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Erfahrung und Intuition oder von Ikarus lernen

Wim van den Bergh

in meiner doppelrolle als praktizierender architekt und Lehrer werde ich oft mit der Situation konfrontiert, dass ich meinen Studenten etwas vermitteln muss, über das ich mir bis zu einem gewissen grad selbst nicht bewusst bin, nämlich wie man gute architektur entwirft oder kreiert. ich denke, jeder ar-chitekt oder Künstler kennt dieses merkwürdige Paradox: einerseits hat man einen entwurf gemacht – man hat etwas kreiert – aber wenn man gefragt wird „wie haben Sie das gemacht?“ ist es ein echtes Problem auf rationaler Basis zu erklären, wie man es eigentlich gemacht hat.

auf der bewussten ebene kann man die verschiedenen Schritte, die man während des entwurfsprozesses zurückgelegt hat, nachvollziehen, den meth-odischen Weg, dem man gefolgt ist, und den zyklischen Prozess des fort-ODXIHQGHQ�5HÀHNWLHUHQV��6FKDIIHQV�XQG�(USUREHQV��$EHU�ZlKUHQG�GHU�(QWVWH-hung des entwurfs hat es auch diese „momente der erleuchtung” gegeben, diese „blitzartigen Offenbarungen”, die man anderen auf reiner verstandes-basis nur schwer erklären kann. Oft erkennt man erst im rückblick, dass es diese momente der erleuchtung gegeben hat und dass sie entscheidend für den entwurf waren, aber man erkennt dann auch, dass sie während des Schöp-IXQJVSUR]HVVHV�KlX¿J�XQWHU��RGHU�XQEHZXVVW�DXIWUDWHQ��'LHV�LVW�GDV��ZDV�PDQ�üblicherweise intuition nennt.

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IntuItIon

'DV�$PHULFDQ�+HULWDJH�'LFWLRQDU\�RI�WKH�(QJOLVK�/DQJXDJH�GH¿QLHUW�,QWXL-tion wie folgt:

“The act or faculty of knowing or sensing without the use of rational processes; im-mediate cognition. Knowledge gained by the use of this faculty; a perceptive insight.a sense of something not evident or deducible; an impression.” 1

die etymologie des Begriffs aus dem Lateinischen intuêrî – hinschauen, ansehen, betrachten – zeigt, dass die idee hinter dem Begriff sich auf durch Betrachtung gewonnene erkenntnisse bezieht.

in unserer „modernen” gesellschaft wird intuition allerdings als suspekt betrachtet, als etwas, dem man nicht trauen kann, weil intuition äußerst sub-jektiv und damit unwissenschaftlich ist. Unsere „moderne”, so genannte „auf-geklärte” gesellschaft schätzt vor allem die Objektivität, das, was auf Theorie gegründet ist, auf purem verstand, bewusstem denken und rationaler Wis-senschaft. in anderen Worten: das, was in Zahlen, Zeit und geld berechnet und methodisch als echtes, auf objektiven Fakten und wissenschaftlichem Be-weis basierendes Wissen kommuniziert werden kann. meiner meinung nach schafft die Über-Bewertung dieser so genannten harten rationalen Fakten und Zahlen aber auch ein Ungleichgewicht in unserem Wertesystem der „Welt”, in dem von uns menschen kreierten Wertesystem der räumlichen und kul-turellen Umwelt. dabei ist es genau dieses aus dem gleichgewicht geratene Wertesystem, das, neben vielen anderen dingen, das Kreieren und eben auch die ausbildung in der architektur bestimmt.

in der heutigen gesellschaft spüre ich in meiner rolle als praktizierender architekt und Lehrer ständig das misstrauen, das dem Beruf und der diszi-plin der architektur entgegengebracht wird. dies drückt sich z.B. darin aus, dass die meisten Leute den in den architektonischen Prozess eingebundenen so genannten Spezialisten und ingenieuren fast blind vertrauen, während sie normalerweise dem, was der architekt zu sagen hat, misstrauen. ein gener-elles misstrauen gegenüber der disziplin der architektur spüre ich auch an den meisten Technischen Universitäten im Bezug auf die ausbildung von

1 ahd (1969), S. 688.

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architekten, ein misstrauen, das vermutlich seine Wurzeln darin hat, dass ein guter architekt letztendlich eine art doppelrolle spielen muss. einerseits muss der architekt der objektive, rational handelnde „Bauingenieur” sein, der weiß, wie man ein gutes, stabiles gebäude baut. andererseits sollte er auch der subjektive, intuitiv handelnde „Künstler/Kreator/denker” sein, der intelligent und gefühlvoll spürt, wie man gute architektur schafft. architek-tur, die zu dem komplexen räumlichen und kulturellen Umfeld passt, für das sie vorgesehen ist. ein misstrauen, das sich besonders deutlich bei der aus-bildung von architekten zeigt, nämlich dann, wenn verwalter und manager in den Prozess der Lehre involviert sind. denn für sie ist es sehr schwer zu verstehen, dass die ausbildung von architekten nicht nur darin besteht, den Studenten einen vorgegebenen Katalog an Wissen und Fertigkeiten zu vermit-teln, also einen Katalog der in Form von Zeit und raum, menschen und geld kalkuliert werden kann. Für sie ist es sehr schwer zu verstehen, dass es etwas viel Wichtigeres gibt, als diesen Katalog ausgesuchten Wissens und bestim-mter Fertigkeiten, nämlich verständnis. also steht man als hingebungsvoller Lehrer immer vor dem Problem, dass man diesen verwaltern und managern erklären muss, dass es in der ausbildung von architekten – und ich glaube nicht, dass das nur für architekten gilt – neben dem erlernen eines bestim-mten Katalogs von grundwissen und grundfertigkeiten am wichtigsten ist, dass die Studenten verständnis für oder einblick in die kulturelle Breite und Komplexität ihrer disziplin gewinnen. noch schwieriger wird es, wenn man erklären muss, dass man als architekturprofessor verständnis nicht wie ein grundwissen lehren kann, weil verständnis oder einblick/intuition etwas ist, was jeder Student selbst gewinnen muss. Und als solches ist einblick oder intuition per se subjektiv.

Wissen (der metaphorische „Kopf”) und Fertigkeiten (die metaphorische „hand”) sind die eigentlich vermittelbaren aspekte; verständnis, einblick oder intuition jedoch (metaphorisch Kopf + hand = herz) ist etwas, das man selbst erlangen muss. aber genau das ist meiner meinung nach in der Lehre der architektur am wichtigsten, dieses erlangen von verständnis, das gewin-nen von einblick in das „Was, warum und wie“ der architektur als ganz-es und die Liebe zur kulturellen Breite und Komplexität der disziplin der architektur. Wissen und Fertigkeiten sind einfach bestimmte Widerspiege-lungen oder verkörperungen des verständnisses, Formen des einblicks, die sich als ganzes, als den Kern des architekturwissens ausdrücken.

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mcewen (1993): indra Kagis mcewen, Socrates’ ancestors, an essay on architectural Be-ginnings, Cambridge 1993.

morris (1992): Sarah P. morris, daidalos and the Origins of greek art, Princeton 1992.PdL: The Perseus digital Library, http://perseus.mpiwg-berlin.mpg.de/3pUH]�*yPH]���������$OEHUWR�3pUH]�*yPH]��7KH�0\WK�RI�'DHGDOXV��$$�)LOHV�����/RQGRQ�

1985. Smith (1873): William Smith, a dictionary of greek and roman biography and mythology,

London 1873.Solà-morales (1993): ingnasi de Solà-morales, Cristian Cirici, Fernando ramos, mies van

der rohe, Barcelona Pavillon, Barcelona 1993.Tegethoff (1981): Wolf Tegethoff, die villen und Landhausprojekte von mies van der rohe,

Krefeld/essen 1981.Thayer: Bill Thayer, http://penelope.uchicago.edu/Thayer/e/roman/Texts/vitruvius/home.

