Erfahrungsgeschichten der Moderne

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg JÖRN LEONHARD Erfahrungsgeschichten der Moderne Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten Originalbeitrag erschienen in: Ute Schneider (Hrsg.): Dimensionen der Moderne: Festschrift für Christof Dipper. Frankfurt a. M.: Lang 2008, S. 549-566

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

JÖRN LEONHARD Erfahrungsgeschichten der Moderne Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten Originalbeitrag erschienen in: Ute Schneider (Hrsg.): Dimensionen der Moderne: Festschrift für Christof Dipper. Frankfurt a. M.: Lang 2008, S. 549-566

Erfahrungsgeschichten der Moderne: Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten

Jörn Leonhard

I. Einleitung: Das Sattelzeit-Konzept als Theorie vergangener Erfahrungsdeutung

Übergangsgesellschaften sind durch den beschleunigten und krisenhaften Umbruch von Erfahrungen und der damit verbundenen Deutungsmuster und Kommunikati-onsweisen charakterisiert. Die Transformation von tradierten Erfahnmgsmustern geht dabei zugleich einher mit der Suche nach neuen Formen, solche Umbrüche zu deuten, sie damit kommunizierbar zu machen und sich so den Erfahrungswandel sinnhaft an-zueignen. Für diese Formen von Erfahrungsdeutung spielen sprachliche Deutungs-muster eine fundamentale Rolle. So gewann im Zeitalter der Französischen Revolu-tion Sprache ein neues Gewicht für die deutende Aneignung des immens beschleu-nigten Erfahrungswandels. Die Zeitgenossen entwickelten dabei ein neues Bewusst-sein für die Zeitlichkeit von überlieferten Begriffen, die durch die neuen Erfahrungs-hintergründe seit 1789 zunehmend überholt schienen.' Die Überlagerung und Fer

-mentierung von verschiedenen Zeitebenen und Zeiterfahrungen, fur die 1789 die Wasserscheide darstellte, ergab sich aus der Brückenfunktion tradierter Begriffe, die über neue Bedeutungskopplungen gewissermaßen in einen neuartigen Erfahrungs-raum hineinwuchsen. Die inhaltliche Veränderung der Deutungsmuster implizierte eine ideologische Temporalisierung, ein Bewusstsein für den tiefgreifenden sozio-kulturellen Bruch und die neue Qualität der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft. Das charakterisierte für die Zeitgenossen des frühen 19. Jahrhun-derts die neue Relation zwischen Wörtern und Dingen seit der Zäsur des Jahres 1789:

„Jadis les noms nouveaux devaient se retremper dans le passé, pour avoir de la valeur: maintenant la marche est inverse, les noms anciens doivent venir se retremper dans le pré-sent. Les anciens noms ainsi retrempés par leurs alliance avec l'histoire moderne, ont une double signification, et par conséquent une double valeur. Les noms de l'ancienne histoire étrangers à la nouvelle, sont pour le peuple français comme s'ils n'existaient pas [... ]. Au-jourd'hui, en France, les noms sont comme les langues, divisés en langues mortes et langues vivantes: 1789 fait la ligne de démarcation. La nouvelle France date de là: ce qui est au-delà est pour elle de l'histoire ancienne, qui n'inspire plus d'intérêt qu'aux savans et à quelques intéressés" . 2

Nicht zuflillig greifen Historiker im Kontext von langfristigen politisch-konstitu-tionellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen immer wieder auf die ideologischen Ismen zurück, die diese Umbruchsprozesse seit dem

Vgl. Reinhart Koselleck: Abstraktheit und Verzeitlichung in der Revolutionssprache. In: Rolf Reichardt/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftli-chen Bewußtseins. Mönchen 1988, S. 224-226, sowie Ders.: Zum Auseinandertreten von Erfah-rungsraum und Erwartungshorizont im Zeitalter der Revolution. In: ebd., S. 657-659. D. G. F. de Pradt: Petit catéchisme à l'usage des Français, sur les affaires de leur pays, Paris 1820, S. 138 f.

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letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beschreiben und einordnen sollen. Dass diese Is-men selbst historisch sind, dass sie durch ihre Historizität eine Que lle ihr die Rekon-struktion der Deutungen krisenhaft veränderter Vergangenheiten darstellen, ist eine grundlegende Prämisse der historischen Semantik. 3 Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist vor diesem Hintergrund die Frage nach der Spezifik in der sprach-lich geronnenen Deutung von Erfahrungswandel in unterschiedlichen europäischen Kontexten am Beispiel des politisch-sozialen Deutungsmusters Liberalismus. Einem semantischen Nominalismus, also der urhinterfragten Gleichsetzung historisch unter-schiedlicher und ungleichzeitiger Liberalismen und Liberalismus-Diskurse in ver-schiedenen europäischen Gesellschaften durch die ideengeschichtlich inspirierte Prä-misse eines europäischen Liberalismus, soll dabei der Pluralismus von Sattelzeiten als Paradigma fir die Unterschiedlichkeit historischer Erfahrungsdeutungen entgegen-gehalten werden.

Forschungshistorisch ist dieser Ansatz nicht von der besonderen Entwicklung der Begriffsgeschichte in Deutschland zu trennen, wo sie sich früher und intensiver als in anderen Ländern als Paradigma der historischen Semantik durchgesetzt hat. Ausge-hend vom früh entwickelten Interesse von Historikern an Schlagworten und an der Funktion von Begriffen als „sozialpsycholgische und geistesgeschichtliche Erschei-nung", hat sich die moderne begriffsgeschichtliche Praxis vor allem in den von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck begründeten und zwischen 1972 und 1997 erschienenen Geschichtlichen Grundbegriffen sowie in dem seit 1985 erschei-nenden und von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink herausgegebenen Hand-buch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich vollzogen. 5 Die vor allem von Koselleck entwickelte Konzeption der Geschichtlichen Grundbegriffe ging von ei-

3 Vgl. Reinhart Koselleck: Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte. In: Wolfgang SchiederNol-ker Sellin (Hrsg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im inter-nationalen Zusammenhang. Bd. 1. Göttingen 1986, S. 89-109; Reinhart Koselleck: Sprachwan-del und Ereignisgeschichte. In: Merkur 43 (1989), S. 657-673; Ders.: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stu ttgart 1979, S. 9-16; Ernst Wolfgang Orth: Theoretische Bedingungen und methodische Reichweite der Begriffsgeschichte. In: ebd., S. 136-153; Horst Günther: Auf der Suche nach einer Theorie der Begriffsgeschichte; in: ebd., S. 102-120; Gerd van den Heuvel: Begriffsgeschichte, Historische Semantik. In: K. Bergmann (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf 3 1985, S. 194-197; Kari Palonen: Poli-tics, Rhethoric and Conceptional History. Studies on Modern Languages of Political Theory. Jyväskylä 1994; Hartmut Lelunarn/Melvin Richter (Hrsg.): The Meaning of Historical Tenors and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte. Washington 1996, insbes. Melvin Richter: Appreciating a Contemporary Classic: The Geschichtliche Grundbegriffe and Future Scholar-ship. In: ebd., S.7-19; Zain Hampsher-Monk/Karin Tilmans/Frank van Vree: History of Con-cepts: Comparative Perspectives. Amsterdam 1998, sowie Christof Dipper: Die Geschichtlichen Grundbegriffe. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten. In: HZ 270 (2000), S. 281-308. Wilhelm Bauer Das Schlagwort als sozialpsychologische und geistesgeschichtliche Erschei-nung. In: HZ 122 (1920), S. 189-240.

