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BERLIN,AUGUST 2003 4 ´2003 Kompetenz- und Identitätsentwicklung bei arbeitszentrierter Lebensgestaltung Vom „Arbeitskraftunternehmer“ zum „reflexiv handelnden Subjekt“ Vorbemerkungen Die folgenden Überlegungen sind im Rahmen des Projekts „Neue Formen arbeitszentrierter Lebensgestaltung. Kompetenzentwick- lung bei Beschäftigten im IT-Bereich“ entstanden (Es handelt sich um die schriftliche Fassung eines Vortrags auf dem 4. Zukunftsfo- rum „Lernkultur für morgen – Forschungs- und Entwicklungspro- gramm ‚Lernkultur Kompetenzentwicklung’“ am 13. März 2002 in Berlin. Das Projekt wird im Rahmen des BMBF-Programms „Lern- kultur Kompetenzentwicklung“, Programmbereich „Lernen im so- zialen Umfeld“, gefördert. Als Projektberichte liegen bislang vor: Ewers/Hoff 2002 a, b; Petersen u. a. 2002; http://www.fu-berlin.de/ arbpsych.) Untersucht werden junge Frauen und Männer, die im Kernbereich der Informations- und Kommunikationstechnologie an häufig wechselnden Projekten und in neu gegründeten kleinen, sich schnell verändernden Firmen („Startups“) als Selbstständige oder Mitarbeiter tätig sind. Bei diesen Personen kommen fast alle Merk- male zusammen, die für den strukturellen Wandel in der Arbeitswelt generell als charakteristisch gelten. Sie stehen gewissermaßen im Brennpunkt dieses Wandels, und sie scheinen auf den ersten Blick am ehesten jenem „Arbeitskraftunternehmer“ zu entsprechen, wie er von Voß und Pongratz (1998) als „Leittypus“ für zentrale und größer werdende Gruppen von erwerbstätigen Erwachsenen in der Zukunft, genauer gesagt: als idealtypisch für die Anforderungen an deren alltägliches Arbeitshandeln und an deren gesamte Lebens- gestaltung beschrieben worden ist. Im Projekt geht es um folgende Fragen: Gestalten diese jungen Frauen und Männer ihr Leben tatsächlich derart arbeitszentriert, wie es in den Medien häufig beschrieben worden ist? Sind ihnen neben ihrer Arbeit nicht auch andere soziale Umfelder wichtig? Lösen sich in ihrem Leben die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit bzw. zwischen Berufs- und Privatleben wirklich völlig auf? Können und wollen sie Formen einer derart arbeitszentrierten, entgrenzten Lebensgestaltung auch noch „durchhalten“, wenn sie älter werden, feste Partnerschaften eingehen oder gar Kinder ha- ben? Gibt es dabei Unterschiede zwischen den jungen Männern und Frauen? Wie lassen sich ihre subjektiven Orientierungen, Motive, persönli- chen Ziele, Handlungskompetenzen und Vorstellungen zur eigenen Person, zum eigenen Leben und zur eigenen Zukunft beschreiben? Wie entwickeln sich diese „inneren“ Merkmale im Zusammenhang mit der Organisationsentwicklung und im Kontext der gesamten Lebensgestaltung? Wann und warum verändern sich diese Merkmale? Was treibt die Kompetenz- und Identitätsentwicklung voran, und in welchem Maße trägt diese Entwicklung ihrerseits zum Wandel oder zur Stabilisierung der eigenen Lebensumstände bei? Vor der Beantwortung dieser Fragen ist es erforderlich zu begrün- den, welche Orientierungen, Motive, persönlichen Ziele oder Kom- petenzen man für relevant hält, worauf man das Augenmerk bei der wissenschaftlichen Analyse (aber auch bei der praktischen Förde- rung) von Kompetenz- und Identitätsentwicklung lenkt und welche Vorstellungen zu Entwicklung, Sozialisation oder Lernen man zu- grunde legen könnte. Darum geht es in diesem Beitrag. Erstens soll eine Begründungslinie aufgezeigt werden, die sich aus stärker soziologisch akzentuierten Analysen der Entwicklungen in der Ar- beitswelt und ihrer Auswirkungen auf die Anforderungen an das individuelle Handeln sowie an die Lebensgestaltung ergeben. Hier könnte man den Leittypus des „Arbeitskraftunternehmers“ auch als forschungsleitenden, als paradigmatischen Ausgangspunkt für die theoretische Ableitung und Benennung jener Kompetenzen, Identi-

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B E R L I N , A U G U S T 2 0 0 3 4 ´ 2 0 0 3

Kompetenz- und Identitätsentwicklungbei arbeitszentrierter Lebensgestaltung

Vom „Arbeitskraftunternehmer“ zum „reflexiv handelnden Subjekt“

Vorbemerkungen

Die folgenden Überlegungen sind im Rahmen des Projekts „NeueFormen arbeitszentrierter Lebensgestaltung. Kompetenzentwick-lung bei Beschäftigten im IT-Bereich“ entstanden (Es handelt sichum die schriftliche Fassung eines Vortrags auf dem 4. Zukunftsfo-rum „Lernkultur für morgen – Forschungs- und Entwicklungspro-gramm ‚Lernkultur Kompetenzentwicklung’“ am 13. März 2002 inBerlin. Das Projekt wird im Rahmen des BMBF-Programms „Lern-kultur Kompetenzentwicklung“, Programmbereich „Lernen im so-zialen Umfeld“, gefördert. Als Projektberichte liegen bislang vor:Ewers/Hoff 2002 a, b; Petersen u. a. 2002; http://www.fu-berlin.de/arbpsych.) Untersucht werden junge Frauen und Männer, die imKernbereich der Informations- und Kommunikationstechnologie anhäufig wechselnden Projekten und in neu gegründeten kleinen, sichschnell verändernden Firmen („Startups“) als Selbstständige oderMitarbeiter tätig sind. Bei diesen Personen kommen fast alle Merk-male zusammen, die für den strukturellen Wandel in der Arbeitsweltgenerell als charakteristisch gelten. Sie stehen gewissermaßen imBrennpunkt dieses Wandels, und sie scheinen auf den ersten Blickam ehesten jenem „Arbeitskraftunternehmer“ zu entsprechen, wieer von Voß und Pongratz (1998) als „Leittypus“ für zentrale undgrößer werdende Gruppen von erwerbstätigen Erwachsenen in derZukunft, genauer gesagt: als idealtypisch für die Anforderungen anderen alltägliches Arbeitshandeln und an deren gesamte Lebens-gestaltung beschrieben worden ist. Im Projekt geht es um folgendeFragen:

Gestalten diese jungen Frauen und Männer ihr Leben tatsächlichderart arbeitszentriert, wie es in den Medien häufig beschriebenworden ist?Sind ihnen neben ihrer Arbeit nicht auch andere soziale Umfelderwichtig?

Lösen sich in ihrem Leben die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeitbzw. zwischen Berufs- und Privatleben wirklich völlig auf?Können und wollen sie Formen einer derart arbeitszentrierten,entgrenzten Lebensgestaltung auch noch „durchhalten“, wenn sieälter werden, feste Partnerschaften eingehen oder gar Kinder ha-ben?Gibt es dabei Unterschiede zwischen den jungen Männern undFrauen?Wie lassen sich ihre subjektiven Orientierungen, Motive, persönli-chen Ziele, Handlungskompetenzen und Vorstellungen zur eigenenPerson, zum eigenen Leben und zur eigenen Zukunft beschreiben?Wie entwickeln sich diese „inneren“ Merkmale im Zusammenhangmit der Organisationsentwicklung und im Kontext der gesamtenLebensgestaltung?Wann und warum verändern sich diese Merkmale?Was treibt die Kompetenz- und Identitätsentwicklung voran, und inwelchem Maße trägt diese Entwicklung ihrerseits zum Wandel oderzur Stabilisierung der eigenen Lebensumstände bei?

