Sprache und Identitätsentwicklung - Baustelle Inklusion 2013 · FACHTAGUNG 3.BAUSTELLE INKLUSION...

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FACHTAGUNG 3. BAUSTELLE INKLUSION 2013 „WORTE TUN IM HERZEN WEHBEITRAG PETRA WAGNER & SEYRAN BOSTANCI: SPRACHE UND IDENTITÄTSENTWICKLUNG Fachstelle KINDERWELTEN für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, www.kinderwelten.net, [email protected], Institut für den Situationsansatz / Internationale Akademie INA gGmbH an der Freien Universität Berlin 1 Petra Wagner & Seyran Bostancı „Wir wollen übrigens das Wort nicht verachten. Es ist doch ein mächtiges Instrument, es ist das Mittel, durch das wir einander unsere Gefühle kundtun, der Weg, auf den anderen Einfluss zu nehmen. Worte können unsagbar wohl tun und fürchterliche Verletzungen zufügen. […] “ (Freud, 1976, XIV, S. 214). Sprache und Identitätsentwicklung Dieses Zitat von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, eignet sich gut als Einstieg in unsere Tagung. Es verdeutlicht die Wichtigkeit und Wirkmächtigkeit von Worten: Worte können „Balsam für die Seele“ sein – und sie können „im Herzen weh“ tun. Sie können jemanden bestärken und einladen, oder brüskieren und ausschließen. Für unseren Zu- sammenhang könnte man sagen: Sprache ist ein entscheidendes Mittel, um Inklusion zu realisieren – oder Exklusion bzw. Ausgrenzung aufrecht zu erhalten. Darüber gibt es nicht unbedingt einen gesellschaftlichen Konsens – wie wir Anfang des Jahres in der Debatte um rassistische Bezeichnungen in Kinderliteratur gesehen haben: Die Aufforderung an Ver- lage, auf das „N-Wort“ 1 und Bezeichnungen wie „Zigeuner“ zu verzichten, und auch die Entscheidung von Verlagen, dies zu beherzigen, führte zu einem wütenden Aufschrei in den Feuilletons einiger – auch „liberaler“ – Zeitungen: Sie sprachen von „Zensur“, von übertriebener „political correctness“, verteidigten Astrid Lindgren gegen den „Rassismusvorwurf“ und verlangten von Verlagen „Werktreue“, die darin bestehe, die Originalsprache der Kinderbücher unverändert zu lassen. (Mehr dazu heute im Vortrag von Eske Wollrad) Gegenüber der „Werktreue“ galt in vielen Kommentaren der Verzicht auf rassistische Sprache in Kin- derbüchern als nachrangig. Auffallend war für uns, dass die Perspektiven von Kindern dabei kaum Berücksichtigung oder Erwähnung fanden. Mit diesem Beitrag und überhaupt mit unserer heutigen Tagung wollen wir uns daher insbesondere mit der Frage beschäftigen, welche Wirkung der sprachliche Umgang auf Kinder hat, auf ihre Bil- dungsprozesse, auf ihre Identitätsentwicklung. 1. Worte sind nur Schall und Rauch? Wie Sprache und Wirklichkeit zusammenhängen Sprache und Wirklichkeit hängen auf eine komplexe Weise zusammen: Einerseits bildet Sprache Wirklichkeit ab. Das gilt für konkrete Gegenstände wie auch für abstrakte Vorgänge: das Wort Stuhl bezeichnet eine Sitzgelegenheit, das Wort Bildung oder Vorurteile verwenden wir für einen – mehr oder weniger präzise – definierten Bedeutungsgehalt. Die reale Sache ist bereits da und bekommt eine Bezeichnung, wie einen Namen, der es ab dann erlaubt, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Bis hierhin könnte man sagen: Namen sind Schall und Rauch. Das Wichtige ist nicht das Wort, die Bezeichnung, sondern die Sache, das Bezeichnete. Diese Überzeugung bringen diejenigen zum Aus- 1 „Das N-Wort“ wird in rassismuskritischen Texten verwendet, um auf die Verwendung des rassistischen Wortes „Neger“ zu verzichten, weil seine Wiederholung auch in kritischer Absicht die Herabsetzung reproduziert und dazu beiträgt, sie im öffentlichen Diskurs zu erhalten. Siehe auch: Kilomba 2009

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FACHTAGUNG 3. BAUSTELLE INKLUSION 2013

„WORTE TUN IM HERZEN WEH“

BEITRAG PETRA WAGNER & SEYRAN BOSTANCI: SPRACHE UND IDENTITÄTSENTWICKLUNG

Fachstelle KINDERWELTEN für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, www.kinderwelten.net, [email protected],

Institut für den Situationsansatz / Internationale Akademie INA gGmbH an der Freien Universität Berlin

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Petra Wagner & Seyran Bostancı

„Wir wollen übrigens das Wort nicht verachten. Es ist doch ein mächtiges

Instrument, es ist das Mittel, durch das wir einander unsere Gefühle kundtun, der Weg, auf den anderen Einfluss zu nehmen. Worte können unsagbar

wohl tun und fürchterliche Verletzungen zufügen. […] “ (Freud, 1976, XIV, S. 214).

Sprache und Identitätsentwicklung

Dieses Zitat von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, eignet sich gut als Einstieg in unsere Tagung. Es verdeutlicht die Wichtigkeit und Wirkmächtigkeit von Worten: Worte können „Balsam für die Seele“ sein – und sie können „im Herzen weh“ tun.

