L. Schätzl, Regionale Wachstums- und Entwicklungstheorien, in: Geo-graphische Rundschau 35, 1983, H. 7, 322-327. 33 H.W. Richardson, Polarization Reversal in Developing Countries, in: Papers of the Regional Science Association 1980, 45/67-85. 34 Schätzl (wie Anm. 32), 325. 35 G. Myrdal, Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, Frankfurt am Main 1974, 37. 36 D. Bronger, Manila - Bangkok - Seoul. Metropolisierung versus regionale Entwicklung?, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 139, 1995, H. 5/6, 350. 37 Vgl. Miller (wie Anm. 28), 4.

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des Landes seit den 80er Jahren keine fühlbare Reduzierung erfahren. Dies muß noch kein Argument gegen einen Polarization-reversal-Trend sein, sondern ließe sich damit erklären, daß die Agglomerationsvorteile der Metropole Bangkok gegenüber anderen Standorten - zumindest solchen außerhalb des ballungsnahen Umlandes bzw. außerhalb der Bangkok Metropolitan Region - derzeit immer noch überwiegen, obwohl gravierende Agglomera-tionsnachteile wie z.B. infrastukturelle Überlastung, Umweltprobleme, steigende Boden-preise und Lohnkosten rasch zunehmen.38 Damit ist auch verständlich, warum unter dem Gesichtspunkt marktwirtschaftlicher Effizienz in Empfehlungen der Weltbank oder Planungsdokumenten thailändischer Behörden ein Abbau der Primatstellung Bangkoks nicht gerade als vorrangiges Ziel formuliert wird.39 Mit der Entwicklung der unmittelbar südöstlich Bangkoks gelegenen Küstenregion ("Eastern Seaboard") zu einem neuen indu-striellen Wachstumspol, der jedoch räumlich und funktional eng mit Bangkok Metropolis verbunden sein wird, ist die weitere Verstärkung der Vorrangstellung des metropolitanen Großraumes vorprogrammiert (vgl. Abb. 1). Daß in der Initialphase marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wachstums die räumliche Konzentration knapper Ressourcen auf einen oder wenige städtische Standorte die optimale und damit die ökonomische Entwicklung am besten fördernde Ressourcen-allokation darstellt, ist zweifellos eine Erklärungsvariable für die Herausbildung von Metropolen mit hoher "primacy". Für Thailand bleibt dann aber immer noch erklärungs-bedürftig, warum Bangkok im Vergleich mit anderen Primatstädten eine so weit über-durchschnittlich ausgeprägte "primacy" ausgebildet hat. Rein stadtökonomisch läßt sich dies offensichtlich nicht erklären: "The origin of this phenomenon is not clear".40 Bronger spricht von einer "vererbten metropolitanen Primatstellung",41 allerdings werden die damit angesprochenen historisch-systematischen Gründe, die im Falle Bangkoks zur Heraus-bildung der extremen Primatstellung beigetragen haben, nicht weiter expliziert.42 IV.3. Metropolisierung als koloniales Erbe? Historisch-systematische Gründe als Erklärung für Metropolisierung und Primatstadt-entwicklung wurden insbesondere aus dependenztheoretischer Sicht geltend gemacht. In der gegen die vorherrschenden Modernisierungstheorien gerichteten Argumentation stan-den die Auswirkungen von Kolonialismus und postkolonialer Abhängigkeit im Vorder- 38 E.B. Ayal, Thailand's Development. The Role of Bangkok, in: Pacific Affairs 65, 1992, H. 3, 353-367; Schlörke (wie Anm. 12), 118f. 39 In einem "country economic memorandum" der Weltbank für Thailand heißt es: "[...] the government should not pursue spatial policies that are inconsistent with market forces and intended solely at dispersing economic activity away from Bangkok to outlying areas and other regions." Vgl. Worldbank, Thailand. Country Economic Memorandum. Report No. 7445-TH, Washington 1989, 112f. und NESDB (National Economic and Social Development Board), The Sixth National Economic and Social Development Plan (1987-1991), Bangkok 1987. 40 Ayal (wie Anm. 38), 355. 41 Bronger (wie Anm. 36), 350. 42 Dies gilt auch für die Beiträge von Kraas 1995, 1996 (wie. Anm. 1).

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grund. Verwaltungs- und Außenhandelsfunktionen der Kolonien waren zumeist auf einen oder wenige Brückenköpfe, oft Hafenstädte oder Verkehrsknotenpunkte beschränkt. Aus den kolonialen Verwaltungszentren, die in der Regel auch zu räumlichen Kristallisations-zentren nationaler Unabhängigkeitsbewegungen wurden, entwickelten sich in vielen Fällen auch die Hauptstädte der selbständig gewordenen Staaten. Solche politisch, administrativ, kulturell und ökonomisch herausgehobenen Zentren bildeten schließlich auch die Ansatz-punkte für die im Zuge weiterer Entwicklung einsetzenden Prozesse zirkulärer Selbst-verstärkung, die schließlich die heutigen Primatstädte und Metropolen hervorgebracht haben.43 Dieses Erklärungsmuster scheint jedoch auf den ersten Blick für Thailand bzw. Siam wenig brauchbar zu sein, hat es das Land doch vermocht, sich als Pufferstaat zwischen den in Burma und Indochina expandierenden imperialistischen Großmächten Großbritannien und Frankreich zu behaupten und seine staatliche Unabhängigkeit zu bewahren. Bangkok war immer die Hauptstadt eines politisch selbständigen Staates. Damit stellt sich die Frage, welche anderen historisch-spezifischen Gründe sich für die Entwicklung Bangkoks zu einer Metropole mit überragender "primacy" identifizieren lassen. V. Historische Ursprünge der Primatstellung Bangkoks Die historischen Ursprünge für die überragende Primatstellung der Metropole Bangkok lassen sich in vier Ursachenkomplexen zusammenfassen, auf die im folgenden näher ein-gegangen wird:

1. Gründung Bangkoks in der Tradition symbolisch-zeremonieller Staatszentren des indisierten Südostasiens, 2. Entwicklung Bangkoks zu einem quasi-kolonialen Brückenkopf, 3. administrative Zentralisierung und bürokratische Modernisierung sowie 4. Durchsetzung der Staatsbürokratie als neuer strategischer Gruppe.

Dabei gehe ich - an Jeffersons "law of the primate city"44 anknüpfend - von der These aus, daß in den besonderen Umständen der Transformation des vormodernen siamesischen Königreiches in einen modernen Nationalstaat eine zentrale Erklärung für die exzep-tionelle Stellung Bangkoks im Siedlungssystem des Landes zu suchen ist. 43 Vgl. dazu beispielhaft W. Rauch, Die Urbanisierungsform Metropole am Beispiel Bangkok, Kairo und Mexiko-Stadt, in: R.W. Ernst (Hg.), Stadt in Afrika, Asien und Lateinamerika, Berlin 1984, 23-42. In der dependenztheoretischen Argumentation wurde jedoch leicht übersehen, daß koloniale Herrschaft zwar in vielen Fällen eine Primatstadtentwicklung begünstigt hat, dies aber keineswegs eine zwingende Folge sein mußte: Dem Prinzip indirekter Herrschaft folgend wurden z.B. in Niederländisch-Indien oder Britisch-Malaya lokale Herrschaftsstrukturen mit einer gewissen Autonomie beibehalten. Als Folge hat sich dort eine ausgeglichenere Siedlungsstruktur ohne die weit überragende Dominanz einer Metropole herausbilden können. Die heutigen Hauptstädte Jakarta und Kuala Lumpur wiesen Ende der 80er Jahre mit "primacy ratios" von 3,9 bzw. 4,1 nur eine vergleichsweise geringe "primacy" auf; vgl. A.K. Dutt/N. Song, Urbani-zation in Southeast Asia, in: Dutt et al. (wie Anm. 23), 172; Karan (wie Anm. 23), 57ff.; vgl. auch Berry/Kasarda (wie Anm. 25), 397ff. 44 Jefferson (wie Anm. 6).