' Vgl. Otto Bna ner/Wemer Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.); Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bde. und 2 Registerbde. Stuttgart 1972-1997; Rolf Reichardt/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.): Handbuch politisch-sozia-ler Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820. München 1985 ff.

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nem grundlegenden semantischen Strukturwandel von vergangenen zu „modernen" Begriffen in der Zeitphase von ca. 1750 bis 1850 aus, für die er die Bezeichnung Sattelzeit prägte. Diese semantische Transformationsphase war von mehreren As-pekten gekennzeichnet: der Kollektivierung von zunächst nur im Plural geläufigen Substantiven (Geschichten) zu Allgemeinbegriffen (Geschichte), der schichtenüber-greifenden Rezeption von politisch-sozialen Leitbegriffen über den begrenzten Kreis der Gebildeten hinaus (Demokratisierung), dem zunehmenden Einsatz politisch-sozi-aler Grundbegriffe als polemischer Waffe mit der Folge größerer semantischer Breite (Ideologisierbarkeit) sowie der Aufladung der Begriffe mit spezifischen Erwartungen und Zielen, die aus Schlagwörtern auf dem Wege der Verzeitlichung und Politisie-rung affektive, zukunftsweisende Bewegungsbegriffe machten. 6 Das nach der Pio-nierleistung der Geschichtlichen Grundbegriffe zweite begriffsgeschichtlich-lexikali-sche Großunternehmen, das seit 1985 herausgegebene Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, unternimmt den Versuch, das politisch-soziale Voka-bular Frankreichs vom Ancien Régime bis zur Restauration zu erfassen. Die Übertra-gung der begriffsgeschichtlichen Methode auf ein anderes europäisches Land wird dabei programmatisch mit der Konzeption einer eigenen französischen Sattelzeit von ca. 1680 bis 1820 und vor allem einer methodischen Weiterentwicklung der Begriffs-geschichte zur sozialhistorischen Semantik verbunden, um dem Vorwurf der geistes-geschichtlichen Gipfelwanderung zu begegnen.'

Auch in der angelsächsischen Forschung kommt Fragen nach dem Verhältnis von Sprache und Geschichte in den letzten Jahren ein großer Stellenwert zu, so besonders für J. G. A. Pocock, Quentin Skinner und die ihnen zugeordneten Mitglieder der so genannten Cambridge School, 8 Ein direkter Vergleich zwischen diesen unterschiedli-

6 Vgl. Reinhart Koselleck: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Grundbegriffe der Neu-zeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81-99; Ders.: Einleitung. In: Bruiner/Con-ze/Koselleck, Grundbegriffe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. XIII-XXVII; Ders.: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte (1972). In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 2 1992, S. 107-129.

' Vgl. Rolf Reichardt: Pour une histoire des mots -thèmes socio-politiques en France (1680-1820). In: Mots 5 (1982), S. 189-202; Ders.: Zur Geschichte politisch-sozialer Begriffe in Frankreich zwischen Absolutismus und Restauration. Vorstellung eines Forschungsvorhabens. In: Zeit-schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (1982), S. 49-72; Ders.: Einleitung. In: Ders./Lüsebrink, Handbuch (wie Anm. 5), Heft 1/2, 1985, S. 39-148, hier S. 64-66. Vgl. Quentin Skinner. Motives, Intentions, and the Interpretation of Texts. In: New Literary His-tory 3 (1971/72), S. 398-408; Ders.: Language and Social Change. In: L. Michaels/C. Ricks (Hrsg.): The State of the Language. Berkeley 1980, S. 562-578; Quentin Skinner. Language and Political Change. In: Terence Ball/James Farr/Russell L. Hanson (Hrsg.): Political Innova tion and Conceptional Change. Cambridge 1989, S. 6-23; James Tully/Quentin Skinner (Hrsg.): Meaning and Context: Quentin Skinner and His Critics. Princeton 1989; Skinners Aufsätze lie-gen nun zusammengefasst vor. Quentin Skinner: Visions of Politics. 3 Bde. Camb ridge 2002; J. G. A. Pocock: Virtue and Commerce in the Eighteenth Century. In: Journal of Interdiscipli-nary History 3 (1973/74), S. 119-134; Ders.: Verbalizing a Political Act: Towards a Politics of Speech. In: Michael J. Shapiro (Hrsg.): Language and Politics. Oxford 1984, S. 25-43; J. G. A. Pocock: The Concept of a Language and die Métier d'historien: Some Considerations on Prac-tice. In: Anthony Pagden (Hrsg.): The Languages of Political Theory in Eady-Modem Europe. Cambridge 1987, S. 19-38; vgl. zur Umsetzung des Konzepts J. G. A. Pocock: The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the Seventeenth

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chen methodischen Ansätzen erweist die Schwierigkeiten eines Dialogs. So hat Pocock in einem direkten Austausch mit Reinhart Koselleck zunächst die Diskursanalyse hö-her als die punktuelle Begriffsgeschichte eingeschätzt und dabei insbesondere den synchronen Aspekt des Untersuchungsansatzes hervorgehoben. Ein weiterer Kritik-punkt wendet sich gegen das von Koselleck ursprünglich vertretene Konzept der Sattelzeit geschichtlicher Grundbegriffe zwischen 1750 und 1850. Pococks Hinweis auf die ganz andere Sattelzeit des politisch-sozialen Vokabulars in England, für die eher die Phase zwischen 1500 und 1800 zu untersuchen wäre, führt direkt zur Not-wendigkeit vergleichender Analysen, bei denen zudem die Bedingungen des Diskur-ses berücksichtigt werden müssen: Nicht allein die Begriffsgeschichte, sondern auch die diesen Bedingungen nachgehenden methodischen Ansätze seien „historically, culturally, and nationally specific". 9 In der Bilanz seines Konzepts hat Reinhart Ko-sclleck die methodische Funktion der Sattelzeit selbst durchaus kritisch beurteilt, für begriffsgeschichtliche Analysen stellt sie jedenfalls keine conditio sine qua non dar, und zwar weder im Hinblick auf den deutschen Sprachraum noch für andere national-sprachliche Diskurse. 10

Die systematische Untersuchung der historischen Semantiken des europäischen Deutungsmusters liberal/Liberalismus in Frankreich, Deutschland, Italien und Eng-land soll vor diesem Hintergrund den Pluralismus europäischer Sattelzeiten als Zei-chen der dahinter stehenden Pluralität von Erfahrungsumbrüchen, ihrer Deutungen und ihrer Temporalisierung vergleichend analysieren. Im weiteren Sinne ist dies als Versuch zu betrachten, das Sattelzeit-Konzept durch einen systematisch-komparati-ven Zugriff zu differenzieren und weiterzuentwickeln. In heuristischer Hinsicht führt der Vergleich damit zu bisher nicht gestellten Fragen und zur Erkenntnis neuartiger

Century. New York 2 1967; Ders.: Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, chiefly in the Eighteenth Century. Camb ridge 1995; vgl. zu Pococks Werk insge-samt Iain Hampsher -Monk: Review Article: Political Languages in Time — The Work of J. G. A. Pocock. In: British Journal of Political Science 14 (1984), S. 89-116.

9 J.G. A. Pocock: Concepts and Discourses: A Difference in Culture? Comment on a Paper by Melvin Richter. In: Lehmann/Richter, Meaning (wie Anm. 3), S. 58, sowie Reinhart Koselleck: A Response to Comments on die Geschichtliche Grundbegriffe. In: Lehmann/Richter, Meaning (wie Anm. 3), S. 59-70.