Sie können jemanden bestärken und einladen, oder brüskieren und ausschließen. Für unseren Zu-sammenhang könnte man sagen: Sprache ist ein entscheidendes Mittel, um Inklusion zu realisieren – oder Exklusion bzw. Ausgrenzung aufrecht zu erhalten.

Darüber gibt es nicht unbedingt einen gesellschaftlichen Konsens – wie wir Anfang des Jahres in der Debatte um rassistische Bezeichnungen in Kinderliteratur gesehen haben: Die Aufforderung an Ver-lage, auf das „N-Wort“1 und Bezeichnungen wie „Zigeuner“ zu verzichten, und auch die Entscheidung von Verlagen, dies zu beherzigen, führte zu einem wütenden Aufschrei in den Feuilletons einiger – auch „liberaler“ – Zeitungen:

Sie sprachen von „Zensur“, von übertriebener „political correctness“, verteidigten Astrid Lindgren gegen den „Rassismusvorwurf“ und verlangten von Verlagen „Werktreue“, die darin bestehe, die Originalsprache der Kinderbücher unverändert zu lassen. (Mehr dazu heute im Vortrag von Eske Wollrad)

Gegenüber der „Werktreue“ galt in vielen Kommentaren der Verzicht auf rassistische Sprache in Kin-derbüchern als nachrangig. Auffallend war für uns, dass die Perspektiven von Kindern dabei kaum Berücksichtigung oder Erwähnung fanden.

Mit diesem Beitrag und überhaupt mit unserer heutigen Tagung wollen wir uns daher insbesondere mit der Frage beschäftigen, welche Wirkung der sprachliche Umgang auf Kinder hat, auf ihre Bil-dungsprozesse, auf ihre Identitätsentwicklung.

1. Worte sind nur Schall und Rauch? Wie Sprache und Wirklichkeit zusammenhängen

Sprache und Wirklichkeit hängen auf eine komplexe Weise zusammen: Einerseits bildet Sprache Wirklichkeit ab. Das gilt für konkrete Gegenstände wie auch für abstrakte Vorgänge: das Wort Stuhl bezeichnet eine Sitzgelegenheit, das Wort Bildung oder Vorurteile verwenden wir für einen – mehr oder weniger präzise – definierten Bedeutungsgehalt. Die reale Sache ist bereits da und bekommt eine Bezeichnung, wie einen Namen, der es ab dann erlaubt, mit anderen Menschen darüber zu sprechen.

Bis hierhin könnte man sagen: Namen sind Schall und Rauch. Das Wichtige ist nicht das Wort, die Bezeichnung, sondern die Sache, das Bezeichnete. Diese Überzeugung bringen diejenigen zum Aus-

1 „Das N-Wort“ wird in rassismuskritischen Texten verwendet, um auf die Verwendung des rassistischen Wortes

„Neger“ zu verzichten, weil seine Wiederholung auch in kritischer Absicht die Herabsetzung reproduziert und dazu beiträgt, sie im öffentlichen Diskurs zu erhalten. Siehe auch: Kilomba 2009

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druck, die sagen, die Worte seien doch nicht entscheidend und deshalb brauche man sich damit auch nicht zu beschäftigen. Das Eigentliche sei doch die Sache, zu dieser müsse man vordringen, die müsse man aufdecken, verstehen, verändern.

Man entlarvt Etikettenschwindel, Sonntagsreden, leere Rhetorik, Phrasendrescherei: Das, was drauf-steht, ist nicht drin. Was gesagt wird, entspricht nicht dem, was getan wird. Was gesagt wird, gibt es gar nicht, ist eine Vortäuschung. Solche Entdeckungen machen deutlich, dass Worte und Wirklichkeit nicht unbedingt zur Deckung kommen, auch, dass es eine Herausforderung ist, angemessene oder treffende Worte für Sachverhalte zu finden, und dass sich hier viele Möglichkeiten der Manipulation auftun. Dass Worte auch ein Eigenleben entwickeln können.

Genau darauf verweisen diskurstheoretische Arbeiten. Indem bestimmte Bezeichnungen in einem öffentlichen Redefluss zirkulieren, so die Analyse, schaffen sie selbst Realitäten. Das geschieht auch über Auslassungen: Das, was öffentlich nicht benannt wird, scheint nicht zu existieren.

Diskurse transportieren gesammeltes Wissen über die Welt, das gefiltert ist durch wirkmächtige In-terpretationen. Diese werden dort vorgenommen, wo Wissen produziert wird: in der Politik, der Wis-senschaft, im Wirtschaftssektor, im Bildungssystem, in den Medien. Diskurse reflektieren einerseits die bestehenden Machtverhältnisse und üben andererseits selbst Macht aus, „da sie Wissen trans-portieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein speist“ (Jäger 2000) – ein Wissen, in das die gesellschaftlichen Ungleichverhältnisse eingeschrieben sind.