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V.1. Bangkok als symbolisches Zentrum des neuen Siam Unter den vormodernen Thaireichen hatte das siamesische Reich von Ayutthaya seit Mitte des 14. Jhs. eine hegemoniale Stellung errungen. Das Reich von Ayutthaya ist ein typi-sches Beispiel der auf zeremonielle, raumstrukturierende Stadtzentren orientierten Staats-bildungsprozesse im indisierten Südostasien.45 Die Stadt Ayutthaya kann als "orthogenetic city" im Sinne von Redfield/Singer46 angesehen werden, als symbolisches Zentrum von Staat und Kultur. Von hier wurde die charismatische Herrschaft (im Sinne Webers) der königlichen und adeligen Elite Siams ausgeübt. Sie beruhte ökonomisch - im Unterschied zu dem konkurrierenden Reich von Sukhothai - hauptsächlich auf der Kontrolle der Handelswege an der Schnittstelle zwischen arabischen und chinesischen Handelsnetzen, in geringerem Maße aber auch auf Bewässerungslandwirtschaft in dem fruchtbaren und bevölkerungsreichen Kerngebiet des Reiches.47 In der Konkurrenz um die Kontrolle der Handelswege, insbesondere der Häfen an der Westküste der malaiischen Halbinsel zwischen Phuket und Moulmein, sind auch die nicht abreißenden kriegerischen Ausein-andersetzungen mit dem benachbarten burmesischen Reich begründet. Politische Herr-schaft basierte außerhalb der Hauptstadt und des unmittelbar angrenzenden Raumes auf der unsicheren, von Personen und momentanen Bündnissen abhängigen und häufigen Wech-seln unterworfenen Anerkennung Ayutthayas als kulturell-symbolischem Zentrum und der Legitimität seiner charismatischen Herrscher. Die Hauptstadt des siamesischen Reiches unterschied sich von anderen Siedlungen weniger durch eine große Einwohnerzahl als vielmehr durch diese symbolische Bedeutung, materialisiert in Königspalast und be-deutenden buddhistischen Klöstern. Auch die adelige Elite hatte ihren Sitz überwiegend in der Hauptstadt, bedingt durch die hier konzentrierten Handelsfunktionen. Siedlungs-strukturell war damit eine kaum differenzierte Hierarchie verbunden: Zwischen der Haupt-stadt und der Ebene ländlich-dörflicher Kleinsiedlungen, zumeist um ein Wat, eine bud-dhistische Klosteranlage gruppiert, existierten nur wenige bedeutendere Ansiedlungen. Die Eroberung und Zerstörung Ayutthayas durch burmesische Truppen 1766/67 hatte die Deportation der verbliebenen Bevölkerung, darunter alle qualifizierten Arbeitskräfte, zur Folge. Im relativ dünnbesiedelten festländischen Südostasien war die Kontrolle über eine möglichst große Zahl arbeitsfähiger und kriegstauglicher Bevölkerung der entscheidende Machtfaktor.48 Die neue siamesische Hauptstadt wurde zunächst ca. 70 km südlich an das Westufer des Menam Chao Praya gegenüber dem späteren Siedlungskern Bangkoks ver-legt. Von Bedeutung in diesem schon länger besiedelten Schwemmlandgebiet des Chao-Praya-Deltas war nur der Ort Thon Buri. Diese Kleinsiedlung hatte bereits in der Ayut-

45 Vgl. dazu P. Wheatley, Nagara and Commandery. Origins of Southeast Asian Urban Traditions, Univ. of Chicago/Deptm. of Geography, Research Paper 207-208, Chicago 1983. 46 R. Redfield/M.S. Singer, The Cultural Role of Cities, in: Economic Development and Cultural Change 1954, H. 3, 53-73. 47 Vgl. H.-D. Evers/R. Korff/S. Pas-Ong, Trade and State Formation. Siam in the Early Bangkok Period, in: Modern Asian Studies 21, 1987, 755. 48 Vgl. A. Rabibhadana, Clientship and Class Structure in the Early Bangkok Period, in: Skinner, W./Kirsch, T. (Eds.), Change and Persistence in Thai Society, Ithaca/London 1975, 94.

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thaya-Periode durch die hier ansässigen chinesischen Händler und seine Gateway-Funktion für die Hauptstadt (Standort eines königlichen Gästehauses) ein gewisses Gewicht. Ein nennenswerter Ausbau Thon Buris erfolgte allerdings nicht, da zunächst alle Kräfte auf die militärische Konsolidierung des Reiches gerichtet waren (Feldzüge gegen Burma, Kam-bodscha, aber auch gegen rebellische Thaifürsten). Erst nachdem der Begründer der bis heute amtierenden Chakri-Dynastie, Rama I., seinen Vorgänger Taksin, der das neue Siam militärisch konsolidiert hatte, mit Unterstützung der wichtigsten Adelsgruppen absetzten konnte (und hinrichten ließ), wurde 1782 die Entscheidung zur Gründung Bangkoks als neuer Hauptstadt am Ostufer des Menam getroffen und mit Hilfe tausender kambod-schanischer Kriegsgefangener praktisch umgesetzt. Die Siedlung Bankoc, die auf einer der ältesten kartographischen Darstellungen des Flußunterlaufes von 1693 verzeichnet ist, war zuvor vermutlich nur eine unbedeutende Fischersiedlung in sumpfigem Gelände.49 Mit der Gründung einer neuen Hauptstadt sollte - in der Tradition symbolisch-zeremonieller Staatszentren - der Herrschaftsanspruch der neuen Dynastie der Chakris auch baulich zum Ausdruck gebracht werden. Zugleich basierte die Legitimität des neuen Herrschers aber auch auf der ausdrücklichen Berufung auf die Kontinuität der Herrschaftstradition Ayut-thayas. Dessen Hof- und Krönungszeremoniell wurde übernommen und sein Name in der Bezeichnung der neuen Hauptstadt zitiert. Wichtige Bauten Ayutthayas wurden kopiert und zu diesem Zweck sogar Ziegelsteine aus den Ruinen der alten Hauptstadt in das neugegründete Bangkok geschafft. Bangkok sollte das neue Ayutthaya sein. Die Wahl des Standortes für die neue Hauptstadt erfolgte aus militärstrategischen und naturräumlichen, aber auch aus handelspolitischen Gründen:

• Angesichts fortdauernder Bedrohung durch die Burmesen sollte der neue Standort besser geschützt sein: im Westen durch den in einem Bogen ausgreifenden Menam Chao Praya, im Osten durch ein ausgedehntes Sumpfgebiet. • Der neue Standort bot besseren Schutz vor der jährlichen, hochwasserbedingten kräftigen Erosion, die die Bauten auf dem Steilufer des Menam in Thon Buri immer wieder gefährdet hatte. • Für die handelsorientierte siamesische Elite dürfte die Gunstlage Bangkoks als Hafenstandort ein entscheidender Standortfaktor gewesen sein: Über den gut schiff-

49 Vgl. W. Donner, Thailand. Räumliche Strukturen und Entwicklung, Wissenschaftliche Länderkunden 31, Darmstadt 1989, 260. Der Name Bangkok, der sich international durchgesetzt hat, leitet sich vermutlich aus einer bereits in der Ayutthaya-Periode gebräuchlichen Distriktbezeichnung her: Bang Makok = Distrikt der Olivenbäume. Der lange offizielle Name der Stadt (Krung Thep ...) wurde mehrfach geändert und lautet in freier Übersetzung etwa "Die Stadt der Götter (oder Engel), die Große Stadt, die Residenz des Smaragd-Buddhas, die uneinnehmbare Stadt Ayutthaya des Gottes Indra, die Große Hauptstadt der Welt, beschenkt mit neun wertvollen Edelsteinen, die Glückliche Stadt, wohlversehen mit den riesigen königlichen Palästen, die an die himmlischen Wohnungen erinnern, darinnen die wiedergeborenen Götter wohnen, die Stadt von Indra gegeben und von Vishnukarm erbaut", vgl. Donner, 261. In der Namensgebung der neuen Hauptstadt spiegelt sich der starke Einfluß hinduistisch-brahmanischer Konzepte zur Legitimation der königlichen Macht wider (z.B. der König als Inkarnation einer hinduistischen Gottheit), die die Siamesen von den Khmer übernommen hatten. Die strukturelle Schwäche des als Volksreligion verbreiteten und als Staatsreligion geförderten und geschützten Theravada-Buddhismus zur Legitimation politischer Macht wurde damit kom-pensiert. Noch heute wird das Hofzeremoniell der thailändischen Könige mit brahmanischen Riten begangen. Vgl. dazu H. Schneider, Zivilisationsprozeß, Macht und städtische Form in einer buddhistischen Kultur. Das Beispiel Chiang Mai, Nordthailand, in: Jansen, M. u.a. (Hg.), Städtische Formen und Macht, Veröffentlichungen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Stadtkulturforschung 1, Aachen 1994, 195-217.

