Entwicklungstheorien: Grundlagen und...

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Dr. Andrea Burgener Woeffray Erziehung & Entwicklung Entwicklungstheoretische Ansätze Strukturgenetischer Ansatz Entwicklung in Anbetracht von Behinderung 21.2.2014 28.2.2014 Entwicklungstheorien: Grundlagen und Konzepte 1. Entwicklung: Annäherung an einen Begriff (Flammer) 1.1 Entwicklung als Abfolge alterstypischer Zustandsbilder verweist auf Lebensetappen / Altersbilder. Diese Sichtweise verwehrt den Blick auf Phänomenvielfalt. Es entstehen leicht Typisierungen, die für Kinder schlecht zutreffen. Das Lebensalter Alter ist keine entwicklungsdeterminierende Variable, sondern ein Zustand, in welchem Veränderungen und Entwicklung stattfinden. z.B., Babyjahre, Pubertät usw. 1.2 Entwicklung als Veränderung durch Lernen Entwicklung umfasst jede Veränderung menschlicher Fähigkeiten, Gewohnheiten, Werte, körperliche Kraft. Entwicklung und Lernen stehen in Wechselbeziehung: Lernprozesse können Entwicklungsprozesse auslösen und Entwicklung ermöglicht neue Lernprozesse. z.B. Flasche selber öffnen können --> Schritt zur Selbständigkeit 1.3 Entwicklung als reifungsbedingte Veränderung Reifung wird verstanden als organisch-biologisch gesteuerte Veränderung. Reifung in Reinform gibt es nicht, nur in ausgewählten biologischen Bereichen. z.B. Entwicklung der Motorik von groben zu feinen Bewegungen 1.4 Entwicklung = Veränderung zum Besseren oder Höheren? Durch Entwicklung werden Erkenntnisse und Handlungen differenzierter. Aber was ist besser? Im Verlauf der Entwicklung stellen sich Verluste ein. z.B. Greifreflex geht verloren zugunsten gezielten Handelns. Im Alter gehen Merkleistungen verloren, die nur zum Teil kompensiert werden können. 1.5 Entwicklung als qualitative oder strukturelle Veränderungen Entwicklung kann als eine Abfolge von qualitativ (nicht quantitativ) definierten Stadien und Sprüngen aufgefasst werden. z.B. das Kleinkind begreift die Welt, später wird es die Welt „begreifen“ 1.6 Entwicklung als universelle Veränderungen Universell sind nicht die Inhalte, sondern die Prozesse, die zugrunde liegen und Inhalte ermöglichen. Inhalte sind beobachtbar; Strukturen und Prozesse nicht; z.B. gleich wo ein Kind aufwächst, es wird zwar nicht an gleichen Erfahrungen, Inhalten lernen, aber dieselben geistigen Strukturen erlangen. 1.7 Entwicklung = Sozialisation Die beiden Begriffe sind nur teilweise deckungsgleich. Sozialisation deckt mehr die institutionellen Aspekte des Lebenslaufs und die Prozesse der Integration in die gesellschaftlichen Strukturen ab; Entwicklung deckt sowohl die kulturellen, institutionellen und sozialen, vor allem aber auch die individuellen (psychischen wie physiologischen) Prozesse ab.

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Dr. Andrea Burgener Woeffray

Erziehung & Entwicklung

Entwicklungstheoretische Ansätze Strukturgenetischer Ansatz Entwicklung in Anbetracht von Behinderung

21.2.2014 28.2.2014

Entwicklungstheorien: Grundlagen und Konzepte 1. Entwicklung: Annäherung an einen Begriff (Flammer) 1.1 Entwicklung als Abfolge alterstypischer Zustandsbilder

verweist auf Lebensetappen / Altersbilder. Diese Sichtweise verwehrt den Blick auf Phänomenvielfalt. Es entstehen leicht Typisierungen, die für Kinder schlecht zutreffen. Das Lebensalter Alter ist keine entwicklungsdeterminierende Variable, sondern ein Zustand, in welchem Veränderungen und Entwicklung stattfinden. z.B., Babyjahre, Pubertät usw.