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2. Sprache als Symbolsystem zur Ordnung der Welt

Kinder kommen mit ihrer Geburt in Kontakt mit Sprache: ihre Bezugspersonen sprechen sie an, spre-chen über Dinge, Menschen, Ereignisse. Aus den Geräuschen um sie herum filtern Babys früh Worte aus, also Lautverbindungen, die Bedeutungen tragen. Dass diese Laute für etwas stehen und ein Ge-spräch darüber möglich ist, ohne dass das Bezeichnete da sein muss, man es also mit dem Wort al-leine herholen kann, das ist eine umwälzende kognitive Leistung, die jedes Kind früh erbringt. Spre-chen und Denken und Wahrnehmen sind hier verknüpft: Die Fähigkeit z.B., Gegenstände zu klassifi-zieren, erfordert, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede sinnlich wahrzunehmen und von den Be-zugspersonen Worte dafür zur Verfügung zu bekommen, die als Begriffe mehr sind als Einzelnamen für einzelne Gegenstände. Sie sind kognitive Konstrukte, die Denkoperationen möglich machen wie Verallgemeinerungen, Abstrahierungen, Spezifizierungen.

Sprache als Symbolsystem hilft Kindern, Phänomene einzuordnen. Den Erwachsenen kommt die Ver-antwortung zu, ihnen im dialogischen Prozess die Symbole zur Verfügung zu stellen. Kinder sind aktiv dabei, sich deren Bedeutungen zu erschließen. Die Bedeutungen haben eine subjektive Seite und immer auch eine gesellschaftlich-kollektive.

Darauf beziehen sich Andres und Laewen (in Pesch 2005: 40f.) in ihren Ausführungen zu dem, was „Themen der Kinder“ sind: Diese seien zunächst innere Sachverhalte bei den Konstruktions- und Bil-dungsprozesse des Kindes, die man von außen nicht sehen kann und die zunächst nur dem Kind zu-gänglich seien. Sie zeigten sich aber im Handeln des Kindes, z.B. auch in dem, was es sagt. Sein Han-deln und seine Äußerungen werden von den Erwachsenen wahrgenommen und gedeutet und ihm in sprachlicher Form gespiegelt. Diese Deutungen wiederum stehen im Rahmen dessen, was in der Kul-tur der Erwachsenen Sinn macht und stellen eine Erweiterung der Deutungen des Kindes um „kultur-verträgliche“ Anteile dar.

Für Kitakinder heißt es: „Den subjektiven Bedeutungen, die das Kind seinen Erfahrungen zuordnet, stellt die Erzieherin also ein von kulturellen Deutungsmustern bestimmtes Interpretationsmodell ge-genüber, das dem Kind sagt, was seine Handlungen in der Kultur bedeuten, in der es aufwächst.“ (ebd.)

Laut Andres/Laewen stimuliert genau dieses die Sprachentwicklung von Kindern – und eben nicht das Einüben von Sprache-Häppchen: Dadurch, dass die Erzieher_in in ihrer Antwort auf das, was das Kind sagt, die Formulierung des Kindes um eine „durch kulturelle Symbolsysteme angereicherte Version“ erweitert, regt sie das Kind dazu an, seine Deutungs- und Formulierungskompetenz zu erweitern und „sein Thema auf einem höheren Niveau zu formulieren, als es ihm ohne die Antwort der Erzieherin möglich gewesen wäre. Auf diese Weise ist das Kind in der Lage, sich die kulturell verfügbaren Symbo-lisierungssysteme anzueignen, ohne dass es eines gesonderten Trainings bedarf.“ (ebd.)

Das Symbolisierungssystem Sprache ist also nicht nur wichtig als Medium der Kommunikation und als Werkzeug des immer komplexeren Denkens, sondern auch als Träger kultureller Bedeutungen. Spra-che vermittelt Normen und Werte, wirkt normierend und bewertend. In sprachliche Bezeichnungen sind Vorstellungen über gesellschaftliche Verhältnisse eingewoben, sie sind nicht neutral. Auch damit sind Kinder von Anfang an konfrontiert.

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3. Sprache ist nicht neutral

Durch Sprache transportieren wir unsere Normalitätsvorstellungen. Dies geschieht nicht nur in der Form, indem wir explizit sagen, dieses oder jenes ist normal und das andere nicht, viel öfter ge-schieht es eher implizit. Beispielsweise durch Formulierungen wie „Lena hat nur eine Mutter“, „Aley-na hat eine vollständige Familie“. In diesen Aussagen stecken unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von einer sogenannten „richtigen“ Familie: Das Bild einer Familie, die aus Mutter, Vater, Kind be-steht. Das nur in der Beschreibung von Lenas Familie signalisiert, dass in ihrer Familie vermeintlich jemand fehlt, dass ihre Familie angeblich nicht komplett sei. Bei Aleynas Familienbeschreibung wie-derum wird durch das Adjektiv „vollständig“ zum Ausdruck gebracht, dass in ihrer Familie alles seine Richtigkeit hat. Obwohl für beide Kinder wahrscheinlich ihre gegenwärtigen Familienkonstellationen so, wie sie sind, „richtig“ sind, bekommen sie die Botschaft, dass die eine Konstellation „normal“ sei und die andere nicht.