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baren Unterlauf des Menam Chao Praya war das nahegelegene Meer schnell zu erreichen.50

Die ökonomische Basis der neuen Herrscher Bangkoks war, unter Vermittlung chine-sischer Händler, der Export von Reis, aber auch von Indigo, Zucker, Pfeffer, Tabak und Zinn vorwiegend nach China, von dort wurden im Gegenzug strategische Güter wie z.B. Salpeter importiert. Gegenüber dem für Ayutthaya typischen Zwischenhandel gewann nun die Produktion für den Export zunehmend an Gewicht.51 Die Handelsmonopole der königlich-adeligen Elite stellen sich vor diesem Hintergrund keineswegs als traditionelles Relikt dar, sie waren vielmehr ein durchaus modernes Instrument zur Abwehr auslän-discher Handelsgesellschaften. In Bangkok entwickelte sich als Spin-off dieser Handels-aktivitäten ein auf den Fachkenntnissen chinesischer Handwerker beruhender Schiffsbau. Chinesische Unternehmer betrieben im Auftrag siamesischer Adeliger auch eine export-orientierte Reisbauwirtschaft im Hinterland Bangkoks. Dazu stand die vorwiegende Sub-sistenzproduktion und ein nur rudimentär entwickelter Handel in den übrigen Gebieten in scharfem Kontrast. Siam entwickelte zu Beginn der Bangkok-Periode Züge einer für Kolonien typischen strukturell-heterogenen Ökonomie. Neben der herausgehobenen Be-deutung als symbolisch-zeremoniellem Staatszentrum werden damit auch die ökono-mischen Grundlagen für die metropolitane Entwicklung Bangkoks deutlich. Die adelige Elite lebte zu einem großen Teil nicht auf dem Land, sondern in Bangkok, das nicht nur politisch-administratives und kulturelles Zentrum des Landes, sondern als bedeutendster Hafen Siams auch das Tor zur Weltwirtschaft war und damit den Zugang zu den Handelsprofiten bot.52 Die Formierung einer vorrangig an der Akkumulation von Handels-kapital interessierten Adelsgruppe war auf Bangkok beschränkt und vom Zugang zu wichtigen Staatsämtern abhängig. Adelsränge waren in Siam nicht erblich, sondern an Personen und deren Stellung in der Bürokratie gebunden; sie wurden vom König verliehen, der sich dabei allerdings zumeist den realen Kräfteverhältnissen beugen mußte, die von den mächtigen, miteinander konkurrierenden Adelsfamilien bestimmt wurden.53 Fessen/ Kubitscheck sprechen in diesem Zusammenhang von einer "bürokratischen, halberblichen Aristokratie".54 Sich in dieser Konkurrenz zu behaupten, verlangte die personelle An-wesenheit in der Hauptstadt und am königlichen Hofe. Für die unmittelbar der Stadtgründung im Jahre 1782 folgende Phase wird die Einwohner-zahl der Stadt Bangkok auf rund 50.000 geschätzt. Bis zum Jahr 1900 hatte sich die Einwohnerzahl - nach wechselnden Wachstumsschüben und Stagnationsphasen - vermut-lich auf ca. 200.000 erhöht - bei einer Gesamtbevölkerung Siams von ca. 5,5 Mio.55 50 C.F. Keyes, Thailand. Buddhist Kingdom as Modern Nation State, Boulder/London 1987, 40. 51 Evers et al. (wie Anm. 47), 759ff. 52 Evers et al. (wie Anm. 47), 768. 53 Hong Lysa, Thailand in the Nineteenth Century. Evolution of the Economy and Society, Singapore 1984, 18. 54 H. Fessen/H.-D. Kubitscheck, Geschichte Thailands, Münster/Hamburg 1994, 69; vgl. auch T. Bunnag, The Provincial Administration of Siam 1892-1915, Kuala Lumpur 1977, 7ff. 55 Bunnag (wie Anm. 54), 9.

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Bevölkerungsangaben für diese Zeit sind jedoch in hohem Maße unsicher, die Schätzungen für Bangkok um die Mitte des 19. Jhs. schwanken z.B. zwischen 100.000 und 400.000 Einwohnern.56 Realistischer dürften konservativere Schätzungen sein, da zeitgenössische Beobachter oft irrtümlich von dem visuellen Eindruck der dicht bebauten Klong(= Kanal)-Ufer auf die gesamte Fläche der Stadt geschlossen haben.57 Die Klongs waren bis zur Jahrhundertwende auch im Stadtzentrum die Hauptverkehrswege, erst 1863 wurde mit der 6,5 km langen, von den Palastmauern nach Südosten führenden Charoen Krung ("New Road") die erste gepflasterte Straße innerhalb der Stadt angelegt, die sich schnell zu einer wichtigen Geschäftsstraße entwickelte. Schotterwege liefen ansonsten nur entlang der Stadtmauer, von außerhalb kommende Wege und Elefantenpfade endeten bereits vor den Stadtmauern. Die Konsolidierung des siamesischen Reiches und die Gründung Bangkoks kurz vor der Wende zum 19. Jh. sind ein eindrucksvolles Beispiel für die Dialektik von Kontinuität und Bruch: Während die neuen Herrscher Bangkoks symbolisch an die Tradition Ayutthayas anknüpften, legten sie zugleich die Grundlagen einer modernen Handelsökonomie, die sich nicht mehr nur auf die Vermittlung von Luxusgütern beschränkte. Burma konnte mili-tärisch zurückgedrängt werden, Vasallenstaaten wie Chiang Mai, die laotischen Fürsten-tümer Luang Prabang und Vientiane oder die malaiischen Sultanate Kedah, Kelantan, Trengganu, Perlis und Pattani im Süden wurden in den Machtbereich Bangkoks ein-bezogen. Ende des 18. Jhs. kamen mit Battambang und Siemreap auch große Teile des Königreichs Kambodscha unter siamesische Verwaltung.58 Das erst später durch Grenz-linien definierte Staatsterritorium ist wesentlich ein Resultat der erfolgreichen Er-oberungen und staatlichen Konsolidierung dieser Periode unter Rama I., dem ersten Herrscher der Chakri-Dynastie. Über den Kernraum des Reiches um Bangkok hinaus blieb die tatsächliche administrative und fiskalische Kontrolle der inneren und äußeren Provinzen jedoch sehr begrenzt, ganz abgesehen von den weitgehend autonomen Vasallenstaaten. Die Macht der Provinz-gouverneure und lokalen Adelsgruppen blieb im wesentlichen unangetastet. Sie basierte auf der Aneignung eines erheblichen Teils der Steuereinnahmen und Gerichtsgebühren, der Verfügung über Sklaven (that) sowie eines Teils der bäuerlichen "common people" (phrai): Männer zwischen 18 und 60 waren gezwungen, ihre Arbeitskraft für drei Monate im Jahr der Obrigkeit zur Verfügung zu stellen.59 Der mangelnde Zugriff auf diese Ressourcen

56 Donner (wie Anm. 49), 262. 57 L. Sternstein, The Growth of the Population of the World's Pre-eminent "Primate City". Bangkok at its Bicentenary, in: Journal of Southeast Asian Studies 15, 1984, H. 1, 43-68; J. Rigg, Urbanization and Primacy. Bangkok, in: Rigg, J., Southeast Asia. A Region in Transition. A Thematic Human Geography of the ASEAN Region, London 1991, 139. 58 Vgl. Bunnag (wie Anm. 54), 30ff. 59 Der Status eines "that" wird durch den Bedeutungsgehalt des europäischen Sklavenbegriffs nur sehr un-zureichend umschrieben; Sklaveneigentümer hatten nur beschränkte Verfügungsrechte, Körperstrafen waren ihnen nicht erlaubt, Sklaven hatten das Recht auf Freikauf. Hauptursache für Versklavung war neben Kriegsgefangenschaft die Verschuldung. Nach einer - allerdings sehr unsicheren - Schätzung bestand die siamesische Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jhs. zu einem Drittel aus Sklaven. Die Masse der bäuerlichen Bevölkerung war als "phrai" einem Herrn (nai) unterstellt, der für die Mobilisierung im Kriegs-