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1HZ�<RUN������Zumthor (1996): Peter Zumthor et al., Thermal Bath vals, aa London 1996.=XPWKRU���������3HWHU�=XPWKRU�HW�DO���3HWHU�=XPWKRU�7KHUPH�9DOV��=�ULFK������

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das Studium der architektur selbst wird zu einem fortwährenden Prozess, bei dem man sich über die tieferen Zusammenhänge zwischen dem „was, warum und wie“ der architektur langsam immer bewusster wird. mit auf der einen Seite dem Wissen, aus der Sichtweise der architektur, als wissenschaftliche disziplin, also aus Sicht ihrer Theorie, und auf der anderen Seite den Fähig-keiten, aus der Sicht der architektur als einer Profession, also aus der Sicht ihrer Praxis.

Und das ist auch der Punkt an dem die „Phänomenologische Perspektive“ über die „Transmedialität von Kreativen Prozessen“ greift. Weil intuition oder einsicht nur durch subjektive erfahrung gewonnen werden kann – und hier meine ich erfahrung in seiner doppelten Bedeutung: einerseits als körperli-cher und mentaler akt, also als aktive Teilnahme an und als das Begreifen von Tätigkeiten, vorkommnissen, Objekten, gedanken oder gefühlen durch die Sinne und den verstand. Und andererseits erfahrung als das daraus gewon-nene Wissen und/oder die daraus gewonnenen Fähigkeiten – man könnte auch sagen, die einblicke oder die intuition, die dadurch erreicht wurden.

Erfahrung

erfahrung heißt – wie die etymologie uns mitteilt – versuchen, erproben, prüfen (aus dem Lateinischen experîrî, ausprobieren, testen). Und das ist genau das, was wir von ikarus lernen können: Wir gewinnen einblick oder intuition nur durch den akt der körperlichen und mentalen erfahrung. Wenn meine Studenten im ersten Jahr zögern, ihre ersten intuitiven ideen zu einem entwurfsproblem zu Papier zu bringen, frage ich sie, ob sie sich vorstellen können, Fahrradfahren über die Theorie des Fahrradfahrens zu lernen, also mittels eines Buches, das ihnen erst absolut alles über die mechanik, dyna-mik, Bewegungen, Physik etc. des Fahrradfahrens erzählt? Und ich glaube, fast jeder, der sich daran erinnert, wie er oder sie Fahrradfahren gelernt hat, wird zu dem Schluss gelangen, dass es unmöglich rein theoretisch erlernt werden kann. man muss es einfach versuchen, und nur durch den akt des körperlichen und mentalen erfahrens, inklusive der schmerzhaften Stürze, kann man es erlernen. dasselbe gilt meiner meinung nach auch für das en-twerfen oder das Kreieren guter architektur. Trotzdem bin ich der Letzte, der sagt, dass Theorie nicht wichtig ist. im gegenteil: in der Theorie drückt sich VSH]L¿VFKH�(LQVLFKW�GXUFK�GDV�:LVVHQ�GHU�$UFKLWHNWXU�DXV��$EHU�ZLU�N|QQHQ�ihre tiefere Bedeutung im „was, warum und wie“ der architektur nur begreif-

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en, wenn wir ihren praktischen Wert während des Kreierens oder entwerfens körperlich und mental erfahren und bewertet haben. Um also zu lernen, wie man gute architektur entwirft, müssen die Studenten den innerhalb des en-WZXUIVSUR]HVVHV�VWDWW¿QGHQGHQ�$NW�GHU�6FK|SIXQJ�IDVW�N|USHUOLFK�XQG�PHQWDO�erfahren – inklusive der Stürze, besonders am anfang – und zwar immer und immer wieder. Und daran denken, dass Kreieren, im Sinne von entwerfen zuallererst bedeutet, ihre vorstellungskraft und ihre reale Wahrnehmung zu synchronisieren.

Von Ikarus lErnEn

also ist die erste Lektion, die wir von ikarus lernen können, dass intuition in Wirklichkeit nichts anderes als verkörperte erfahrung ist. Und mir wird oft bewusst, dass es die verkörperte erfahrung unserer Kindheit ist, die uns dabei hilft, unsere anfängliche angst vor dem Unbekannten im Schaffensprozess zu überwinden und unseren ersten Schritt in einem entwurf zu wagen. aber wir können noch mehr vom mythos über ikarus und seinem vater dädalus lernen.2

ein mythos ist oft die verkörperung von Wissen in einer erzählung. ein mittel, in diesem Fall unserer griechischen vorfahren, um ihr verständnis des vom menschen vollzogenen Schöpfungsaktes (im Kontrast zur göttlichen Schöpfung) weiterzugeben. in anderen Worten der Schöpfungsakt, der akt des Konzipierens und herstellens, wie er vom mystischen, menschlichen (U¿QGHU�'lGDOXV� YROO]RJHQ�ZXUGH�� ,Q� GLHVHP�=XVDPPHQKDQJ� LVW� DXFK�GLH�leicht obskure, aber plausible etymologie des namens, den wir uns selbst gegeben haben, interessant. Warum, könnten wir fragen, haben wir uns selbst als „menschen” oder „man” bezeichnet? Und es wird sich herausstellen, dass die etymologie des Begriffs uns sogar noch weiter führt, nämlich bis hin zu der Frage, was Schaffen bedeutet und wie wir es begreifen. Oder genauer: wie wir menschen uns in uralten Zeiten diesen Schöpfungsprozess vorges-tellt haben. Zunächst als etwas, das zu den göttern gehört. dann aber auch als etwas, das wir als menschen irgendwie besitzen und das uns wiederum von den Tieren unterscheidet. die indo-europäischen Wurzeln des Wortes

2 Smith (1873).

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„men” oder „man” beziehen sich auf eine dreieinigkeit der Bedeutung, wie drei ineinander verschmelzende Kraftfelder. das erste dieser Kraftfelder ist die indo-europäische Wurzel „man-1”, welche sich etymologisch auf unsere identität als irgendwo zwischen Tieren und göttern stehende Wesen bezieht. das zweite ist die indo-europäische Wurzel „man-2”, welche sich auf hand bezieht, wie in dem Lateinischen Wort „manus”. das dritte Kraftfeld ist die indo-europäische Wurzel „men-3”. Sie bezieht sich auf den verstand, das denken und den geist, während ihre ableitungen sich auf verschiedene Qualitäten und Zustände des verstandes und denkens beziehen, wie z.B. in Wörtern wie „mental” und „mention.” 3 diese drei aspekte unserer identität als menschen repräsentieren in ihrer gesamtheit, ihrer dreieinigkeit, unsere Fähigkeit zu schaffen.

der verstand verweist auf unsere Fähigkeit zu denken. die hand verweist auf unsere Fähigkeit, etwas herzustellen. Wir selbst kombinieren diese drei Fähigkeiten in einem zyklischen Prozess aus Konzipierung, herstellung, er-probung oder verwendung. damit verweisen wir selbst auf unsere Fähigkeit, den von uns entworfenen gegenstand so lange zu entwickeln, bis er seinen Zweck erfüllen kann. Und das ist es, was wir normalerweise Kreieren oder entwerfen nennen. Wie wir vom mythos von dädalus und ikarus wissen, geht der geschaffene gegenstand (in ihrem Fall die Flügel, mit denen sie aus GHP�/DE\ULQWK�ÀLHKHQ��GDQDFK�LQ�GHQ�.UHLVODXI�GHV�SUDNWLVFKHQ�1XW]HQV�HLQ��eine Form der erprobung mit dem Ziel, den gegenstand weiter zu verbessern.