Dass Sprache nicht neutral ist, lässt sich auch daran erkennen, dass sie geschichtliche Veränderungen anzeigt. Die Linguistin Els Oksaar bezeichnet Sprache als „Spiegel sozialer Wandlungen“ (Oksaar 1992: 7). Dies wird deutlich an Bedeutungsverschiebungen, die bestimmte Bezeichnungen als veral-tet erscheinen lassen, so dass sie in der heutigen Alltags- bzw. Umgangssprache nicht mehr verstan-den werden. So hat beispielsweise der Herder Verlag zum 40. Erscheinungsjubiläum im Kinderbuch „Die kleine Hexe“ von Otfried Preußler die Formulierung „Ich wichse euch mit dem Besen durch…“ umgeschrieben. Der Grund: Kinder, die heute das Buch lesen oder vorgelesen bekommen, können diese Ausdrucksweise nicht einordnen, weil heutzutage mit „wichsen“ etwas anderes gemeint bzw. assoziiert werde. Deshalb heißt es in der aktuellen Ausgabe nun: „Ich verhaue euch mit dem Besen…“ (vgl. Thienemann Verlag 2013) Im Zuge dieser sprachlichen Veränderung gab es in den öffentlichen Diskussionen übrigens keinen Aufschrei, dass wir uns eine Zensur auferlegen. Oder dass das Original beschädigt werde…

Als weiteres Beispiel zur Veranschaulichung des gesellschaftlichen Wandels von Sprache sei hier die Skala: Magd – Dienstmädchen – Hausgehilfen – Hausangestellte – Hausassistentin angeführt. Hierbei handelt es sich nicht um einfache Wortersetzungen oder Synonyme. Die verschiedenen Bezeichnun-

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gen stammen aus verschiedenen Epochen und verdeutlichen Veränderungen im gesellschaftlichen Werte- und Rechtssystem, im Hinblick auf Vorstellungen von Hierarchien, Anstellungsverhältnissen und Rollenbildern.

Eine andere Skala zeigt ebenfalls exemplarisch sich verändernde gesellschaftliche Bewertungen: Die Gastarbeiter_innen der 50er/60er Jahre wurden in den 70er Jahren zu so genannten „Auslän-der_innen“. Nach Parolen wie „das Boot ist voll“ und anderen rassistischen Kampagnen, die damals als „Ausländerfeindlichkeit“ bezeichnet wurden, fand in Politik und Gesellschaft ein Umdenken statt und man begann, von „Migrant_innen“ zu sprechen. Bald wurde deutlich, dass diese Bezeichnung für die Kinder und Enkel derjenigen, die tatsächlich die Migration unternommen hatten, nicht zutreffend war. Andere Bezeichnungen folgten: Einwanderer, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, Neue Deutsche – alle sind aus der Kritik an den vorherigen entstanden als der Versuch, eine bessere Bezeichnung zu finden.

Jede der bisherigen Bezeichnungen für eingewanderte Menschen erscheint unzulänglich, nicht nur weil jede im Endeffekt ein Etikett bleibt und man dieses selbst in der dritten oder vierten Generation nicht mehr loswird, sondern auch, weil mit der Zeit mit diesem Etikett die gleichen stereotypen Vor-stellungen (wie „ungebildet“, „integrationsunwillig“ etc.) verbunden werden, wie bei dem sogenann-ten „Ausländer“.

Da die Bezeichnungen für Gruppen von Menschen nicht neutral sind, sondern immer bestimmte, auch historisch tradierte Bewertungen transportieren, stellt sich darüber hinaus die Frage, wann ich sie warum und wie gebrauche?

Unser Kollege Holger Gutknecht hat uns dies während einer Fortbildung deutlich gemacht. Man stelle sich eine gewöhnliche Situation in einer Kita vor: Ein Kind wird in die Kita aufgenommen und die Lei-terin teilt dies den Kolleg_innen mit. Sie wählt aus 12 Möglichkeiten aus:

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Wir haben eine neue Anmeldung für den 1. März…

Es kommt ein behindertes Kind neu in unsere Einrichtung.

Es kommt ein Langdon- Down Syndrom Kind neu in unsere Einrichtung.

Kinder, es kommt ein neues Kind das krank ist, in unsere Einrichtung.

Es kommt ein dreijähriges Kind mit einer Diagnose geistige Behinderung neu in unsere Einrichtung.

Wir bekommen ein mongoloides Kind neu in unsere Einrichtung.

Es kommt ein 3jähriges Trisomie 21 Kind in unsere Einrichtung.

Es kommt ein Kind mit besonderem Förderbedarf in unsere Einrichtung.

Es kommt ein Kind mit wesentlich erhöhtem Förderbedarf in unsere Einrichtung.

Es kommt ein Kind mit B-Status in unsere Einrichtung.

Es kommt eine dreijähriges Mädchen mit dem Namen Julia in unsere Einrichtung.

Tja, wie soll ich, das sagen?

Wir haben eine neue Anmeldung für den 1. März.

Quelle: Gutknecht, Holger

Das Beispiel verdeutlicht, wie schwer es in manchen Situationen sein kann, die richtigen Worte zu finden. Gewiss können wir einige Sätze dieser Sammlung direkt streichen, weil sie offensichtlich dis-kriminierend sind. Dennoch lässt sich nicht sagen, einer der Sätze sei der beste. Es wird wichtig sein, dass wir in jeder Situation neu entscheiden, wann wir was warum sagen. In manchen Kontexten wird es wichtig sein, bestimmte Informationen mit zu benennen. Für die Finanzierung von Integrationser-zieher_innen ist z.B. die Zusatzinformation wichtig, dass Julia ein Kind mit Trisomie 21 ist. Für andere Situationen ist die Information nicht wichtig, da kann sie im Gegenteil stigmatisieren, indem sie Julia darauf reduziert. Es ist wichtig im Blick zu haben, wo es nötig und angemessen ist, das Kind mit seiner Behinderung/ Beeinträchtigung zu beschreiben und wo nicht.