Vor der Beantwortung dieser Fragen ist es erforderlich zu begrün-den, welche Orientierungen, Motive, persönlichen Ziele oder Kom-petenzen man für relevant hält, worauf man das Augenmerk bei derwissenschaftlichen Analyse (aber auch bei der praktischen Förde-rung) von Kompetenz- und Identitätsentwicklung lenkt und welcheVorstellungen zu Entwicklung, Sozialisation oder Lernen man zu-grunde legen könnte. Darum geht es in diesem Beitrag. Erstens solleine Begründungslinie aufgezeigt werden, die sich aus stärkersoziologisch akzentuierten Analysen der Entwicklungen in der Ar-beitswelt und ihrer Auswirkungen auf die Anforderungen an dasindividuelle Handeln sowie an die Lebensgestaltung ergeben. Hierkönnte man den Leittypus des „Arbeitskraftunternehmers“ auch alsforschungsleitenden, als paradigmatischen Ausgangspunkt für dietheoretische Ableitung und Benennung jener Kompetenzen, Identi-

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tätsformen etc. wählen, die man dann empirisch untersucht. Einesolche Ableitungslogik – darauf soll zweitens hingewiesen werden– erscheint jedoch problematisch. In diesem Beitrag wird für eineErweiterung der soziologischen um psychologische und sozialisati-onstheoretische Perspektiven, für eine paradigmatische Orientie-rung nicht nur am Leittypus des „Arbeitskraftunternehmers“, son-dern auch und vor allem am Typus des „reflexiv handelnden Sub-jekts“ plädiert, dessen Reflexivität angesichts von Handlungspro-blemen, -konflikten und -dilemmata gefordert ist und das seineUmwelt handelnd mitgestaltet. Drittens sollen schließlich Kompe-tenzen und Identitätsformen umrissen werden, deren Entwicklungdurch die Auseinandersetzung mit Handlungskonflikten in Richtungauf diesen Typus des „reflexiv handelnden Subjekts“ vorangetrie-ben wird.

Entwicklungen in der Arbeitswelt undAnforderungen an den„Arbeitskraftunternehmer“

Die Beschreibungen der sich wandelnden Anforderungen an daskonkrete Arbeitshandeln und an die individuelle Lebensgestaltunggehen von generellen Entwicklungstrends auf sozialstrukturellerEbene aus. Hier sind es vor allem folgende, eng ineinander verfloch-tene, sich gegenseitig vorantreibende Transformationsprozesse,die immer wieder genannt werden:

– Die Verschiebungen im Gewicht der Wirtschaftssektoren, wobeinach der (im Vergleich zum industriellen Sektor) seit Jahrzehn-ten zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors heutedie immer schneller wachsende ökonomische Relevanz desInformations- und Kommunikationsbereiches sowie die steigen-de Zahl der hier Beschäftigten besonders ins Auge fallen.

– Die sich beschleunigende Entwicklung der neuen Technologiengerade im letztgenannten Bereich, wobei die Informations- undKommunikationstechnologien allerdings alle Wirtschaftssekto-ren durchdringen.

– Der immer schnellere Wandel der Berufe, die ständige Entste-hung neuer Berufe und die Ausdifferenzierung von Expertenrol-len – dies z. B. besonders augenfällig bei den Computerberufen.

– Die (wiederum im IKT-Bereich prototypisch beobachtbare) per-manente Erneuerung von Wissen, der schnelle Verfall altenWissens, die Verwissenschaftlichung der gesamten Arbeits-welt, aus der sich eine Auflösung der Grenzen zwischen Arbeitund Lernen und eine immer stärkere Bedeutung des lebenslan-gen Lernens ergibt.

– Die Dynamik des Wandels von Unternehmen und Märkten imZeichen der Globalisierung.

– Die Flexibilisierung der Organisationsformen und die zuneh-mende Projektförmigkeit von Arbeit.

– Die Flexibilisierung der Beschäftigungsformen und die wach-sende Bedeutung von Selbstständigkeit, Freiberuflichkeit sowieUnternehmertum (auch bei den abhängig beschäftigten Arbeit-nehmern, auf deren neuen „unternehmerischen“ Umgang mit

der eigenen Arbeitskraft der Begriff vom „Arbeitskraftunterneh-mer“ vor allem verweist).

– Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und die sichwandelnden Geschlechterverhältnisse in der Arbeitswelt.

Die Auswirkungen dieser strukturellen Veränderungen auf der Ebe-ne von Anforderungen an das individuelle Arbeitshandeln, an diealltägliche und biographische Lebensgestaltung sind nicht nur vonVoß und Pongratz (1998) mit ihrer idealtypisch komprimierten Be-schreibung des „Arbeitskraftunternehmers“, sondern auch von an-deren Autoren mit Hilfe anderer Schlüsselbegriffe thematisiert wor-den. Dort steht allerdings das Arbeitshandeln im Kontext größererOrganisationen und nicht innerhalb der eingangs erwähnten kleinen„Startups“ im Vordergrund. So ist bei Moldaschl (1997) von einer„Internalisierung des Marktes“ die Rede. In seinen theoretischenund empirischen Analysen wird deutlich, dass die Imperative desMarktes immer stärker auch innerhalb von Organisationen wirksamwerden und dort eine Ausrichtung des Handelns von Gruppen sowievon einzelnen Beschäftigten an Konkurrenz, an eigenem Nutzenund an ökonomischer Effizienz bedeuten. Voß und Pongratz argu-mentieren in ähnlicher Weise und heben dabei noch besonders dieNotwendigkeit zur „Selbstvermarktung der eigenen Arbeitskraft“sowie die (einer Orientierung des Arbeitshandelns an ökonomischerEffizienz zugrunde liegende) allgemeinere Ausrichtung der gesam-ten Lebensführung am Prinzip des zweckrationalen Handelns her-vor. Die bei Moldaschl (1999) betonte Zunahme von Anforderungenan autonomes Arbeitshandeln, die oft zugleich eine Zunahme vonpsychischen Beanspruchungen durch internalisierten Leistungs-druck bedeutet, wird bei Voß und Pongratz auch als Umwandlungvon Fremd- in Selbstkontrolle thematisiert. Mit Autonomie wird alsozugleich Selbstdisziplinierung gefordert. „Kontrollierte Autonomie“ist der entsprechende Schlüsselbegriff bei Vieth (1995); hier wirdspeziell mit Blick auf industrielle Arbeit (und die Entwicklung vom„Fordismus“ zum „Toyotismus“) Folgendes herausgearbeitet: Einer-seits nehmen konkrete Handlungsspielräume im Vollzug des Ar-beitshandelns, bei der Bestimmung von Mitteln und Wegen zurZielerreichung zu; andererseits wird diese Autonomie zugleich er-zwungen – etwa durch arbeitsplatzfernere Kontrollmechanismen,durch Zielvorgaben, Zielvereinbarungen und einer am Produkt ori-entierten Entlohnung. Jurczyk und Voß (2000) betonen weiter die„Entgrenzung von Arbeit“, die auf individueller Ebene vor allem aufeine Auflösung der Grenzen zwischen dem beruflichen und privatenHandeln hinausläuft. Dem korrespondiert der Schlüsselbegriff einer„Subjektivierung der Arbeit“ bei Moldaschl und Voß (2002), der aufdie zunehmende Vereinnahmung des „ganzen“, auch des „privaten“Menschen mit all seinen Potentialen, Kompetenzen und Ressour-cen für ein effizientes und autonomes Arbeitshandeln zielt. In derBiographieforschung und im Rahmen modernisierungstheoretischerAnsätze wird schließlich auf die zunehmende Diskontinuität vonErwerbsbiographien im Zuge des strukturellen Wandels hingewie-sen. Damit ergibt sich immer häufiger die Anforderung an biographi-sche Flexibilität und wiederum ein Zwang zur Autonomie – nunmehrin der Weise, dass biographische Brüche bzw. Wechsel zwischen

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beruflichen Projekten mit unterschiedlichen Arbeitsinhalten, zwi-schen Organisationen, zwischen Beschäftigungsformen oder zwi-schen Phasen mit und ohne Erwerbsarbeit einerseits zum Teilextern erzwungen sind und andererseits im Sinne autonomer Wei-chenstellungen genutzt werden können und müssen.