Wenn wir uns die Sage von dädalus und ikarus einmal genauer an-schauen, zeigt sich, dass sie die gleiche dreieinigkeit verkörpert. genau die dreieinigkeit des denkens, Schaffens und verwendens oder erprobens, die die alten griechen als akt der Schöpfung verstanden und als Wissen in einer erzählung und in einer genealogie verkörperten. dädalus, der vater, steht für die Fähigkeit des Schaffens, die etymologie seines namens bezieht sich auf das griechische daidal, was „kunstvoll gearbeitet“ bedeutet. er steht für den geschickten macher, den Kunsthandwerker und Schaffenden. der weniger bekannte vater von dädalus war metion. dessen name bezieht sich auf das griechische mêtis, was Weisheit und geist bedeutet. demnach steht metion, dädalus’ vater, für die Fähigkeit des denkens. damit bleibt dädalus Sohn, ikarus, übrig als erprober oder Benutzer der von seinem vater erdachten und

3 Pérez-gómez (1985), S. 49-52; mcewen (1993), S. 44-53; morris (1992), S. 53-58.

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KHUJHVWHOOWHQ�)O�JHOQ��$OV�5HSUlVHQWDQW�GHU�)lKLJNHLW�GHV�5HÀHNWLHUHQV��EHU�den gegenstand in der praktischen anwendung, war er im grunde so eine art erster Testpilot.4

ErschaffEn: PoIEsIs, tEchnE, PraxIs

neben dieser dreieinigkeit des denkens, Schaffens und erprobens, benutzten die alten griechen die Begriffe:

Poiêsis or poieô – wörtlich machen, produzieren oder erschaffen – um das eher abstrakte und mentale Schaffen zu bezeichnen wie die Figur des Poeten/Philosophen, der sich aus diesem aspekt des Schaffens entwickelte.

Technê – wörtlich Kunst, Talent, Können, Fähigkeit – um das eher konk-rete und physische Schaffen zu bezeichnen wie die Figur des Technikers/ing-enieurs, der sich aus diesem aspekt der Schöpfung entwickelte.

Und Praxis – wörtlich tun, handeln, üben oder praktizieren – um eine Form der Schöpfung zu bezeichnen, die sich aus dem Umgang mit den von der realität vorgeschriebenen Umständen entwickelt. aus diesem aspekt der Schöpfung entfaltet sich der Charakter des virtuosen.5

an diesem Punkt könnte man wahrscheinlich fragen, was hat all das mit architektur zu tun? meiner meinung nach ist der architekt immer noch dieser +DQGZHUNHU�RGHU�(U¿QGHU��GHU�GLH�'UHLHLQLJNHLW�YRQ�SRLrVLV��WHFKQr�DQG�SUD[-is verkörpert – auch in der heutigen Zeit und trotz der verschiedenen Formen der Unterscheidung und Spezialisierung, die sich mit der Zeit innerhalb der architektur ergeben haben. er muss immer noch die rollen des Künstlers/Philosophen, des erbauers/ingenieurs und nicht zuletzt die des virtuosen, der sich mit den von der realität diktierten Umständen auseinandersetzen muss, in sich vereinigen. aber wir können die interpretation dieser dreieinigkeit noch weiter treiben, wenn wir die architektur selbst darüber projizieren.

das ist nichts neues, denn schon der römische autor und architektur-theoretiker marcus vitruvius Pollio hat das im 1. Jahrhundert v. Chr. getan. vitruv beurteilte Qualität und Wert einer architektonischen Struktur anhand der Optimierung und gleichzeitigen versöhnung von drei aspekten, die sich

4 PdL: The Perseus digital Library

5 PdL: The Perseus digital Library

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parallel zu den aspekten praxis, technê and poiêsis bewegen.

utIlItas, fIrmItas, VEnustas

den ersten aspekt (praxis) prägte er (für die architektur) als utilitas, was wörtlich Brauchbarkeit, nützlichkeit, Tauglichkeit, nutzen, vorteil oder di-enlichkeit bedeutet. in anderen Worten: ein gutes Werk der architektur muss funktionieren und praktischen nutzen haben.

'HQ�]ZHLWHQ�$VSHNW��WHFKQr��SUlJWH�9LWUXY��I�U�GLH�$UFKLWHNWXU��DOV�¿U-mitas, was Festigkeit, Stärke, Standhaftigkeit ausdauer, nachhaltigkeit oder Kraft bedeutet. in anderen Worten: ein gutes Werk der architektur muss gut gebaut sein und die Zeit überdauern.

den dritten aspekt (poiêsis) nannte er (für die architektur) venustas, was Schönheit, anmut, Liebreiz, eleganz oder attraktivität bedeutet. in anderen Worten: er versucht uns zu sagen, dass ein gutes Werk der architektur auch attraktiv sein muss, es muss gut proportioniert sein und unsere emotionen durch seine Schönheit ansprechen.6

heutzutage nennen wir architekten diese aspekte Form (venustas), Funk-WLRQ��XWLOLWDV��XQG�0DWHULDOLVLHUXQJ��¿UPLWDV��XQG�VHOEVW�QDFK�PHKU�DOV������Jahren machen vitruvs Kriterien zur Bewertung eines Werkes der architektur immer noch Sinn. ein gutes Werk der architektur muss einfach funktionieren, ohne dass der nutzer allzu viel darüber nachdenken muss, und es muss dem Programm dienen, das in ihm abläuft. ein gutes Werk der architektur muss ebenso gut konstruiert sein, es muss gut ausgeführt und ausgearbeitet sein, um den Kräften der natur, Zeit eingeschlossen, zu widerstehen, und seine Struk-tur muss intelligent gestaltet sein, damit man es einfach und kostengünstig bauen kann. Und ein gutes Werk der architektur muss nicht nur gut aussehen, sondern muss sich auch gut anfühlen, gut riechen und sich gut anhören, muss sogar gut schmecken, wenn wir diesen Begriff in einem eher metaphorischen Sinne im Bezug auf architektur verwenden können.

venustas, das Wort, das vitruv benutzte, bezieht sich auf venus, die göttin der Schönheit und, wie wir alle wissen, basiert unsere erfahrung physischer Schönheit auf allen unseren Sinnen und auch auf unserer Phantasie. also liegt

6 Thayer

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Schönheit nicht im auge des Betrachters, wie ein Sprichwort uns glauben machen will, nein, Schönheit kann nur in der gleichzeitigkeit von Wahrneh-mung und imagination im Betrachter leben.

Wenn es um architektur geht, bedeutet dies, dass wir über eine Schönheit reden, die sich in einer art kinästhetischen erfahrung eröffnet und ausdrückt, also eine Schönheit, die alle unsere Sinne und unsere vorstellungskraft in un-sere körperliche und mentale erfahrung eines Werkes der architektur ein-bezieht und uns damit bewegt, die in uns emotionen weckt, welche uns eine intuition geben könnte, ein direktes verständnis von Schönheit.