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schwächte wiederum die Finanzkraft und damit die politische und militärische Macht der königlichen Zentralgewalt.60 V.2. Weltmarktöffnung: Bangkok als quasi-kolonialer Brückenkopf Einen wichtigen Einschnitt in der ökonomischen, aber auch der politischen Geschichte Siams stellte der 1855 mit Großbritannien abgeschlossene sogenannte Bowring-Vertrag dar. Dieser Vertrag war Teil umfassender Bemühungen des britischen Empires, Ost- und Südostasien den eigenen Handelsinteressen zu öffnen, insbesondere Absatzmärkte für britische Baumwollprodukte zu erschließen. 1819 hatten die Briten Singapur als Handels-niederlassung gegründet, 1826 wurde Ober- und 1852 auch Niederburma militärisch unterworfen und dem britischen Weltreich eingegliedert. Im sogenannten Opium-Krieg (1840-42) hatten die Briten China gezwungen, seine Häfen für den britisch dominierten Welthandel, insbesondere für den Import von Opium zu öffnen. Solche Machtdemon-strationen blieben nicht ohne Eindruck auf die siamesische Staatsführung. Als die Dele-gation des Emissärs der britischen Krone und Gouverneurs von Hong Kong Bowring in Begleitung von zwei Kriegsschiffen in Bangkok eintraf, hatte die siamesische Regierung kaum eine andere Wahl, als den britischen Forderungen nachzugeben. Im Kern bestanden diese darin, die königlichen Handelsmonopole aufzuheben, britischen Bürgern den freien Handel zu gestatten und die Einfuhrzölle mit 3% auf ein äußerst niedriges Niveau festzusetzen. Ähnliche Verträge wurden zwischen 1856 und 1870 mit weiteren elf west-lichen Ländern geschlossen. Der bislang auf China und die Nachbarländer ausgerichtete Außenhandel Siams wurde damit nachhaltig umorientiert, hauptsächlich auf Singapur als wichtigstem Umschlagplatz in diesem Teil des britischen Weltreiches.61 Hauptexportprodukte Thailands waren nun Reis, Teakholz und Zinn (in den 20er Jahren kam noch Kautschuk hinzu). Die Reisproduktion konzentrierte sich auf die nördlich Bang-koks gelegene Zentralebene, später auch die Nordost-Region. Reis war mit Abstand das Hauptexportprodukt und wurde nahezu ausschließlich über den Hafen von Bangkok vor allem nach Singapur exportiert und hauptsächlich zur Versorgung der im Zinnbergbau Britisch-Malayas tätigen Bevölkerung eingesetzt. Teakholz wurde im Norden Thailands gewonnen und unter anderem für den britischen Eisenbahnbau in Indien als stabiles Schwellenmaterial nachgefragt. Die Teakholzstämme wurden zu über zwei Dritteln über den Menam Chao Praya verflößt und über Bangkok exportiert, der Rest wurde über den Saluwen-Fluß direkt zu dem britisch-burmesischen Hafen Moulmein transportiert. Ledig-lich die in Südthailand, vor allem auf der Insel Phuket, gewonnenen Zinnerze wurden nicht über Bangkok exportiert, sondern direkt nach Georgetown (Penang) in Britisch-Malaya verschifft. Aufgrund der dominierenden Stellung Penangs und Singapurs konnte keiner der südthailändischen Häfen größere Bedeutung erlangen.62 fall und die Ableistung der Zwangsarbeit verantwortlich war, aber auch über Ortswechsel oder Beschäf-tigung für andere "nai" oder Ausländer entscheiden konnte; vgl. Rabibhadana (wie Anm. 48), 96ff.; Bunnag (wie Anm. 54), 11. 60 Vgl. Bunnag (wie Anm. 54), 17ff. 61 S. Akira, Capital Accumulation in Thailand 1855-1985, Tokyo 1989, 16ff. 62 Akira (wie Anm. 61), 16ff.; Keyes (wie Anm. 50), 44ff.

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Die Vereinbarungen des Bowring-Vertrages hatten ursprünglich nur in einem Umkreis von ca. 30 Meilen um Bangkok Gültigkeit.63 Folge des Bowring-Vertrages war aber eine rapide Steigerung des Außenhandels und damit eine bedeutende ökonomische Aufwertung Bang-koks als zentralem Umschlagplatz. Damit verbunden war auch eine bauliche und demo-graphische Expansion der Stadt. Die Handelsexpansion erforderte einen Ausbau der Infra-struktur durch Anlage neuer Kanäle, den Bau befestiger Straßen, von Lagerhäusern und Reismühlen. Der damit einher gehende hohe Arbeitskräftebedarf konnte nur durch die massive Einwanderung chinesischer Arbeitskräfte gedeckt werden. Die vor allem aus Süd-ostchina stammenden Zuwanderer wurden über bereits in Bangkok ansässige chinesische Vermittler angeworben. Diese chinesische Immigration hielt bis in die 30er Jahre des 20. Jhs. an. Um 1870 war Bangkok eine - bezogen auf die ethnische Herkunft der Bevöl-kerungsmehrheit - chinesische Stadt. Chinesische Einwanderer hatten bereits seit Beginn der Chakri-Dynastie wichtige Funktionen im Binnen- und Außenhandel inne und spielten nun auch in der dynamisierten Außenwirtschaft eine zentrale Rolle.64 Der Abwanderungs-druck aus den ländlichen Räumen Siams war aufgrund einer relativ dünnen Besiedlung und großen Flächenreserven für agrarische Erschließung gering. Für die Masse der sia-mesischen Bevölkerung (phrai) war die freie Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz durch die bestehenden persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse ohnehin ausgeschlossen; diese Beschränkungen wurden erst in der Regierungszeit König Chulalongkorns gelockert. Eine nennenswerte Land-Stadt-Wanderung hat in Thailand erst nach dem Zweiten Weltkrieg, verstärkt sogar erst in den 70er Jahren eingesetzt. Eine auf Wanderungsgewinnen be-ruhende Entwicklung von Provinz- und Regionalzentren war deswegen äußerst begrenzt, während andererseits der Urbanisierungsprozeß in Bangkok vor allem durch die chinesi-sche Zuwanderung getragen wurde. Die politisch und ökonomisch herausgehobene Stel-lung der Metropole Bangkok wurde durch diesen ethnischen Gegensatz von vorwiegend siamesischer bzw. tai-stämmiger Landbevölkerung und einer zum erheblichen Teil von chinesischen Arbeitern und Händlern gebildeten Stadtbevölkerung weiter verstärkt. Diese mit kolonialen Städten in anderen Teilen Südostasiens vergleichbare ethnisch-soziale Differenzierung hat sich allerdings - trotz Konflikten wie z.B. 1910 einem General-streik chinesischer Arbeiter und Händler - nicht zu einem scharfen, potentiell gar gewalt-förmigen Gegensatz entwickelt. Die chinesischen Einwanderer hatten sich von Beginn an kulturell, sprachlich, zu einem großen Teil auch religiös an der thailändischen Elite und Kultur orientiert und zunehmend assimiliert. Sie waren nicht - wie z.B. in Malaysia oder Indonesien - zu Stützen der jeweiligen Kolonialmächte geworden, deren Sprache sie dort (neben der eigenen) zumeist auch übernommen hatten. Damit und aufgrund ihrer öko-nomischen Rolle wurden die chinesischen Minderheiten in anderen Ländern Südostasiens als "Vasallen des Kolonialismus" zum Gegner des aufkommenden einheimischen (z.B. malaiischen und indonesischen) Nationalismus. Zwar richtete sich der von König Vaji-ravudh (Rama VI., 1910-25) zu Beginn des 20. Jhs. antizipativ geförderte Thai-Nationalis-mus65 auch gegen die ökonomisch einflußreiche chinesische Minderheit, ein politischer 63 Falkus (wie Anm. 17), 69. 64 Keyes (wie Anm. 50), 48. 65 Zur Abwehr antidynastischer Nationalbewegungen versuchten die herrschenden aristokratischen Gruppen in zahlreichen Ländern seit Mitte des 19. Jhs. einen "offiziellen Nationalismus" zu etablieren. Vgl. B. Ander-

