Entwickelung oder Nicht-Entwickelung?

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Ornithologische Beobachtungen. 45t sie auf diesem ungewiihnlichen Platz verweilten, kratzte sich die eine, auf einem Fusse stehend, mit dem andern am Kopfe. Anch an anderen ftir gewShnlich nicht yon ihnen besuchten Often finden sich manchmal Bekassinen ein. So jagte ich 1896 im Oktober 2 Sttick in der N~ihe des Strassenteiches yon einer ziemlich trocknen, gem~thten und mit dem dfirren Gras bedeckten Wiese auf, am 28. M~trz 1897, als am Ufer des Ziegelteiches viel Sumpfschnepfen eingefallen waren und einmal 10 Stfick fast gleichzeitig abflogen, stiegen yon einem mit Strohdiinger bedecktem Felde zwei, nach kurzer Zeit vier vom Rande dieses Grundstiickes und eine weit drinnen im Felde auf. Auch am 5. April d. J. jagte ich zwei von dem gedfingten Felde fort, und am 19. Sept. desselben Jahres erhoben sich, nachdem vier das versumpfte Teichufer verlassen, gleichzeitig sieben Sumpfschnepfen aus einem an diesen Teicb grenzenden Kartoffeifeld. Auch an noch anderen aussergewiihnlichen Stellen fallen sie mitunter ein, so stand am 9. September 1900 eine Bekassine mittags am Grossen Frohburger Teiche ganz frei im seichten Wasser, behielt auch ihren Platz inne, als die dort sich ebenfalls aufhaltenden Krick- und andere Enten unter Rufen aufs Wasser flogen, erst als ich ihr sehr nahe gekommen, bequemte sie sich zum Abfliegen, um ganz in der Nithe wieder einzufailen. Am 28. September 1901 hatte man wegen Streumangel eine versumpfte, meist mit Binsen, Seggen etc. bestandene Uferstelle abgem~ht; daselbst hatte sich eine grosse Anzahl Sumpfschnepfen niedergelassen. Nachdem bei meiner Ann~therung erst einzelne abgefiogen, tat dies dann gleich- zeitig ein Dutzend, dem kurz darauf noch einige folgten. Ab und zu hiirt man an dem einen oder andern Teich auch eine Bekassine meckern. So tat dies z. B. am 7. Juli 1901 vor- mittags 1 Exemplar, indem es fiber dem Strassenteich unter ab- wechselndem Meckern und Dickerufen umherflog, um endlich unter den letzten Rufen am Teichrande einzufallen. (Fortsetzung folgt.) Entwiekelung oder Nieht-]~ntwiekelung~ (Replik auf die Ausfiihrungen O. Kleinschmidt's). Von Wilhelm Sohuster. Homer, Ilias I, 131 u. 132. ,0 quae mutatio temporuml" Herr Pfarrer 0. K 1e i n s c h m i d t stellt in No. 12 der ,,Ornithol. Monatsberichte" 1903, S. 180 mit besonderem Nachdruck den Satz auf: ,,Ich protestiere feierlich dagegen, dass die Entwickhmgslehre anerkannt sei. Ieh erkenne sie nicht an." -- Dass der yon mir in No. l0 derselben Zeitschrift, S. 156, niedergelegte Passus:

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Ornithologische Beobachtungen. 45t

sie auf diesem ungewiihnlichen Platz verweilten, kratzte sich die eine, auf einem Fusse stehend, mit dem andern am Kopfe.

Anch an anderen ftir gewShnlich nicht yon ihnen besuchten Often finden sich manchmal Bekassinen ein. So jagte ich 1896 im Oktober 2 Sttick in der N~ihe des Strassenteiches yon einer ziemlich trocknen, gem~thten und mit dem dfirren Gras bedeckten Wiese auf, am 28. M~trz 1897, als am Ufer des Ziegelteiches viel Sumpfschnepfen eingefallen waren und einmal 10 Stfick fast gleichzeitig abflogen, stiegen yon einem mit Strohdiinger bedecktem Felde zwei, nach kurzer Zeit vier vom Rande dieses Grundstiickes und eine weit drinnen im Felde auf. Auch am 5. April d. J. jagte ich zwei von dem gedfingten Felde fort, und am 19. Sept. desselben Jahres erhoben sich, nachdem vier das versumpfte Teichufer verlassen, gleichzeitig sieben Sumpfschnepfen aus einem an diesen Teicb grenzenden Kartoffeifeld. Auch an noch anderen aussergewiihnlichen Stellen fallen sie mitunter ein, so stand am 9. September 1900 eine Bekassine mittags am Grossen Frohburger Teiche ganz frei im seichten Wasser, behielt auch ihren Platz inne, als die dort sich ebenfalls aufhaltenden Krick- und andere Enten unter Rufen aufs Wasser flogen, erst als ich ihr sehr nahe gekommen, bequemte sie sich zum Abfliegen, um ganz in der Nithe wieder einzufailen. Am 28. September 1901 hatte man wegen Streumangel eine versumpfte, meist mit Binsen, Seggen etc. bestandene Uferstelle abgem~ht; daselbst hatte sich eine grosse Anzahl Sumpfschnepfen niedergelassen. Nachdem bei meiner Ann~therung erst einzelne abgefiogen, tat dies dann gleich- zeitig ein Dutzend, dem kurz darauf noch einige folgten.

Ab und zu hiirt man an dem einen oder andern Teich auch eine Bekassine meckern. So tat dies z. B. am 7. Juli 1901 vor- mittags 1 Exemplar, indem es fiber dem Strassenteich unter ab- wechselndem Meckern und Dickerufen umherflog, um endlich unter den letzten Rufen am Teichrande einzufallen.

(Fortsetzung folgt.)

En twieke lung oder Nieht-]~ntwiekelung~ (Repl ik auf die A u s f i i h r u n g e n O. Kle inschmid t ' s ) .

Von W i l h e l m S o h u s t e r .

Homer, Ilias I, 131 u. 132.

, 0 quae mutatio temporuml" Herr Pfarrer 0. K 1 e i n s c h m i d t stellt in No. 12 der ,,Ornithol.