9LWUXY� VSUDFK� YRU�PHKU� DOV� ����� -DKUHQ� MHGRFK� YRQ� EHLGHP�� GHU�2SWL-mierung und der gleichzeitigen angemessenen versöhnung der drei aspekte – und das scheinen wir heutzutage zu vergessen. die Überbewertung unserer heutigen gesellschaft für daten und Zahlen lässt uns scheinbar nur noch den aspekt der Optimierung erkennen und nicht mehr den ebenso wichtigen as-pekt der angemessenen versöhnung. Optimierung ist etwas, was man objek-tiv in Zahlen, mengen und menschen, Zeit und geld etc. ausdrücken kann. angemessene versöhnung jedoch ist viel komplexer und subjektiver, etwas, das man kaum objektiv messen oder in Zahlen und daten ausdrücken kann. aber es ist genau dieser Punkt, an dem die alte intelligenz des architekten/+DQGZHUNHUV�(U¿QGHUV�DQVHW]W��8QG�KLHU�PHLQH�LFK�GLHVH�EUHLWHUH�NXOWXUHOOH�Sicht im gegensatz zu der eher limitierten und oft einseitigen Sicht der meisten Spezialisten. Oder, wie die etymologie des Wortes intelligenz – aus dem Lateinischen intellectus, das Wahrnehmen, das verstehen, das auswählen und abwägen7 – andeutet: die einsicht des architekten, seine Fähigkeit, sow-ohl mit dem Körper als auch mit dem geist wahrzunehmen, also während des Schaffensprozesses irgendwie intuitiv das breitere und komplexere kulturelle Bild der Umstände zu erkennen und zu verstehen; was heißt, seine erfahrung anzuwenden, während er gleichzeitig die verschiedenen Optionen, die er im hinblick auf eine angemessene versöhnung zwischen Form, Funktion und materialisierung hat, subjektiv abwägt und auswählt.

BarcElona PaVIllon

7 (Partizip Perfekt Passiv von intellegere, wahrnehmen, merken, erkennen) ahd (1969), S. 682.

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Lassen Sie uns ein Beispiel für dieses subjektive Wahrnehmen, abwägen und Wählen betrachten, also für die intelligenz des architekten, der nicht nur eine Optimierung, sondern gleichzeitig auch eine angemessene versöhnung zwis-FKHQ�XWLOLWDV��¿UPLWDV�DQG�YHQXVWDV�HUUHLFKW��,FK�JODXEH�QLFKW��GDVV�YLHOH�/HXWH�bestreiten würden, dass der berühmte Barcelona Pavillon von mies van der rohe ein gutes Werk der architektur ist. einseitig aus der Perspektive der Optimierung betrachtet, ist er jedoch nicht ohne makel.

utilitas

Bezogen auf seine Funktion und seinen nutzen – utilitas – können wir wohl zweifellos vorausschicken, dass das Konzept des Barcelona Pavillons mit VHLQHU�5HLKH� IUHL� LQHLQDQGHU�ÀLH�HQGHU�5lXPH�� GLH� GHQ�%HVXFKHU� WURW]GHP�auf einer unbewussten ebene kontrolliert leiten, sehr intelligent war. es war der deutsche Pavillon für die Weltausstellung von Barcelona 1929, durch den und mithilfe dessen eine große anzahl von Besuchern wörtlich und im übertragenen Sinne bewegt werden sollten. Sie mussten hindurchgehen und gleichzeitig immer beeindruckter werden, damit sich in ihren Köpfen ein ein-zigartiger eindruck davon bildete, wofür die neue Weimarer republik 1929 stand. in Wirklichkeit war es ein Übergangsraum, ein verblüffendes portalar-tiges gebäude, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, das die Besucher auf der Querachse des ausstellungsgeländes auf dem Weg zu einer der be-liebtesten attraktionen der Weltausstellung, dem sogenannten Spanischen dorf durchqueren sollten. Zumindest war das die idee. es zeigte sich jedoch, dass die meisten Besucher tatsächlich von der anderen richtung kamen – sie nahmen die logischere route zum Spanischen dorf über die hauptachse und den Spanischen Pavillon an ihrem ende, und sie nutzten den deutschen Pavil-lon auf der Querachse, um zum gran Plaza de la Fuente mágica zurückzuke-hren. daher sollten wir den Barcelona Pavillon immer von zwei richtungen aus betrachten, nicht nur von der Querachse aus, wie wir es normalerweise tun. 8

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Wie auch immer, man kann sagen, dass mies in Bezug auf den ersten Teil der utilitas, das kontrollierte Leiten der Bewegungsströme der Besucher, gute ar-beit geleistet hat. Wie man auf dem Plan erkennen kann, leitet er die Besucher über einige labyrinthische Windungen durch eine reihe von räumen hindu-rch. dadurch leitet er die Bewegung und optimiert nicht nur die anzahl und den Fluss der menschen, sondern auch die Zeit, die sie drinnen verbringen. er gibt ihnen genug Zeit, um durch das, was sie erfahren, beeindruckt zu werden. aber er hat noch mehr für die utilitas des deutschen Pavillons getan, weil er auch auf brillante Weise den zweiten Teil seiner Funktion meistert, und zwar die repräsentation. da in dem Pavillon nichts ausgestellt wird, muss der Pavillon sich selbst ausstellen und dadurch den geist der neuen Weimarer republik und alles, wofür sie zur Zeit steht, repräsentieren. also streckt mies nicht nur die Zeitlinie, er baut auch eine erstaunliche Szenographie an ihr entlang. eine Szenographie von horizontalen und vertikalen ebenen, die eine ÀLH�HQGH�5HLKH�XQWHUVFKLHGOLFKHU�5lXPH�XQG�$WPRVSKlUHQ�GH¿QLHUHQ��XQG�zwar durch:

�� ULHVLJH�3ODWWHQ�DXV�6SLHJHOJODV�� WUDQVSDUHQWH�6FKHLEHQ� LQ�ZHL���ÀDVFKHQ-grün und dunkelgrau oder durchscheinende milchglasscheiben

�� marmorwände in unterschiedlichen Farben, aus cremeweißem römischem Travertin, grünem Tinos- oder Larissamarmor aus griechenland oder aus grünem italienischem alpin-marmor

�� acht verchromte kreuzförmige Säulen�� Spiegeleffekte�� überraschende ausblicke�� ]ZHL�5HÀHNWLRQVEHFNHQ��HLQHU�PLW�ZHL�HQ�.LHVHOVWHLQHQ�DXVJHOHJW��GHU�DQ-

dere mit einem schwarzen glasierten Belag

Und all das als darstellung der herausragenden deutschen handwerkskunst, ausgedrückt durch die genauigkeit und Präzision mit der der Stein geschnit-ten, geformt und gefügt wurde. Und dann kommt der höhepunkt: eine Wand aus wunderschön geädertem Onyx dorée, eine sehr seltene goldfarbene mamorart aus nordafrika und davor ein Teppich schwarz wie Jett. die zwei Barcelona Stühle in makellosem weißem Leder und poliertem Chrom, eigen-tlich zwei Throne, die von mies (und Lilly reich) speziell für das spanische Königspaar (alfonso Xiii und victoria eugenia) entworfen wurden, damit sie über der eröffnungszeremonie präsidieren konnten. Zusätzlich, auf einem kleinen passenden Tisch, das goldene Besucherbuch des deutschen Pavillons,

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in das während der festlichen einweihung des Pavillons der König und die Königin als erste ihre Unterschriften gesetzt hatten.

Wenn man die rekonstruktion des Plans des Pavillons von Wolf Tegethoff betrachtet, sieht man, dass er den schwarzen Teppich nicht gezeichnet hat.9 Wenn man verstehen will, wie mies die Szenographie der route durch den Pavillon geführt hat, ist der Teppich jedoch wichtig. dieser Pech schwarze Teppich formte eine subtile aber klar ausmachbare Barriere für die Besucher, welche sie normalerweise umgehen und nicht überqueren würden. Besonders wenn wir versuchen, uns die gesamte von mies aufgebaute räumliche Sze-nographie und atmosphäre vorzustellen: die freistehende goldene Wand, der Pech schwarze Teppich mit den weißen Thronen und dann gegenüber von der goldenen Onyxwand ein deckenhoher vorhang aus scharlachroter Seide, der die drei Farben der deutschen Flagge Schwarz, rot und gold vervollständigt. der vorhang hatte aber auch noch eine andere Funktion; er verdeckte eine morphologische inkonsistenz im design, nämlich das Zusammentreffen einer glas- und einer marmorwand auf einer Linie.