Es liegt nun nahe, von all diesen Anforderungen auf tatsächlichesHandeln und dessen psychische Voraussetzungen, d.h. auf Motive,Kompetenzen etc. zu schließen. Vor allem der personalisierendeBegriff des „Arbeitskraftunternehmers“ verleitet dazu, aus den damitgemeinten Anforderungen die dazu passenden psychischen Merk-male abzuleiten, zu denen sich entsprechende psychologischeKonzepte finden lassen: etwa ein berufliches Streben nach Autono-mie, eine internale berufliche Kontrollüberzeugung, eine intrinsi-sche Arbeitsmotivation, eine Flexibilität beruflich mittelfristiger Zie-le, unternehmerische Kompetenzen und Risikobereitschaft, Kom-petenzen einer technisch oder ökonomisch effizienten Handlungs-steuerung oder schließlich Selbstbilder und Zukunftsentwürfe, indenen Arbeit als Lebensinhalt und Berufserfolg als langfristigesLebensziel dominieren. Eine derartige Ableitung und Auswahl vonpsychischen Merkmalen und Kompetenzen erscheint vor allemangesichts der damit einhergehenden, engen Vorstellung von Ent-wicklung bzw. Sozialisation problematisch (vgl. auch die Kritik beiMinnameier 2003). Berufliche Entwicklung stellt sich hier gewisser-maßen als zirkulärer Prozess dar: Je stärker die neuen Anforderun-gen in der Arbeitswelt ausgeprägt sind, desto eher kommt es zurgraduellen Zunahme (bzw. bei schwächerer und fehlender Ausprä-gung zu Stagnation oder Abnahme) jener Merkmale und Kompeten-zen des „Arbeitskraftunternehmers“, die bereits a priori bis zu einemgewissen Grade ausgeprägt sein müssen, damit Personen über-haupt in die entsprechenden Tätigkeitsfelder und Handlungskontex-te gelangen. Entwicklung als Optimierung von Kompetenzen durchfortlaufendes Arbeitshandeln, das den Anforderungen in diesenKontexten entspricht, führt dann dazu, dass Personen ihre Hand-lungskontexte, ihre Arbeitsbedingungen und beruflichen Anforde-rungen ihrerseits stabilisieren – dies z. B. auch in der Weise, dass siebei beruflichen Wechseln ähnliche Umfelder und Bedingungskon-stellationen selbst wieder aufsuchen bzw. herbeiführen. Es handeltsich um das aus der Forschung zur beruflichen Entwicklung (Hoff2002) bekannte Modell einer wechselseitigen Stabilisierung, einerzunehmenden „Passung“ oder „Kongruenz“ von (arbeitender) Per-son und (Arbeits-)Umwelt.

Denkbar sind allerdings auch Entwicklungsprozesse, die sich durchqualitativ gravierende Veränderungen der Motivkonstellation, derZielstruktur, durch den Aufbau neuer Kompetenzen, durch subjekti-ve Umorientierungen, Neubewertungen der eigenen Person, deseigenen Lebens oder durch veränderte Zukunftsentwürfe kenn-zeichnen lassen. Sie können dazu führen, dass Personen ihreArbeits- und Lebensbedingungen sehr grundsätzlich in Frage stel-len und ändern. Denkbar ist auch, dass Personen sehr bewusst vonsich aus in andere Tätigkeitsfelder und Organisationen wechseln.Solche Prozesse geraten stärker in den Blick und lassen sich

theoretisch klarer fassen, wenn man sich nicht mehr ausschließlicham Leittypus des „Arbeitskraftunternehmers“, sondern auch an demdes „reflexiv handelnden Subjekts“ orientiert.

Anforderungen an das „reflexiv handelndeSubjekt“: Handlungskonflikte undbiographische Diskontinuität

Das Paradigma vom „reflexiv handelnden Subjekt“ liegt handlungs-und sozialisationstheoretischen Ansätzen zugrunde, und dieserBegriff verweist auf ein grundlegendes Verständnis vom Menschen,dessen Handeln nicht nur einseitig durch externe, sozialstrukturellbedingte Anforderungen, sondern auch durch interne Strebungenund autonom gesetzte Ziele bestimmt wird. Das eigene Handelnwird im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Seiten, zwischenexternen Anforderungen und internen Strebungen, zwischen gesell-schaftlicher Einbindung und individueller Autonomie (sowie im Span-nungsfeld zwischen unterschiedlichen oder gar konfligierendenAnforderungen, Strebungen oder Zielen) reflektiert; und das indieser Weise reflexive Subjekt kann durch sein Handeln nicht nureine Verfestigung, sondern auch eine gravierende Veränderungseiner Handlungsbedingungen bzw. seiner Umwelt bewirken. Dieseparadigmatische Perspektive ist für mehrere, sonst durchaus unter-schiedliche Theorietraditionen in der Sozialisationsforschung kenn-zeichnend (vgl. z. B. die Beiträge in Grundmann 1999). Sie gilt füreine konstruktivistisch-strukturgenetische Tradition, in deren Rah-men beispielsweise moralische Reflexivität als Kompetenz thema-tisiert und Entwicklung als Abfolge von qualitativ unterschiedlichenNiveaus oder Stufen begriffen wird, auf denen moralische Dilemma-ta bzw. soziale Konflikte in zunehmend komplexerer Weise reflek-tiert und angegangen werden. Aber auch in Identitätskonzepten (diesich auf handlungspsychologische Theorien beziehen lassen, vgl.Hoff/Ewers 2002) gilt Reflexivität als zentral bei der subjektivenAuseinandersetzung mit diskrepanten bzw. widersprüchlichen ex-ternen Handlungsanforderungen (oder mit unterschiedlichen inter-nen Handlungszielen), die sich im Zuge einer gesamtgesellschaft-lichen Ausdifferenzierung von Institutionen, verschiedenartigen so-zialen Rollen und Handlungskontexten für den einzelnen ergeben.Sehr deutlich wird Reflexivität schließlich bei Giddens (1991) alsKennzeichen von Identität in der späten Moderne bzw. in postindu-striellen Gesellschaften benannt; und auch hier werden sozialstruk-turell bedingte Dilemmata bzw. Konflikte als Voraussetzung für einezunehmende Reflexion der eigenen Person, des eigenen Handelns,des eigenen Lebens und der eigenen Zukunft begriffen. Unter dieserPerspektive fallen rückblickend Unterschiede zwischen den zuvorgenannten Autoren ins Auge: Voß und Pongratz gehen kaum aufHandlungskonflikte ein, während konfligierende Arbeitsanforderun-gen schon bei Vieth und dann besonders in den Arbeiten von Mol-daschl behandelt werden. Bevor solche Handlungsprobleme, -kon-flikte oder -dilemmata als Voraussetzung für Reflexivität und als„Motor“ für Entwicklung genauer anhand von Beispielen erläutertwerden, sollen in der Übersicht 1 (vgl. Seite 4) die wichtigstenHandlungsanforderungen angeführt werden, auf die sich nun in

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Kontrast und in Ergänzung zu denen des „Arbeitskraftunterneh-mers“ der Blick richtet, wenn man sich am Leittypus des „reflexivhandelnden Subjekts“ orientiert.

Ausgehend von dieser Übersicht sollen nun zwei Bereiche vondiskrepanten oder widersprüchlichen Handlungsanforderungen (dieu. U. zugleich als subjektiv widersprüchliche Motive oder Hand-lungsziele intern repräsentiert sein können) beschrieben werden:nämlich Probleme bzw. Konflikte erstens innerhalb der Arbeit unddes Berufslebens und zweitens solche zwischen den Anforderun-gen und/oder Zielen in unterschiedlichen sozialen Umfeldern – diesbesonders mit Blick auf junge Erwachsene mit bislang arbeitszen-trierter Lebensgestaltung, bei denen neben das dominante Berufs-allmählich auch ein wichtiger werdendes Privatleben tritt. SolcheHandlungskonflikte können das Alltagshandeln, das alltagsüber-greifende Handeln z. B. in längerfristigen Projekten und das biogra-phisch bedeutsame Handeln betreffen (Hoff/Ewers 2002). Das solletwas genauer und anhand von Beispielen erläutert werden.

Erstens: Probleme bzw. Konflikte innerhalb der Arbeit und desBerufslebensAnders als bei Handlungsanforderungen, die ausschließlich derBeschreibung des „Arbeitskraftunternehmers“ folgen (in Übersicht1: links), fallen mit einer Orientierung am Paradigma des „reflexivhandelnden Subjekts“ (in Übersicht 1: rechts) neben der Ausrich-tung des Handelns an den Imperativen des Marktes auch damitkonfligierende Anforderungen oder Ziele ins Auge: So gibt es inProjektteams z.B. häufig einen Widerspruch zwischen der Ausrich-tung des Handelns an Konkurrenz und der gleichzeitigen Ausrich-

tung an Solidarität. Weiter können sich beispielsweise die Beschäf-tigten in kleinen Firmen dann, wenn die Mitarbeiterzahl schnell steigtund Ansätze einer hierarchischen Struktur erkennbar werden, mitdem Problem konfrontiert sehen, dass ein egalitärer, ja freund-schaftlicher Umgang zwischen Mitarbeitern und Gründern zuneh-mend in Widerspruch zu einseitigen Anweisungen und Kontrollender Mitarbeiter durch die Gründer bzw. Leiter gerät. Ebenfalls auf derEbene des beruflichen Alltagshandelns kann das bekannte Quanti-täts-Qualitäts-Dilemma zutage treten, wenn die Ausrichtung anökonomischer Effizienz bzw. Gewinnmaximierung nur schwer mitder Forderung oder dem persönlichen Ziel vereinbar erscheint, dassdie Arbeitsprodukte für andere Menschen möglichst nützlich seinsollen. Dazu ein Beispiel für Konflikte auf der Ebene des alltagsüber-greifenden Handelns: So können mehrere Projekte (z. B. der Soft-ware-Entwicklung) zugleich verfolgt werden, weil eine Doppel- oderMehrgleisigkeit mehr Gewinn verspricht; aber darunter leidet u. U.zugleich die Qualität der Produkte in jedem einzelnen Projekt.