Monatsberichte" 1903, S. 180 mit besonderem Nachdruck den Satz auf: ,,Ich protestiere feierlich dagegen, dass die Entwickhmgslehre anerkannt sei. Ieh erkenne sie nicht an." -- Dass der yon mir in No. l0 derselben Zeitschrift, S. 156, niedergelegte Passus:

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48~. Wilhelm Schuster:

,,Erscheint es nicht wieder auf Grund solcher Erkenntnis als gar sehr fehlerhaft, als kleinlich beschr~inkt, subtile Art- scheidungen in die Natur hineinzutragen nach einem bestimmten ,,wissenschaftlichen" Schema, einer menschlich subjektiven Schablone --- - - Artscheidungen, die in Wirklichkeit garnicht vorhanden sind, sondern sich lediglich als Registrierung der Spezifika des (nach Zeit und Ort) anders gearteten Movens yon Lebenssitten etc. nut e ine r Spezies ausweisen? Jener tendenzgetreue Schematismus ist eine Srinde wider die (doch anerkannte) Entwickelungslehre!"

u n m i t t e l b a r an die h d r e s s e yon H e r r n K l e i n s c h m i d t g ing , welcher vier Seiten vorher (S. 153) auf Grund einer kleinen, an nur frinf sizilischen Habichtsexemplaren (als Parallel- stricken zu sizilischen Sperbern) wahrgenommenen sogenannten ,,hrtverschiedenheit" geschrieben hatte: ,,Wer da meint, die Natur arbeite nirgends nach einem Schema, der miige diese beiden Formen ansehen und v e r s t u m m e n " - - das war ja eigentlich sehr einfach und klar und wurde auch yon Herrn Kleinschmidt ganz richtig herausgefrihlt. Aber dass sich Herr Kleinschmidt daraufhin zu der obigen paradoxen These: ,,Ich erkenne die Entwickelungslehre nicht an" dr~tngen lassen wrirde, das h~ttte ich denn doch nicht erwartet. Denn die Leugnung der Ent- wickelung in der organischen Natur (und damit der Tierver- ~,tnderungen) ist doch keine conditio sine qua non fiir die Anfechtung meiner Tatsachenmitteilung (betreffend die ver~nderte Nistweise der Juister Brandenten); Herr Kleinschmidt h~itte doch vielleicht auch noch auf andere Weise mich ,,totmachen" bezw. mir Widerpart leisten zu kiinnen glauben drirfen. Ich erkl~ire mir also die obige, (wie sich zeigen wird: ganz einzigartige)Idee Kleinschmidts als eine extrem individuelle These, hervorgegangen aus der augenblicklichen oppositionellen Stellung ihres Autors, erzielt im getreuen Verfolg vorausgehender prinzipieller Gedanken- aufstellungen: Als das momentane geistige Entwickelungsprodukt aus schon lange vorher (stark) g~ihrenden Tendenzen. Und ob nun Kleinschmidt jetzt auch noch die Entwickelung in der Natur leugnet, um seine Theorien fiber ,,Formenkreis" und ,,Lebensring" um so eher - - sit venia verbol - - ,,durchdrricken" zu kSnnen oder ob datum nicht, ist mir hier weiterhin Nebensache; Tat- sache ist: E r leugnet die Entwickelung.

Was ist nun mit dieser These, welche Vorgeschichte hat sie? Eine logische Untersuchung soil es dartun. Es springt zun~chst so fo r t in die Augen, dass diese These ihrem ganzen C h a r a k t e r nach auf derselben Linie vorw~irtsl~iuft, auf welcher alle jenen modernen -- berufene und unberufene! -- Bestrebungen paradieren, welche so etwa das Motto an der Spitze tragen: ,,Tod dem Darwinismus." Der Geist der Kleinschmidt'schen These ist - - jedocb, wie sich sp~iter zeigen wird, nut s c h e i n b a r identisch mit demjenigen, welcher sich in den gleichfalls neu-

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zeitlichen (in No. 10 des ,,Zool. Gart." 1903 yon mir in einem l~ingeren Essay, S. 325--332, abgefertigten)Totelager-Leichen- reden: ,,Am Sterbelager des Darwinismus" breitmacht. Auf den ersten Blick zun~iehst anscheinend dieselbe Signatur e derselbe formfertige, geschlossene polemische Typus (und doch nur an- scheinend)! Dieser verneinende Geist des Widerspruchs mit seinen so garnicht verfitnglichen Produzierungskfinsten -- ich will nicht sagen: in Mephistopheles' Art - - ist zur Zeit auf naturwissen- schaftlichem Gebiete ein ungemein aktuelles Thema. Und darum quae mutatio temporum! Vor ftinfundzwanzig, ja noch vor fiinf- zehn Jahren wiire gewisslich die eben hier gekennzeichnete Fechter- bezw. Thesenstellung durctlaus n ich t miiglich gewesen. Heute aber ist sie miiglich -- - - weft sich so und so viele akademische Lehrer mit mehr oder minder grossem Vorbehalt~ mit geringeren oder st~rkeren Modifizierungen, mit engerer oder weiterer, immer Mass und Ziel setzender Reserve [und hi. B. auch mit vielleicht mehr oder weniger Recht] ge~en den sogenannten ,,Darwinismus" - - den typischen Darwinismus im engeren, beschritnkten Sinnc (also die Selektions-, Zuchtwahltheorie) -- ausgesprochen haben

nota bene, sich ausgesprochen haben nicht strikte und absolut, sondern unter Anerkennung des Darwin'schen und Vor- Darwin'schen (Lamark'schen) Gesamtbaues freilich allesamt nur mit engeren odor weiteren Modifizierungen, welche einerseits nut Einzelheiten an dem System itndern wollen und andererseits ffir jeden einzelnen Thesensetzer eine gewisse, vorsichtigerweise auf- gerichtete Deckung bedeuten sich ausgesprochen haben nur gegen den ,Darwinismus" im engeren Sinne. Weil ein Wi- gand, Hamann, Haacke, Driesch, Julius yon Sachs, Goette, Kor- schinsky, Haberlandt, Steinmann, Eimer, Fleischmann (es sind das so ziemlich alle hier event, zu nennenden Namen) gewesen sind, ist die These eines Kleinschmidt mi~glich. Nur datum! ~)

Nun das Aber! Alle diese Mi~nner tier Wissenschaft haben sich ja aber niemals gegen die Entwicklungslehre selbst gewandt.