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und kultureller Bruch zwischen nationaler Elite und chinesischer Minderheit wie in anderen Ländern hatte sich aber aufgrund der politischen Unabhängighkeit des Landes nicht entwickelt. Zunehmender staatlicher Druck förderte eher die Bereitschaft der Chi-nesen, sich noch stärker zu assimilieren und zur Absicherung ihrer Position auch kommerzielle Partnerschaften mit Thai-Beamten einzugehen. Diese Gründe sind letztlich verantwortlich dafür, daß trotz einer mehrheitlich fremdethnischen Bevölkerung kein Konflikt mit den Funktionen Bangkoks als politischem, adminstrativen und kulturellem Zentrum des siamesischen Reiches entstand.66 Bangkok entwickelte sich seit Mitte des 19. Jhs. zu einem Stadttypus, den der Stadtgeo-graph Terry McGee als "indigenous colonial city" bezeichnet hat.67 Siam blieb zwar formal ein unabhängiger Staat, aber seine Hauptstadt Bangkok übernahm nun ökonomisch eine ähnliche Funktion als Handelsdrehscheibe für den Export von Rohstoffen land- und forstwirtschaftlicher sowie bergbaulicher Art und als Brückenkopf ausländischer Wirt-schaftsinteressen durch Einrichtung ausländischer Vertretungen, Handelshäuser und Banken wie dies auch für koloniale Hafenstädte wie Manila, Singapur, Batavia, Rangun oder Bombay der Fall war. Bangkok unterscheidet sich durch diesen quasi-kolonialen Hintergrund weniger von anderen Primatstädten der Dritten Welt als aufgrund der formalen Unabhängigkeit des Landes hätte vermutet werden können. Damit sind für die extreme Primatstellung der Stadt notwendige, aber noch keine hinreichenden Bedingungen formuliert. V.3. Administrative Zentralisierung und bürokratische Modernisierung Eine entscheidende Grundlage für die bis heute andauernde zentrale Stellung Bangkoks im administrativen System Thailands wurde Ende des 19. Jhs. durch die Reform der Provinz-verwaltung gelegt.68 Angesichts der wachsenden Bedrohung durch die koloniale Ex-pansion Großbritanniens und Frankreichs in Südostasien seit Mitte des 19. Jhs. sollte damit die effektive administrative, fiskalische und militärische Kontrolle über alle Landesteile sichergestellt werden. Hinzu kam das Bestreben König Chulalongkorns (Rama V.), die königliche Zentralmacht gegen konkurrierende Adelsgruppen zu stärken. Die noch be-stehenden lokalen Herrschaftspotentiale und Autonomieansprüche durch Tai-Lao-Fürsten im Nordosten des Landes, durch die Herrscher von Chiang Mai oder die malaiischen Sultanate im Süden implizierten die Gefahr, daß die Kolonialmächte Territorialansprüche geltend machen konnten, da die Herrschaft Bangkoks hier nicht gesichert, ihre Legitimität umstritten und ihre effektive Durchsetzung nur begrenzt möglich war. Aufgrund von Streitigkeiten zwischen britisch-burmesischen Staatsbürgern und den Fürsten von Chiang Mai um Forstkonzessionen (Teakholzeinschlag) mußte beispielsweise eine direkte Inter- son, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt am Main/New York ²1993 [engl. Orig. 1983], 113. 66 Als extremes Gegenbeispiel läßt sich die politische Abtrennung der mehrheitlich chinesischen Stadt Singa-pur von dem malaiisch dominierten Malaysia anführen. 67 T.M. McGee, The Southeast Asian City, London 1967, 72ff. 68 Vgl. dazu die detaillierte Studie von Bunnag (wie Anm. 54); die folgende Darstellung bezieht sich, soweit nicht anders vermerkt, auf diese Quelle.

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vention Großbritanniens in dem nördlichen Vasallenstaat befürchtet werden. Groß-britannien hatte bereits Mitte des 19. Jhs. mit militärischen Mitteln Burma unter seine Kontrolle gebracht, 1850 etablierte Frankreich seine Herrschaft im südlichen Annam (Cochin-China), 1863 wurde das kambodschanische Königreich französisches Protektorat und 1888 wurden die Siamesen aus Nordwest-Laos vertrieben. Nach militärischen Niederlagen gegen Frankreich mußte Siam 1893, unter dem Druck französischer Kanonen-boote auf dem Menam Chao Praya, der Abtretung aller Territorien östlich des Mekong zustimmen; zwischen 1904 und 1909 wurden aus politischen und ökonomischen Gründen weitere Territorien im Nordosten an Frankreich sowie die tributpflichtigen malaiischen Sultanate Kelantan, Kedah, Perlis und Trengganu im Süden an Großbritannien abgetreten (Abb. 4).69 Die Reform der Provinzverwaltung wurde, nach ersten Anläufen bereits seit 1870, während der Regierungszeit König Chulalongkorns (1868-1910) und auf energisches Betreiben seines Innenministers Prinz Damrong durchgeführt. Kernstück bildete die effektive fiskalische Zentralisierung, die Kontrolle der Gerichtsbarkeit in den Provinzen sowie die Besetzung aller staatlichen Posten, zunächst auf Provinzebene, später auch in den Distrikten durch von der Zentralregierung ernannte Beamte. Die Umsetzung der Reform war nur schrittweise gegen offene und passive Widerstände möglich, da damit die Entmachtung des lokalen Adels verbunden war. Diesem wurden, wie später auch den Vasallenfürsten, allmählich die materiellen Grundlagen entzogen: durch Abschaffung der Sklaverei,70 Beschneidung der Rechte auf Einzug von Steuern und Gerichtsgebühren sowie der Verfügung über die (Zwangs)Arbeitskraft der Phrai-Bevölkerung. Um den Widerstand gegen die Reformen zu überwinden, war die Zentralregierung zugleich aber auch bemüht, den Adel in den Staatsdienst zu übernehmen. Damit wurde er schließlich in eine staatlich bezahlte Beamtenschaft mit geregelten Arbeitszeiten verwandelt.71 Ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Reform war 1891 die Zusammenfassung der Provinzen zu zunächst 14 Kreisen (Monthons), für die jeweils ein vom König ernannter und staatlich bezahlter Regierungskommissar ("superintendent commissioner") mit weitreichenden Befugnissen eingesetzt wurde (Abb. 5). Mit dieser übergeordneten Verwaltungsstruktur (Thesaphiban-System), die bis 1915 allgemein durchgesetzt war und mit Korrekturen bis Anfang der 30er Jahre Bestand hatte, konnte allmählich die Besetzung aller Posten bis auf die untersten Ebenen durch in Bangkok ausgebildete und von der Regierung ernannte Beamte erreicht werden. Im Zeitraum von 1891-1915 stammten 33 von 47 "superintendent commissioners" aus der Adelsschicht Bangkoks. Immer mehr Ab-solventen durchliefen die "Royal Pages School", später die "Civil Service School", die zentrale Ausbildungsstätte für Verwaltungsfunktionäre in Bangkok. Aber auch landesweit wurden vor allem durch Förderung der Mönchsschulen Anstrengungen zur Verbesserung

69 Bunnag (wie Anm. 54), 89/251. 70 Sklaven unterlagen weder der Steuerpflicht noch waren sie wie die "phrai" zur Zwangsarbeit für öffent-liche Belange verpflichtet. Die Entscheidung König Chulalongkorns zur schrittweisen Aufhebung der Skla-verei ab 1897 hatte als wesentliche Ziele, den Adel materiell zu schwächen und die Zahl der gegenüber der Zentralregierung Steuerpflichtigen zu erhöhen. Vgl. Keyes (wie Anm. 50), 53. 71 Vgl. H.-D. Evers, The Formation of a Social Class Structure. Urbanization, Bureaucratization and Social Mobility in Thailand, in: American Sociological Review 31, 1966, H. 4, 482.