Anders als bei einem ausschließlich am Prinzip der Zweckrationa-lität orientierten Arbeitshandeln im Sinne des „Arbeitskraftunterneh-mers“ – und hier richtet sich Reflexivität nur auf die Effizienz vonHandlungsmitteln und Handlungswegen –, lenkt die Orientierungam Paradigma des „reflexiv handelnden Subjekts“ den Blick vorallem auf eine Reflexion der Handlungsziele. Dabei geht es um dieFragen des „richtigen“, des subjektiv „sinnvollen“ Handelns, derBildung von Prioritäten angesichts von Alternativen und der Begrün-dung des Handelns anhand von „Pflichten“, Werten oder ethischenMaximen. Dazu ein Beispiel auf der Ebene des biographisch bedeut-samen Handelns: Auf der einen Seite mag es geboten erscheinen,

Im Sinne des „Arbeitskraftunternehmers“: Im Sinne des „reflexiv handelnden Subjekts“:Ausrichtung des Handelns nur.... Ausrichtung des Handelns zusätzlich...

– an den Imperativen des Marktes – an damit z.T. konfligierenden Anforderungen• an Konkurrenz • an Solidarität• am eigenen Nutzen • am Nutzen, „Sinn“ der Handlungsresultate/Produkte• am Nutzen für das eigene Unternehmen auch für andere Menschen (nicht nur „kunden-• an ökonomischer Effizienz (Gewinn) orientiert“ i. S. von marktorientiert)• an der Notwendigkeit zur „Selbstvermarktung“ der • an persönlichen Zielen, Neigungen/Motiven,

eigenen Arbeitskraft. Strebungen.

– an Zweckrationalität. – an „Pflichten“, Werten, ethischen Maximen.

– am Zwang zur Autonomie – an der Reflexion von Zwang und Autonomie• an Selbstkontrolle bei ergebnisorientierter Arbeit • an der Reflexion der Funktion von Selbst – anstelle von• an Selbstbelastung durch selbstauferlegten Fremdkontrolle

Leistungsdruck. • an der Vermeidung, Minderung, Kompensation von„Selbstausbeutung“ und Leistungsdruck.

– an einer Konzentration aller subjektiven Ressourcen – an einer Kopplung der Ressourcen an unterschiedlicheauf Arbeit und soziale Umfelder

– an Entgrenzung der Lebenssphären. – an Segmentation, Integration/Balance von Berufs- undPrivatleben.

– am Zwang zu biographischer Flexibilität, zum Wechsel – an der Reflexion von biographischer Kontinuität trotzvon persönlichen Zielen. Diskontinuität

– an Balance zwischen Festhalten an Zielen und Wechselvon Zielen.

Übersicht 1Anforderungen an das Arbeitshandeln und an die Lebensgestaltung

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eine Position mit hohem Einkommen in einer kleinen Firma zubehalten, weil man sich den Kollegen gegenüber zur weiterenZusammenarbeit verpflichtet fühlt, weil das Einkommen mit Blick aufdie Versorgung anderer Personen wichtig ist etc. Auf der anderenSeite mag es ebenso geboten erscheinen, in ein anderes Unterneh-men zu wechseln, weil die Produkte moralisch problematisch er-scheinen – z. B. aus ökologischen Gründen oder weil sie an Kundenin der Rüstungsindustrie verkauft werden. In Übersicht 1 ist weiterder Zwang zur Autonomie angeführt, der bei einer Ausrichtung desHandelns im Sinne des „Arbeitskraftunternehmers“ noch gar nichtals Widerspruch an sich empfunden werden muss, sondern subjek-tiv bejaht wird. Denkbar sind allerdings zugespitzte Konflikte, indenen die Reflexion von offensichtlichen Widersprüchen zwischenexternen Zwängen (z. B. dem zeitlichen Druck, ein Produkt schnellauf den Markt zu bringen) und subjektiv für äußerst wichtig befunde-ner Autonomie (z. B. der eigenen Entscheidung von Software-Entwicklern, wann ein Produkt „fertig“ bzw. technisch ausgereift ist)unvermeidlich erscheint.

Zweitens: Probleme bzw. Konflikte zwischen den Anforderungenund/oder Zielen in unterschiedlichen sozialen UmfeldernIm unteren Teil von Übersicht 1 wird auf das Verhältnis von berufli-chen und privaten Handlungsanforderungen aufmerksam gemacht.Bei völlig arbeitszentrierter, entgrenzter Lebensgestaltung sind sol-che Handlungsanforderungen zunächst kaum voneinander unter-scheidbar; und wenn diese Lebensgestaltung bejaht wird, dannheißt dies, dass die externen Handlungsanforderungen auch deninternen Strebungen entsprechen. In den Lebenszielen und Zu-kunftsentwürfen wird diese Form der Lebensgestaltung verlängert:Berufliche Selbstverwirklichung und Berufserfolg dominieren alsZielvorstellungen. Ein solches Leben lässt sich aber fast nur beikinderlosen „Singles“ oder in einer Partnerschaft realisieren, in derbeide Partner dieselben Ziele verfolgen und an ähnlichen Projektenarbeiten. Die Konzentration aller subjektiven Ressourcen auf Arbeit,d. h. die völlig entgrenzte Lebensgestaltung im Sinne des „Arbeits-kraftunternehmers“ wird durch enger werdende Bindungen an Part-ner in anderen als den eigenen Berufsfeldern, durch Kinderwünscheund deren Realisation oder durch ein neu entstehendes Engage-ment in einem anderen sozialen Umfeld jedoch in Frage gestellt. Indiesem Fall wird eine Kopplung der Ressourcen an unterschiedlichesoziale Umfelder, eine Segmentation oder Integration der Lebens-sphären im Sinne einer „Work-Life-Balance“ subjektiv durchausattraktiv. Konflikte ergeben sich in dem Maße, in dem Personenweiterhin arbeitszentriert leben wollen und an ihren beruflichenZielen festhalten. Es muss nun (ganz im Sinne des „reflexiv handeln-den Subjekts“) über den „Sinn“ des eigenen Lebens, über das„richtige“ Leben nachgedacht werden. Denkbar ist, dass Prioritätengebildet werden: entweder für Lebensziele der beruflichen „Selbst-verwirklichung“ bzw. des beruflichen Erfolgs oder für solche desprivaten „Glücks“ bzw. des „erfüllten“ Familienlebens. Denkbar istaber auch, dass versucht wird, Kompromisse zu finden, die einer-seits eine weitgehende Realisierung beider Arten von Zielen ermög-lichen, aber andererseits auch gewisse Abstriche erfordern. Die

Lebensgestaltung wird dann nicht mehr ganz so stark auf Arbeitzentriert, und eine Balance mit dem Leben in anderen sozialenUmfeldern gilt als übergeordnetes Ziel. Mit einer solchen Bewälti-gung von Konflikten zwischen Lebenszielen auf der Ebene desbiographisch bedeutsamen Handelns sind aber noch nicht alleProbleme auf der Ebene des Alltagshandelns gelöst. Hier müssenbeispielsweise Frauen mit Familie nach wie vor häufiger als dieMänner konfligierende Anforderungen und Ziele in beiden Lebens-sphären miteinander vereinbaren; und auf der Ebene des alltags-übergreifenden Handelns können berufliche mit privaten Projektenkollidieren.

In Übersicht 1 wird schließlich der Zwang zur biographischen Flexi-bilität angeführt, dem sich Personen im Sinne des „Arbeitskraftunter-nehmers“ durch einen Wechsel der persönlichen Ziele anpassen. ImSinne des „reflexiv handelnden Subjekts“ können sich Personenjedoch u. U. trotz einer Diskontinuität, z. B. bei der Umstellung aufimmer neue Projekte oder bei veränderten Anforderungen desMarktes an einer Balance zwischen dem Wechsel entsprechenderProjektziele und dem Festhalten an persönlichen Zielen orientieren.