1° Vgl. Koselleck, Response (wie Anm. 9), S. 59-70; vgl. Melvin Richter: Opening a Dialogue and Recognizing an Achievement. A Washington Conference on the Geschichtliche Grundbegriffe. In: Archiv für Begriffsgeschichte 39 (1996), S. 19-26.

u Vgl. Jöm Leonhard: Liberalismus — Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungs- musters. München 2001, sowie Ders.: Semantische Deplazierung und Entwertung — Deutsche Deutungen von „liberal" und „Liberalismus" nach 1850 im europäischen Vergleich. In: Ge-schichte und Gesellschaft 29 (2003) 1, S. 5-39; zu methodischen Problemen einer komparativen historischen Semantik vgl. vor allem Reinhart Koselleck/Willibald Steinmetz/Ulrike Spree: Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutsch-land, England und Frankreich. In: H.-J. Puhle (Hrsg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Göttingen 1991, S. 15-58; Willibald Steinmetz: Ganeineuropäische Tradition und na tionale Be-sonderheiten im Begriff der „Mittelklasse". Ein Vergleich zwischen Deutschland, Frankreich und England. In: Reinhart Koselleck/Klaus Schreiner (Hrsg.): Bürgerschaft. Rezeption und In-novation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 161-236.

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Probleme. Denn zumal flir die vergleichende Liberalismus-Forschung besteht, wie oben angedeutet, die Gefahr des semantischen Nominalismus, also der impliziten Gleichsetzung und damit Nivellierung historisch semantisch nicht äquivalenter Be-griffe (libéralisme, Liberalismus, liberalismo, liberalism). Der Rückgriff auf einen übergeordneten Begriff europäischer Liberalismus steht dabei in der Gefahr, die Dif-ferenzen zu verdecken und in seiner normativen Konnotation der Vorstellung von Pi-onieren und Nachzüglern, von Normalwegen und Sonderwegen Vorschub zu leisten. Denn die Identifizierung eines gemeineuropäischen Liberalismus setzt eine für unter-schiedliche historische Kontexte prinzipiell ähnliche Transformationsphase Europas voraus, die es so niemals gab. Das sich hier andeutende Problem der Ungleichzeitig-keit lässt sich aber nur durch den Vergleich erfassen, ja es setzt den Vergleich voraus, entsteht gleichsam erst unter den Bedingungen der komparativen Betrachtung. Die folgende Skizze erlaubt allenfalls eine kursorische Zusammenfassung einiger Ergeb-nisse der komparativen Analyse, die Besonderheiten der historischen Semantiken von liberal/Liberalismus und seiner europäischen Varianten vorzustellen. Auf der Grundlage einer eher symptomatisch-zuspitzenden Untersuchung soll der Erklä-rungswert des Vergleichs für eine Differenzierung europäischer Sattelzeiten und da-mit füreine Differenzierung von Erfahrungsumbrüchen und Aneignungsmustern in unterschiedlichen europäischen Übergangsgesellschaften erkennbar werden.

II. Typologische „Liberalismen" und semantische „ Sattelzeiten ": Zur Spezifik von Erfahrungsumbrüchen und Erfahrungsdeutungen

Die komparative historische Semantik von Liberalismus im Europa des langen 19. Jahrhunderts erlaubt keine idealtypische Charakterisierung eines gesamteuropäischen Grundbegriffes Liberalismus. Trotz bestimmter inhaltlicher Konvergenzen überwiegt der Eindruck divergenter semantischer Strukturen, in denen sich distinkte Erfah-rungsräume und Erwartungshorizonte abbildeten. Insofern lässt die historische Se-mantik die Konstituierung eines Europaismus, eines überzeitlichen und von seinen konkreten Erfahrungsräumen abstrahierenden theoretischen Ideenvorrats, hinter Libe-ralismus nicht zu. Angemessener erscheint demgegenüber die analytische Fassung distinkter semantischer Liberalismen und Sattelzeiten. Ihre je spezifischen Ursprünge und Transformationen zeigten auf der Ebene des politischen Diskurses, dass eine Restauration der altständischen Vorstellung einer konfliktfreien und interessenhomo-genen societas civilis sive res publica nach 1789 nicht mehr möglich war. Die kon-troverse und schließlich polemisch-antagonistische Qualität der Ismen begleitete vielmehr die spannungsreiche Entstehung einer Gesellschaft unterschiedlicher Be-dürfnisse und Interessen. Der besondere Wert der vergleichenden historischen Se-mantik liegt im Nachvollzug, wie diese allgemeine Erfahrung der sich langfristig dif-ferenzierenden politischen und sozialen Interessen durch das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft einerseits und durch den Konflikt von Interessen innerhalb der Gesellschaft andererseits mittels ideologischer Deutungsmuster verarbeitet wurde.

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1. Frankreich: Die permanente Verkürzung der semantischen Halbwertszeit

Dem französischen Politikdiskurs kommt im Blick auf die semantische Genese und Transformation des hier untersuchten Begriffsfeldes, aber auch hinsichtlich der Vor-reiterfunktion fir die Politisierung und Ideologisierung des politischen Vokabulars überhaupt zentrale Bedeutung zu. Die Revolution von 1789 markierte weit über die politisch-konstitutionelle und gesellschaftliche Kategorie von Krise und Umbruch hinaus eine neue Entwicklungsstufe des politischen Diskurses, in dem die semanti-schen Grundlagen für die Politisierung und ideologische Polarisierung mit Hilfe neuer Etiketten gelegt wurden. 12 Von Frankreich aus wurde der Politikdiskurs min-destens der kontinentaleuropäischen Länder auf dem Wege des direkten Begriffsex-ports oder des indirekten Bedeutungstransports erheblich dynamisiert und von hier aus erhielten andere europäische Gesellschaften in der Phase zwischen 1789 und 1815 immer wieder neue Bedeutungsimpulse. Dieser Aspekt, der für die Frühphase der semantischen Genese neuer politisch-sozialer Deutungsmuster bis etwa 1820 fun-damentale Bedeutung hatte, verleiht der komparativen historischen Semantik auch eine beziehungsgeschichtliche und transferanalytische Dimension.' 3

In keinem anderen Vergleichsfall aber ist im Hinblick auf die weitere Geschichte des 19. Jahrhunderts auch eine derartige Dynamisierung des Politikdiskurses insge-samt und der semantischen Bestimmungsmuster im Besonderen erkennbar wie in Frankreich. Dies entsprach der Abfolge der politisch-konstitutionellen Krisen und Umbrüche, die immer wieder — 1789, 1799, 1815, 1830, 1848/51 und 1870/71 — zu einer Synchronisierung des politischen Vokabulars entsprechend der jeweils verän-derten politisch-sozialen Rahmenbedingungen zwang. In keinem anderen untersuch-ten Fall lässt sich daher die Verarbeitung von Erfahrungen und die Projektion von Erwartungen derart verdichtet nachvollziehen wie in Frankreich. Die semantischen Entwicklungsstufen der Politisierung, Ideologisierung und Polarisierung von libéral und l ibéral isme hatten dort ihren chronologischen und funktionalen Ursprung und entsprachen bis in die 1840er Jahre gleichsam immer neuen Kapiteln einer langfristi-gen Interpretationsgeschichte der Französischen Revolution. Dies bildete den histori-schen Bedeutungszusammenhang für die Genese der idées libérales, aus denen der moderne Bewegungsbegriff libéralisme nach 1815 hervorging.