firmitas

:HQQ�ZLU�QXQ�GLH�¿UPLWDV�GHV�3DYLOORQV�EHWUDFKWHQ��DOVR�VHLQH�6WUXNWXU�XQG�die Leichtigkeit der Konstruktion, müssen wir zugeben, dass der Pavillon mit seiner hybriden Struktur – auch betrachtet aus der Sicht des ingenieurwesens – im Bezug auf die Leichtigkeit des Baus und die Wirtschaftlichkeit keine sehr klare und optimierte Konstruktion ist. das offenbar massive Podium auf dem es steht, ist in Wirklichkeit hohl. im Bezug auf strukturelle Tektonik würde man zunächst eine Struktur erwarten, in der die Wände das dach tra-gen. aber die scheinbar massiven Wände sind hohl – nur die endstücke der Wände sind massiv – der rest ist eine art Furnier aus 3 cm dicken marmor-platten auf einem eisenskelett. die 8 kreuzförmigen Säulen tragen das dach, aber um seine proportionale eleganz zu erhalten, musste die deckenplatte sehr dünn sein, so dass die Säulen nicht an der dachkonstruktion befestigt werden konnten. damit sie auch für die notwendige laterale Stabilität sor-gen konnten, wurde das Problem durch Querwände im hohlen Podium gelöst.

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7DWVlFKOLFK�ZDU�GLH�'HFNHQSODWWH��GLH�DXFK�NHLQHQ�ULFKWLJHQ�$EÀXVV�KDWWH��VR�dünn, dass sie sich sogar ohne Belastung an ihrem gesamten auskragenden Perimeter verformte. Was auch Konsequenzen für das gewicht und damit die Zerbrechlichkeit der Unterstruktur hatte, die für die decke und die abdich-tung oben gebraucht wurde.

$XV�6LFKW�GHV�%DXLQJHQLHXUZHVHQV�VROOWHQ�ZLU�HLQH�OHLFKWH��HI¿]LHQWH�XQG�billige Bauweise vergessen. Selbst aus Sicht der Tektonik sieht der Barce-lona Pavillon wie eine sehr einfache Konstruktion aus Säulen, Wänden und ebenen aus. in Wirklichkeit war der ganze Pavillon eine ansammlung ver-steckter hilfskonstruktionen, die uns ein Bild des Pavillons gaben, das im Bezug auf Struktur und Tektonik so einfach und elegant aussieht wie es das tut. Oder, wie mies offenbar einmal sagte: „so einfach wie möglich, koste es was es wolle.“ Und ich glaube, praktizierende architekten wissen genau, wie schwierig und teuer es ist, eine solche elegante einfachheit zu realisieren. denken Sie nur an das Problem, die marmorplatten so zusammenzufügen und auszurichten, dass sie eine absolut perfekte ebene bilden.

man muss sich bewusst machen, dass diese marmorplatten am ende eine ULHVLJH� VSLHJHOQGH� 2EHUÀlFKH� ZHUGHQ� XQG� GDVV� VRJDU� GLH� NOHLQVWH� 9HU]HU-UXQJ� LQ�HLQHU�5HÀHNWLRQ�GHP�%HVXFKHU�]HLJHQ�Z�UGH��GDVV�GLH�:DQG�QLFKW�absolut gerade ist. Und das wäre in einem Pavillon, der die sprichwörtliche deutsche Präzision und gründlichkeit repräsentieren und ausdrücken sollte, nicht akzeptabel gewesen.

Venustas

aus der Sicht der venustas muss der Barcelona Pavillon zu seiner Zeit eine echte Offenbarung gewesen sein und sein nachbau ist es immer noch, selbst nach 83 Jahren entwicklung in der architektur.

Wenn wir Schönheit in der modernen architektur als die art von kinäs-thetischer erfahrung betrachten, in die uns ein Werk der architektur einbezie-ht – und hiermit meine ich die körperliche und mentale erfahrung, die alle unsere Sinne und unsere gesamte vorstellungskraft einbezieht und dadurch emotionen hervorruft, die wiederum in uns eine intuition von Schönheit en-tzünden könnte – dann denke ich, dass wir zu dem Schluss gelangen, dass der %DUFHORQD�3DYLOORQ�]X�GHQ�VFK|QVWHQ�:HUNHQ�GHU�$UFKLWHNWXU�GHV����� -DKU-hunderts gehört. mies hat die höhe des raums so gewählt, dass sie ungefähr unserer doppelten augenhöhe entspricht. das bedeutet, dass unser horizont den raum in zwei gleiche Teile teilt, so dass wir die Zeichnungen und Photos

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auf den Kopf drehen können, ohne dass sich in Bezug auf die Proportionen et-was ändert. dies wiederum, nehme ich an, war wichtig für die art und Weise, in der er die Teile des raums durch eine perspektivische Übereinstimmung ]ZLVFKHQ�GHQ�(EHQHQ�XQG�GHQ�5lQGHUQ�GHU�'HFNH�XQG�GHV�%RGHQV�GH¿QLHUWH��Weil dies so offensichtlich in den Proportionen des Pavillons vorhanden ist, nehmen wir sie fast nicht mehr wahr.

Um das Beispiel abzurunden: wir haben gesehen, dass die intelligenz eines entwurfs, wie der des Barcelona Pavillons, nicht in der Optimierung der einzelnen aspekte für sich begründet ist, sondern dass seine Qualität und sein Wert auch und hauptsächlich durch die angemessene versöhnung von )RUP��)XQNWLRQ�XQG�0DWHULDOLVLHUXQJ�GH¿QLHUW�ZLUG��$OVR�KDW�0LHV�YHUVWDQG-HQ��GDVV�HLQH�ZHLWHUH�2SWLPLHUXQJ�GHU�¿UPLWDV�PLW�GHP�=LHO��GLH�:DKUKDIW-igkeit der Konstruktion auf einen höheren Level der Perfektion zu bringen, Zeitverschwendung wäre. Und er wusste, dass es nur für ein paar monate halten musste. außerdem musste mies sich mit der Tatsache auseinander setzen, dass die Bauzeit ablief, er musste den Pavillon innerhalb von drei monaten hochziehen und er musste sich mit Budgetbeschneidungen ausein-ander setzen, was dazu führte, dass Teile der außenwände des Pavillons, die für die Besucher weniger gut sichtbar waren, nicht mit marmor verkleidet, sondern verputzt und als marmor angestrichen wurden.

von mies’ erfahrung können wir auch lernen, dass die intelligenz eines +DQGZHUNHUV�(U¿QGHUV�$UFKLWHNWHQ�VLFK� LQ�%H]XJ�DXI�GLH�2SWLPLHUXQJ�XQG�der angemessenen versöhnung mit noch etwas anderem auseinandersetzen muss, nämlich mit der Praxis eines entwurfs: den Umständen, unter denen ein Werk der architektur entworfen und produziert wird und funktionieren muss.

umständE

0DQ�N|QQWH� VDJHQ�� GDVV� GLH�$VSHNWH� XWLOLWDV�� ¿UPLWDV� XQG� YHQXVWDV� GLH� LQ-härenten Qualitätskriterien eines entwurfs in der architektur sind. aber wie steht es mit dem räumlichen und zeitlichen Umstand eines entwurfs in der architektur?