Kompetenzen, Identitätsprozesse undRichtungen von Entwicklung

Welche Kompetenzen können im Anschluss an die bisherigenÜberlegungen als relevant benannt werden? Worauf sollte man dasAugenmerk bei der wissenschaftlichen Analyse (sowie praktischenFörderung) von Kompetenz- und Identitätsentwicklung zusätzlich zuden zuvor genannten Merkmalen im Sinne des „Arbeitskraftunter-nehmers“ lenken? Darauf soll in Übersicht 2 (vgl. Seite 6) einevorläufige und programmatische Antwort gegeben werden.

Die in der Übersicht 2 benannten Kompetenzen und dazugehören-den Arten von Reflexivität bedürfen keiner zusätzlichen Erläuterung.Wichtig erscheint nur der Hinweis auf Handlungsebenen, nachdenen man diese Kompetenzen weiter differenzieren könnte. Essteht zumindest nicht von vornherein fest, in welchem Maße sich diefür das Alltagshandeln relevanten Kompetenzen (z. B. der Zielbil-dung) mit den alltagsübergreifend (z. B. der Bildung längerfristigerProjektziele) oder den biographisch wichtigen Kompetenzen (z. B.der Bildung von Lebenszielen) überschneiden. Fraglich erscheintauch, ob sich derart feiner differenziertere Kompetenzen den beiHeyse, Erpenbeck und Michel (2002) unterschiedenen Bereichen(fachlicher, methodischer, sozialer und personaler Kompetenzen)zuordnen lassen. Kompetenzen und Reflexionsprozesse auf derletztgenannten Ebene des biographisch bedeutsamen Handelnsfallen im Übrigen mit dem Prozess der Identitätsbildung zusammen.Darauf soll anhand der rechten Spalte in Übersicht 2 aufmerksamgemacht werden. Hier geht es um „personale“ Identität, und zu denin der Übersicht 2 angeführten Kompetenzen kommt noch einezusätzliche biographische bzw. eine „Selbst“-Kompetenz hinzu. Sierichtet sich auf die Reflexion der eigenen Person anhand vonVergleichen zwischen persönlicher Vergangenheit, Gegenwart und

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Zukunft. Personen können über sich selbst nachdenken, indem sieihre früheren Lebensziele, Lebenspläne, Konfliktlösungen etc. mitden jetzigen und zukünftigen vergleichen; und dadurch kann sicheine Erweiterung der Reflexion auch des Alltagshandelns ange-sichts von den Diskrepanzen zwischen externen Anforderungen (imSinne von „sozialer“ Identität) und internen Wünschen oder Zielenergeben.

Zuvor war darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich Kompe-tenzen im Sinne des „Arbeitskraftunternehmers“ auch anhand vonvorliegenden, dazu passenden psychologischen Konzepten (etwazu internalen Kontrollvorstellungen, zu persönlichen Zielen oderZukunftsvorstellungen, bei denen Berufserfolg dominiert etc.) be-schreiben lassen. Das gilt in ähnlicher Weise für die zuletzt ange-führten Kompetenzen im Sinne des „reflexiv handelnden Subjekts“.Hier könnte man beispielsweise genauer Bezüge zu handlungs-theoretischen Konzepten, zu höheren Stufen der moralischen Ur-

teilsfähigkeit (sensu Kohlberg) oder zu komplexeren Formen vonKontrollbewusstsein herstellen und dabei auch auf empirische Stu-dien zur beruflichen Entwicklung bzw. Sozialisation eingehen (z. B.Hoff/Lempert/Lappe 1991; im Überblick: Lempert 1998). Das kannim Rahmen dieses Beitrags nicht mehr geleistet werden, aberabschließend sei auf Folgendes hingewiesen: Gerade diese Kon-zepte legen eine Entwicklungsrichtung nahe, die man mit Rückgriffauf die Schlüsselbegriffe in diesem Beitrag auch als Entwicklungvom „Arbeitskraftunternehmer“ zum „reflexiv handelnden Subjekt“kennzeichnen könnte. Das heißt: Konflikte zwischen unterschiedli-chen Anforderungen oder Zielen (vgl. Übersicht 1), zwischen sub-jektiv bejahter arbeitszentrierter Lebensgestaltung und zugleichattraktiv werdenden andersartigen Lebensformen zwingen zu Refle-xivität und damit zu Kompetenz- und Identitätsentwicklung. Genauerzu untersuchen wäre allerdings, ob es nicht auch Konfliktkonstella-tionen und -erfahrungen gibt, die eine Entwicklung in dieser Rich-tung behindern.

Handlungskompetenzen

der Zielbildung

des Umgangs mit sich wandelndenHandlungskontexten

der Handlungsplanung

des Umgangs mit intrapersonalenZielkonflikten

des Umgangs mit sozialen Konflikten(und mit moralischen Dilemmata)

Reflexivität bezieht sich auf

– das Verhältnis von Heteronomie undAutonomie zwischen externen Anfor-derungen/Zielvorgaben und internenStrebungen/Motiven

– das Verhältnis zwischen Pflichten,ethischen Maximen und externenAnforderungen oder internen Strebun-gen.

– Entscheidungen für das Festhalten anZielen oder die Aufgabe/Modifikationvon Zielen

– Balance zwischen Festhalten undFlexibilität von Zielen (vgl. Brandt-städter 2001).

– die Umsetzung von Zielen in Teilziele– die Suche nach Mitteln und Wegen– die Antizipation von äußeren und

inneren Voraussetzungen, Chancenund Barrieren bei der Realisierungvon Zielen.

– die Suche nach kompatiblen und in-kompatiblen Aspekten, Prioritätenbil-dung und Entscheidung für oder ge-gen Handlungen

– Kompromissbildung, Bildung überge-ordneter „Integrations”-Ziele (vgl.Hoff/Ewers 2002).

– die Suche nach kompatiblen und in-kompatiblen Aspekten der Positio-nen/Interessen/Ziele der beteiligtenPersonen, Prioritätenbildung undEntscheidungen auf der Basis morali-scher Prinzipien

– Kompromissbildung auf der Basisgemeinsam akzeptierter „Integrati-ons”-Ziele.

Identität als reflexiver Prozess

der Bildung von Lebenszielen

des Umgangs mit sich veränderndenbiographischen Konstellationen, Le-bensumständen

der Lebensplanung

des Umgangs mit Konflikten zwischenLebenszielen (z.B. in verschiedenenLebensbereichen)

des Umgangs mit Konflikten zwischeneigenen Lebenszielen und denen vonPartnern oder Kollegen

Übersicht 2Kompetenzen zur reflexiven Bewältigung von Handlungsproblemen/-konflikten und Identität als reflexiver Prozess

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QUEM-BULLETIN 4/2003 7

Literatur

Brandtstädter, J.: Entwicklung – Intentionalität – Handeln. Stuttgart2001

Ewers, E.; Hoff, E.-H.: Projekt „Kompetent“ (Neue Formen arbeits-zentrierter Lebensgestaltung: Kompetenzentwicklung bei Beschäf-tigten im IT-Bereich). Entstehungsgeschichte und Projektskizze.Berichte aus dem Bereich „Arbeit und Entwicklung“, Nr. 18. FreieUniversität, Institut für Arbeits-, Berufs- und Organisationspsycholo-gie, Berlin 2002 a

Ewers, E.; Hoff, E.-H.: Interviewleitfaden und erste Untersuchungs-schritte im Projekt „Kompetent“. Berichte aus dem Bereich „Arbeitund Entwicklung“, Nr. 19. Freie Universität, Institut für Arbeits-,Berufs- und Organisationspsychologie, Berlin 2002 b

Giddens, A.: Modernity and self-identity: Self and society in the latemodern age. Cambridge 1991

Grundmann, M.: Konstruktivistische Sozialisationsforschung. Frank-furt/M. 1999

Heyse, V.; Erpenbeck, J.; Michel, L.: Kompetenzprofiling: Weiterbil-dungsbedarf und Lernformen in Zukunftsbranchen. Münster/NewYork/München/Berlin 2002

Hoff, E.-H.: Arbeit und berufliche Entwicklung. Berichte aus demBereich „Arbeit und Entwicklung“, Nr. 20. Freie Universität, Institutfür Arbeits-, Berufs- und Organisationspsychologie. Erscheint 2003in: Filipp, S.-H.; Staudinger, U. (Hrsg.): Entwicklungspsychologiedes mittleren und höheren Erwachsenenalters. Enzyklopädie derPsychologie. Göttingen 2003

Hoff, E.-H.; Ewers, E.: Handlungsebenen, Zielkonflikte und Identität.Zur Integration von Berufs- und Privatleben. In: Moldaschl, M. (Hrsg.).:Neue Arbeit – Neue Wissenschaft der Arbeit? Heidelberg 2002, S.222-248