1) Und yon diesen wenigen, hier namhaft gemachten Mannern der Wissenschaft (yon den nichtwissenschaftlichen, sondern r e l i g i 6 s e n In- tentionen folgenden Gegnern sehe ich nattirlieh ab), welche sich irgondwie und irgendwann einmal polemisch gegen Darwin gewandt haben, ,,mSchte sich gewiss wohl ein Tell (so z. B. vielleicht Haacke, Goette etc.) ver- bitten, dass bestimmte von ihnen geschriebene Satze aus dem Ganzen herausgerissen und lediglieh in dem einen Sinne verwandt werden, der eine Missdeutung leicht zulasst, oder dass sic auf Grund irgendweleher nebensfichlicher lndizien als Gegner des ,,Darwinismus" aufgeftihrt werden. Prof. Eimer z. B. ist e b e n s o ffir den engeren Darwinismus (Selektions-, Zuehtwahltheorie) als dagegen, d. h. er billigt das eine und weist das andere zurfick; er erklart aueh ausdriicklieb, dass er sich garnicht unter- fange, einem Manne wie Darwin entgegenzutreien" (Zool. Gart.", 1903, S. 337).

J o m u . [. Orn. LII . Jahrg-. Ju]i 1904. 29

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Keiner von ihnenl) hat die Deszendenztheorie verworfen. Wo- gegen sie sich aussprechen, das ist eine besondere Modifikation (n~imlich die Darwin'sche) zur Entwickelungslehre, das ist der ,,Darwinismus", eine Erkliirung der Art und Weise der Ent- wickelung~ n~imlich durch sexuelle huslese etc. Die D e s z e n d e n z - t h e o r i e (Enwickelungs-, Abstammungslehre) stammt im Wesent- lichen yon Lamarck~ der , , D a r w i n i s m u s " (Zuchtwahl-, Selek- tionstheorie) vou Darwin . Hie (bei Darwin) spezielle Zucht- wahltheorie -- dort (bei Lamarck etc.) allgemeine Entwickelungs-, Abstammungslehre schlechthin. Der Unterschied zwischen beiden ist ein elementarer. Abgesehen nun yon Weismann, Haeckel, Wallace, Huxley, Hehn, Marshall, Pflfiger, Lubbock, F. yon Wagner, Ranke, BSlsche, Btichner, Boettger, BreAm, Hertwig, Noll, A. und K. Miiller, Keller, Spitzer, Ule, Dodel u. s. w. u. s. w. und hundert andereu ebenso bedeutungsvollen, berfihmten Namen, welche klar und lest auch fiir den ,,Dar- w i n i s m u s " eintreten, so sehen und kennen die oben zuerst genannten wenigen M~tnner auch alle doch ~enigstens die Ent- wickehmg (und damit eben zugleich die Tierver~tnderungen), erkennen vol] und unumwunden die E n t w i c k e l u n g s l e h r e an. Das Gegenteil w~ire auch thSricht. Denn absolut kein natiir- licher Lebensprozess, ke in organisches Werden, Sein und Ver- gehen in der Welt ist ohne die - - neue Werte schaffende und Ver~inderungen wirkende -- Entwickelung zu denken. Die Ent- wicke lungs lehre ist a l lgemein anerkannt , [der , ,Darwinis- mus" nicht] Jeder bemerkt, kennt, nennt sozusagen die Ent- wickelung, der antike Weise und das moderne Schulkind. Livius, der alte RSmer, spricht mit iiberraschender Deutlichkeit yon ihr [38, 17: ,,bei Pfianzen und Tieren ist die den Artcharakter auf- recht haltende Vererbung ohnm~tcht ig gegen die dutch Boden und Kl ima (quantum terrae proprietas coelique) b e w i r k t e n Ver~ tnderungen ; alles entwickelt sich vollkommener an dem Orte seines Ursprungs; bei Versetzung auf einen fremden Boden verwandelt es seine Natur nach den Stoffen, die es aufnimmt"]. Herder (in , ,0ber den Ursprung der mcnschlichen Sprche") und Goethe (in seinem Pfianzenwerk) erkennen sic an. Alexander yon Humboldt, der gefeiertste Patriarch unter den bTaturforschern der ersten H~ilfte des 19. Jahrhunderts, Karl Ernst von Baer, der Begrfinder der modernen Embryologie, Johannes Miiller, der Begrtinder der modernen Physiologie, Charles Lyell, der Be- grfinder der modernen Geologie, Thomas Huxley, Alfred Russel Wallace sind ihre entschiedenen Anh/inger. Darwin, m. E. der

1) ~qur abgesehen viel leicht yon dem etwas unbestandigen Fleisch- mann, welcher zwar in dem ersten Tell seines ,,Lehrb. der Zoologie" (1896) ganz natfirlieh auch f fir die Entwiekelungslehre eintritt, in dem 2. Tell nicht mehr ganz. Vergl. fiber dieses Bueh das Urteil Prof. Plate's im ,,Jahrbuch der Naturkunde" I, S. 1401

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griisste Gedankenkombinator aller Zeiten, t r i t t far sie ein. ,,Ent- wickelung" ist der oberste Erkenntnisgrund und der erste Lehr- satz der ganzen wissenschaftlichen Welt fast schon von Einst und ganz sicher von Heute ; die Wissenschaft erkennt, erkl~trt, verteidigt die Entwickelung als ein Grundprinzip alles Werdens in der belebten (und teilweise auch unbelebten) Natur. Und auch die ganze nicht naturwissenschaftliche Wissenschaft (bezw. Welt), auch die orthodox-theologische, gibt heute die Entwickelung zul). Selbst der Verfasser yon ,,Am Stelbelager des Darwinismus", ein Dr. E. Dennert, Rektor eines evangelischen Knabenp~tdagogiums, sagt ausdriicklick: Die Entwickelungslehre erkenne ich an (S. 18 -- 25, S. 73, 74) 2); dasselbe betont ganz entschieden z. B. der beriihmte Biologe E. Wasmann, Jesuit, welcher selbst mit tiberzeugender, ja schlagender Akribie nachgewiesen hat, dass die Lomechusen ein Ziichtungsprodukt des Freundschaftsinstinkts der Formika- gattung (Ameisen) sind (vgl., ,Jahrbuch d. Naturkunde" I, S. 139-- 145,

1) Wie allgemein und unumstritten die Entwickelungslehre aueh ge rade in der gegenwar t igen Zeit gilt, daffir babe ich in No. 10 des ,,Zool. Gart." 1903, S. 327 Folgendes angeffihrt:

,,Wer nur einigermassen unser jetziges geistiges Leben kennt, muss yon allem eher reden als yon einem ,,Ersterben" der Darwin'schen Lehren [gemeint sind hier vor allem die Entwickelungslehren]. Das sagen ibm insbesondere drei Umstande:

A.) Es werden fast alle unsere fachwissensehaftlichen Zeitschriften die Tagesblatter, soweit sie wissensehaftlich erscheinen wollen, yon den

Fachzeitsehriften beeinflusst, natiirlieh a uch - - mit Darwin'schen Gedanken und Ideen gespeist, mit Untersuehungen in Darwin'schem Geist und Sinne geffillt. [ - - ,,wie sic heutzutago auf den Gassen gepredigt werden," Kleinschm. ,,0. M.," S. 179--] .