4. Inwiefern beeinflusst Sprache die Identitätsentwicklung von Kindern?

Wir hatten gesagt, dass Kinder von Anfang an mit Sprache als Symbolsystem zu tun haben – Worte als bedeutungstragende Lautverbindungen stehen für etwas, später kommt hinzu, dass es Schriftzei-chen sind, die wiederum für die Laute stehen – und dass die Bedeutungen kulturell „aufgeladen“ und nicht neutral sind.

Kinder wachsen in das Bedeutungssystem hinein, eignen es sich auf eigensinnige Weise an und ord-nen damit die Phänomene in der Welt, die ihnen begegnen. Sie erweitern dabei in einem rasanten Tempo ihre kognitiven, sozialen, sprachlichen Kompetenzen. Nicht nur das: Sie konstruieren auch ihre Identität, ihr Bild von sich selbst, aus den Informationen, die ihnen angeboten werden. Kinder filtern die Informationen daraufhin, was sie über sie selbst und über ihre Bezugsgruppen, insbeson-dere ihre Familie, aussagen, auch über die implizite Abgrenzung zu Anderen. Wir sprechen von „Bot-schaften“, die Kinder über sich selbst, über andere Menschen, über die Gesetze, nach denen die Welt funktioniert, empfangen und verarbeiten.

Diese Botschaften werden manchmal nicht ausgesprochen, sie werden auch über Blicke und Gesten vermittelt, über Körperreaktionen, Nicht-Beachtung, Überbetonung. Aber häufig haben sie eine ex-plizit sprachliche Seite. Sie geben „Futter“ für die Sprach- und Denkentwicklung und enthalten auch Nährstoffe für den Aufbau der eigenen Identität, die mehr oder weniger bekömmlich sind: Hierin liegt die Relevanz dieser Botschaften für Bildungsprozesse, denn sie können Kinder bei ihrer Identi-tätsbildung bestärken oder beschädigen, können sie als Lerner und Lernerinnen ermutigen oder auch entmutigen.

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MAX

Das ist Max. Er ist fünf Jahre alt und wohnt mit seinen Eltern zusammen. Neben seinem Bett hat er zwei Han-teln, die er jeden Abend 20x mit beiden Armen hochstemmt, damit er Muckis bekommt. Das macht ihm Spaß.

Manchmal fühlt Max sich unwohl, wenn er mit dem Bus fährt und der Busfahrer für ihn die Rampe ausklappt; alle müssen dann warten und schauen Max an.

Nicht so viel Spaß macht es ihm, dass er so oft zur Physiotherapie muss oder wenn die Kinder in seiner Kita zu ihm sagen, wenn man im Rollstuhl sitzt, kann man nicht Fußball spielen.

Ganz unwohl hat sich Max gefühlt, als neulich ein großer Junge „Pass auf, der ist doch behindert!“ gesagt hat, als er nicht schnell genug über eine Bordsteinkante fahren konnte. Das Wort, dass er behindert ist, hat Max wehgetan.

Max hat Spina Bifada, er weiß darum und benutzt einen Rollstuhl, weil er mit seinen Beinen nicht gehen kann. Er lebt damit, auch mit den Krankenhausaufenthalten und den Beschwerden. All das ist für ihn selbst mit dem einen Adjektiv „behindert“ nicht umschrieben, darauf reduziert zu werden tut weh. In der Aussage „der ist doch behindert!“ nimmt er außerdem Abwertung und – fast noch schlimmer – Distanz wahr. Auf den ersten Blick kommt er als Freund wohl nicht in Frage. Er ist „be-hindert“, damit „anders“ und mit einem Makel behaftet. Das ist eine große Hürde, um ein positives Selbstbild zu entwickeln, in das Max auch die bei ihm angeborene Fehlbildung der Wirbelsäule mit ihren Auswirkungen zu integrieren hat. Die Gefahr ist, dass Max durch solche Erlebnisse Beschädi-gungen in seinem Selbstwertgefühl davonträgt, die ihn selbst glauben machen, er sei bloß ein „Be-hinderter“, weil seine Potentiale, seine ganze Person sowieso niemand sieht.

MWAZILINDA

Das ist Mwazilinda. Sie ist fünf Jahre alt. Sie lebt mit ihren Eltern und ihrer Schwester zusammen. Mwazilinda geht gerne mit ihren Freundinnen Leona und Paula schwimmen, besonders liebt sie es die Wasserrutsche run-terzusausen. Neulich hat sie im Schwimmbad wieder jemand gefragt wo sie denn eigentlich herkommt und einfach ihre Zöpfe angefasst. Das mag sie nicht, sie kommt aus Berlin und sie möchte gefragt werden, bevor sie jemand anfasst.

Letztes Weihnachten wollte Mwazilinda unbedingt die Maria im Krippenspiel sein, aber sie durfte nicht. Sie sollte den König Caspar spielen, weil sie eine ähnliche Hautfarbe hätte wie er, sagte der Pfarrer. Mwazlinda war wütend und traurig und fand das gar nicht fair. Dabei konnte sie den Text so gut auswendig und sie konnte genauso schön gucken, wie man das als Maria können muss.