Anders als in den übrigen Vergleichsfàllen hatten libéral/libéralisme in Frankreich bereits um 1820 die Stufen der Politisierung und Ideologisierung durchlaufen. Lang-fristig persistente Fermentierungen von vorpolitischen und politischen Bedeutungs-elementen wie in Deutschland fehlten. Stattdessen setzte die gesellschaftliche Polari-sierung besonders früh mit den dominanten Antagonismen libéral-ultra und libéral-royaliste bereits nach 1815 ein und verschärfte sich bis 1830 immer deutlicher. Der Konfliktgegenstand war nun konkret die Haltung gegenüber der 1814/15 etablierten

12 Vgl. Jöm Leonhard: „ 1789 fait la ligne de démarcation ": Von den napoleonischen idées libéra-les zum ideologischen Richtungsbegriff libéralisme in Frankreich bis 1850. In: Jahrbuch zur Li-beralismus-Forschung 11 (1999), S. 67-105.

13 Vgl. Jöm Leonhard: Von den idées libérales zu den liberalen Ideen: Historisch-semantischer Kulturtransfer zwischen Übersetzung, Adaption und Integration. In: Marc Schalenberg (Hrsg.): Kulturtransfer im 19. Jahrhundert. Berlin 1998, S. 13-45.

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konstitutionellen Monarchie. Dabei stellten libéral/libéralisme ein postrevolutionäres Deutungsmuster dar: Bereits die idées libérales waren entstanden aus dem bonapar-tistischen Versuch einer positiven Stilisierung des faktischen Seichs vom 18. Brumaire 1799 sowie zur Rettung des vermeintlich legitimen, faktisch jedoch von Bonaparte bestimmten Erbes der Revolution. Den semantischen Anknüpfungspunkt für die idées libérales markierte das Motiv der vorgeblichen Restaura tion der wahren Revolutionsziele, das während des Brumaire 1799 besonders hervorgetreten war. Während seines Staatsstreichs verband sich für Bonaparte als erfolgreichem Revolu-tionsgeneral mit dem ostentativen Bekenntnis zu den idées libérales eine überpartei-liche Distanz zu den politischen Gruppen des alten Regimes, die ihn für die Rolle ei-ner nationalen Integrationsfigur zu prädestinieren schien:

„Les différentes factions sont verwes sonner à ma porte; je ne les ai point écoutées, parce que je ne suis d'aucune coterie, parce que je ne suis que du grand parti du peuple français". 14

Ihrer Vereinnahmung als napoleonische Herrschaftspropaganda entzogen sich die idées libérales indes, als sie um 1813/15 zum semantischen Orientierungspunkt der antinapoleonischen Opposition und darüber hinaus vieler europäischer Regierungen auf dem Wiener Kongress wurden. Dabei fokussierten sie die heterogenen Erwartun-gen auf eine Überwindung der Revolutionsepoche unter gleichzeitigem Ausschluss einer semantischen Restauration des Ancien Régime. Für kurze Zeit rangierten idées libérales und liberale Ideen als Orientierungsbegriffe europäischer Regierungen."

In Frankreich selbst konnotierte das Deutungsmuster nach 1815 die Hoffnung auf Sicherung bürgerlicher Rechtsgleichheit und konstitutionell garantierter politischer Partizipation auf der Basis der Charte Constitutionnelle von 1814. Die idées libérales standen dabei gleichermaßen für die Projektion politischer Stabilität und gesell-schaftlicher Versöhnung. Die nunmehr einsetzende, bis 1830 sich intensivierende ideologische Polarisierung zwischen libéral und ultra sowie zwischen libéralisme und royalisme erwies diese postrevolutionäre Projektion indes bereits bald als Utopie und verstärkte den gegen Regierung und Monarchie gewandten Oppositionscharakter von libéralisme. Dessen politisch-publizistische Integrationswirkung war in Frank-reich um 1830 am größten, weil der Begriff seit den 1820er Jahren in den Restaurati-onstendenzen der Monarchie unter Karl X. einen klar konturierten Gegenpol ein-schloss. Dieser bipolare Antagonismus verlieh libéralisme den Anschein einer poli-tisch-sozialen Kohärenz, welche die Interessengegensätze innerhalb der Opposition einstweilen verdeckte. Im Kontext einer zunehmenden Fragmentierung, ja Atomisie-rung der politisch-ideologischen Gruppenbezeichnungen, die sich seit 1789 kontinu-ierlich fortsetzte, verkörperte das Begriffsfeld um libéral insgesamt weniger eine konkrete Partei als vielmehr ein politisches Lager, das sich in antirevolutionärer Ziel-setzung primär an der Charte und damit an der politisch-konstitutionellen und so-zialen Erbschaft der Revolution bis 1791 orientierte. Mit dem Sieg der Julirevolution gegen die Restaurationsversuche des letzten Bourbonenherrschers schienen sich diese

14 Conseil des anciens. Séance du 19 brumaire an VIII, zitie rt nach P. J. B. Buchez/P. C. Roux: Histoire parlementaire de la Révolution française ou journal des assemblées na tionales depuis 1789 jusqu'en 1815. Paris 1838, Bd. 38, S. 190ff.

IS Vgl. [Marignié] Lettre à Sa Majesté l'empereur de Russie, sur le projet de nouvelle constitution [Paris 1814].

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in libéralisme verdichteten Erwartungen erfüllt zu haben. 16 Mit der Überwindung der akuten Gefahr einer politisch-konstitutionellen und sozialen Restaura tion aber setzte zugleich die langfristige Desintegration von libéral/libéralisme ein: Vom Opposi-tionsetikett zum systemimmanenten Attribut der Julimonarchie geworden, veränderte sich sein Bedeutungsgehalt grundlegend: Libéral und libéralisme büßten bis 1848 immer mehr an semantischer Richtungsqualität ein, was den Rekurs auf die Begriffe von verschiedensten Richtungen aus zuließ. Dabei dominierte zunehmend eine kon-servative Konnotation als regierungskonformer Ordnungsbegriff am pointiertesten greifbar in der semantischen Amalgamierung von conservateur, doctrinaire und libé-ral bei François Guizot. 17

Anders als in den übrigen Vergleichsfällen ließ die besonders früh einsetzende und weitgehende Ausdifferenzierung des politischen Vokabulars in Frankreich eine Son-derstellung des Deutungsmusters und insbesondere eine weltanschaulich-gesinnungs-ethische Aufladung wie in den deutschen Liberalismus-Diskursen nicht zu. Die poli-tisch-semantische Wirkungskraft von libéral/libéralisme fiel gleichsam der besonde-ren Dynamik des französischen Politikdiskurses und der durch die Regimewechsel permanent verkürzten semantischen Halbwertszeit politischer Grundbegriffe zum Op-fer: Während in Deutschland und Ita lien liberal seine publizistische Breitenwirkung qualitativ und quantitativ erst in den 1830er und 1840er Jahren entfalten konnte, setzte in Frankreich nach 1830 bereits dessen semantische Stagna tion und Desinte-gration ein, die sich auch über die temporäre Revitalisierung im Kontext der Diskus-sionen um das Empire libéral um 1869/70 langfristig fortsetzte. 18

2. Deutschland: Die gleichzeitige Überlagerung ungleichzeitiger Bedeutungsebenen

In Deutschland trat seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst die bedeutungshafte Bindung des Begriffsfeldes um liberal an das Paradigma der Aufklärung stärker als in allen anderen Vergleichsfällen hervor. Charakteristisch dafür waren die korrespon-dierenden gesinnungsethischen und geschichtsphilosophischen Deutungsmuster von Vernunft, Individuum und Fortschritt. Sie ließen sich langfristig im bürgerlichen Qualifikationsmerkmal aufgeklärter Bildung und der soziokulturellen Disposition je individueller Gesinnung zu gesellschaftlich exklusiven Kennzeichen von liberal, Li-beralität und Liberalismus verdichten. 19 Daraus resultierte eine in zahlreichen Arti-keln zeitgenössischer Konversationslexika des langen 19. Jahrhunderts — einem ex-emplarischen Medium bildungsbürgerlicher Selbstvergewisserung — besonders domi-

16 Vgl. Calvimont Saint- Martial: Le Libéralisme en présence des élections. Paris 1830, sowie Achille François: Examen politique des quatre partis qui divisent la France, ou le carlisme, le bonapartisme, le républicanisme et le libéralisme. Soissons 1830.