Wie wir alle wissen, muss sich architektur nicht nur mit den entwurfs-, oder besser schöpfungsinhärenten aspekten auseinandersetzen. als kul-turelles Phänomen muss es sich auch mit den sozialen, wirtschaftlichen, gesetzlichen, den klimatischen Umständen oder den gegebenheiten ausein-andersetzen, die dem Zeitgeist entsprechen, um nur einige zu nennen. in an-

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deren Worten: Jedes Werk der architektur wird in einem geographischen und historischen Kontext geschaffen, der im weitesten Sinne kulturelle gegeben-heiten mit sich bringt.

nun, zu allererst sollten wir bedenken, dass Umstände sich ändern, so dass wir als architekten sie nicht einseitig als gegeben nehmen und sorglos auf sie reagieren sollten (im Sinne von Form, Funktion oder materialisierung), als ob wir schon alles wüssten.

eine schmerzhafte Lektion, die auch ikarus lernen musste. genau darum geht es aber bei praxis, darum geht es bei der erprobung. im Falle von ikarus, GHQ�ULFKWLJHQ�.OHEVWRII�]X�¿QGHQ��GHU�GHU�+LW]H�GHU�6RQQH�ZLGHUVWHKHQ�NDQQ��die richtigen Federn zu wählen, die dem Wasser des meeres widerstehen kön-QHQ��8QG�PLW� 6LFKHUKHLW�PXVVWH� ,NDUXV� VHLQH� HOHJDQWHQ� )OXJ¿JXUHQ� LPPHU�XQG�LPPHU�ZLHGHU�PDFKHQ��XP�KHUDXV]X¿QGHQ��ZLH�ZHLW�HU�GLH�*UHQ]HQ�GHU�haltbarkeit und verwendbarkeit seiner künstlichen Flügel stecken konnte. nur dadurch konnte er letztendlich ein Flugvirtuose werden. im Sinne der ikarianischen Praxis sind die Umstände etwas, mit denen man sich auf die gleiche kreative und intelligente Weise auseinandersetzen muss wie mit dem entwurf selbst, weil letztendlich die Umstände, also die Praxis das Kriterium ist, das den wahren Wert eines entwurfs bestimmt.

haus; EIn haus

ein weiteres fundamental architektonisches Beispiel ist das haus. der ameri-kanische architekt Louis Kahn drückte es immer folgendermaßen aus: es gibt den Begriff „haus“ und es gibt „ein haus“.�� „haus”, wie Kahn es nennt, bezeichnet die idee, dass es etwas gibt, in dem menschliche Wesen leben. dieses etwas, das eine Funktion hat, das realisiert wurde und als solches eine Form angenommen hat, ist etwas, was wir in europa, in amerika, sogar in der $UNWLV�¿QGHQ�N|QQHQ�±�WDWVlFKOLFK�N|QQHQ�ZLU�HV��EHUDOO�¿QGHQ��hEHUDOO�NHQQW�man dieses „haus“ genannte etwas als idee, aber dieses etwas erhält nur eine Form durch die intelligenz des handwerkers, der diese idee übersetzt, und durch die Umstände, in die es (als idee) platziert wird. erst dann wird es „ein +DXV³��HUVW�GDQQ�GU�FNW�HV�VLFK�VHOEVW�LQ�HLQHU�VSH]L¿VFKHQ�)RUP�DXV��DOV�$XV-

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druck von architektur, als kulturelles Phänomen. also erhält die idee „haus“ als kulturelles Phänomen architektonische Form und Wert (als „ein haus“) GXUFK�GLH�,QWHOOLJHQ]�GHV�$UFKLWHNWHQ�XQG�XQWHU�GHP�(LQÀXVV�GHU�]HLWOLFKHQ�(also historischen) und räumlichen (geographischen) Umstände, der Praxis dieser Kultur.

Iglu

dies können wir am besten an einem der intelligentesten Werke der architek-tur, die ich kenne, beobachten – obwohl sie immer noch „primitive architek-tur“ genannt wird.11

die menschen, die sich selbst „die menschen“ nennen, also die „inuit“, die in den arktischen gebieten Kanadas und grönlands leben und wohnen, nannten die idee „haus“ „igdlu“ oder „iglu“, was „haus“ bedeutet. Und in ihrer Kultur wurde die idee „haus“, „ein haus“ in der Form einer Schneekup-pel, das bekannte iglu. die Umstände, die die Schöpfung dieser intelligenten ,QXLW���$UFKLWHNWXU�EHHLQÀXVVWHQ��N|QQHQ�ZLU�XQV�QXU�YRUVWHOOHQ��.OLPDWLVFK�Temperaturen von weit unter null für neun monate im Jahr. in den Küstenge-bieten, wo sie normalerweise leben, gibt es fast keinen natürlichen Schutz gegen den Wind, und sie müssen ziemlich oft mit Schneestürmen und Bliz-zards fertig werden. aber sie müssen sich als nomaden, die im Winter nur NXU]�DQ�HLQHP�2UW�EOHLEHQ�XP�]X�MDJHQ�XQG�]X�¿VFKHQ�QLFKW�QXU�JHJHQ�GLH�klimatischen gegebenheiten verteidigen, sie müssen auch mit den eisbären zurecht kommen und mit Wölfen, die in dem gebiet auf nahrungssuche umherstreifen.

als Baumaterial gibt es im Winter nur Schnee, ein material, das die es-kimos in- und auswendig kennen. dies zeigt schon ihre Sprache, die über mehr als dreihundert Worte verfügt, um unterschiedliche arten von Schnee zu bezeichnen. dies auch deshalb, um sich in einer Landschaft, die hauptsäch-lich aus Schnee besteht, orientieren zu können.

die hauptfunktion (utilitas) ist klar: Schutz gegen strenge klimatische *HJHEHQKHLWHQ�XQG�P|JOLFKH�5DXEWLHUH��'LH�0DWHULDOLVLHUXQJ��¿UPLWDV��ZLUG�durch das verfügbare Baumaterial (den Schnee) und die Werkzeuge bestim-

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mt, die sie besitzen, um das material zu bearbeiten. Zum Bauen war das ein langes Schneemesser oder eine Schneesäge, die aus einer Walrippe oder dem geweih eines rentiers hergestellt wurde.

(LQ�VROFKHU�YRUOlX¿JHU�6FKXW]EDX��QRUPDOHUZHLVH�ZLUG�HU�I�U�GLH�'DXHU�von einigen Wochen benutzt und dann ziehen sie zu anderen Jagd- oder Fis-chgründen) muss stabil sein und er muss leicht und schnell aufzubauen sein, denn je schneller man unter diesen extremen Bedingungen einen guten Schutz hat, um so besser ist es.

aber was ist mit der Form (venustas), der Schönheit, könnte man fragen? nun, in diesem Fall wird die Form und ihre Schönheit hauptsächlich durch die Optimierung und der angemessenen versöhnung zwischen Funktion und materialisierung innerhalb der vorherrschenden Umstände bestimmt.

es war die einsicht der inuit, ihre Fähigkeit mit Körper und verstand wahrzunehmen und damit auf Basis ihrer erfahrungen die räumlichen und zeitlichen Umstände, mit denen sie sich in ihrem entwurf von „einem haus“ auseinandersetzen mussten, intuitiv zu erkennen und zu verstehen. in anderen Worten: es war die kreative intelligenz der inuitkultur als solche, die den iglu hervorgebracht hat, als die optimierte antwort auf die idee „haus“. Und ein haus zu entwerfen bedeutet hier nichts anderes, als dass der eskimo - Jäger durch ikarianisches ausprobieren immer und immer wieder seine erfahrung anwenden muss, während er subjektiv zwischen den Optionen, die er in Be-zug auf eine angemessene versöhnung von Form, Funktion und material-LVLHUXQJ�XQG�GHQ�VSH]L¿VFKHQ�8PVWlQGHQ�KDW��DEZlJW�XQG�ZlKOW��XQG�VR�EHL�einem ausdruck seiner idee „haus“ als „ein haus“ anlangt, seinem iglu. ein entwurf, der kaum noch weiter optimiert werden kann.