Hoff, E.-H.; Lempert, W.; Lappe, L.: Persönlichkeitsentwicklung inFacharbeiterbiographien. Bern 1991

Jurczyk, K.; Voß, G.: Entgrenzte Arbeitszeit – Reflexive Alltagszeit.Die Zeiten des Arbeitskraftunternehmers. In: Hildebrandt, E. (Hrsg.):Reflexive Lebensführung. Zu den sozialökologischen Folgen flexi-bler Arbeit. Berlin 2000

Lempert, W.: Berufliche Sozialisation oder was Berufe aus Men-schen machen: Eine Einführung. Baltmannsweiler 1998

Minnameier, G.: Wie verläuft Kompetenzentwicklung – kontinuier-lich oder diskontinuierlich? (Reihe Arbeitspapiere WP). Johannes-Gutenberg-Universität, Fachbereich 03, Mainz 2003

Moldaschl, M.: Internalisierung des Marktes. Neue Unternehmens-strategien und qualifizierte Angestellte. In: SOFI/IfS/ISF/INIFES(Hrsg.): Jahrbuch sozialwissenschaftliche Technikberichterstattung.Schwerpunkt: Dienstleistungswelten. Berlin 1997, S. 197-250

Moldaschl, M.: Herrschaft durch Autonomie – Dezentralisierung und

widersprüchliche Arbeitsanforderungen. In: Lutz, B. (Hrsg.): Ent-wicklungsperspektiven von Arbeit. Weinheim 1999, S. 269-303

Moldaschl, M.; Voß, G. G. (Hrsg.): Subjektivierung von Arbeit.(Reihe Arbeit, Innovation und Nachhaltigkeit, Bd. 2). München 2002

Petersen, O.; Ewers, E.; Schraps, U.; Hoff, E.-H.: Zwischenberichtund Auswertungsmanual zum Projekt „Kompetent“. Berichte ausdem Bereich „Arbeit und Entwicklung“, Nr. 21. Freie Universität,Institut für Arbeits-, Berufs- und Organisationspsychologie, Berlin2002

Vieth, P.: Kontrollierte Autonomie. Neue Herausforderungen für dieArbeitspsychologie. Heidelberg 1995

Voß, G. G.; Pongratz, H. J.: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neueGrundform der „Ware Arbeitskraft“? Kölner Zeitschrift für Soziologieund Sozialpsychologie, 50 (1), 1998, S. 131-158

Ernst-H. Hoff

Herzlichen Glückwunsch

Erste Promotion aus dem Graduiertennetzwerk„Lernkultur Kompetenzentwicklung“ abgeschlossen

Am 12. Mai 2003 verteidigte Herr

Holger Sickel als erster Teilneh-

mer aus dem Graduiertennetz-

werk an der RWTH Aachen seine

Dissertation zum Thema:

„Entwicklung eines facharbeiter-

orientierten Lernzeugs für nume-

risch gesteuerte Dreh- und Fräs-

prozesse“. Betreuer der Arbeit war Prof. Dr. Klaus Henning

(RWTH Aachen).

Die Arbeit leistet einen Beitrag die Möglichkeiten zu

erweitern, dass Facharbeiter in Interaktion mit dem Compu-

ter weitgehend selbstgesteuert für ihre realen Arbeitspro-

zesse lernen können.

Damit zeitigt die im Jahre 2001 begonnene Förderung

junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erste Re-

sultate und es zeichnet sich ab, dass in den nächsten Mona-

ten weitere Promotionen aus dem Graduiertennetzwerk

erfolgen werden.

Unsere Autoren

Prof. Dr. Ernst-H. Hoff, Freie Universität Berlin

Dr. Jürgen Salomon, Verband Sächsischer Bildungsinsitute e.V.Leipzig

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8 QUEM-BULLETIN 4/2003

Im Zeichen des demografischen WandelsGenerationenverbindendes Lernen in der Informationsgesellschaft

Lebensqualität im Alter erschöpft sich nicht in finanzieller Absiche-rung und sozialer Betreuung. Selbstbestimmtes Leben bedarf Hand-lungs- und Gestaltungsräume in sozialen Umfeldbedingungen –Räume, die gesellschaftliche Integration ermöglichen, das Miteinan-der von Jung und Alt befördern, einer Ausgrenzung von Entwick-lungsprozessen entgegenwirken; Räume auch, die bewusst denBeitrag aktiver älterer Menschen für die Gestaltung regionaler undgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse herausfordern und dendaraus für die Gesellschaft erzielbaren Nutzen im Blick haben.

Das im Folgenden beschriebene Projekt versteht sich als ein Mosa-ikstein in diesem Bild künftigen Zusammenlebens von Jung und Alt,als ein Beitrag zum Miteinander der Generationen sowie zur Heraus-bildung und zum Erhalt personaler und sozialer Kompetenzen beiJung und Alt. Das für diesen Mosaikstein gewählte Themenfeld istdie zunehmende Durchdringung des Lebens mit Informations- undKommunikationstechnologien. Ein Durchdringungsprozess, der jun-ge Menschen vor weitaus weniger Probleme stellt als ältere und derden generationsverbindenden Handlungsansatz implizit bereitsenthält. Es lag also 1996, dem Geburtsjahr des Projekts, auf derHand, dem Grundverständnis des Programms „Lernen im sozialenUmfeld“ folgend, diesen Ansatz aufzugreifen. (Vgl.: Lernen im sozia-len Umfeld. Entwicklung individueller Handlungskompetenz. Posi-tionen und Ergebnisse praktischer Projektgestaltung“. QUEM-re-port, Heft 70, Berlin 2001 sowie „Lernen im sozialen Umfeld. Orga-nisationen – Netzwerke – Intermediäre. Kompetenzentwicklungbeim Aufbau regionaler Infrastrukturen. QUEM-report, Heft 77, Ber-lin 2003) Lernförderliche Infrastrukturen auf- und ausbauen, sie mitInhalt füllen, lebendig und bestandsfähig machen ... Vor diesemHintergrund nahm die Idee Gestalt an, fand auch ihren bis heutebestehenden Namen „Senioren ans Netz“:

Prolog

Angesichts eindeutiger Zahlen und kurzfristig nicht mehr umkehrba-rer Veränderungen gerät die demografische Entwicklung zuneh-mend in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Vergleiche derAltersstruktur zeigen, dass sich in Mitteleuropa die Lebenserwar-tung im letzten Jahrhundert fast verdoppelt hat. Im EU-Durchschnittlag sie im Jahr 2000 bei 74,9 Jahren (Männer) bzw. 81,2 Jahren(Frauen) (Quelle: EUROSTAT). Diesen Zahlen können die Entwick-lungsländer (noch) nicht folgen. Die Türkei liegt derzeitig bei 67 bzw.72 Jahren, Tunesien bei 70 bzw. 74 Jahren. Bei der Lebenserwar-tung liegt das Plus eindeutig auf Seiten Mitteleuropas.

Anders sieht die Situation bei den Bevölkerungsanteilen aus. Hier istin Mitteleuropa die Tendenz einer zunehmenden Überalterung klarerkennbar. Die in Abbildung 1 ausgewählten Beispiele zeigen, dassz. B. im Vergleich Deutschland/Türkei der Bevölkerungsanteil derunter 15-Jährigen nur halb so groß, der Anteil der über 65-Jährigenallerdings fast dreimal so groß ist.

Diese demografische „Schieflage“ führt in Mitteleuropa und beson-ders in Deutschland zu immer gravierenderen wirtschaftlichen, so-zialen und gesellschaftlichen Problemen, die in den neuen Bundes-ländern noch schneller und in verschärfter Form zu Tage treten.Schon heute schafft besonders die Wanderungsbewegung jungerMenschen hin zu Lehrstellen und Arbeitsplätzen, also von Ost nachWest, Probleme für die wirtschaftliche Entwicklung im Osten. Schonheute „vergreisen“ besonders im ländlichen Raum Städte und Ge-meinden zunehmend. All das stellt Politik, Staat und Wirtschaft vornicht mehr aufschiebbare Entscheidungen und Weichenstellungenfür die Zukunft.

Abbildung 1Bevölkerungs-anteile

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Begleitet vom wachsenden Erkenntnisstand zum „Lernen im sozia-len Umfeld“, inspiriert durch neu aufgemachte Themen- und For-schungsfelder, entwickelte sich das Projekt von der anfänglichenEingleisigkeit des Wissenstransfers von Jung zu Alt hin zu einemgenerationenverbindenden Dialogprozess, hin zu einer stärkerenAkzentuierung auf den Erhalt und Ausbau von Kompetenzen undPotenzialen älterer Menschen, hin zur Gestaltung von Handlungs-feldern, die die Anwendung dieser Potenziale möglich machen.