Auch Prozeduren und Routinen im Alltag einer Erziehungs- und Bildungseinrichtung, wie hier die Rollenbesetzung beim Krippenspiel, geben Kindern Botschaften über sie selbst: Welche ihrer körper-lichen Merkmale in welchem Zusammenhang bedeutsam sind und Beteiligung oder Nichtbeteiligung festlegen. Die Festlegung auf einen kleinen Ausschnitt von Beteiligung und Repräsentation macht hilflos, ohnmächtig oder wütend. Es ist die frühe Erfahrung, auf Grund der körperlichen Merkmale, die nicht veränderbar sind, begrenzt und behindert zu werden. Eine Schlussfolgerung kann sein, dass es sich nicht lohnt, sich anzustrengen, weil man an der Begrenzung nur scheitern kann. Das wäre fatal für Mwazilindas weitere Bildungsprozesse.

Und die anderen Kinder, was lernen sie? Botschaften wirken nach allen Seiten, in unterschiedlichem Ausmaß. Alle Kinder in Mwazilindas Gruppe lernen über die Rollenbesetzung etwas über die „soziale Ordnung“ und über „Zugehörigkeit“: Für die Tradierung des christlichen Krippenspiels braucht es Weiße Personen. Schwarze können allenfalls den „König aus dem Morgenland“ spielen. Die Hautfar-be ist entscheidend. Für diese Aktivitäten ist es besser, Weiß zu sein. Auch das wird eingehen in die

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Identitätskonstruktionen der Kinder und ihr „Hierarchiebewusstsein“ unterfüttern. Louise Derman-Sparks betont an dieser Stelle, dass die Überzeugung von der eigenen Unterlegenheit ebenso negativ und schädlich sei wie die Überzeugung, anderen überlegen zu sein.

Die Beispiele machen deutlich, dass Erwachsenen eine große Verantwortung zukommt, die identi-tätsbeschädigenden Botschaften zu erkennen und ihnen etwas entgegen zu setzen, sie in erster Linie im eigenen Handeln kritisch zu reflektieren.

5. Darf man denn gar nichts mehr sagen?

Darüber gibt es allerdings keinen Konsens. Insbesondere nach der Debatte um „Rassismus in Kinder-büchern“ wurden wir in Fortbildungen mit Äußerungen von Erzieher_innen und Leiter_innen kon-frontiert wie: „Ich unterwerfe mich doch keiner Zensur!“ oder „Ich lasse mir doch wegen Political Correctness nicht vorschreiben, was ich sage“.

Exkurs zu Political Correctness: Politische Korrektheit hat in Deutschland einen schlechten Ruf, vieler-orts wird darüber gewitzelt. Mit dem Verweis auf „PC“ werden seit einiger Zeit Bemühungen um eine respektvolle Sprache abgewehrt. Dabei gibt es einen seltsamen Schulterschluss zwischen konservati-ven und eher linksliberalen Vertreter_innen, obwohl sich ihre Beweggründe unterscheiden mögen. Es lohnt ein Blick in die Entstehung des Begriffs: Die Forderung nach respektvollen, politisch korrekten Bezeichnungen für Minderheiten-Gruppen im Sinne der Menschenrechte entstand als Teil der Bürger-rechtsbewegung in den USA. Mit „politically correct“ wurde in der Bewegung dann ironisch kritisiert, dass in der Folge zwar Bezeichnungen, nicht aber Strukturen und Diskriminierungsverhältnisse geän-dert wurden. In den 90er Jahren hat sich die politische Rechte in den USA des Begriffs bemächtigt, um ihre Ablehnung von Antidiskriminierungsbemühungen auszudrücken. Sie sieht in „Political Cor-rectness“ Zensur und verwendet ihn als Kampfbegriff gegen den „liberalen Feind“. Kommenta-tor_innen werten dies als konservative Verteidigung traditioneller Werte und als Widerstand der Eli-ten gegen den Verlust von Autorität und Macht. Es scheint, als hätte in Deutschland eher die konser-vative Version um die Deutung von „ PC“ gewonnen, was auch die Debatte um rassistische Bezeich-nungen in Kinderbüchern gezeigt hat. Auch hier wird auf Zensur verwiesen, Tabubrüche werden ge-rechtfertigt, zum Beispiel in der Verteidigung der Thesen von Thilo Sarrazin, der „endlich ausspreche, was viele denken“. Die politische Absicht: Den Selbstbestimmungsbestrebungen von Minderheiten

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einen Riegel vorschieben, Gleichberechtigung eine Absage erteilen. Die Wirkung: Soziale Ungleichheit wird erhalten, wie sie ist.

Eine inklusive Sprache hat nichts mit Zensur zu tun. Es geht um das Verstehen, dass bestimmte Wor-te und Redeweisen in bestimmten Kontexten diskriminieren und ausgrenzen. Der Widerstand dage-gen, dies anzuerkennen, hat vermutlich unterschiedliche Ursachen.

Eine ist vielleicht Unsicherheit, wie man stattdessen sagen soll. Oder ein Unbehagen, weil man darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die verwendeten Bezeichnungen Abwertungen transportieren, die man vielleicht gar nicht beabsichtigt hat. Man ist ertappt in seiner unreflektierten Dominanzposition.