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Abb. 4: Siamesische Gebietsverluste 1786-1909

Entwurf: H. Schneider; Kartographie: U. Beha Quelle: verändert nach L. Sternstein (wie Anm. 57), 52

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Abb. 5: Monthon-Gliederung Siams 1915

Entwurf: H. Schneider; Kartographie: U. Beha Quelle: bearbeitet nach T. Bunnag (wie Anm. 54)

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des Bildungswesens unternommen. Standard Thai, die Sprache der Elite in Bangkok, wurde damit landesweit zur Unterrichtssprache und neben dem Buddhismus zu einem wichtigen Ferment des thailändischen Nationalismus.72 Die zunehmende funktionale Dif-ferenzierung und Modernisierung der in Bangkok konzentrierten staatlichen Bürokratie verschaffte der königlichen Zentralmacht eine zuvor nie gekannte Kontrolle über das gesamte Land.73 Die lokale Verwurzelung des "verbeamteten" Adels wurde durch häufige Versetzungen in verschiedene Landesteile unterminiert; ähnlich wurde auch die militärische Dienstpflicht zur Schwächung der Bindungen zwischen lokaler Bevölkerung und lokalem Adel genutzt. Grundsätzlich sollte die Entwicklung lokaler Klientelnetze, die zu lokalen oder regionalen Machtpotentialen hätten werden können, durch die ständige Rotation der Staatsbeamten verhindert werden. Widerstände wurden durch Verbannung, durch Verhaftung und wenn nötig auch mit militärischer Gewalt gebrochen: Eine Bauernrevolte in Chiang Mai (1898), Aufstände im Nordosten (1902), die Rebellion der ethnischen Minderheit der Shan in Phrae/Nordthailand (1902) und Unruhen in den malaiischen Provinzen im Süden wurden mit Gewalt unterdrückt. Die Durchsetzung einer effektiven Kontrolle des Staatsgebietes durch die Zentralisierung aller entscheidenden Funktionen in Bangkok machte auch eine neuartige Definition des staatlichen Territoriums erforderlich. Bis Mitte des 19. Jhs. waren die Staatsgrenzen nicht im Sinne einer scharf gezogenen Grenzlinie klar definiert, sondern sie bezogen sich auf die räumlich diffuse Reichweite der - graduell abgestuften und veränderlichen - Loyalität lokaler Adeliger und Vasallenfürsten sowie der von diesen kontrollierten Bevölkerung gegenüber der personell durch den König symbolisierten zentralen Macht. "The Thai conceived of the kingdom as a populace owing allegiance to a single monarch rather than a piece of territory. This cognition reflected the relative value of manpower, which was scarce, and land, which was plentiful."74 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. setzte sich in Siam als Reaktion auf die territorialen Ansprüche der imperialistischen Mächte die bis dahin fremde Vorstellung durch, territoriale Herrschaftsansprüche durch abstrakte Grenz-linien in den Raum zu projizieren.75 Die erste zuverlässige Karte Gesamt-Siams wurde 1887 in London gedruckt.76 Die von der königlichen Militärkartographie erstellten normativen Modelle des Staatsraumes waren ein notwendiges Mittel, die administrativ-fiskalischen und militärischen Ansprüche des Staates durchsetzen. Unter dem Eindruck der imperialistischen Bedrohung durch Großbritannien und Frank-reich war es Siam gelungen, Regierung und Administration zu modernisieren und zu ratio-nalisieren, vor allem aber eine effektive Kontrolle aller Landesteile einschließlich ehe- 72 Vgl. dazu W.A. Smalley, Linguistic Diversity and National Unity. Language Ecology in Thailand, Chicago/ London 1994. 73 Vgl. London (wie Anm. 25), 50. 74 Rabibhadana (wie Anm. 48), 103. 75 T. Winichakul, Siam Mapped. A History of the Geo-Body of Siam, Sydney 1988; B. Anderson, Die Erschaffung der Nation durch den Kolonialstaat. Das Beispiel Südostasien, in: Das Argument 1991, Nr. 186, 197-212. 76 Bunnag (wie Anm. 54), 72.

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maliger Vasallenstaaten (wie z.B. Chiang Mai) durch eine straffe, ausschließlich auf Bang-kok ausgerichtete und bis heute nachwirkende staatliche Zentralisierung durchzusetzen. Darin ist eine entscheidende Bedingung für die erfolgreiche Verteidigung der staatlichen Souveränität zu sehen - aber auch für die Zementierung der extremen Primatstellung der Metropole Bangkok: "[...] primate city parasitism is much more likely to exist in a situation in which an elite monopolizes power and dominates decision-making and policy implementation than in a case in which power is decentralized."77

V.4. Die Durchsetzung der Staatsbürokratie als neuer strategische Gruppe

Professionalisierung und Ausbau der Armee sowie die mit den Verwaltungsreformen verbundene Ausdehnung des bürokratischen Apparates erforderten eine zunehmende Re-krutierung des nötigen Personals außerhalb der königlichen bzw. adeligen Elite. Dies implizierte, daß die herkömmlichen Abstammungs- und Standeskritieren zur Selektion der "Diener der Krone" nun in wachsendem Maße durch moderne, auf Wissen und Leistung beruhenden Merkmalen ergänzt wurden. Die Ausbildungsinstitutionen für das gesamte administrative und militärische Personal, darunter die Vorläuferin der 1917 gegründeten Chulalongkorn-Universität, befanden sich ausschließlich in Bangkok, Auswahl- und Karriereentscheidungen wurden nur hier von den zentralen Institutionen getroffen. Der Erfahrungshorizont der neuen Staatsfunktionäre und Träger eines aufkommenden Nationalbewußtseins war damit in hohem Maße durch die auf Bangkok zentrierten "Funktionärs- und Bildungsreisen" und Karriereerwartungen geprägt.78 Da die höheren Ränge der Bürokratie weiterhin durch Angehörige der königlich-adeligen Elite besetzt waren, blieben die Karrierechancen begrenzt und der Konflikt zwischen den nach unterschiedlichen Kriterien rekrutierten Angehörigen der Bürokratie war vor-programmiert.79 Die Expansion des Staatsapparates, aber auch sinkende Staatseinnahmen durch die Krise des Weltwirtschaftssystems führten Ende der 20er Jahre zu Gehalts-kürzungen und Entlassungen bei den Staatsbediensteten. Dies bildete den Hintergrund für den erfolgreichen Staatsstreich der neuen - administrativen und militärischen - Elite von 1932, mit dem der König entmachtet und seine Befugnisse auf eine konstitutionelle Rolle reduziert wurden, eine scharfe Zäsur in der politischen Geschichte des Landes.80 Die in Bangkok quantitativ und funktional konzentrierte neue Staatsbürokratie hatte sich damit - und bis heute andauernd - als strategischen Gruppe aus eigener Machtkompetenz etabliert, "Diener der Krone" waren sie seitdem nur noch dem Namen nach.81 Für die Etablierung als strategische Gruppe spricht die zunehmende soziale Schließung der bürokratischen Elite: Rekrutierten sich vor 1932 noch über 40% der Neuzugänge zur administrativ-militärischen 77 London (wie Anm. 25), 42. 78 Vgl. dazu ausführlich Anderson (wie Anm. 65). 79 Vgl. Evers (wie Anm. 71), 482. 80 Vgl. Fessen/Kubitscheck (wie Anm. 54), 158. 81 H.-D. Evers/T. Schiel, Strategische Gruppen. Vergleichende Studien zu Staat, Bürokratie und Klassen-bildung in der Dritten Welt, Berlin 1988; E. Berner/R. Korff, Dynamik der Bürokratie und Konservatismus der Unternehmer. Strategische Gruppen in Thailand und den Philippinen, in: Internationales Asienforum, Jg. 22, H. 3/4, 287-305.