Unter „normalen“ Umständen kann ein umherziehender eskimojäger al-leine ein iglu in ungefähr einer Stunde bauen. erst sucht er nach einer guten Stelle, also einem Ort mit festem, mindestens einem meter tiefem Schnee. mit seinem Schneemesser zeichnet er einen Kreis mit einem durchmesser von ca. 3 metern in den Schnee (ausreichend für 3 bis 5 Leute) und er bestim-mt die hauptwindrichtung. auf der windabgewandten Seite macht er zwei SDUDOOHOH�6FKQLWWH�LQ�GHQ�6FKQHH��XQJHIlKU����=HQWLPHWHU�WLHI����0HWHU�ODQJ�XQG�XQJHIlKU����FP�YRQHLQDQGHU�HQWIHUQW��'DV�ZLUG�VSlWHU�GHU�(LQJDQJVNRUUL-dor. dann fängt er an, einen keilförmigen Schneeblock am anfang der beiden Schnitte wegzunehmen, damit er Platz zum arbeiten hat und der später einen geneigten eingang bildet, über den er reinrutschen und rauskrabbeln kann. 'DQDFK�VFKQHLGHW�HU�PLW�VHLQHP�6FKQHHPHVVHU�RGHU�VHLQHU�6FKQHHVlJH�FD�����cm dicke Schneeblöcke aus und legt sie auf die offene Schnee-ebene, so dass

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die frischgeschnittenen Blöcke in der kalten Luft aushärten können. nachdem er die notwendige anzahl Blöcke geschnitten hat, platziert er im Kreis die erste Lage Schneeblöcke. die Kanten der Blöcke sind so geschnitten, dass sie sich, wenn er sie nebeneinander platziert, alle leicht nach innen neigen. nachdem er die erste Lage fertiggestellt hat, schneidet er die Oberseite so ab, dass eine art Spirale entsteht.

diese aufwärtsspirale ist für den eigentlichen Bauprozess wichtig. denn ein eskimo muss eine solche Kuppel alleine konstruieren können. durch die Spirale erreicht er, dass die vertikalen verbindungen der Blöcke in der näch-sten Lage durch die Schwerkraft gegeneinander gedrückt werden, so dass sie nicht nach innen fallen.

der eskimo arbeitet dann von innen, er schneidet Blöcke aus dem Boden, schafft damit mehr höhe, er formt die Blöcke mit seinem messer und schichtet sie weiter spiralförmig nebeneinander. dabei zieht er sein messer durch die vertikalen Fugen zwischen zwei Blöcken, wodurch er nicht nur erreicht, dass sie perfekt passen, sondern auch, dass sie besser zusammen halten, weil so die beiden Schneekanten wieder frisch und weich sind.

der letzte Block der Spirale wird eingepasst, indem er etwas größer gemacht wird, als das Loch eigentlich ist. dieser wird dann in einer geneigten Position durch das Loch gesteckt und darauf gelegt und mit dem messer so geformt, bis er wie ein Schlussstein passt. etwaige Öffnungen zwischen den Blöcken werden mit weichem Schnee gefüllt, so dass der eskimo am ende in einer komplett geschlossenen Schneekuppel eingeschlossen ist. das nächste, was gemacht werden muss, ist ein kleines Belüftungsloch auf der windabge-wandten Seite, also über dem eingang.

der Block, der anfangs den eingang versperrt hat, wird weggeschnitten, so dass der architekt aus seinem neuen haus kriechen kann. der eingang-skorridor wird mit weiteren Blöcken bedeckt und in die Seiten des eingang-skorridors schneidet er einige nischen, in denen er Proviant lagern kann. vor der eingangsrampe wird eine kleine halbrunde Schneewand gebaut, eine art Spoiler, um den Wind und den Schnee draußen zu halten. nachdem der es-kimo diese erste Bauphase beendet hat, also nachdem er erstmal für den not-wendigen Schutz unter so strengen Bedingungen gesorgt hat, kann er sich um GHQ�)HLQVFKOLII�VHLQHV�YRUOlX¿JHQ�+DXVHV�N�PPHUQ�

mit seinem Schneemesser schabt er die innenseite seiner Kuppel so ab, GDVV�HU�HLQH�JODWWH��HEHQH�2EHUÀlFKH�HUKlOW��G�K��HU�HQWIHUQW�DOOH�.DQWHQ��GLH�tropfen könnten. dann nimmt er eine kleine Schüssel mit robbenfett oder Walöl, welches er wie eine Kerze entzündet. mit dieser geht er über die innere

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2EHUÀlFKH�GHU�.XSSHO��ZR�GLH�:lUPH�GHU�/DPSH�HLQ�OHLFKWHV�6FKPHO]HQ�EH-wirkt, gefolgt vom sofortigen gefrieren der inneren Schicht der Schneekup-pel, wodurch sie noch besser versiegelt wird. dieser Prozess des leichten Schmelzens, gefolgt vom sofortigen gefrieren ist ein Prozess, der während der gesamten Zeit, in der das iglu bewohnt wird, ganz langsam weiter läuft und die Schneekuppel immer mehr in eine eiskuppel verwandelt. Jedoch ohne dass sie dabei ihre guten isolationseigenschaften verliert, denn die neuen Schichten frischen Schnees, die auf ihr liegen bleiben, sorgen dafür.

der Begriff isolationseigenschaften in verbindung mit einem haus aus Schnee kann verwundern. nun, zwischen den Schneekristallen ist so viel eingeschlossene Luft, dass der Schnee tatsächlich ein sehr guter isolator wird, etwas, was der eskimo aus erfahrung weiß. Wie er auch aus erfahrung weiß, dass Schnee hygroskopisch ist, was bedeutet, dass Schnee sich wie ein Schwamm verhält. Sollten Sie also jemals durch das eis brechen und ins Was-ser fallen, benutzen Sie das Wissen der inuit und rollen Sie sich im Schnee sobald Sie aus dem Wasser herauskommen, der Schnee wird das meiste Was-ser aus ihren nassen Kleidern saugen, was ihnen eine viel bessere Überleben-schance gibt.

genauso weiß der eskimo aus erfahrung, dass er mit einer kleinen Öl-ODPSH�HLQ�,JOX�DXI�XQJHIlKU����*UDG�DXIZlUPHQ�NDQQ��ZlKUHQG�GUDX�HQ�7HP-SHUDWXUHQ�YRQ�PLQXV����*UDG�&HOVLXV�KHUUVFKHQ�P|JHQ��(U�ZHL��DXFK��GDVV�die ebene des tieferen Korridors wie eine Kältesenke und eine art Schleuse wirkt, die die warme Luft oben und drinnen hält.

die Form der Kuppel (die die eskimos, wie ich annehme, wie ikarus durch ausprobieren entdeckt haben) ist nicht nur ökonomisch in Bezug auf 0DWHULDO�XQG�%DXSK\VLN��JU|�WHV�9ROXPHQ�EHL�NOHLQVWHU�2EHUÀlFKH���VLH�LVW�auch eine der stärksten strukturellen Formen und ihre Form ist auch in Bezug auf aerodynamik ideal.12

Wir können also erkennen, wie die Umstände, in denen architekturen wie GHU�,JOX�VLFK�HQWZLFNHOQ��GHQ�(QWZXUIVSUR]HVV�EHHLQÀXVVHQ��,QWHOOLJHQWHV�'H-sign bedeutet in diesem Fall, dass die inuitkultur durch einen ikarianischen Prozess des ausprobierens – also das ständige anwenden ihrer erfahrung bei gleichzeitigem abwägen und Wählen zwischen den Optionen, die sie in Be-zug auf einer angemessenen versöhnung von Form, Funktion und material-

12 nicht schlecht, wenn man es mit eisbären und Winden mit hurrikan-Stärke zu tun hat.

