Entwicklung gotische Kathedrale -...

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  • 4BK13, Schwerpunktthemenreihe: Form, Konstruktion, Funktion November 2009 Die Entwicklung der gotischen Kathedrale

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    Der Begriff "Gotik " geht auf den italienischen Kunsttheoretiker der Renaissance, Giorgio Vasari, zurck. Im Verstndnis von Vasari war damit die "dunkle" Epoche der Kunst vor der Renaissance gemeint, den barbarischen "Stil der Goten", der im scharfen Widerspruch zu antiken Traditionen stand. Diese Einschtzung der Gotik dauerte bis in das 18. Jahrhundert fort.

    Heute steht Gotik als Stilbegriff fr die knstlerische Entwicklung zwisc hen 1150 und 1500 , die von starken pluralistischen Strmungen in Europa geprgt ist.

    Die Definition der Epochenbegriffe erfolgt meist nur ber die Auflistung von Stilmerkmalen. Sie werden benutzt wie Erkennungsmerkmale, mit deren Hilfe jedermann benennen kann, was er vor Augen hat.

    Fr die Gotik ist dies vor allem der Spitzbogen.

    Die Verwendung dieser Bogenform ist in der Tat zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert weit verbreitet, weil sie gnstige statische Eigenschaften hat, gnstigere als der Rundbogen in der Romanik. Genauere Untersuchungen aber zeigen, dass es Spitzbgen frher und zugleich lnger gibt als die Gotik.

    Die Ausschlielichkeit der Zuordnung ist falsch, also auch die Definition der Gotik als Spitzbogen-Stil und der Romanik als Rundbogen-Stil.

    Die Kunsthistoriker sind sich mehrheitlich zwar einig, den Beginn gotischer Architektur im Pariser Becken in die Jahre um 1140 zu legen und als ein Schlsselwerk den Neubau der Abteikirche von Saint-Denis bei Paris zu bezeichnen, in Deutschland wird man jedoch frhestens ab 1200 Bauten gotisch nennen knnen.

    "Die Neuartigkeit der Gotik resultierte aus der Kombination verschiedener Elemente zu einer Architektur mit bisher nicht bekannter Lichtflle und konstruktiver Prgnanz. Es entstanden durchlssige Raumgefge, die durch eine streng gegliederte und hierarchisch aufgebaute Ordnung gekennzeichnet sind." (Lexikon der Kunst)

    Die Entwicklung der gotischen Kathedrale:

    Im Jahre 1137 begann der Abt Suger mit dem Neubau der Abteikirche St. Denis im Norden von Paris. St. Denis war die Grabsttte der franzsischen Knige. Fast zur gleichen Zeit wurde unter Erzbischof Henri Sanglier mit dem Bau der Kathedrale von Sens begonnen, dem Sitz des geistlichen Oberhauptes von Paris.

    In diesem historischen Prozess der Zentralisierung der Macht erhielten die Bischofstdte und damit verbunden der Bau von Kathedralen als Bischofskirchen (kathedra, griech., der Sitz; Kathedrale, Sitz des Bischofs) der Ile-de-France eine besondere Bedeutung, die die neuen Machtverhltnisse symbolisieren sollte.

    Die herrschende Bauaufgabe war also nicht mehr die Klosterkirche, sondern die Bischofskirche. Dies hngt auch mit der einsetzenden Entwicklung der Stdte zu neuen Zentren des gesellschaftlichen, religisen und wirtschaftlichen Lebens zusammen, Funktionen, die bisher die Klster innehatten:

    Abteikirche St. Denis, Paris, Fassade

    Die im Laufe des 12. Jahrhunderts erfolgte Ertragssteigerung der Landwirtschaft ermglichte eine zunehmende Verstdterung und damit die Steigerung der Aktivitt in Handel und Gewerbe. Die groen Vermgen wurden nun auch in der Stadt - das heit gewhnlich in der Bischofsstadt gemacht.

    Gleichzeitig vollzog sich der Prozess der Zentralisierung und Konzentration der politischen Macht in den Hnden der Knige von Frankreich. Bndnispartner der Knige waren die Bischfe und das Brgertum. Ein Mittel zur Veranschaulichung dieses Bndnisses war der Bau neuer Kathedralen, an deren Finanzierung sich Knige, die Bischfe und auch die Kommunen beteiligten." (Funkkolleg Kunst)

    Der Bau einer Kathedrale und ihre Gre wurde im Verlauf der Entwicklung zum Symbol geistlicher und weltlicher Macht und Bedeutung, unter den Stdten entwickelte sich zunehmend ein Konkurrenzdenken, andere Stdte beim Bau einer Kathedrale durch Gre und Ausmae zu bertreffen.