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Bürokratie aus der Bauernschaft, fiel dieser Anteil nach dem Sturz der absoluten Mon-archie auf 10%; zu drei Vierteln kamen die Neuzugänge aus Bangkok selbst oder anderen Orten der Central Region.82 Innerhalb der administrativ-militärischen Elite kam es in der Folgezeit zwar immer wieder zur Ausbildung unterschiedlicher Interessengruppen und Fraktionen, ohne daß dies jedoch die Vorherrschaft der "bureaucratic polity" (Riggs),83 zivile Bürokratie, Militär und Polizei, gefährdet hätte. Die Vorrangstellung der Hauptstadt Bangkok, die im Zuge der bürokratischen Modernisierung und Nationalstaatsbildung zu-nehmend von der charismatisch-symbolischen Rolle des Königtums abgelöst worden war, wurde durch diese politische Veränderung keineswegs geschwächt, sondern vielmehr noch verstärkt. Konkurrierende regionale Machtzentren konnte das neue bürokratisch-mili-tärische Zentrum noch weniger dulden als zuvor der König, mangelte ihm doch dessen kulturell-symbolische und landesweit akzeptierte Legitimation.84 Dezentralisierung von Kompetenzen wurde vor diesem Hintergrund - bis heute - als Gefährdung der Macht an-gesehen. Bis auf die untersten Verwaltungsebenen, d.h. einschließlich von Bürgermeistern und "village headmen" wurden bis vor wenigen Jahren alle Mandatsträger zentral von den zuständigen Instanzen in Bangkok ernannt und eingesetzt. Die so abgesicherte Machtbasis der Bürokratie war bis in die jüngste Vergangenheit bestimmend für Thailands Politik und wurde erst in den letzten Jahren durch das Aufkommen neuer sozialer Kräfte erschüttert. Auch ökonomisch verstärkte sich die Primatstellung Bangkoks über das bereits bestehende Niveau hinaus. Die nationalistische Ideologie der neuen bürokratischen Elite war gegen die ökonomisch mächtige und zahlenmäßig bedeutende chinesische Minderheit gerichtet, deren Rechte eingeschränkt wurden. Das chinesische Unternehmertum war damit in hohem Maße vom Wohlwollen der hochrangigen Vertreter der Staatsbürokratie abhängig und mangels außerbürokratischer Machtposition wurde Bestechung zu ihrem wichtigsten Mittel politischer Einflußnahme. Die führenden Vertreter der Staatsbürokratie nutzten ihre neue Machtposition, um im Tausch von politischer Protektion und "guten Beziehungen" die Aufnahme als Geschäftspartner in private Unternehmen zu erzwingen.85 Die Ver-flechtung von Staatsbürokratie und (vorwiegend chinesischstämmigem) Privatunter-nehmertum war aufgrund der hochgradigen politisch-administrativen Zentralisierung und der großen Rolle persönlicher Face-to-face-Kontakte bei informellen Arrangements ein weiterer die Vorrangstellung Bangkoks verstärkender Faktor.86

82 G. Egedy, Thailand. Stability and Change in a Bureaucratic Polity, Institute of Development Studies Discussion paper 248, Brighton 1988, 4. Vgl. auch Evers (wie Anm. 71), 488: "Since social mobility was probably fairly high in the initial stages of urbanization and bureaucratization, the rate of mobility has apparently declined in some sections of Thai society since the 1930’s. This is partly due to the formation, consolidation, and gradual closing of the bureaucratic elite, which has grown in size and developed class characteristics." 83 Vgl. F. Riggs, Thailand. The Modernization of a Bureaucratic Polity, Honolulu 1966. 84 Dieser Umstand wurde vom thailändischen König mehrfach für seine Schlichterrolle in tagespolitischen Auseinandersetzungen genutzt. 85 G.W. Skinner, Chinese Society in Thailand. An Analytical History, Ithaca/London 1957, 360ff.; Egedy (wie Anm. 82), 12f. 86 Soziokulturelle Aspekte dieser Art, die agglomerationsfördernd wirken, spielen auch in der aktuellen Debatte um Standortvoraussetzungen hochrangiger Dienstleistungszentren oder innovativer Industriedistrikte

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VI. Ausblick: Neue soziale Kräfte - Träger von Dezentralisierung und Disparitätenabbau? Eine Herausforderung für die zentralistische Staatskonzeption und die enge Verflechtung von Bürokratie und Privatunternehmen ist erst in jüngster Zeit mit dem Aufkommen neuer sozialer Gruppen entstanden. Mit dem boomartigen Wirtschaftswachstum Thailands, das seit Ende der 80er Jahre zu verzeichnen ist, hat das Gewicht eines neuen Mittelstandes nicht nur rein quantitativ, sondern auch im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis erheblich zugenommen. Die Bedeutung dieser Schicht von qualifizierten Angestellten im privaten und öffentlichen Sektor, insbesondere im Bereich der expandierenden hochrangigen Dienstleistungen, von Selbständigen ("professionals") und erfolgreichen Klein- und Mittel-unternehmern, wird mit der weiteren ökonomischen Expansion und Ausdifferenzierung noch zunehmen.87 Ihren sinnfälligen Ausdruck fand diese Entwicklung 1992 in Bangkok in dem erfolgreichen Massenprotest gegen die versuchte Machtergreifung des Ex-Armeechefs Suchinda: Anders als in früheren staatskritischen Oppositionsbewegungen (z.B. in den 70er Jahren) spielten nicht Gewerkschaften oder Studenten die Hauptrolle, sondern die Angehörigen der neuen Mittelschicht, die ihre Aktionen gegen die mili-tärischen Repressionskräfte - symbolträchtig für eine neue Zeit - per Mobilphone koordi-nierten.88 Nach einer Erhebung der "Social Science Association of Thailand", die 1992 während der gewaltsam und unter hohen Opfern unterdrückten Straßenproteste durch-geführt wurde, hatten zwei Drittel der Demonstranten einen Universitätsabschluß, 60% waren in der Privatwirtschaft tätig und 86% verfügten über überdurchschnittliche Ein-kommen.89 Fraglich ist jedoch, ob diese neue soziale Mittelschicht Träger einer verstärkten politisch-administrativen und ökonomischen Dezentralisierung sein kann. Ihr ökonomi-scher und sozialer Aufstieg relativiert zwar den bürokratischen Zentralismus, die neue Mittelschicht und ihr zunehmend durch "globalisierte" westliche Werte geprägter Lebens-stil sind jedoch ausschließlich städtische, vor allem hauptstädtische Phänomene. Ent-sprechend ist ihr Leitbild einer effizienten (nicht unbedingt auch demokratischen) Regierung zwar gegen Korruption und Vetternwirtschaft und damit gegen die Ver-flechtung von Staatsbürokratie und Wirtschaft gerichtet, es ist zugleich aber auch in hohem Maße (groß)stadtorientiert. Politischer Druck in Richtung auf einen Abbau der sozialräumlichen Disparitäten könnte dagegen eher von einer neuen Unternehmerschicht kommen, die sich im Zuge des wirt-schaftlichen Aufschwungs auch in den klein- und mittelstädtischen Zentren in den Pro- eine Rolle. A. Amin und N. Thrift haben diese soziokulturellen Standortfaktoren mit der griffigen Formel der "institutional thickness" auf den Begriff gebracht; vgl. A. Amin/N. Thrift, Globalisation, Institutional Thick-ness and the Local Economy, in: Healey, P. et al. (Eds.), Managing Cities. The New Urban Context, Chi-chester 1995, 91-108. 87 K. Hewison, Emerging Social Forces in Thailand. New Political and Economic Roles, in: Robison, R./Goodman, D.S.G. (Eds.), The New Rich in Asia. Mobile Phones, McDonalds and Middle-class Re-volution, London/New York 1996, 154. 88 J. Rüland, Dikatur oder Demokratie? Powerplay in Bangkok, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1992, B27/92, 40-47. 89 Zit. nach Hewison (wie Anm. 87), 138.