1.2 Entwicklung als Veränderung durch Lernen Entwicklung umfasst jede Veränderung menschlicher Fähigkeiten, Gewohnheiten, Werte, körperliche Kraft. Entwicklung und Lernen stehen in Wechselbeziehung: Lernprozesse können Entwicklungsprozesse auslösen und Entwicklung ermöglicht neue Lernprozesse. z.B. Flasche selber öffnen können --> Schritt zur Selbständigkeit

1.3 Entwicklung als reifungsbedingte Veränderung Reifung wird verstanden als organisch-biologisch gesteuerte Veränderung. Reifung in Reinform gibt es nicht, nur in ausgewählten biologischen Bereichen. z.B. Entwicklung der Motorik von groben zu feinen Bewegungen

1.4 Entwicklung = Veränderung zum Besseren oder Höheren? Durch Entwicklung werden Erkenntnisse und Handlungen differenzierter. Aber was ist besser? Im Verlauf der Entwicklung stellen sich Verluste ein. z.B. Greifreflex geht verloren zugunsten gezielten Handelns. Im Alter gehen Merkleistungen verloren, die nur zum Teil kompensiert werden können.

1.5 Entwicklung als qualitative oder strukturelle Veränderungen Entwicklung kann als eine Abfolge von qualitativ (nicht quantitativ) definierten Stadien und Sprüngen aufgefasst werden. z.B. das Kleinkind begreift die Welt, später wird es die Welt „begreifen“

1.6 Entwicklung als universelle Veränderungen Universell sind nicht die Inhalte, sondern die Prozesse, die zugrunde liegen und Inhalte ermöglichen. Inhalte sind beobachtbar; Strukturen und Prozesse nicht; z.B. gleich wo ein Kind aufwächst, es wird zwar nicht an gleichen Erfahrungen, Inhalten lernen, aber dieselben geistigen Strukturen erlangen.

1.7 Entwicklung = Sozialisation Die beiden Begriffe sind nur teilweise deckungsgleich. Sozialisation deckt mehr die institutionellen Aspekte des Lebenslaufs und die Prozesse der Integration in die gesellschaftlichen Strukturen ab; Entwicklung deckt sowohl die kulturellen, institutionellen und sozialen, vor allem aber auch die individuellen (psychischen wie physiologischen) Prozesse ab.

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2. Definitionen von Entwicklung Allgemein anerkannte Definitionen

Entwicklung als Veränderung von Zuständen (Strukturen) Bei Entwicklung handelt es sich um Veränderungen im Verlauf der Zeit, die sich nach dem Alter ordnen lassen und deren Ablauf als geordnet, kumulativ und gerichtet zu bezeichnen ist. Die Veränderungen werden von inneren und äusseren Faktoren angestossen, sie sind gesetzmässig und überdauernd. (Oerter; Montada 2002)

• Altersangaben sind spezifische Informationen, das Alter allein ist aber keine Erklärung • Fokussierung auf nachhaltige und nachhaltig wirkende Veränderungen (welche Einflüsse wie z.B.

Trauma, Unfall) wirken nachhaltig • Entwicklung = Transformation von einem Ausgangszustand in einen neuen Zustand • Neben qualitativen Veränderungen (z.B. Erwerb von grammatischen Strukturen) werden auch

quantitative Veränderungen einbezogen (z.B. Umfang des Wortschatzes)

Entwicklung als Veränderung von Kompetenzen Entwicklung sind alle nachhaltigen Veränderungen von Kompetenzen. Das sind sowohl die bleibenden einzelnen Veränderungen, als auch jene kurzzeitigen Veränderungen, die weitere nach sich ziehen. (Flammer 2009, 22)

• Kompetenzen = persönliche Voraussetzungen für Verhalten und Erlebnisweisen, die nur aus

einer bestimmten Regelmässigkeit erschlossen werden kann • zu den Kompetenzen gehören auch die erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen • Entwicklungsprozesse reihen sich zeitlich auf und sind so in Biografien eingebunden • Entwicklungsprozesse führen meistens, aber nicht immer zum Besseren /Höheren • Es interessieren vor allem die qualitativen, Veränderungen, aber auch die quantitativen • Entwicklungstheoretische Aussagen sind mit Vorteil generell, aber auch speziell • Prozesse der individuellen Entwicklung sind eingebettet in die historische Entwicklung

Diese Gegenstandsbestimmung gilt für die Individualentwicklung (Ontogenese). Es ist aber wichtig zu sehen, dass die individuelle Entwicklung immer in einer sich ebenfalls entwickelnden Gesellschaft (Phylogenese) abläuft. Beide Entwicklungen beeinflussen einander. (Flammer 2009, 23).