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    Der Grundriss der gotischen Kathedrale:

    Die Gliederung des Raumes von Kirchenbauten, wie er sich in der Gestaltung des Grundrisse niederschlgt, ist durch die liturgische Funktion bestimmt, die er zu erfllen hat und die zum magebenden formprgenden Faktor wurden. Der Grundriss der Kathedrale von Amiens zeigt exemplarisch, wie er sich vergleichbar auch in anderen Kathedralbauten wiederfinden lsst. Die Elemente und Raumteile lassen sich folgendermaen unterschieden: A. Chorscheitelkapelle

    B. Chorumgang

    C. Chorhaupt

    D. Joche

    E. Vierung

    F. Domkapitelpforte

    G. Kapelle

    H. Treppenturm

    I. Strebepfeiler

    J. Seitenschiff

    K. Mittelschiff

    L. Langhaus

    M. Querhaus

    N. Langchor

    0. Apsis.

    Grundriss der Kathedrale von Amiens, 13. Jh.

    Die symbolische Ausrichtung in der Ost-West-Richtung ist bei allen Kathedralen anzutreffen (die Ost-Richtung weist nach Jerusalem).

    Die Kathedrale ist in einen westlichen und einen stlichen Bereich geteilt:

    - Chor und Vierung als Versammlungsort fr Bischof und Domkapitel

    - Kapellen am Chorumgang zur Zelebrierung von Privatmessen der Domgeistlichen

    - Langhaus fr Bewohner der Stadt und Kirchenbesucher

    - Seitenschiffe und Chorumgang zur Lenkung der Besucher bei Wallfahrten und Prozessionen

    - Querhuser als Orte fr geistliche und weltliche Zwecke (profaner Versammlungsraum), z. B. fr Gerichtsverhandlungen, denen der Bischof als weltlicher Herrschaftstrger vorstand

    - Platz vor dem Westportal als Ort profaner, weltlicher Veranstaltungen.

    Der Innenraum der Kathedrale diente nicht nur religisen, sondern auch vielfltigen profanen Zwecken. In der Regel war der Chor der Kathedrale der grte und hchste Innenraum (Saal) in einer Stadt.

    Das Leben in der Kathedrale war bestimmt durch:

    Gottesdienste

    Entsprechend dem Ablauf des Kirchenjahres fanden unterschiedlichste Formen von Gottesdiensten statt, angefangen bei den Gottesdiensten des gewhnlichen Werktages, ber die sonntglichen Gottesdienste bis hin zu den liturgischen Feiern an hohen Festtagen. Dabei wurde die Kirche mit kostbaren Gefen, Teppichen, Tchern u. a. ausgeschmckt, um das Schaubedrfnis der anwesenden Kirchenbesucher zu erfllen.

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    "An besonders hohen kirchlichen Festtagen und zu herausragenden Gelegenheiten - etwa der Krnung eines Knigs oder zum Amtsantritt eines Bischofs - wurden Ritus und Dekor noch weiter bereichert. Alle Zeremonien waren so gestaltet, dass sie sowohl von den Mitwirkenden als auch von den nher wie entfernter stehenden Zuschauern als feierliche Handlungen sinnlich erlebt werden konnten." (Funkkolleg Kunst)

    Dabei wurden alle Sinne angesprochen durch das mystische Licht, das durch die bunten Glasfenster fiel, das Kerzenlicht des Raumes, die prunkvollen Dekorationen, den Geruch des Weihrauches, Musik und Gesang.

    Staatspolitische Zeremonien

    Dazu gehren vor allem Knigskrnungen und die Salbung des Knigs, die in den Kathedralen vollzogen wurden, um die Einheit zwischen weltlicher Herrschaft und geistlicher Berufung des Knigs symbolisch zu zelebrieren: ,... eine Knigskrnung demonstrierte auf die eindrcklichste Weise die Einheit zwischen Regnum" und Sacerdotium", die fr die Staatsidee des Mittelalters so bezeichnend ist. (Funkkolleg Kunst)

    Mysterien- und geistliche Theaterspiele

    Wesentliches Element christlicher Lehre war es, die Inhalte nicht nur verbal durch Verkndigung an die Glubigen und Kirchenbesucher zu vermitteln, sondern auch durch Schauen und Anschauen Glaubensinhalte dem Volke nahe zu bringen.

    Dazu dienten die Vielzahl der Bilder in den Kathedralen, Altre, Fresken, Glasbilder, Skulpturen u. a.

    Aus den Texten der Evangelien entwickelte man aber auch so genannte Mysterienspiele, die in den Kathedralen aufgefhrt wurden und in denen das Leben Christi szenisch dargestellt wurde.