17 Vgl. Du système conservateur. Examen de la politique de M. Guizot et du ministère du 29 octo-bre 1840. Par un homme d'état. Paris 1843.

" Vgl. J. Dubois: Le Vocabulaire politique et social en France de 1869 à 1872. A travers les oeuv-res des écrivains, les revues et les journaux. Paris 1963, S. 76, 331-333.

19 Vgl. etwa Georg S. A. Mellin: Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie oder Versuch einer fasslichen und vollständigen Erklärung der in Kants kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze. Bd. 4. Jena 1801, Neudruck Aalen 1971, S. 1.

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nante Deutung von Liberalismus als Verkörperung universeller und zivilisatorischer Prinzipien, die weit über die eigene Gegenwart hinausreichten. Liberalismus reprä-sentierte in deutschen Diskursen des frühen 19. Jahrhunderts den Fortschritt der Ge-schichte und die Entfaltung der Vernunftidee auf evolutionärem Weg. Da dem histo-rischen Entwicklungsverlauf in diesen zeitgenössischen Interpretationen eine gleich-sam naturnotwendige Konsequenz unterlegt wurde, erschien die Durchsetzung der mit Liberalismus verbundenen Erwartungen zwangsläufig und bedurfte nach Mei-nung vieler Zeitgenossen keines revolutionären Bruchs wie in Frankreich.

Der weltanschaulich-ethische Holismus, der dem Liberalismus dabei zuweilen Züge einer säkularisierten Heilsgeschichte, eines Vernunft- und Fortschrittsattentis-mus verlieh, ging mit einer ausgesprochenen Persistenz genuin vorpolitischer Be-deutungselemente einher. Dies wurde vor allem in der individuellen Bestimmung li-beraler Gesinnung als Habitusbegriff deutlich, der sich gleichermaßen tagespoliti-schen Konflikten, dem Druck zu organisatorischer Verfestigung und parteipolitischen Zwängen entzog. Im Vergleich erscheint diese eigentümliche Spannung zwischen der individuellen Begrenzung einer letztlich soziokulturell bestimmten, aufgeklärt-gebil-det intendierten Gesinnung auf der einen und der holistischen Entgrenzung des uni-versalhistorischen Deutungsmusters auf der anderen Seite als das vorherrschende Merkmal der historischen Semantik von liberal/Liberalismus im deutschen Politik-diskurs im frühen 19. Jahrhundert.

Die weltanschaulich-gesinnungsethische Aufladung ging mit der Projektion einer Staatsbürgergesellschaft einher, die auf evolutionärem Wege die „vernünftige Rechtsidee" zur Geltung bringen sollte. 20 Dies basierte auf dem Vertrauen in den Staat als zentralem Initiator und Garanten konstitutioneller Fortschrittlichkeit. Selbst als aus der Perspektive von Regierungen und Bürokratien nicht mehr die posi tive „Liberalität bei der Regierung", sondern der „umstürzende Liberalismus" als politi-sche Gefahr angesehen wurde, blieb dieser Erwartungshorizont noch lange virulent. 21

Er stand zugleich für ein Gesellschaftsideal, nach dem Interessenkonflikte oder eine spezifische Spannung zwischen Staat und Gesellschaft überhaupt negiert oder aber vermindert werden sollten. Das progressive Selbstverständnis von Liberalismus ent-sprach dabei noch häufig dem traditionellen Idealtypus einer societas civilis sive res publica mit ihrem Versprechen einer weitgehend konfliktfreien Gemeinschaft, die nicht im individuellen Interesse, sondern im anerkannten Gemeinwohl ihren Zielhori-zont hatte. Seit den 1830er und 1840er Jahren wurde diese Konnotation von besitz-bürgerlichen Deutungen entschieden relativiert, indem Zeitgenossen der zivilisatori-schen, moralischen oder naturrechtlichen Bestimmungskategorie von liberal und Li-beralismus eine pragmatische, dem Harmonismus gleichsam einen Naturalismus der Interessen entgegenstellten.

Die in Deutschland nach 1800 und zunächst selbst noch nach 1815 dominierende Orientierung von liberal und Liberalismus am reformbereiten und reformfähigen

20 Paul Achatius Pfizer: Liberal, Liberalismus. In: Carl von Rotteck/Carl Theodor Welcker (Hrsg.): Staats-Lexicon oder Encyclopsdie der Staatswissenschaften, in Verbindung mit vielen der ange-sehensten Publicisten Deutschlands. 15 Bde. Altona 1834-1843, hier Bd. 9, 1840, S. 713-730.

2t Über Völker-Bestimmung. In: Allemannia 7 (1816), S. 51f.; vgl. Leonhard, Liberalismus (wie Anm. 11), S. 283 f.

558 Jörn Leonhard

Staat, an der Vorstellung, Regierung und Bürokratie könnten wie zur Zeit der Preußi-schen Reformen eine Fundamentalkrise zwischen Staat und Gesellschaft nach dem abschreckenden Beispiel Frankreichs verhindern, tritt im Vergleich zu anderen euro-päischen Beispielen besonders hervor. Hinzu kam die gleichzeitige Distanz zur po-litisch-ideologischen Interessenpluralisierung in Form distinkter, parlamentarisch sichtbarer Parteien. In Frankreich dominierte sehr bald nach 1815 der aus der Revo-lution historisch jeweils neu zu begründende Gegensatz zwischen libéralisme und royalisme, während sich in England eine der kontinentaleuropäischen Spannung zwi-schen Staat und Gesellschaft vergleichbare Konstellation schon deshalb nicht ergeben konnte, weil die aus den Spielarten des kontinentalen Absolutismus erwachsene starke und kontinuierliche staatsbürokratische Tendenz fehlte. Dem standen hier die Traditionen des parlamentarischen Widerstandes der Whigs sowie der lokalen Selbst-verwaltung gegenüber. Allenfalls lässt sich von einer vergleichbaren Orientierung des Deutungsmusters an den Vorstellung des reformfähig-fortschrittlichen Staates in Ita-lien sprechen. Hier gewann die Personalisierung der principi liberali vor allem im Hinblick auf die konstitutionelle und na tionale Führungsrolle des Hauses Savoyen und Papst Nus' IX. in den 1840er Jahren eine neue Bedeutungsdimension. Wie hier in Deutschland verknüpfte die in Liberalismus und liberalismo ausgedrückte Hoff-nung auf den Reformstaat die älteren Traditionen des aufgeklärten Reformabsolutis-mus mit den Erfahrungen fortschrittlicher französischer Institutionen und dem mäch-tigen Impuls der inneren und äußeren Staatsbildung im Zeitalter Napoleons.

Eine regelrechte Inflation semantischer Bestimmungen und Abgrenzungen von li-beral/Liberalismus setzte in Deutschland um 1820 ein und steigerte sich bis zum Vorabend der Revolution 1848/49, dynamisiert durch die temporäre Aufbruchsstim-mung von 1830/32. Auch nachdem liberal und Liberalismus aus der Sicht der Re-gierungen angesichts der Serie europäischer Unruhen und politisch motivierter At-tentate um 1819/20 zu gefährlichen Oppositionsattributen geworden waren und die positive Identifizierung staatlicher Beamter mit Liberalität der repressiven Herrschaft des Verdachts gewichen war, blieb das ostentativ antirevolutionäre und staatsnahe Selbstverständnis bis zur Revolution 1848/49 nachweisbar. Es dominierte vor allem dort, wo bereits einzelstaatliche Landtage bestanden, und die evolutionäre Strategie besonderen Erfolg versprach.