B.) hlle Wissenschaften, selbst die Theologie (als Wissenschaft), haben sieh den Darwin'schen Entwickelungsgedanken und die Darwin'sehe Methode, eino Sache in ihrem Entstehen, in ihrem natfirlichen Werdegang, zu begreifen, angeeignet. Was speziell die Aneignung des Entwiekelungs- gedankens dutch die Theologie angeht, so unterriehte man sieh dariiber in den derzeit fortlaufenden genialen Naumann'schen ,,Briefen iiber die Religion" in der ,,Hilfe" des bekannten Pfarrers Dr. Naumann, eines ge- radezu begeisterten Anhangers der Entwiekelungslehre, und in dem Bueho: ,,Christentum und Darwinismus (!) in ihrer Versiihnung" yon Platter Dr. phil. Hermann Franke.

C.) Die hervorragendsten Naturforseher der Gegenwart, die tiieh- tigsten, arbeitsfreudigsten, weitschauendsten Manner unseres Zeitalters sind fiir den ,,Darwinismns," zum wenigsten aber far die Entwiekelungslehre alle."

2) Vgl. z. B. ,,Nun ist es unzwei fe lhaf t , dass in gewissen Fallen sieh eino Umwandlung der Formen nachweisen liess, hinsichtlieh der Tiere verweise ieh z. B. auf die Versuche yon Standfuss mit Schmetterlingen, hinsiehtlieh der Pflanzen auf den u Haberlandts, den ich in diesen Aufsatzen schilderto (s. III.)" (S. 73).

29 ~

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,,Ein K~ifer als Zeuge ftir die Deszendenztheorie"!). Ja selbst sogar die Benediktiner - - ,,Stimmen aus Maria-Laach" (an denen fibrigens auch E. Wasmann mitschreibt, vgh Jahrg. 1903~ w~hrend sie Herr Pfarrer Kleinschmidt wohl nicht zu lese~ bekommt) stehen nicht mehr auf dem Vor-Lamarck'schen Standpunkt (d. i. dem Stand- punkt der alt-semitischen Kosmogonie, der babylonisch-hebr~ischen SchSpfungsmythen 1). Kurz und gut -- die Entwickelungslehre ist ein Grundfaktor der ganzen modernen Wissenschaft. m Er- gebn is: Uberall ganz uabedingte, aprioristisch selbstverst~tndliche Anerkennung der Entwickelungslehre. Und nur Herr Pfarrer O. Kleinschmidt in Volkmaritz bei Eisleben leugnet die Ent- wickelung ganz entschieden.

Und so komme ich denn nun auf Grund der bisherigen Er- 5rterungen zu folgenden zwei Schltissen:

1.) H e r r P f a r r e r K l e i n s c h m i d t hat D a r w i n i s m u s und E n t w i c k e l u n g s l e h r e n i c h t a u s e i n a n d e r g e h a l t e n , noch n i c h t a u s e i n a n d e r z u h a l t e n g e w u s s t , s onde rn be ide s v e r w e c h s e l t , d u r c h e i n a n d e r g e w o r f e n ; el" ha t f r i sch- f r S h l i c h auf d ie se i i b e r t r a g e n , was nur j e n c m z u k o m m t . Dies (was aber selbst einem angehenden Zoologen nicht mehr passieren daft, vgl. hieriiber in einer sp~tteren Fussnote (unten) das Urteil Prof. Haacke's!) ist mir das W a h r s c h e i n l i c h s t e . - - Oder aber

2.) Herr Platter Kleinschmidt hat scinen Ausspruch bewusst, mit vollem Verst~indnis und voller Wtirdigung der niederge- schriebenenWorte, getan. In d i e sem F a l l e s t e l l t s i c h H e r r P f a r r e r K l e i n s c h m i d t mi t s e i n e r p a r a d o x e n T h e s e au f das G e b i e t j e n s e i t s a l l e r e r n s t l i c h e n , m a s s g e b e n d wissen- s c h a f t l i c h e n E r 5 r t e r u n g e n .

Ich will das zweite einmal als gegeben setzen. In diesem Falle genii~t es mir, lediglich das Ergebnis festzunageln: die strate- giscbe Position Herrn Pfarrer Kleinschmidt's liegt ausserhalb der Grenzen aller jetzt giiltigen ofiiziellen Wissenschaft. Was Jahr- hunderte erkannt, was die grSssten Geister -- und N. B. auch das Gros der kleinen und kleinsten -- selbstverst~indlich gefunden, alas verwirft Herr Pfarrer Kleinschmidt schlechthin willkiirlich mit einem einzigen fettgedruckten S~tzchen. Ich selbst nun halte Herrn Kleinschmidt ftir bedeutend unter den zeitgenSssischen Ornithologen, ja gerade - - ich sage in Allem ganz often meine Meinung - - ftir einen solchen unter uns, welcher sehr kiihne (und eben darum m i t u n t e r g~tnzlich unhaltbare)Gedanken hat und

1) Und selbst die Naturanschauung des Altertums dachte, wenn man n~lher zusieht, entwickelungsgeschichtlich: ,,Die Erde brachte hervor Lebewesen (toze haarez nephesch chajah) . . ." Gen. I, 1,20 (unter der Leitung Gottes). Wer das zu dieser Stelle geh(irige Rafael'sche Bild kennt~ kann sich an der Sinnenffilligkeit dieses yon dem Entwickelungso gedanken reeht leicht tiberzeugen.