Das Projekt

Der Grundgedanke (vgl. auch Abbildung 2) von „Senioren ans Netz“(kurz SaN) ist, Jugendliche – hauptsächlich Schülerinnen und Schü-ler der Klassenstufen 9 bis 12 – praktisch in die „Lehrerrolle“schlüpfen zu lassen, ihr Wissen um Computer und Internet Älterenzu vermitteln und dabei auch von deren Wissen und Erfahrungen zupartizipieren.

Die hauptsächlich verfolgten Ziele können folgendermaßen umris-sen werden:– Beseitigung von Hemmschwellen und Barrieren zwischen den

Generationen und (bei den Älteren) gegenüber der Anwendungder neuen Medientechnik,

– Überwindung der Scheu und von Ängsten älterer Menschen vorComputer und Internet,

– Akzeptanz des Computers durch Ältere als „Werk- und Denk-zeug“ in der Informationsgesellschaft und als wichtiges Hilfs-und Verständigungsmittel im Prozess des Älterwerdens,

– Vermittlung von Medienkompetenz durch die Jugend und vonsozialer Kompetenz in beiden Richtungen, also von Jung zu Altund von Alt zu Jung, und damit Überwindung einer Ursache fürdie Spaltung der Gesellschaft,

– positive Veränderung der Einstellung zueinander,– Aufbau von Beziehungsstrukturen zwischen den Generationen.

Als weitergehende Ziele wurden ins Auge gefasst:– weltweites Surfen im Internet – das heißt, globales Kommunizie-

ren und Kennenlernen anderer Kulturen und Denkstrukturen,– Wissens- und Erfahrungstransfer auch von Alt zu Jung (etwa in

der Beratung für Schulprojekte),– Abbau von Abhängigkeiten im Alter („nicht angewiesen sein auf

...“),– Sozialintegration durch Partizipation (durch Gewinnen von Ver-

ständnis für aktuelle kommunikationstechnische Entwicklungen),– Vermittlung der Einsicht, dass ältere Menschen als Nutzer mo-

derner Medien-Technologien und -Dienstleistungen ein nicht zuunterschätzender Wirtschaftsfaktor sind,

– Erhalt und Ausbau von beruflichen und sozialen Kompetenzenin der nachberuflichen Lebensphase.

All dies in arbeitsfähige Strukturen zu überführen und auf Dauerbestandsfähig zu machen, erforderte interdisziplinäres Handeln.Erwachsenenpädagogen, Weiterbildner, Medienwissenschaftler,Informatiker, Designer etc. bildeten das Team, das die sachsenwei-te Etablierung von SaN betrieb. Wenn heute über 70 Schulen imProjekt mitarbeiten bzw. mitgearbeitet haben, wenn in den nunmehrüber fünf Jahren mehr als 4500 Ältere teilnahmen, wenn eineVielzahl von Schülerinnen und Schülern (geschätzt etwa 500) in der„Lehrerrolle“ zusätzliche Kompetenzen und ein höheres Selbstbe-wusstsein erwarb, so ist das zu einem großen Teil dieser Teamarbeitund der Kooperation mit Ministerien, Regionalschulämtern undSeniorenorganisationen sowie mit den Direktoren und Lehrern derSchulen zuzuschreiben. Treibende Kraft und gestaltendes Elementbei alldem war der Kontext zum „Lernen im sozialen Umfeld“.

Abbildung 2Projektphilosophie

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Untersuchungen und wichtige Ergebnisse

Das Projekt wurde wissenschaftlich durch folgende Untersuchun-gen begleitet:Pilotphase 1 (September bis Dezember 1997),Pilotphase 2 (März bis Mai 1998),Hauptuntersuchung (Januar 1998 bis November 1999),Nachuntersuchung (Herbst 2000).

Eine ausführliche Darstellung dieser Etappen erfolgte im Ergebnis-bericht zum Projekt vom Mai 2001. Die durch die Begleitforschunggesammelten Erfahrungen brachten Sicherheit für die weiterenEntwicklungsetappen von SaN und erhöhten die Akzeptanz vonaußen.

Durch eine aktive Öffentlichkeitsarbeit – vornehmlich in der Presse,aber auch in Funk und Fernsehen – wurde SaN verstärkt wahrge-nommen, das Internetportal (www.seniorenansnetz.de) tat ein Übri-ges dazu. Es entstand eine Vielzahl von Dokumenten und Handrei-chungen für die „Projektmacher“ teilweise unter Einbeziehung derSchülerinnen und Schüler als Autoren (vgl. auch Verzeichnis derMaterialien und Dokumentationen). Durch die Vorstellung des Pro-jekts vor der Medienkommission der Kultusministerkonferenz imApril 2002 verstärkte sich auch das Interesse in den anderen Bun-desländern, eine Reihe von „Nachnutzern“ in Hamburg, Mecklen-burg-Vorpommern, Thüringen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfa-len, Bayern, Baden Württemberg etc. belegt das. Partner aus Öster-reich und der Schweiz werden in 2004 dazu kommen.

Schülerfirmen und Senioren-Experten

Projekte haben oft nur eine begrenzte Lebenszeit, schwinden dieFördermittel, stirbt das Projekt. Manchmal fehlen nur ein paar Leute,die sich einfach darum kümmern. Wenig Geld würde ausreichen, umso Bestandskraft zu generieren. Einen Teil dieser Bestandskraft, sounsere Überlegungen Ende des Jahres 2000, kann sicherlich dar-aus entstehen, wenn die Jugendlichen das Projekt in die eigenenHände nehmen, es in Schulprojekten oder Schülerfirmen weiterbetreiben und so an die nächstfolgenden Klassenstufen übergeben.Das Konzept dazu wurde erarbeitet, Pilotversuche führten zu einemSchülerfirmenhandbuch, das unter Beteiligung der „Schüler-Unter-nehmer“ entstand, ein neues Portal (san-schuelerfirma.de) wurdeimplementiert. Basis dafür war das im Rahmen von „Lernen imsozialen Umfeld“ aufgelegte Projekt „Nutzung und Ausbau vonInnovationspotenzialen älterer Menschen durch die Entwicklungneuer Lern-, Tätigkeits- und Handlungsfelder“.

Ein weiterer Aspekt trat in der Phase 2001 bis 2002 zunehmend inden Mittelpunkt. Es war die Frage zu klären, wie man es schafft, denKreis zu einem wirklichen Generationendialog zu schließen. Ausden Kursen hatten sich an vielen Orten Seniorinnen und Senioren zuInternetclubs und Vereinen zusammengeschlossen. In diesen Zu-sammenschlüssen liegt zwangsläufig ein reiches Potenzial an Be-

rufs- und Lebenserfahrung, ein Potenzial, das wir versucht haben zuerschließen, um den „Schüler-Unternehmern“ beratend zur Seite zustehen. So entstand der so genannte „Expertenpool“, in dem sichSteuerberater, Buchhalter, Rechtsanwälte, Kommunikationstrainer,Marketingfachleute etc. in ihrer nachberuflichen Lebensphase einneues Tätigkeitsfeld erschließen. Das Internetportal schafft denvirtuellen Raum zur Kontaktanbahnung, persönliche Partnerschaf-ten ergeben sich daraus. (Vgl. Abbildung 3)

Epilog

Das Projekt SaN steht einerseits – was das Kernprojekt zum Wis-senstransfer Jung zu Alt angeht – am Ende, andererseits aber – wasdas Zusammenwirken von Schülerfirmen und Seniorenberaternangeht – eigentlich erst am Anfang. Wir haben in dem Feld derVermittlung unternehmerischen Denkens und des Erwerbs entspre-chender Handlungskompetenzen für Schülerinnen und Schüler einPraxis- bzw. Geschäftsfeld aufgemacht – Senioren ans Netz. Wirverzeichnen dabei erste Erfolge beim Transfer von Berufs- undLebenserfahrungen, von Alt zu Jung – generationenverbindendeAspekte, die für beide Seiten Nutzen bringen.Die demographische Entwicklung wird in den nächsten Jahren eineVielzahl von Veränderungen bringen. Sie alle zu benennen, würdean dieser Stelle zu weit führen. Zwei Dinge aus unserem Projektkon-text scheinen aber wichtig.