Auf der anderen Seite zeichneten sich in der Ausbildung konkurrierender Etiketten die generelle Differenzierung der politischen Lager und vor allem eine tiefgreifende inneroppositionelle Differenzbestimmung ab. Sowohl in der Genese von conservativ, aber weitaus stärker in der Absetzung von radical/Radicalismus wurden die Grenzen der semantischen Integrationskraft von liberal/Liberalismus deutlich. 24 Sobald die Begriffsdiskussion mit konkreten politischen Auseinandersetzungen und Konflikten

n Vgl. [Johann Christoph Freiherr von Aretin]: Was heißt Liberal? Zum Theil mit Benützung ei-nes französischen Aufsatzes in dem Nouvelliste français. In: Neue Allemanma 1 (1816), S. 163-175 und Les idées libérales. In: Le Nouvelliste Français ou Recueil Choisi de Mémoires Nr. 12. Pesth 1815, S. 273-282.

23 Vgl. Theodor Mundt: Moderne Lebenswirren. Leipzig 1834, S. 33, sowie Rudolf Haym: Aus meinem Leben. Berlin 1912, S. 110.

u Vgl. Adolf Rutenberg: Radical, Radicalismus. In: Rotteck/Welcker, StaatsleDci1ton (wie Anm. 20), Bd. 13, 1842, S. 408-420.

Erfahrwegsgesdriehte der Moderne 359

konfrontiert wurde, intensivierte sich die Unterscheidung von wahrem, echtem, ur-sprünglichem und falschem, extremem oder Ultra-Liberalismus. 0 Diese Kategorien spiegelten zumal zu Beginn der 1830er Jahre noch deutlich das Vertrauen wider, der zeitgenössische Begriff Liberalismus verkörpere den einzig legitimen Fortschritt, während die scheinbaren Extrementwicklungen durch Vernunft und Bildung wieder auf diesen Kurs zurückgebracht werden könnten. Das aber ließ die Entwicklung ein-zelner Parteien als lediglich temporären Lernprozess von politischen Gruppen er-scheinen, die sich früher oder später wieder auf den Liberalismus als übergeordneten Integrationsbegriff hin bewegen würden. Eine dezidierte oder gar posi tive Anerken-nung distinkter Strategien und Programme hinter liberal und radical sucht man in den semantischen Bestimmungsmustern der Liberalen in den 1830er und 1840er Jah-ren vergebens. Damit verband sich zugleich eine weitgehend einseitige Konzentration auf einen politisch-konstitutionellen Zielhorizont, der soziale oder wirtschaftliche As-pekte nahezu völlig ausschloss. Diese Aspekte spielten für die identifikatorische Be-stimmung von Liberalismus im deutschen Vormärz eine geringe Rolle. Sie begründe-ten aber gerade umgekehrt die Bestimmungsmuster von Radicalismus: In der ideo-logiekritischen Auseinandersetzung mit Liberalen und Liberalismus dominierte gera-dezu ein Argumentationsmuster auf der Grundlage spannungsreicher gesellschaftli-cher und ökonomischer Interessen.

Die weltanschaulich-gesinnungsethische Aufladung des Begriffsfeldes in Deutsch-land, in der vorpolitische und politische Aspekte amalgamiert wurden, begünstigte die relative Abschottung des politisch-konstitutionellen Deutungsmusters gegenüber neu-artigen semantischen Impulsen, so vor allem im Hinblick auf soziale Konflikte und wirtschaftliche Fragestellungen. Angesichts des hier skizzierten Charakters der deut-schen Begriffsdiskussionen nach 1830 drängt sich die Frage auf inwiefern ein we-sentliches Kennzeichen der deutschen Entwicklung nicht in der Konzentration auf den theoretischen Politikdiskurs lag, um die Blockade einer konkreten politischen Partizipation zu kompensieren. Dies orderte die Politisierung der öffentlichen Mei-nung, entkoppelte sie aber mindestens partiell von den wichtigen Erfahrungen prakti-scher politischer Verantwortung etwa durch konkrete Beteiligung an einer Regierung. Diese relative Erfahrungslücke trug zumal im Kontext bildungsbürgerlicher Identifi-kationsmuster zur Kompensation verhinderter Machtteilhabe auf dem Wege der theo-retischen Diskussion bei. Zugespitzt formuliert verweist die historische Semantik von liberal/Liberalismus auf eine in Deutschland im europäischen Vergleich besonders hervortretende diskursive Politisierung bis zur Jahrhundertmitte.

Ohne einen selbst schon wieder ideologisch konnotierten semantischen „Sonder-weg" Deutschlands für das 19. und 20. Jahrhundert zu postulieren, lässt der Vergleich damit spezifische Kennzeichen der deutschen Entwicklung erkennen. Das Nebenein-ander von geschichtsphilosophischer Universalisierung und zugleich gesinnungsethi-scher Individualisierung von Liberalismus, die Fermentierung vorpolitischer, aufge-klärt-gebildeter Dispositionen und genuin ideologischer Bedeutungsgehalte fand in

v Vgl. Wilhelm Traugott Krug: Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer Zeit. Ein historischer Versuch. L eipzig 1823, sowie Ders.: Der falsche Liberalismus unserer Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus und eine Mahnung für künftige Volksvertreter. Leipzig 1832.

560 Jönr Leo nhard

keinem anderen untersuchten Fall eine auch nur annähernde Entsprechung. Die gleichzeitige Überlagerung ungleichzeitiger Bedeutungsebenen bedingte eine ver-schärfte Desintegration der Semantik von liberal/Liberalismus, die zwar lange Zeit von einem Vernunft- und Fortschrittsattentismus überdeckt werden konnte, sich aber während und nach der Revolution von 1848 immer deutlicher abzeichnete. Das er-klärt, warum sich in Deutschland vor diesem Hintergrund gerade Repräsentanten ei-ner dezidiert unpolitisch apostrophierten Bürgerlichkeit auf den nationalen Gesin-nungsbegriff der Liberalität beziehen konnten. Ihn hob Thomas Mann in seinen Be-trachtungen eines Unpolitischen von 1918 idealtypisch vom ideologischen Deu-tungsmuster Liberalismus ab und suchte damit die Semantik von liberal auf den un-politisch-kulturmorphologischen Gesinnungscharakter eines rückwärts gewandten Ideals zurückzuführen, ein für die na tionale wie politische Identität des deutschen Bildungsbürgertums höchst signifikanter Befund:

„Bin ich liberal, so bin ich es im Sinne der Liberalität und nicht des Liberalismus. Denn ich bin unpolitisch, national, aber unpolitisch gesinnt, wie der Deutsche der bürgerlichen Kultur und wie der der Romantik, die keine andere politische Forderung kannte, als die hoch-natio-nale nach Kaiser und Reich". 26

Die im Vergleich besonders hervortretende weltanschauliche Aufladung von libe-ral/Liberalismus in Deutschland, die in der Flut von Definitionen, Abgrenzungen und Polemiken zuweilen alle Zeichen einer politischen Konfession trug, markierte zugleich eine Affektivität, die immer über den Bereich des rein Politischen hinaus wies. Nur so lassen sich letztlich auch der für die zweite Jahrhunderthälfte so cha-rakteristische soziokulturelle Antagonismus zwischen Liberalismus und Katholizis-mus oder die besondere Spannung zwischen liberal und sozial erfassen. Nur vor die-sem Hintergrund wird auch die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende völkisch und schließlich auch rassistisch konnotierte Fundamentalkritik an Liberalismus als vermeintlich undeutschem Begriff erklärbar. Sie bildete seit den 1870er Jahren eine in dieser Form singuläre semantische Kontinuitätslinie im deutschen Politikdiskurs. Die inhärenten Krisenmomente der deutschen Gesellschaft nach 1870 und das politi-sche, soziale oder kulturelle Unbehagen an einer komplexen Moderne schlugen sich in einer zunehmenden Diffamierung des Begriffes nieder. An diese negativen Be-stimmungsmuster konnte sowohl der Diskurs der konservativen Revolution in der Weimarer Republik als auch die nationalsozialistische Diffamierung von Liberalis-mus anknüpfen.