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3. Kernannahmen von Entwicklung

Kernfrage: Ist das Subjekt Gestalter seiner Entwicklung oder wird seine Entwicklung von inneren und äusseren Kräften gelenkt?

Je nachdem, ob dem Individuum und/oder der Umwelt ein gestaltender Beitrag zur Entwicklung zugebilligt wird, lassen sich 4 prototypische Modelle/ Theorienfamilien unterscheiden:

Umwelt

passiv aktiv

Einfache mechanistische Modelle:

(endogenistische Theorien)

Die Umwelt wirkt weder aktiv auf das Kind ein, noch hat das Kind aktiven Anteil an seiner Entwicklung

Umweltmodelle:

(exogenistische Theorien)

Über Verstärkungsmechanismen steuert die Umwelt aktiv die Entwicklung des Kindes

passiv

K

ind

Dispositionsmodelle:

(konstruktivistische Theorien)

Das Kind wählt sich aus seiner Umwelt aktiv diejenigen Aspekte aus, die es zu seiner Entwicklung benötigt, während die Umwelt nur eine geringe Rolle spielt

Interaktionsmodelle:

(interaktionistische Theorien)

Das Kind wirkt aktiv auf die Umwelt ein und wird seinerseits aktiv von dieser be–einflusst. Entwicklung ist die Folge der Interaktion zwischen den Umwelt-bedingungen und einem aktiven Kind.

aktiv

3.1 Exogenistische Theorien Es wird davon ausgegangen, dass das Kind bei seiner Geburt eine 'tabula rasa', ein unbeschriebenes Blatt sei. Nichts gelangt ins menschliche Bewusstsein, was nicht durch Er-

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fahrung, Umwelteinflüsse, Training, Übung, Lernprozesse auf das menschliche Bewusstsein gewirkt hat. Entwicklung wird eng an Lernprozesse gebunden. Verschiedene Sichtweisen: (a) Behaviorismus klassischer Prägung; (b) sozial-kognitive Lerntheorie nach Bandura (Beobachtungslernen), (c) kognitiver Behaviorismus. Entwicklungs- Psychologie = Lernpsychologie ?

Sie kennen in Grundzügen die sozial-kognitive Lerntheorie nach Bandura

3.2 Endogenistische Theorien Endogenistische Theorien führen die Entwicklung zurück auf die Entfaltung eines genetisch angelegten Plans des Werdens. Anlagen und Reifung sind die Erklärungen für Verän-derungen. Verschiedene Sichtweisen: (a) biologisch-reifungstheoretischen Sichtweise, (b) Verhaltensgenetik, (c) Vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie). Sie kennen die Studie: die Zwillinge T und K und das Fazit daraus

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Sie kennen die Sichtweise der vergleichenden Verhaltensforschung und können sie an einem Beispiel frühester sozialer Verhaltensformen beschreiben

3.3 Konstruktivistische Theorien Aus dieser Sichtweise wird der Mensch als Gestalter seiner Entwicklung betrachtet. Er wird als erkennendes und selbst-reflektierendes Wesen aufgefasst. Ein reflektierender Mensch begnügt sich nicht damit, mechanisch auf äussere Reize zu reagieren. Auch ist seine Ent-wicklung nicht nur durch biologische Reifung bestimmt, er handelt ziel- und zukunfts-orientiert und gestaltet damit seine eigene Entwicklung mit. Verschiedene Sichtweisen: strukturgenetischer Ansatz von Piaget.

Die Sichtweise von Piaget wird im Verlauf der Vorlesung vertieft. Der strukturgenetische Ansatz von Piaget wird von Wygotski durch den Aspekt des sozial-kulturellen Kontextes ergänzt, wie?

3.4 Interaktionistische Theorien Bei den interaktionische Theorien wird dem Kind als auch der Umwelt gestaltende Funktion zugebilligt; Mensch und Umwelt stehen im Austausch und beeinflussen sich gegenseitig, beide sind aktiv und in Veränderung begriffen, sie bedingen sich gegenseitig. Hierzu gehört die Entwicklungstheorie von U. Bronfenbrenner.

Diese Sichtweise wird im Verlauf der Vorlesung vertieft.