    Weltliche Ereignisse

    "Als grter, hchster und prchtigster, stabilster und teuerster Raum war die Kathedrale in jeder Hinsicht das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Stadt und Identifikationsobjekt aller Bewohner." (Funkkolleg Kunst)

    So diente der Raum der Kathedrale u. a. als Markt, in kriegerischen Zeiten als Festung und Warenlager, als bernachtungsort und vielen anderen ffentlichen Angelegenheiten.

    Die Fassade der gotischen Kathedrale: Die Fassade der gotischen Kathedrale kann mit ihrer vielfltigen architektonischen Gliederung und plastischen Gestaltung als ffentliche Schauseite der Bischofskirche gesehen werden. In ihrer hoch entwickelten Gestalt, wie man sie exemplarisch am Beispiel der Kathedrale von Amiens sehen kann, ist sie das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung.

    Die ltesten Sakralbauten des Abendlandes, die Basiliken, spiegeln in ihren West- oder Eingangsfassaden den Querschnitt des inneren Aufbaus wieder. Der Turm steht als Einzelturm (Campanile) getrennt von der Fassade. Dieser einfache und schlichte Typus von Fassade bleibt in Italien bis ins spte Mittelalter dominierend.

    Die Ursprnge der Entwicklung der gotischen Kathedralfassade liegen in der Normandie in Frankreich.

    Dort findet man die ersten Beispiele einer durch Strebepfeiler gegliederten Fassade. Beispiel dafr ist die Abteikirche Saint-Etienne in Caen, die zwischen 1060 und 1080 errichtet wurde, und die kurze Zeit spter entstandene Basilika Ste. Trinit in Caen.

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    Fassade der Kathedrale von Amiens, 13. Jh.

    Am Beispiel der Kathedrale von Amiens lassen sich die Teile einer gotischen Kathedralfassade beschreiben:

    a. Sockelstreifen mit Kreuzblumenornament

    b. Sockelstreifen mit Vierpassreliefs

    c. Trpfeiler

    d. Bogenfeld (Tympanon)

    e. Bogenlufe (Archivolten)

    f. Wimperg

    g. Fialen

    h. Galerie mit Laufgang

    i. Rose

    j. Trme.

    Kathedrale von Amiens, Fassade, 13. Jh.

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    Paris, Notre-Dame, Fassade, beg. um 1200 Fassade von Reims

    "Als weitere Steigerung der Bauentwicklung von Amiens und gleichzeitig als Hhepunkt und Synthese der Entwicklung der gotischen Kathedralfassade gilt die Fassade der Kathedrale von Reims. Die Wand dieser Fassade erscheint wie eine Skulptur, die Baumasse ist fast vollkommen aufgelst und entmaterialisiert und es wird in triumphaler Weise die neue Versinnlichung des Religisen dargestellt.

    Durch die Portale der Kathedrale von Reims zogen die zuknftigen franzsischen Knige ein, um im Chor vom Reimser Erzbischof nicht nur gekrnt, sondern auch mit himmlischem l gesalbt zu werden.

    Blickten sie zu dem Geschoss ber der Rose empor, so sahen sie unter den Freigeschossen der Trme eine Galerie mit Knigsfiguren, wie wir sie schon aus Paris und Amiens kennen. Hier an der Krnungskathedrale ist nun ber die Identitt der Dargestellten kein Zweifel mglich." (Funkkolleg Kunst)

    Fr Reims lassen sich folgende Neuerungen und Merkm ale im Vergleich zu Notre-Dame, Paris aufzeigen:

    - Die Portalbuchten sind weiter vertieft.

    - Insgesamt fnf Giebel, die von auen nach innen grer werden, krnen das Portalgeschoss.

    - Im Zentrum des Bogens ber dem Mittelportal wird erstmals die Krnung Mariens dargestellt.

    - Die Bedeutung des Rosengeschosses wird besonders hervorgehoben, indem Fialen vor die Strebepfeiler gesetzt werden, die bis zur Knigsgalerie hinaufragen.

    Das architektonische Konzept der gotischen Kathedrale besteht darin, dass alle tragenden und lastenden Teile und oft auch die Fllflchen und Schmuckformen in eine Gesamtkomposition eingebunden sind, der konsequente Mae und Maverhltnisse zugrunde liegen. Doch ist diese Architekturgestaltung nicht allein aus der Vorliebe fr das Geometrisch-Konstruktive erklrbar; denn die Leichtigkeit des Baues ist wieder aus dem Bestreben zu erklren, den symbolischen Gedanken, dass der Kirchenbau auf das himmlische Jerusalem weise, den Glubigen mglichst nahe zubringen und geradezu die Illusion einer Identitt von irdischem Kirchengebude und Himmelsstadt zu schaffen." (Funkkolleg Kunst)