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dabei einen wirklich pr/ichtigen Pinsel ftihrt. Beide Gabon, das Geistestalent des Kopfes und das Malertalent der Hand, sind ihm yon Gott in r e i c h e r F~l le veriiehen. Und Selbstst/indigkeit und S.elbstenergie sch~itze ich am Manne /iberaus. Ich habe auch in emem zur geit im Verlage yon Chr. hdolff in hltona er- scheinenden, yon mir herausgegebenen Vogelwerke den Klein- schmidt'schen Wortbegriff,,Formenkreis', nebenbei empfohlen, frei- lich nicht in Kleinschmidt's Sinne, sondern in einem ganz anderen, dem meinen. Abet jener Thesensprung Kle inschmidt ' s - die Ver- l/iugnung der Entwickelung -- ist dean doch eia gi'unds~itzlich falscher. Vielleicht darf ich hier ein Bild aus dem Jahrmarkts- leben (diesem gieicht ja so vieifach unser hrbeitsleben mit seinem Rin~en und Streben) zum u heranziehen: Je hSher und weiter der Seilti~nzer auf dem schwanken Seile springt, um so gr~isser, gefeierter sind seine Leistungen; abet wenn er einma! zu welt springt dann eben fi~llt er. --

Ich komme zum Kleinen und Einzelnen. ~ber den Beweis per analogiam wollen wit nicht liinger streiten. Wenn ich mir diese Bagatelle niiher iiberlege, kann ich in der Tat Herrn Klein- schmidt Recht geben, wie er vielleicht ebensogut bei einigem Nacbdenken yon seiner Seite aus m ir Recht geben kSnnte. Es ist das eine Sache, bei der es auf die jeweiligen Begleitmomente ankommt. Bei einem consensus t o t i u s familiae, ja classis in der bestimmten beregten Frage babe ich den Friderich'schen Beweis- schluss per analogiam fiir eine s o l a species dieser familia n i c h t far gewagt gehalten. [In der Philosophie ist ein regelrechter Beweisschluss per analogiam immer rechtskr/iftig, vollgfiltig; -- -- wenn die Naturwissenschaft strenger sein will, so ist es mir schon recht!]

An dem von mir mitgeteilten Tatsachenbeispiel und-beweis /tndert die gegenteilige Er(irterung g a r n i c h t s . Ich gehe ab- s a t z w e i s e vor und bitte die Loser tier ,,0. M.", S. 177 ff der No. 12 der ,,O. M." 1903 neben diese meine Ausftihrung zu legen und vergleichsweise die hntwort neben den zu beantwortenden Absatz zu stellen. Die Widerlegung wird mir iiberaus leicht, da die gegenteilige Eriirterung nicht nur durchweg ziemlich ver- worrenen Sinnes ist (wenigstens ist sie lange nicht so klar wie meine Darlegung in No. 10 der ,,O. M." 1903) und andererseits k e i n e s de r im E inze lnen b e i g e b r a c h t e n W i d e r l e g u n g s - mo monte der ,,Protestnote" Kleinschmidt's (welcher anscheinend, wie ich auf Grund einiger Einw/~nde annehmen zu diirfen glaube, bis jetzt noch nicht sein Hauptstudium auf Entwickelungsge- schichte gerichtet hat~)) e in ige b e w e i s e n d e Z u g k r a f t hat.

1) Viol, leider nur allzu viel ,,neue" Arten, Vogelnamen etc. hat ja Herr KI. schon aufgestellt - - - diesen Ruhm will, muss ich ibm lassen. In dieser Hinsicht ist er der Doppelgangor yon Brehm I. Brehm I zer- splitterte die Arten vielfach nut aus Opposition gegen J. F. Naumann;

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Absatz 1 und 2 (S. 177) registrieren Allgemeines oder friiher Mitgeteiltes. - - Absatz 3. Wenn Herr Kleinschmidt ein Analogon weiss zu der e i n e n Tatsache, dass die g a n z e S c h a r d e r B r a n d e n t e n p ~ i r c h e n eines g r S s s e r e n Bezirks d u r c h w e g - - in a l l g e m e i n e h a r a k t e r i s t i s c h a b g e l i n d e r t e r W e i s e - - auf dem blossen Boden nisten anstatt in Liichern und HShlen etc., so h~tte ich gewiinscht, dass er dieses Analogon so- gleich namhaft gemacht htttte. Ein einzelner oder eventuell auch zweiter, dri t ter (etwa infoge spezifisch lokaler Wohnungsnot etc.) abge~nderter Fall (wie er sich da und dort in ornithologischen Handbfichern etc. aufgezeichnet f indet)beweist natfirlich nichts. 1) Es muss eine ganze mehr oder minder grosse Entenkolonie sein, die ihre Nistweise en bloc abge~indert hat; diese Abttnderung muss Jahr ffir Jahr in derselben allgemein charakteristischen Weise zu bemerken sein und eine rfickschlttgige Erscheinung (reversio, Darwin ,,Entstehung der Arte.n", 5. Kap.: Gesetze der Veritnderungen) darf ebenfalls nicht zu bemerken sein, weder im Ganzen noch eigentlich (als Atavismus) im Einzelnen. Dies ist alles auf Juist der Fall (wo die Abttnderung sogar soweit ge- gangen ist, dass das einzelne Tier nicht einmal mehr yon der generell natiirlichen Nistweise Gebrauch macht, nRmlich die dar- gebotenen HShlen verschmSht). Was den Zeittermin der Ver- ~nderung betrifft, so habe ich nachgewiesen, dass die G e s a m t - a b t t n d e r u n g auf Juist eine neuzeitliche ist bezw. in die Gegen- wart fttllt, da die Eaten friiher solange in HShlen nisteten, als Kaninchen vorhanden waren. Eia Analogon kenne ich nicht; ich glaube auch nicht, dass es ein solches gibt. Absatz 4 kann ich iibergehen. Es gibt tats~chlich auf Juist eine ganze Reihe van Brandentennestern, welche oben g ~ n z l i c h o f f e n sind (was ja auch in Absatz 5 selbst zugegeben werden muss). Diese Nester sowie alle ande~'en, fiber welchen sich etwa in a/~ Mannes- hShe der Sanddorn wSlbt, befinden sich auf dem blossen Erdboden anstatt in HShlen und LSchern. Alles anormal! Absatz 5. Die Vergleichsparallele mit S~tgern und Schellenten

so war es z. B. bei der Baumlaafergesehichte, wo Brehm I aus seinen zwei ,,neaentdeekten" Baumlauferarten auf den kraftigen iiberzeugenden Einspruch Naumanns bin flugs sehs neue Arten machte (vgl. ,,Vollst." Vogelfang" und Naumann II, S. 322); teilweise aueh geschah es yon Brehm I, weil er absolut etwas neaes finden zu mtissen glaubte; and teil- weise gesehah es nattirlieh, weil er fiberzeugt war, dass es so einzig riehtig sei and so unbedingt geschehen miisste. Die Zersplitterungspolitik, welehe Herr KI. hinsiehtlieh der Arten betreibt, soil natfirlieh nut ad maiorem gloriam litterarum ornith., n icht etwa suimet ipsias sein.