3. Italien: Die semantische Emanzipation vom französischen Import der idées libérales

Wie für Deutschland hatte auch für die historische Semantik des Begriffsfeldes in Italien zunächst der französische Begriffsexport während der Revolution und der an-schließenden napoleonischen Herrschaft grundlegende Bedeutung. Im Unterschied zu Deutschland enthielten die Erwartungen einer castituzione liberale und bürgerlicher

26 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Frankfurt a. M. 1956, S. 108.

Erfahrungsgeschichte der Moderne 561

Rechtsgleichheit in der Tradi tion der napoleonischen Institutionen eine stärkere na-tionalpolitische Stoßrichtung gegen die habsburgische Fremdherrschaft in Oberita-lien. Für diese nationale Projektion gab es in Ita lien anders als im Deutschen Bund keinen staatlichen Rahmen, an den man nationalpolitisch anknüpfen und den man weiterentwickeln konnte. Hinzu kam die besondere Stellung des Kirchenstaates. Vor diesem Hintergrund entwickelte das Oppositionsattribut liberale in den einzelnen ita-lienischen Staaten spezifische Bedeutungsrichtungen. Im Königreich Neapel überwog zumal nach 1815 eine konstitutionelle Erwartungshaltung; in Piemont wurden die Idee liberali um 1820 zum Identifikationsattribut einer nationalpatriotischen Bewe-gung um den Grafen Santarosa, der sich für einen piemontesisch geführten National-krieg gegen Habsburg einsetzte.' Mit der Niederschlagung der Aufstände zu Beginn der 1820er Jahre trat einerseits der Oppositionscharakter von liberale/liberalismo noch deutlicher hervor. Eine Projektion von konstitutionellen und nationalen Erwar-tungen an der Seite der Regierungen wie sie in Deutschland kennzeichnend war, un-terblieb in Italien dagegen bis in die 1840er Jahre. Nach 1820 formierte sich im Ge-gensatz zu den idee liberali die katholisch-restaurative Publizistik, die in liberali und liberalismo eine gottlose Revolution, soziale Anarchie und in der Reaktion auf den nationalen Horizont der liberali die Infragestellung der weltlichen Herrschaft des Papstes erkannte.

Im Gegensatz zu den anderen europäischen Vergleichsfällen entwickelte der An-tagonismus liberalismo — cattolicismo in Italien eine zugleich weltanschauliche und konkret politische Dimension, weil die römische Kurie in der Zurückweisung der neuen Begriffe nicht allein ihr geistliches Deutungsmonopol für die politische und soziale Ordnung, sondern auch den konkreten Herrschaftsraum des Kirchenstaates verteidigte. Nur vor diesem Hintergrund kann die enorme Schärfe verstanden werden, mit der sich in der katholisch-restaurativen Publizistik nach den Aufstandsbewegun-gen von 1830/31 die Polemik gegen liberali und liberalismo entfaltete. Die ideologi-sche Polarisierung vollzog sich in Italien also zunächst im Wesentlichen ex negativo durch die Stigmatisierung des Begriffsfeldes in der katholischen Presse. Die für Deutschland kompensatorische Wirkung, die sich hier angesichts verhinderter Macht-teilhabe als diskursive Politisierung auf der Grundlage vielfältiger Begriffsinterpre-tationen und -abgrenzungen entwickelte, ist für Italien in dieser Form nicht nachweis-bar. Dieser Befund dürfte wesentlich aus den schwierigen Rahmenbedingungen des Politikdiskurses resultieren, zu denen nicht allein die besonders strengen Zensurbe-dingungen im Kirchenstaat, sondern auch der ausgeprägte territoriale Partikularismus und Lokalismus Italiens gehörten, der für einen überregionalen Politikdiskurs lange Zeit nur wenige geeignete Foren und Medien bot.

Wie in Deutschland setzte mit den frühen 1830er und dann vor allem mit den 1840er Jahren nach der allgemeinen Politisierung des Begriffsfeldes unter dem Ein-

27 Vgl. Santorre Annibale di Santarosa: Delle speranze degli Italiani (1820). Opera edita per la prima volta con perfazione e documenti inediti da Alfredo Colombo. Mailand 1920, sowie Ders.: Della rivoluzione piemontese nel 1821 (1821). Versione eseguita sulla terza edizione francese, riveduta e corredata di annotazioni coll'Aggiunta della biografia del conte di Santarosa e di importanti documenti. Genua 1849.

' Vgl. Paolo Vergani: Le idee liberali, ultimo refugio dei nemici della religione e del trono. Genua 1816; 2. Aufl. Florenz 1817; 3. Aufl. Turin 1821; Neuauflage Neapel 1850.

562 Jörn Leonhard

fluss der französischen Semantik eine eigene ideologische Prägephase von liberali und liberalismo ein. Damit ging zunächst eine Differenzbestimmung der einzelnen Oppositionsbewegungen einher Den traditionellen Revolutionsverdacht suchten die moderat' in der Abwendung vom „vecchio liberalismo rivoluzionario" hin zu einem „liberalismo trasformatore" zu überwinden, der auf eine Kooperation mit den zu principi liberali stilisierten Fürsten des Hauses Savoyen hinauslief. 29 Cesare Balbos programmatisches Bekenntnis zu moderato am Vorabend der Revolution von 1848 unterstrich diese antirevolutionäre Bedeutungsrichtung noch, von der sich auf der Gegenseite die repubblicani in der Tradition von Giuseppe Mazzinis Giovine Italia scharf abgrenzten.30 Im Verlauf der 1840er Jahre kam vor allem der neoguelfischen Projektion des neuen Papstes Pius IX als Verkörperung der principi liberali beson-dere Bedeutung zu, weil man in ihm einen reformorientierten Förderer der national-italienischen Idee zu erkennen glaubte.

Die reaktionäre Wendung Pius' IX, die das von überspannten Erwartungen ge-prägte Missverständnis des Papstes als principe liberale offenkundig machte, ließ den für den italienischen Risorgimento so bestimmenden Antagonismus zwischen der Italia liberale und der Balla cattolica offen hervortreten. 31 Während das positive und programmatische Bekenntnis zu liberalismo bei Cesare Balbo und vor allem Camillo Cavour nach 1849 das Programm des piemontesischen Verfassungsstaates mit parla-mentarischer Regierungsweise und die nationalpolitische Führungsrolle Piemonts herausstellte, verfestigte sich die negative Haltung der römischen Kurie gegenüber li-beralismo und kulminierte schließlich in der demonstrativen Verurteilung aller zeit-genössischen Ismen im Syllabus errorum von 1864. Für den italienischen Politikdis-kurs, in dem im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland insbesondere die enzyklo-pädisch-lexikalische Begriffsbestimmung bis zur Jahrhundertmitte verhältnismäßig schwach ausgeprägt war, blieb die für Deutschland so charakteristische tripolare Kontur des Deutungsmusters liberal zwischen radical und conservativ allenfalls indi-rekt fassbar. Denn die moderati liberali setzten auf die Zusammenarbeit mit den fort-schrittlich gesinnten Fürsten und dem Papst. Eine klare ideologische Trennlinie ver-lief dagegen zwischen moderau und repubblicani. Erst das offenkundige Scheitern des neoguelftsmo und der neue Rahmen des piemontesischen Verfassungsstaates nach der Erfahrung der Revolution von 1848/49 ließen den konkurrierenden Gegenbegriff conservatori deutlicher hervortreten. Die ideologische Polarisierung trat im Vergleich zu Deutschland und Frankreich in Italien deutlich später ein.