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vinzen entwickelt hat.90 Teilweise ist dies bereits ein Resultat negativer Agglomerations-effekte: Der wesentlich auf den Großraum Bangkok konzentrierte Boom der letzten Jahre hat hier bereits zu Arbeitskräftemangel und einem deutlichen Anstieg des Lohnniveaus geführt. Zahlreiche Unternehmen in Bangkok - vor allem der Textil- und Schuhindustrie - reagieren auf das empfindliche Schrumpfen des Niedriglohnvorteils mit Total- oder Teilverlagerungen ihrer Produktionsstätten in jene Provinzen, in denen die Regierung seit Mitte 1996 die Beschäftigung illegaler Einwanderer legalisiert hat und wo das Lohnniveau entsprechend niedrig ist. So arbeiteten Näherinnen in der Nähe der Grenze zu Myanmar/ Birma 1996 bereits für 2US$/Tag, rund der Hälfte des vorgeschriebenen Mindestlohns.91 Konnte die zentralistische Staatsadministration in der Vergangenheit mit beachtlichem Erfolg die Bildung von Machtkartellen in den Provinzen verhindern, u.a. durch die stän-dige Rotation der lokalen Verwaltungsbeamten,92 zeichnet sich jetzt mit dem Aufstieg von Provinzunternehmern erstmals eine Veränderung ab. Mit ihren legalen und auch weniger legalen Geschäften (z.B. Prostitution, Drogenhandel, Holzeinschlag, Glücksspiel, Land-raub) sind sie nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial in hohem Maße lokal bzw. regional verwurzelt und bilden damit auch politisch einen gewichtiger werdenden Macht-faktor. Mit der relativen Festigung des Parlamentarismus hat zudem die Bedeutung der Wähler-stimmen aus den Provinzen für den Machtpoker auf der parlamentarischen Bühne Bang-koks zugenommen. Da sich die Politiker ihrer Wählerklientel erkenntlich zeigen müssen (Stimmenkauf, Wahlgeschenke usw.), wirkt dies ebenfalls in Richtung Dezentralisierung und Disparitätenabbau. Dies gilt auch für Basisbewegungen und Nichtregierungsorgani-sationen (NGOs), die im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung Thailands in wach-sender Zahl auch außerhalb Bangkoks entstanden sind und die sich z.B. - teilweise von buddhistischen Mönchen unterstützt - gegen den grassierenden Raubbau an der natürlichen Umwelt zur Wehr setzten. Von der Entwicklung solcher Ansätze einer "civil society" außerhalb Bangkoks, aber nicht zuletzt auch von der Stärke der auf metropolenfernere Räume orientierten ökonomischen Interessen - dazu gehört z.B. auch die stark expan-dierende Tourismuswirtschaft93 - wird die Reduzierung des ausgeprägten administrativ-politischen, räumlichen, soziokulturellen und wirtschaftlichen Zentralismus in Thailand abhängen. VII. Schlußbemerkung Die ausgeprägte Primatstellung der Metropole Bangkok läßt sich nur teilweise aus dem allgemeinen Entwicklungsniveau des Landes, der besonderen Rolle von Agglomera-

90 Vgl. P. Chotiya, The Changing Role of Provincial Business in the Thai Political Economy, in: Hewison, K. (Ed.), Political Change in Thailand. Democracy and Participation, London/New York 1997, 251-264. 91 Vgl. SÜDOSTASIEN aktuell, 4/1996, 300. 92 B. Anderson, Murder and Progress in Modern Siam, in: New Left Review 1990, Nr. 181, 39ff.; Hewison (wie Anm. 87), 156; Chotiya (wie Anm. 90), 252. 93 Vgl. Vorlaufer (wie Anm. 12).

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tionsvorteilen in der Initialphase ökonomischer, insbesondere industrieller Entwicklung sowie daran ansetzender Prozesse zirkulär-kumulativer Selbstverstärkung erklären. Trotz einer beachtlichen wirtschaftlichen Entwicklung, die seit den 80er Jahren sogar "boom-artige" Züge angenommen hat, ist keine Abschwächung der "primacy" Bangkoks zu verzeichnen. Folgewirkungen des Kolonialismus, in vielen Fällen eine wichtige Er-klärungsvariable für Primatstadtentwicklungen, können für Bangkok, das immer die Hauptstadt eines politisch selbständigen Staates war, zumindest nicht direkt geltend gemacht werden. Aber gerade der Zwang zur politischen Selbstbehauptung gegenüber dem territorialen Expansionsdruck und der ökonomischen Überlegenheit der imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich hat eine extreme funktionale und in der Folge auch demographische "primacy" des politisch-administrativen, aber auch kulturellen Zentrums Bangkok hervorgebracht. Befriedigend läßt sich dies nur unter Einbeziehung historisch-spezifischer Gründe erklären, die in Bangkoks Entwicklung von einer "orthogenetic city", einem symbolisch-zeremoniellen Staatszentrum, zum quasi-kolonialen Brückenkopf und schließlich zum politisch-administrativen Zentrum eines straff zentralisierten Staates zu suchen sind. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die um die Jahrhundertwende durchgesetzte Reform der Provinzverwaltung, die mit der Entmachtung des lokalen Adels den Übergang von einem vormodernen Königtum zu einem zentralisierten, modernen Nationalstaat eingeleitet und den Aufstieg einer administrativ-militärischen Staatsbürokratie zur herr-schenden strategischen Gruppe ermöglicht hat. Deren politische Stellung ist erst in jüngster Zeit mit dem Aufkommen neuer sozialer Kräfte erschüttert worden. Offen ist dabei noch, ob sich die neuen Kräftekonstellationen in Richtung Disparitätenabbau oder weiterer Befestigung der Vorrangstellung der Metropole Bangkok auswirken werden.

FdR – Publikationen "Freunde des Reiff " der Fakultät für Architektur an der RWTH-Aachen e.V. Stand: August 2004

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Beiträge der 'Freunde des Reiff e.V.' an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen. ISSN 1438-6658 Nr. 1 Nitsch, Walter Carl 1999: Das Quirinus Münster. Baubericht und Neue Sicht.

ISBN 3-936971-04-8, Ln, € 165,00 – SFr. 249,00

Wissenschaftliche Schriften an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen. ISSN 1437-1774 Nr. 1 Weinand, Yves 1998: Sichtbare Spannungen.

ISBN 3-936971-02-1, Ln, € 65,00 – SFr. 99,00 Nr. 2 Döring, Wolfgang; Führer, Wilfried; Jansen, Michael (Hrsg.) 1999: Brückenschläge.

Festschrift zur Vollendung des 60. Lebensjahres von Wilhelm Friedrich Führer. vergriffen

Nr. 3 Pieper, Jan; Naujokat, Anke und Kappler, Anke 2003: Jerusalemskirchen. Mittelalterliche Kleinarchitekturen nach dem Modell des Heiligen Grabes. Katalog zur Ausstellung. ISBN 3-936971-10-2, Brosch., € 8,00 – SFr. 15,00

Nr. 4 Jansen, Michael (Hrsg.) 2004: Archaeological Park al-Balid. Technical Report. ISBN 3-936971-11-0, Ln, € 369,00 – SFr. 549,00

Nr. 5 Jansen, Michael (Hrsg.) 2004: Archaeological Park al-Balid. Site Atlas. ISBN 3-936971-12-9, € 299,00 – SFr. 444,00 (A4: € 159,00 – SFr. 239,00)

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Nr. 7 Jansen, Michael und Hoock, Jochen (Hrsg.) 2002: Stadtnetze. Veröffentlichungen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Stadtkulturforschung IAS, Bd. 3 ISBN 3-936971-15-3, Ln, € 55,00 – SFr. 84,00

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werkentwurfs. ISBN 3-936971-00-5, Ln, € 65,00 – SFr. 99,00

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Nr. 3 Eggemann; Holger 2003: Vereinfachte Bemessung von Verbundstützen im Hochbau. Entwicklung, historische Bemessung und Herleitung eines Näherungsverfahrens. ISBN 3-936971-09-9, Ln, € 40,00 – SFr. 59,00

Dissertationen an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen. III, Geisteswissenschaften. ISSN 1436-7912 Nr. 1 Dams, Bernd H. 1998: Marly. Die Ursprünge des Königlichen Schlosses von Marly: Iko-

nologie und Architektur. ISBN 3-936971-01-3, Ln, € 85,00 – SFr. 129,00

Nr. 2 Janßen-Schnabel, Elke 1999: Planungsprogramme frühkolonialer englischer Städte in Nordamerika im Vergleich mit Konzepten französischer, niederländischer und spanischer Niederlassungen. ISBN 3-936971-03-X, Ln, € 55,00 – SFr. 84,00

Nr. 3 Hung, Chuan Hsiang 1999: Die Gestaltung und Veränderung der Stadt Tainan seit ihrer Gründung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Strukturanalyse der historischen Hauptstadt Taiwans. ISBN 3-936971-05-6, Ln, € 75,00 – SFr. 114,00

Nr. 4 Wijesundara, Kuliyapiti W. J. P. 2001: Urban conservation and the renewal of the his-toric city. A comprehensive study on the methods, means and strategies of urban con-servation between Germany and Sri Lanka with special reference to the conservation policy in the renewal process. ISBN 3-936971-06-4, Ln, € 105,00 – SFr. 159,00