1) Vergleiehe daza dies: Lindner, Leverktihn u. a. sahen je ein Drosselnest auf dem Erdboden; ftir den Nistmodus der Singdrossel sind diese vereinzelten hbnormitaten ohne Belang; denn nicht alle Drosseln eines ganzen Waldes hatten ja auf die Erde gebaut, sondern nar je eine einze]ne.

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ist ein Schlag ins Wasser. Es gibt ~'ohl VSgel, die auf die ver- schiedenste, aber in diesel" Verschiedenheit j e i m m e r k o n - s t a n t e Weise ihre Nester bauen. Aber bei der Brandente ist dies nicht der Fall. Wo sie nur immer kann, nistet sie in (Erd- oder gar Baum-) HShlen. Sie h~tlt sonst immer nur diesen e i n e n bestimmten Nistmodus, welcher einen allseitig und kompakt verschliessenden Charakter der Nistlokalit~t erfordert, dauernd stricte inne, wenn sie nur kann. Von diesem Nistmodus ist sie g e n e r e l l a b g e w i c h e n a u f Ju i s t . [Uberhaupt ist der Ver- gleich mit S~gern und Schellenten schon a priori n i ch t geeignet, passend, angemessen, da ja bei diesen VSgeln nur einmal Einzelne ausnahmsweise - - ,,auch gelegentlich", Kl., S. 178 -- nestver~ndernde Dispositionen treffen, welche event, im niichsten Jahre schon nicht mehr zu bemerken sind.] - - Absatz 6 (Be- hauptung: Die Ab~nderung ist z w a n g s w e i s e herbeigefiihrt) i s t g~tnzlich ohne Belang . Natiirlich, die :Nistweise ist durch externe Einfliisse,, dutch Zwang yon aussen ,,ver~tndert worden" . Abet fiir die Tatsache der Veriinderung ist dies - - ob Aktivit~tt oder mehr Passivit~t vonseiten des Vogels -- doch g~inzlich einerlei. Ja, wenn wir genau sein wollen, lniissen wir sagen: Die Ver- ~nderungspotenz liegt latent im Vogel, der Veriinderungsanstoss abet und die Ver~,inderungsleitung erfolgt immer nut von aussen. Eben durch (in bestimmten lokalen Grenzen allgemein gleiche und darum dieselben Ver~nderungsbewegungen herausfordernde, erzielende) 5 r t l i c h e und z e i t l i c h e Beeinflussungen. Animal agitur! Das Tier ist das veriinderungsbewegliche Lebensagens in dcm veritnderungstreibenden, -leitenden Weltkosmos. Es ist also ftir das Ganze total einerlei, ob das Individuum der treibende oder getriebene Faktor in dem universal grossartigen Ver~tnderungs- prozess ist - - - - und datum sollte man verst~tndigerweise solche unterwertigen Einw~tnde gegen die Deszendenztheorie wie den obigen garnicht erheben! - - Absatz 7. Die Sandverh~ltnisse sind auf Juist ganz dieselben wie auf Sylt (oder auch Borkum). Auf Sylt etc. bewohnen die Brandenten durchweg die ihnen dort yon Tieren oder Menschen gegrabenen bezw. angelegten HShlen. Auch auf Juist wiirden sich in den relativ tiefen, sanddorn-be- deckten Muldent~ilern (oder richtiger: runden Kesseln) der Insel, wo der Wind nicht hinkommt und HShlen auch mithin g a r n i c h t verweht werden kSnnen, solche l~ngere Zeit ganz wohl halten. Nicht, weil die Juister Brandg~inse etwa sich diese (ja so un- gemein tierm~tssigen!) ,,sorgenden Gedanken" machen, ob sich auch in einer SandhShle gut briiten lasse, brtiten sie nicht in HShlen, sondern ganz einfach datum, weil sie absolut keine H6hlen hatten (vorfanden). Dass Herr Kleinschmidt n i c h t auf der Insel Juist war, h~ttte er m. E. nicht zu sagen brauchen; denn wenn er das eigenartige Terrain nur einigermassen gekannt h~ttte, wiirde er wohl gewiss seine (wohlgemeinten) Sandspeku- lationen -- Absatz 7, S. 178 - - n i c h t aufgestellt haben. --

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440 Wilhelm Schuster:

Absatz 8 l~tsst meine tats~ichliche Beobachtung hypothetisch zu Recht bestehen. - - Absatz 9, 1. Teil mutet reich etwas gar na iv an. Mit solchen Einwanden spasste etwa ein Mittelschullehrer zu Anfang der 70 er Jahre gegen die Darwin'schen Ideen. , ,Nehmen wir an, die Entwickelungslehre w~hre richtig, so mtisste man alle Ju is ter Brandenten fangen und zeichnen, um jede, die etwa yon Borkum oder einem anderen Nisthi~hlenlande hert iberkommt, so- fort als gef~thrlichen Fremdling, der die neue Rasse zu verderben droht, zu erkennen und totzuschiessen." Soviel ich weiss, ist es doch Tatsache, dass alle Viigel so ziemlich g e n a u an die- selben Brutih' ter zuriickkehren bezw. def t verbleiben. Es ist doch ferner eine triviale ornithologische Wahrheit , dass eine geschlossene Vogelkolonie keine Fremdlinge, auch wenn sie von Borkum oder einem ,,anderen Nisthiihlenlande" s tammen und vielleicht yon Her rn Kleinschmidt mit einer modernen Lebensring-Marke ge- kennzeichnet sind, einl~isst. U n d e s ist doch schliesslich nur allzu - - landl~tufig! - - bekannt, dass ein einzelnes irgendwie , ,anormales" Tierchen auf die Ver~tnderung einer ganzen mehr oder minder grossen Gesellschaft g a r k e i n e n Einfluss austibt, sondern dass entweder seine Enkelreihe sich dem Ganzen ontoge- netisch assimiliert oder abe t eventuell das besagte anormale Tierchen selbst (bezw. seine Nachkommenschaft) untergeht. Ich wundere reich einmal dartiber, dass diese drei biologischen Tat- sachen Herrn Kleinschmidt noch nicht gel~iufig sind; und zum anderen dartiber, dass H e r r Kleinschmidt so abfi~llig von der , , G e f l t i g e l h o f t h e o r i e D a r w i n s " spricht. 1) Haben die Theo- logen bis je tz t i iberhaupt einmal e i n e der grossartigen Geistes- schSpfungen Darwins eingehend und grtindlich s tudier t? Ich meine denn doch, dass man, wenn man nur zwanzig Seiten in , ,Darwin" mit objektiver Aufmerksamkei t gelesen hat, t iberhaupt nicht noch, wenn man ehrlich sein will, von einer ,,Gefifigelhof- theorie Darwins" sprechen kann. - - Absatz 9, 2. Teil. Dass sich