Oder man findet, dass gegen die eigenen Beweggründe nichts einzuwenden ist. Dies geschieht z.B. zur Rechtfertigung der Frage „Woher kommst du?“ Die Reaktionen sind häufig: „Ich darf doch noch fragen dürfen! Ich will mit dieser Frage doch nichts Böses - es ist doch einfach nur mein Interesse und meine Neugier.“ Sicherlich will niemand mit dieser Frage jemandem schaden. Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, die nicht phänotypisch „deutsch“ aussehen, werden allerdings ständig mit dieser Frage konfrontiert, zum Teil bekommen sie diese Frage gleich bei der ersten Begegnung gestellt. Dies immer wieder gefragt zu werden und damit immer wieder auf die Herkunft festgelegt zu werden, wird als ausgrenzend empfunden.

Die kritische Reflexion, ob man die Frage: Woher kommst du? als erste Einstiegsfrage einem so ge-nannten „Deutschen“ stellen würde, könnte helfen, diese Frage in bestimmten Situationen zu unter-lassen. Im Türkischen gibt es ein Sprichwort, das besagt: Frag niemanden nach seiner Herkunft, er wird es im Gespräch offenbaren. Auf Türkisch: Sorma kişinin aslını, sohbetinden bellidir.

Zur Veranschaulichung, dass diese Frage in manchen Situationen für bestimmte Kinder auch schmerzlich sein kann, möchte ich ein Beispiel heranziehen.

Bei einer soziometrischen Aufstellung wurden die Schüler_innen der 5. Klasse einer Grundschule ge-fragt: „Aus welchem Land kommen eure Eltern?“ Zur Beantwortung der Frage sollten sie sich auf ei-ner imaginären Landkarte, die in Osten, Westen, Süden und Norden unterteilt war, in das betreffende Land stellen. Dabei meinte ein Junge hämisch über einen anderen, er könne sich ja gar nicht in ein

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Land stellen, weil seine Eltern Kurden seien. Für diesen Jungen war die Situation sehr unangenehm und er fing an zu weinen. Für den Rest des Tages beteiligte er sich nicht mehr am Unterricht.

Das Beispiel zeigt, dass Formulierungen wichtig sind. Die Frage „Aus welchem Ort kommen deine Eltern?“ hätte der Junge mit Sicherheit beantworten können.

6. Sprache und Empowerment

Worte können unsagbar wohltun, wie Freud es ausdrückt. Was kennzeichnet solche Worte, die wir brauchen, um eine inklusive Sprache zu entwickeln?

SOM:

Das ist Som. Som ist sieben Jahre alt und geht zur Schule. Sie lebt mit ihrer Mutter, Vater, ihrem jüngeren Bru-der und ihrer älteren Schwester zusammen. Som liebt Donnerstage, denn da geht sie mit ihrer Klasse Schwim-men. Weil sie so gut schwimmen kann, wollen die anderen Kinder es von ihr lernen. Som mag auch Montage, denn da haben ihre Eltern frei und nach der Schule ist die ganze Familie zusammen. Am schönsten ist es für Som, wenn die Eltern Geschichten erzählen – von ihrer Kindheit, von Buddha oder vom Restaurant, wo sie beide arbeiten. Dann könnte sie stundenlang zuhören.

Som wünscht sich, dass niemand zu ihr und ihrer Familie gemein ist. Manche sagen „Schlitzauge“ zu ihr oder ihren Geschwistern, und das findet Som richtig gemein. Neulich in der Schule ist auch etwas Gemeines passiert: Alle erzählten, was sie am Sonntag gemacht haben, und Som hat vom Tempel erzählt. Da hat Robby Faxen gemacht, die Augen verdreht, „ommmm“ gesagt und mit den Händen nach oben gezeigt. Alle haben gelacht, und die Lehrerin hat nur „na, na“ gesagt.

Die Lehrerin im Beispiel zeigt Missbilligung an, allerdings in einer schwachen Form, sie sagt lediglich „na, na“. Sind in einer Kindergruppe oder Schulklasse Vereinbarungen zum Umgang untereinander getroffen und ist dabei verabredet worden, sich nicht gegenseitig auszulachen, dann könnte das „na, na“ als Erinnerung an die Vereinbarung verstanden werden. Ist das nicht der Fall, so wäre es für Kin-der wie Som hilfreicher, wenn genauer ausgeführt wird, dass Auslachen nicht in Ordnung ist und warum. Oder wenn vielleicht der Fall zum Anstoß genommen wird, eine Vereinbarung zum Umgang miteinander zu erarbeiten.

Geschieht das nicht, so kann Som aus solchen Erfahrungen den Schluss ziehen, dass es besser ist, in der Klasse nur das zu erzählen, was die anderen auch erzählen. Um nicht wieder zu riskieren, dass Gewohnheiten, mit denen sich ihre Familienkultur von der anderer Kinder unterscheidet, mit Spott und Unverständnis quittiert werden.