Es wird des aktiven geistig und körperlich gesunden älteren Men-schen zunehmend bedürfen, um Produktions- und Reproduktions-prozesse stabil zu erhalten, um die Qualität gesellschaftlicher,regionaler und kommunaler Entwicklungen zu sichern bzw. zuverbessern, um letztlich Beiträge zu einer ausgewogenen und wei-testgehend konfliktfreien Genese der europäischen Gemeinschaftleisten zu können. Die herausfordernde Einbeziehung Älterer in dasProjekt SaN ist dazu ein Baustein, der sowohl personale – im Sinneberuflicher Potenziale – als auch soziale – im Sinne kommunikativerPotenziale – Kompetenzaspekte beinhaltet.

Es wird aber auch des Schulabsolventen bedürfen, der ein umfas-senderes Kompetenzprofil hat als bisher, der auf der Basis einessoliden Grundwissens gelernt hat zu lernen, der Felder für prakti-sches Handeln genutzt hat, um „unternehmerisch“ an die Gestaltungseiner Zukunft heranzugehen. Auch hier hat SaN einen Ermögli-chungsraum aufgemacht – einen Raum, der weiterer Themen undFachlichkeiten bedarf, um lebendig zu bleiben – einen Raum, derEntwicklung und Lernen miteinander verbindet.

Was im Kontext zum Projektnoch entstand

Die Lehrgänge blieben nicht ohne nachhaltige Folgen. Das sozialeKlima innerhalb der Gruppen entwickelte sich im Allgemeinen sogut, dass die Teilnehmer gegen Ende der Lehrgänge fragten: „Wiegeht es nun weiter?“ Es bestand der Wunsch, auch zukünftig

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zusammenzukommen, sich über Computeranwendungen auszu-tauschen, voneinander zu lernen, an Projekten beteiligt zu werden.So entstanden allein in Leipzig in relativ kurzer Zeit vier Senioren-Internet-Clubs. Einer davon, der erste Senioren-Internet-Club Leip-zig konstituierte sich Ende 2000 als e.V. Die Mitglieder kommenregelmäßig einmal wöchentlich in einem Computerkabinett derUniversität Leipzig zusammen, um Themen (wie Bildbearbeitung, E-Mails mit akustischen Grüßen etc.) zu behandeln. Aber die Wirksam-keit dieses Clubs blieb nicht darauf beschränkt: Die Clubmitgliederbeteiligten sich an Projekten unterschiedlicher Art. So an einerErkundungsstudie über die Tauglichkeit und Nützlichkeit des Ein-satzes von Computerspielen (die ja eigentlich für Kinder und Ju-gendliche gedacht waren) für Seniorinnen und Senioren. Im Zeit-raum von drei Monaten wurden ca. 20 Spiele und 15 Edutainment-Softwareprodukte durch ein Team von rund einem Dutzend Senio-rinnen und Senioren auf ihren Unterhaltungswert und auf ihre Nut-zungsmöglichkeiten für diese Altersgruppe bezüglich verschiede-ner Kriterien (Denken, Action, Wissen, Bedienung, Lernfaktor, Preis/Leistung etc.) untersucht und getestet. Im Ergebnis entstand die 80-seitige Broschüre „PC-Computerspiele für Senioren“.

Ein weiteres Projekt betraf die Mitwirkung der Club-Mitglieder an derEntwicklung eines seniorengerechten Computers. Anlass dazu gabdie Tatsache, dass die älteren Menschen in den Senioren ans Netz-Kursen die relative Kompliziertheit und mangelnde Nutzerfreund-lichkeit der IT-Produkte kritisierten. So wurde in Zusammenarbeitmit der „LINTEC Computer AG“ ein Computersystem entwickelt undin einem „Senioren-Computer-Testlabor“ der Universität Leipzigerprobt, das auf die Bedürfnisse und Wünsche älterer Menschenausgerichtet ist. Modernster Standard in den Bereichen Bediener-freundlichkeit, Datensicherheit und Wartung gehört zur Grundaus-

stattung. Eine eigens entwickelte Software vermeidet langwierigesSuchen, erhöht die Bediensicherheit und verbessert die Orientie-rung. Auf der Computermesse CEBIT 2001 in Hannover wurde dasProduktpaket „LINTEC- Senioren-Computererlebniswelt“ präsen-tiert, dem Bundeskanzler vorgestellt und die bundesweite Markter-schließung auf den Weg gebracht.

Ein weiteres wichtiges Wirkungsgebiet der aus den Senioren ansNetz-Kursen hervorgegangenen Computer- und Internet-Kundigenist die Tätigkeit als Helfer im Senioren- Info- Mobil, einem bundes-weit operierenden Bus, der mit modernen Computerausrüstungenbestückt, für jeweils eine Woche in Städten oder Regionen statio-niert ist.

Weiterhin existieren folgende Materialien und Dokumentationen:❚ Senioren ans Netz-Projekthandbuch (2002)❚ Abschluss- und Ergebnisbericht der wissenschaftlichen Begleit-

forschung 1998 bis 2000. Mai 2001❚ Folien, Arbeitsblätter, Powerpoint-Präsentation❚ Internetportale: www.seniorenansnetz.de und www.san-

schuelerfirma.de❚ Schülerfirmenhandbuch „Karrierestart“ 2002❚ Abschlussbericht zum Projekt „Nutzung und Ausbau von Inno-

vationspotenzialen älterer Menschen durch die Entwicklungneuer Lern-, Tätigkeits- und Handlungsfelder“

❚ Salomon, J. (Hrsg.): PC-Computerspiele für Senioren. Leipzig1999 (Broschüre)

❚ Erkert, T.; Salomon, J. (Hrsg.): Seniorinnen und Senioren in derWissensgesellschaft. Bielefeld 1998 (Buchveröffentlichung)

Jürgen Salomon

Abbildung 3Partnerschaften

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12 QUEM-BULLETIN 4/2003

Heft 76/Teil II

Lernen in WeiterbildungseinrichtungenPE/OE-Konzepte

Zwischenergebnisse von Projekten

QUEM-BULLETINJg. 2003, Heft 4

herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungs-

forschung e.V., Berlin

gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschungsowie aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds

Verleger: Dr. Reinhard Rittwage

Redaktion: Gabriele Kossack (verantwortlich), Peggy Prien

Zuschriften und Bestellungen an die Arbeitsgemeinschaft Betriebliche

Weiterbildungsforschung e.V. (ABWF)

Anschrift: Storkower Str. 158, 10402 Berlin

Tel.: 0 30 / 42 187 515, Fax: 0 30 / 42 187 305

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.abwf.de

Satz und Layout: ESM Satz und Grafik GmbH

Wilhelminenhofstr. 83-85, 12459 Berlin

ISSN 1433-2914

Nachdruck bei Quellenangabe gestattet, Beleg erbeten.

Das QUEM-Bulletin wird kostenlos abgegeben.

QUEM-report 76 „Lernen in Weiterbildungseinrichtungen – PE/OE-Konzepte. Zwischenergebnisse von Projekten“, Teil I und Teil II,sind kostenlos zu beziehen von der Arbeitsgemeinschaft Betriebli-che Weiterbildungsforschung e. V., Storkower Straße 158, 10402Berlin.

QUEM-report 77 „Lernen im sozialen Umfeld. Organisationen –Netzwerke – Intermediäre. Kompetenzentwicklung beim Aufbauregionaler Infrastrukturen“ ist kostenlos zu beziehen von der Ar-beitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e. V., Stor-kower Straße 158, 10402 Berlin.

Heft 76/Teil I

Lernen in Weiterbildungseinrichtungen

PE/OE-Konzepte

Zwischenergebnisse von Projekten

In 21 Beiträgen gaben 27 Autoren im Vorfeld des 4. Zukunftsforums„Lernkultur für morgen – Forschungs- und Entwicklungsprogramm‚Lernkultur Kompetenzentwicklung’“, das vom 12. bis 14. März2003 in Berlin stattfand, Antworten auf Fragen, die viele bewegen,aus ihrer Sicht – zumeist durch die Betrachtung eines Aspekts desLernens. In der Summe wird das „neu gedacht“ aber recht deutlichund mit dem Thema des Forschungs- und Entwicklungsprogramms„Lernkultur Kompetenzentwicklung“ auf einen gemeinsamen Nen-ner gebracht.

QUEM-report 78 „Weiterlernen – neu gedacht. Erfahrungen undErkenntnisse“ ist kostenlos zu beziehen von der Arbeitsgemein-schaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e. V., Storkower Stra-ße 158, 10402 Berlin.

Heft 77

Lernen im sozialen Umfeld

Organisationen –

Netzwerke – Intermediäre

Kompetenzentwicklung beim Aufbau

regionaler Infrastrukturen

Heft 78

Weiterlernen – neu gedacht

Erfahrungen und Erkenntnisse

Veröffentlichungen

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