1) Hier bei dieser merkwiirdigen Gedankenzusammenstellung (,,Ge- fliigelhof-," also Zuchtwahltheorie!) ergibt sich, glaube ich, wieder deutlieh, dass Herr Pfarrer Kleinschmidt Darwinismus (Selektionstheorie) and E n t wi c k e 1 u n g s le h r e (Deszendenstheorie) dureheinandergeworfen hat.

,,Es muss besonders seharf betont werden, dass man den Darwinismus nieht mit der Abstammungslehre verwechseln darf. Der Darwinismus muss allerdings die Abstammungslehre annehmen; wer die Abstammungs- lehre anerkennt, braucht aber noch lange kein Darwinist zu sein. Es gibt sogar noeh Zoologen and Botaniker, die das n icht e inmal wissen" (Haaeke, ,,Die Sch0pfang des Menschen," S. 465). - - Diejenigen Leute (besonders im Lehrer- und Geistlichenstand), welehe Darwin so gerno etwas am Zeuge flicken wollen, haben gewShnlieh, wenn man - - es ist das eine yon mir persSnlich oft gemaehte Erfahrung - - naher zusieht, noch niemals nur iiberhaupt oder wenigstens nicht ernstlieh in Darwin's epoehemachende Werke s el b st hineingesehen.

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Entwiekelung odor Nicht-Entwiekelung? 441

eine fSrmlich neue, gute ,,Art" auf Juist bilden w e r d e - -- niemand unter uns Ornithologen kann so himmelweit dovon ent- fernt sein, dies zu bebaupten oder fiberhaupt nur zu glauben, wiegeradeich. Ich habe nur auf die l o k a l e h b R n d e r u n g a u f - merksam gemacbt (die mir aber, selbst nach modernen Begriffen gemessen, noch lange nicht geniigen wfirde, um eine neue gute ,,Art" aufzustellen). Ja, ich habe doch gerade auf Grund dessen das Wesen derjenigen Leute getadelt, welche sich bemiissigt sehen, wegen solch feiner, i i be ra l l zu bemerkender, spezifisch iokaler oder gar individueller Unterscheidungen - - wie sie sich auch bei der ,,neuen" Habichtsart Astur gentilis arrigonii oder bei dem lang- und kurzbekrallten Bauml~tufer, bei der sogenannten ,,Weiden-" und ,,Nonnenmeise" (beide -- Sumpfmeise), welche sich nach meinen Untersuchuogen ou r nach lndividuen unterscheiden - - aufzustellen -- ich mSchte mit einem anderen Autor lieber sagen : -- handwerksm~issig zurechtzudrechseln. Diese Leute tragen eben subtile, durchaus u n v o l l s t ~ t n d i g e , teilweis willkfirlich ge- setzte, sogenannte ,,hrtunterscheidungen" in die Natur - - oder besser Naturwissenschaft - - hinein. Zum Schaden oder wenigstcns zur Verwirrung der realen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse! - - Das sog. Problem der Inzucht macht keine Schwierigkeiten; die Natur wird schon auf irgendeine Weise ffir die Vollwertigkeit der yon ihr geziicbteten Objekte sorgen. -- hbsatz 10. Meine Beobachtung bleibt eine Gegenwartsbeobachtung ,,mit dem Wert der Wirklichkeit," bleibt ,noch die alte wie zuvor sie auch war": D i e J u i s t e r B r a n d e n t e n haben ih re N i s t w e i s e t o t a l und g e n e r e l l a b g e i t n d e r t , nachdem sie durch die Vernichtung der Inselkaninchen - - der Feinde der Inselgew~tchse, welch letztere die Existenz der Insel sichern -- bezw. den Wegfall der Nist- hShlcn dazu gezwungen worden sind (dies ist die Gegenwarts- beobachtung); veriinderte Lebensbediogungen haben nach aller menschlichen Erkenntnis zum unweigerlichen Postulat ver~tnderte Strukturverh~tltnisse etc.; also miissen und werdcn auf Juist lokale Ab~inderungen irgendwelcher Art auftreten (dies ist die ap.odiktisch richtige Zukunftsrechnung, nicht -spekulation). x) -- Uber die Jahrtausende bezw. Jahrmillionen der Lebensentwickelung wird der verstiindige Mensch nicbt spftteln; er weiss, dass derjenige, welcher seinen Blick our auf das Gegenwartsleben richtet, also (nach Kobelt, ,,Verbreitung der Tierwelt") our auf den erhaltenen Triimmerrest vieler friiberer, vorausgegangener Tiergenerationen, wer verachten will, was die Erdgeschicbte erz~thlt, die Geschichte dieser Erde, welche in ihren aufeinandergelagerten Schichten das eigentliche Tierkapital im Verh~tltnis zum tierischeu Gegenwarts-

1) Warum kann Zodda in der Avieula, Giornale ornitologieo ita- liano 1903 (Sienna), fflr die moisten VSgel Siziliens ,,Subspezies" fest- stellen? Wegen dem entwiekelungsmassig abandornden Inseleharakter dieses rel. abgesehlossenen Gebiets.

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leben als blosse schlichte Zinsen birgt -- n i m m e r und n i ema l s d i e W a h r h e i t d e r W i r k l i c h k e i t e r k e n n e n kann! - - Absatz 11 und 12 babe ich bereits schon besprochen. Ich sehe nicht, was der indische Sperling beweisen sell. Herr Kleinschmidt spricht sogleich darauf yon seinem hypothetischen Lebensriag, abet mit dem indischen Sperling (G. L., vergl, selbst S. 180) bele~t er doch anscheinend wohl garnichts.