Pädagogische Fachkräfte brauchen einerseits selbst Klarheit darüber, was sie im Umgang miteinan-der anstreben und sie müssen es verbalisieren können. In der Situation hilft ein sprachliches Reper-toire, um auszudrücken, dass Menschen Dinge auf unterschiedliche Weise tun. Als eine Feststellung, die für Kinder das gedankliche Spektrum öffnet, was alles menschenmöglich sein kann. Das geht al-lerdings nur, wenn unser eigenes Spektrum an Vorstellungen weit ist: „Es ist normal, dass wir ver-

FACHTAGUNG 3. BAUSTELLE INKLUSION 2013

„WORTE TUN IM HERZEN WEH“

BEITRAG PETRA WAGNER & SEYRAN BOSTANCI: SPRACHE UND IDENTITÄTSENTWICKLUNG

Fachstelle KINDERWELTEN für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, www.kinderwelten.net, [email protected],

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schieden sind“. Eine Kollegin hat berichtet, dass sie häufig sage: „Manche Menschen machen es so, manche Menschen machen es so.“ So heranzugehen, ohne zu bewerten, hilft tatsächlich, nicht so einfach von „normal“ und „abweichend“ zu sprechen.

Inklusive Sprache erfordert daneben klare Worte, wenn Herabwürdigungen im Spiel sind – um eben ihre identitätsbeschädigenden Auswirkungen nicht hinzunehmen. Ein kleines Beispiel, in dem dies der Erzieherin gut gelungen ist:

Mittagessen in der Kita, es gibt kleine Fleischbällchen. M. bekommt sie mit der Gabel nicht aufge-spießt, einige Fleischbällchen flutschen weg und fallen vom Teller auf den Tisch. Sein Tischnachbar S. sagt: „Hihi, der macht das alles falsch!“ M. ist sichtlich verunsichert, er hört auf zu essen. Er schaut zur Erzieherin. Sie spürt, dass er jetzt ein Signal von ihr braucht. Sie sagt: "Es gibt kein richtig oder falsch, es ist nur ein bisschen was daneben gegangen. Weils mit der Gabel schwer ist, die Bällchen aufzuspießen, nicht wahr?" Daraufhin möchte M. lieber mit einem Löffel essen. Andere Kinder ziehen nach, essen ebenfalls mit Löffeln.

Man kann Fleischbällchen so oder so essen, in der Tat. Erzieher_innen berichten, dass Kinder sich in der Folge durchaus auch bei ihren eigenen Aushandlungen an solchen Botschaften orientieren. (Bei-spiel zu Genderstereotypen „Lila Gummistiefel“) Damit ist viel gewonnen: Kinder sind Herabwürdi-gungen nicht mehr ausgeliefert, weil sie ein verbales Repertoire zur Verfügung haben, um zu wider-sprechen. Sie können darüber hinaus mit dafür sorgen, dass auch andere vor Herabwürdigung ge-schützt werden. Sie brauchen dafür Empowerment: Beispiel, Zuspruch, Schutz der pädagogischen Fachkräfte, erkennbar auch an deren sprachlichem Handeln.

7. Schluss

Natürlich ist eine inklusive Sprache nicht alles. Wird z.B. in Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren ihr Vater als „Südseekönig“ beschrieben und nicht mehr als „N-könig“, so bleibt dennoch die Hierarchie erhalten, wonach Pippis Vater zum Anführer der Inselbewohner_innen geworden ist, was nicht er-klärt wird und auch nicht einleuchtet, außer mit kolonialen Vorannahmen.

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„WORTE TUN IM HERZEN WEH“

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Eine inklusive Sprache ist wichtig, weil sie verhindern hilft, dass Ausgrenzung und Herabwürdigung in Alltagssituationen stattfinden. In Situationen, die auch anders gestaltet werden können, wo man nicht gezwungen ist, sich einer ausgrenzenden und abwertenden Sprache zu bedienen.

Man muss entscheiden, was man selbst anstrebt. Eine inklusive Sprache meint nicht nur das einmali-ge Ersetzen bestimmter Worte durch andere. Sondern eher: Sich in Aushandlungs- und Reflexions-prozesse darüber zu begeben, welche Wirkungen sprachliches Handeln hat, gerade im Machtverhält-nis zwischen Erwachsenen und Kindern. (Hierzu auch der Vortrag von ManuEla Ritz) Und sich dann bewusst für andere Sprachverwendungen entscheiden, wenn man vermuten muss oder darauf hin-gewiesen wird, dass Worte wehtun.

Reflexionsrunde:

Erinnern Sie sich an eine Situation in Ihrem Leben, in der Ihnen Worte wehgetan haben. Was war Ihre Schlussfolgerung? Was hat geholfen?

Literatur

Auer, Katrin (2011): Political Correctness im Diskurs, unter: http://migrazine.at/artikel/political-correctness-im-diskurs, zuletzt zugegriffen: 05.06.13.

Kilomba, Grada (2009): Das N-Wort. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Afrikanische Diaspora in Deutschland. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59448/das-n-wort (am 14.3.2013)

Ludger Pesch (Hrsg.) (2005): Elementare Bildung. Handlungskonzept und Instrumente. Band 2. verlag das netz, Weimar Berlin, S.40/41

Oksaar, Els (1992): Sprache und Gesellschaft. In: Sprache und Gesellschaft. Mannheim, Wien, Zürich: Duden-Verl., S.5-35

Freud, Sigmund (1976): XIV, S. 214, unter: http://www.pptuu.com/show_420453_5.html, zuletzt zugegriffen: 13.06.13.

Thienemann Verlag (2013): Erklärung zur Modernisierung von „Die kleine Hexe“, unter: http://cms.thienemann.de/index.php?option=com_content&view=article&id=632:erklaerung-zur-modernisierung&catid=15:news-artikel&Itemid=29, zuletzt Zugegriffen: 13.06.13