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isierung haben – zu einem ausdruck ihrer idee von „haus“ als „ein haus“ in der Form eines iglus gelangen, der kaum noch weiter optimiert werden kann.

also, worin besteht diese Schnittstelle zwischen intuition und erfahrung, auf den sich der Titel dieses aufsatzes bezieht? nun, es ist die kreative intel-ligenz der menschen selbst. eine kreative intelligenz, die durch die Fähigkeit der menschen entsteht, mit Körper und verstand wahrzunehmen und sich et-was vorzustellen, also die Fähigkeit, zu erschaffen und über diese Schöpfun-gen nachzudenken, sowohl rational als auch emotional.

im Sinne der architektur bedeutet dies, dass der sogenannte architekt eine verantwortung hat, nicht nur in Bezug auf die inhärenten aspekte der Schöpfung (Form, Funktion, materialisierung) intelligent vorzugehen, sondern auch in Bezug auf die Breite der kulturellen Umstände, in die seine Schöpfung, sein Werk der architektur, eingehen wird.

thErmalBad In Vals

irgendwo weit weg, in einem Tal in den alpen, das man nur schwer erre-ichen kann, gibt es ein kleines dorf. ein dorf mit kleinen Steinhäusern, das wirtschaftlich nur durch den ständigen Strom durchschnittlicher Leute über-leben konnte, die seine Thermalquellen besuchte, denn es war ein Kurort und diese Besucher würden ein bis zwei Wochen zur heilung in dem kleinen dorf bleiben. die hauptsächlich deutschsprachigen Leute kamen zu diesem entle-genen Kurort für eine Behandlung mit dem Thermalwasser, Luft, Sonnenlicht und entspannung, da es verhältnismäßig günstig war und zum Teil von ihrer gesetzlichen Krankenkasse bezahlt wurde. aber aufgrund der ständig steigen-den Kosten im gesundheitswesen änderte der Staat seine Politik in Bezug auf diese art des Urlaubs, so dass der konstante Strom von Leuten abriss. das kleine dorf, seiner haupteinnahmequelle beraubt, stand in gefahr, eine geisterstadt zu werden. neben den Thermalquellen hat das dorf außerdem einen Steinbruch, der einen guten Baustein liefert und handwerker, die dieses material (gneis) wie meistersteinmetze verarbeiten können.

8QG� LUJHQGZR� LQ� GHU�1lKH� ¿QGHQ� VLH� HLQHQ�$UFKLWHNWHQ�� GHU� QLFKW� QXU�sensibel und intelligent genug ist, um die angemessene versöhnung der in-KlUHQWHQ�$VSHNWH�GHU�$UFKLWHNWXU�XWLOLWDV��¿UPLWDV�XQG�YHQXVWDV�]X�PHLVWHUQ��er besitzt auch die kreative intelligenz, mit den örtlichen und kulturellen Um-ständen fertig zu werden. er erkennt, dass es keinen Sinn macht, noch ein Un-terhaltungsbad, mit noch mehr tropischen vergnügungen, noch längeren Was-

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serrutschen oder einem Becken mit noch höheren Wellen zu bauen – nicht in einer Zeit, in der diese beliebte art des Unterhaltungsbades fast überall ge-funden werden kann. er versteht außerdem, dass dieses Bad, im vergleich zu den meisten anderen, auch noch einen großen nachteil hat, es ist abseits der haupttouristenstrecken und es ist nicht leicht so ein Thermalbad, hoch oben in einem entfernten Tal in den alpen zu erreichen. aber dieser nachteil könnte ein vorteil werden, wenn man die Sache im Sinne einer Pilgerfahrt betrachtet. ein Pilgerort muss seiner natur nach entlegen und nicht zu leicht erreichbar sein, sonst wäre es keine echte Pilgerfahrt mehr. die aussicht auf ein warmes Bad in einer stillen und meditativen atmosphäre jedoch, um so Körper und geist nach einer langen und nicht ganz einfachen reise zu entspannen, kann sehr ansprechend und verführerisch sein. also nutzt dieser architekt seine kreative intelligenz, um das beste aus den Umständen herauszuholen, die er in diesem entlegenen kleinen dorf antrifft: die heißen Quellen, der lokale Stein, die handwerker etc. – und nicht zu vergessen das billigste „material“, das dem architekten, der es einzusetzen weiß, immer zur verfügung steht: raum und Licht. also entwarf er für dieses kleine dorf ein Thermalbad wie einen Pilgerort. das Thermalbad in vals in der Schweiz von Peter Zumthor.13 der architekt war auch so intelligent, nicht nur auf das verführerische Bild oder die außergewöhnliche Form zu setzen. der architekt verstand von anfang an, GDVV�HV�HLQ�:HUN�GHU�$UFKLWHNWXU�VHLQ�PXVVWH��GDV�HLQHQ�(LQÀXVV�DXI�DOO�GLH�Leute hatte, die es besuchten. es musste ein Werk der architektur sein, das, während man es erlebte, etwas so grundlegendes und elementares generierte, dass kein Besucher dem entgehen konnte. es ist ein Werk der architektur, das erfahrungen auf einer so fundamental phänomenologischen ebene erzeugt, dass Besucher die Freude an diesen erfahrungen nie nach nur einem Besuch verlieren, was sie wahrscheinlich dazu bringt, immer und immer wieder zurückzukehren.

ich denke auch hier haben wir es mit einem Werk der architektur zu tun, das uns in einer art kinästhetischen erfahrung einschließt. Und ich wieder-hole, damit meine ich die körperliche und mentale erfahrung, die alle unsere Sinne und unsere vorstellungskraft einbezieht und dadurch primäre um nicht zu sagen primitive gefühle weckt, die wiederum in uns eine echte intuition von Schönheit entfachen.

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mir scheint, dass Zumthor und mies denselben Lehrer hatten, der diese art des phänomenologischen mise en scène, den einsatz von raum, Licht und %HZHJXQJ�LQ�LKUHU�$UFKLWHNWXU�EHHLQÀXVVWH��'DEHL�EH]LHKH�LFK�PLFK�DXI�GHQ�Schweizer Künstler und visionär des modernen Theaters zu anfang des ���� -DKUKXQGHUWV��$GROSKH�$SSLD�14 Zumthor und mies nehmen (so scheint es) appias Konzept des espace rythmique auf. räume, die frei ineinander �EHUÀLH�HQ��GH¿QLHUW�LQ�GHU�HOHPHQWDUVWHQ�XQG�DEVWUDNWHVWHQ�)RUP�GXUFK�GDV�DXI�GHQ�KRUL]RQWDOHQ�(EHQHQ�GHU�%|GHQ�XQG�GHQ�YHUWLNDOHQ�2EHUÀlFKHQ�GHU�Wände sichtbar werdende Licht. auf diese art lenken sie die Choreographie der Bewegungen und die reihenfolge der verschiedenen atmosphären, durch die die Besucher passieren, während sie das mise en scène von raum, Licht und Bewegung erfahren, auf einer unbewussten ebene, nämlich auf der der architektur, in der sie mit all ihren Fähigkeiten der Wahrnehmung und der vorstellung einbezogen sind.

Was ist diese Schnittstelle zwischen intuition und erfahrung? es ist die kreative intelligenz der menschen selbst. eine durch die menschliche Fähig-keit, mit dem Körper und dem verstand wahrzunehmen und sich etwas vor-zustellen, erzeugte kreative intelligenz, die es ihnen erlaubt, etwas zu erschaf-IHQ�XQG�GDV�(UVFKDIIHQH�]X�UHÀHNWLHUHQ��VRZRKO�UDWLRQDO�DOV�DXFK�HPRWLRQDO��nun könnte ich hinzufügen, dass die Schnittstelle zwischen intuition und erfahrung nicht nur die kreative intelligenz des menschen selbst ist, sondern auch seine emotionale natur, die ihn aspekte von „Schönheit“ in einer er-fahrung erkennen lässt, wie es ikarus im Flug erfahren haben muss.

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Wim van Den Bergh | erfahrung unD intuition oDer von ikarus lernen

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