Herr Kleinschmidt wirft das S~itzchen hin. dass die Baum- nester der VSgel die ursprfingliche Nestform seien. Ich empfehle ihn, behufs besserer Orientierung ,,die Nester und Eier der YSgei in ihren natfirlicben Beziehungen, ein Beitrag zur Ornithophysio- logie und zur Kritik der Darwin'schen Theorien" (besonders Cap. II, ,das Nest," S. 36-64) yon W. v. Reichenau, meinem hoch- gesch~tzten Freunde (Kustos des Mainzer zoologischen Maseums), die ,,Entwickelungsgeschichte der Natur" yon W. BSlsche sowie die grundlegenden umfangreichen, teilweise mehrb~indigen Ab- handlungen der Forscher Marsh, Zittel, Dawes, Reichenow, Haacke, Vetter, Parker, Ftirbringer, Parlow, Mehnert, Haeckel u. s. w. u. s. w. fiber die Entwickelungs-und Abstammuugsgeschichte der VSgel zu studieren und dann wieder tiber die Frage zu debattieren. Die Deszendenz der Nester geht yon den selbst- briitenden Nestern (Buschhiihner) zu den Bauchbrtitern ohne Nest (Pinguine, Alken, Sturmviigel, FregattvSgel etc.), dann den Muldenbriitern (Hiihner, Strausse etc.), dann den Loch-oder HShlenbrtitern (Erdpapageien, KSnigsfischer, Bienenfresser, Spechte etc.) u. s. f. his zu den Webernestern (WebervSgel).

Ich kehre an den Anfang meiner Auseinandersetzung zuriick. Ich habe im besten Falle dies zu konstatieren reich gezwungen gesehen: Herr Pfarrer Kleinsehmidt nimmt mit der Leug. nung tier Entwiekelung in der l~atur eine Position ein~ die ausserhalb der l~orm alles wissensehaftliehen Erkennens, alles wissensehaftliehen Denkens unserer Zeit fllllt; oder aber im anderen Falle: Herr Pfarrer Kleinsehmidt hat bis jetzt den Untersehied zwisehen Darwinismus und Entwieke- lungslehre nieht gekannt bezw. beriicksichtigt (und hat sich trotzdem doch fiber die ,,Unrichtigkeit" der letzteren - Entwickc- l u n g s l e h r e - ein Urteil erlaubt). 1)

Mit seinem kurzen fettgedruckten S~tzchen (,,Ich erkenne die E. nicht an") hat sich Herr Pfarrer Kleinschmidt m. E. bei den allermeisten ziinftigen Zoologen so ziemlich selbst ein Urtei| gesprochen, das negativ genug ist.

War es die viele Weihnachtsarbeit, die ihn im Reiche der GSttin Hertha oder Nerthus so schlecht sehen |less, so unvor- sichtig machte? Ich bin nebenbei auch ein Theologe so gut

1) In diesem Falle mtisste ich bedauern, dass yon tIerrn Kl. so relativ ,,viel" im ,,neuen Naumann" steht. Doch kann ein schiechter Biologe noch immer ein guter Systematiker sein.

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Entwickhng odor Nicht-Entwicklung? 443

wie Herr Klcinschmidt und kenne die Ubersumme yon Pfiichten mcines werten Herrn Kollega in statu sacerdotii. - -

NB. Mein Herr Kollege meinte, es gebe doch auch wohl noch audere Beobachter auf Juist und man solle deren Urteii einmal abhSren. Nun: Die Herren O. Leege und Sonnemann haben sich schon liingst in meinem Sinne ausgesprochen. Das Le t z t e , was Otto Leege in der diesbezfiglichen Frage verSffent- lichte, lautet: ,,Meine vorj~thrigen VerSffentlichungen fiber das Offenbrtiten der Brandg~nse erregten bei manchen Ornithologen Bede~&en, und yon einer Regel wollten manche nichts wissen. Kein Wunder, denn auf den fibrigen Inseln sind nur vere inzel te F~tlle yon F r e i b r i i t e n vorgekommen, da ihnen dort die na t t i r - l i c h e n B c d i n g u n g e n g e b o t e n s i n d . MeineAusfiihrungen haben inzwischen durch verschiedene Ornithologen, die reich in lctzter Brutpcriodc besuchten, volle Best~itigung [bezw. Bereicherung durch Mitteilung neuer Tatsachen] gefunden (vergleiche: Sonne- mann, Ein Pfingstausfiug zu Otto Leege nach Juist. Ornith. Monatsschrift 1903, S. 421--429. W. Schuster, Ein eklatautes Beispie[ von Ver~tnderung der hrtgewohnheit (bezw. lokaler An- passung). Ornith. Monatsberichte 1903, S. 153--156) . . . . . [In- teressant ist ferner die ganz wahrscheinlich richtige Vermutung Otto Leege's]: MSglicherweise dauert die Briitezeit in HShlen- nestern kfirzere Zeit [(21--28 Tage) als bei freien Nestern (35 Tage)], well die Eier gegen Witterungseinfiiisse und Boden- feuchtigkeit geschiitzter liegen" (,,Ornith. Monatsschrift 1904, S. l l0 und 1 I1) also woh[ ein weiteres VcrSnderungsmoment, ein neuer Faktor in der Kctte der ewigen Entwickciungsreihc!! ,,Dcm Wcisen genug"l

Am 1. Januar 1904.

Zugviigel und Florenweehsel. Eine faunistische Studie von F r i t z Braun-Konstautinopel.

Die Tiergeographie ist keine isolierte Disziplin, sondern h~tngt mit den fibrigen Gebieten der geographischen Wissenschaft aufs engste zusammen. Die Verbreitung aller GeschSpfe, mSgen sic yon tierischer odor pfianzlicher Nahrung leben, regelt sich nach der Art des Pfianzenwuchses in den betreffenden L~indern, nach dem Vorhandensein bestimmter N~hrpflanzen. Diese sind wieder abh~tngig yon dem Klima und der Beschaffenheit der un- organischen Stoffe~ die den Boden des Landes bilden. So kSnnen wit aus der Tatsache, dass eine bestimmte species bier odor dort vorkommt, wichtige und recht zuverl~ssige Schltisse auf den Pfianzenwuchs und das Klima der beziiglichen 0rtlichkeiten