29 Sulle cose presenti d'Italia Articoli del Giornale die Débats commentate da un Italien, Paris 1847, S. 32 ff., 37-41.

3° Vgl. Cesare Balbo: Dell'uso delle parole moderazione, opinion moderate e parte moderate (1847). In: Ders.: Pagine scelte precedute da un saggio di Nino Valeri. Mailand 1960, S. 96-103.

31 Vgl. Jöm Leonhard: Italia liberale und Italia cattolica: Historisch-semantische Ursprünge eines ideologischen Antagonismus im frühen italienischen Risorgimento. In: Quellen und Forschun-gen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 80 (2000), S. 495-542.

Erfahrungsgeschichte der Moderne 563

4. England: Die relative Persistenz der vormodernen Sattelzeit im englischen Politikdiskurse

Im Vergleich zur historischen Semantik des Deutungsmusters in Frankreich, Italien und Deutschland ist fir England eine Sonderentwicklung zu konstatieren, die un-trennbar mit der Ausbildung einer eigenen Sattelzeit des englischen Politikdiskurses in der frühen Neuzeit verbunden ist. Die vormodernen Bezeichnungen whig und tory fungierten seit ihrer Entstehung am ade des 17. Jahrhunderts als Kristallisations-punkte filz eigene politische Wertmuster, die eine bis weit ins 19. Jahrhundert hinein-reichende semantische Persistenz entwickelten. 32 Die englische Semantik ergab sich erst aus der vergleichsweise späten Amalgamierung von whig und liberal und der Transformation des tradierten Antagonismus whig/tory in liberal/conservative. Ge-genüber dem historischen Selbstverständnis der whigs, das sich in den Identifikati-onsattributen liberty und constitution kristallisierte, haftete dem kontinentaleuropäi-schen Begriffsfeld um liberal bis in die 1820er Jahre das S tigma vermeintlich uneng-lischer Revolutionen an. Die ideologische Auseinandersetzung mit 1789 und die Ausgrenzung des außerparlamentarischen radicalism seit dem Ende des 18. Jahrhun-derts fihrten zu einer im Vergleich zeitlich verschobenen Integration von liberal in den englischen Politikdiskurs. Die Persistenz der überkommenen Bezeichnungen whig und tory, die durch die eigene semantische Tradi tion von radical/radicalism seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts noch differenziert wurde, schirmte das engli-sche Politikvokabular zunächst bis in die 1820er Jahre gegen semantische Transfer-impulse von außen ab. Erst die Adaption von liberal durch die außerparlamentari-schen Londoner Committees, die sich mit den südeuropäischen Freiheits- und Unab-hängigkeitsbewegungen solidarisierten, ebnete den Weg für die Verwendung von li-beral im Hinblick auf die englische Politik. 33

Dem folgte in den 1820er Jahren dann die richtungweisende Aufnahme von libe-ral durch die reformbereiten whigs im Umkreis der Edinburgh Review.34 Dominierte um 1830 das Begriffsfeld als Synonym für die in der Katholikenemanzipation und der Reform Bill konkretisierte Reformpolitik von whigs und moderate tories, deren progressive Teile man als Liberal party zu bezeichnen begann, wurde das letztlich aristokratische Bestimmungsmuster von whig/liberal durch die Westminster Radicals um John Stuart Mill nach 1830 in Frage gestellt. Hier kam eine middle-class-Per-spektive zum Tragen, die das whiggistisch-aristokratische Muster populärer Politik in Frage stellte, nach dein progressive Reformer innerhalb der Whigs mit dem fort-schrittlichen Etikett liberal die eigene Posi tion als friends of the people in den 1820er und 1830er Jahren neu zu aktualisieren suchten. Mills dezidiert antiaristokratische

32 Vgl. Jom Leonhard: „True English Guelphs and Gibelines! ": Zum historischen Bedeutungs- und Funktionswandel von „whig" und „tory" im englischen Politikdiskurs seit dan 17. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 84 (2002) 1, S. 175-213.

33 Vgl. Jom Leonhard: ,,4n odious but intelligible phrase f... J" — Liberal im politischen Diskurs Deutschlands und Englands bis 183W32. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 8 (19%), S. 11-41.

34 Vgl. Brief Robert Peels an John Wilson Crocker vom 23. März 1820. In: Lewis J. Jennings (Hrsg.): The Correspondance and Diaries of the Laie Right Honourable John Wilson Cracker. New York 1884, Bd. 1, S. 155 f.

564 Jörn Leonhard

Deutung der Liberal party basierte auf einer semantischen Amalgamierung von radi-cal und liberal und antizipierte zugleich den Übergang von der old whig party zur Li-beral party. 35 Dieser komplexe Übergang kann jedoch nicht von der Persistenz des alten whig-Attributs getrennt werden, das bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte im englischen Politikdiskurs vorhanden blieb. In den 1830er und vor allem 1840er Jah-ren zeichneten sich aber deutlich neue Bedeutungselemente ab, die mit dem primär historischen Bedeutungsgehalt von whiggism nicht mehr zu verbinden waren. Dazu zählten im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Bestimmungsmustern nun auch die dezidiert wirtschaftspolitischen Aspekte des free trade.

Erst die Personalisierung der bipolaren Kontur von liberalism und conservatism durch die Premierminister Palmerston sowie vor allem durch Gladstone und Disraeli ließ aus liberal und conservative allgemein verbreitete Parteinamen werden. Aber selbst in der zweiten Jahrhunderthälfte blieb whig noch ein identifikatorischer Be-zugspunkt für das Selbstverständnis von liberal und liberalism: Denn die whig Inter-pretation of history setzte die Verbindung von whiggism und liberalism zu nationalen Identifikationsbegriffen fort, indem sie eine scheinbar ungebrochene Traditionslinie von liber ty und reform seit dem 17. Jahrhundert postulierte. 36 Dahinter verbarg sich eine semantische invention of tradition, denn die historische Semantik von liberal in England setzte im Vergleich nicht nur später ein als auf dem Kontinent, sondern er-reichte auch bei weitem nicht die weltanschauliche Tiefenwirkung_ wie in Deutsch- land oder die frühe ideologische Polarisierung wie in Frankreich. Die 1820er und die 1830er Jahre blieben zudem durch die ideologische Richtungswirkung der Eti-ketten whig, tory und radical für kontinentale Begriffsdiskussionen regelrecht abge-schirmt. Es gehört daher zu den besonderen Kennzeichen der englischen politischen Kultur, dass die vermeintlich jahrhundertealte Tradi tion des englischen liberalism aus historisch-semantischer Perspektive in erster Linie das Ergebnis einer erst ab den 1820er Jahren langsam vollzogenen Symbiose von whig und liberal und der im Ver-gleich phasenverschobenen Integration von liberal in den englischen Politikdiskurs war. Es handelte sich mithin um eine semantisch neue, partiell erfundene und kon-struierte Traditionslinie, die aber eine bis in die jüngste Forschung hineinreichende Wirkung entfaltet und in der Stilisierung von liberalism als nationalem Wertbegriff maßgeblich zum Mythos einer vermeintlich bruchlosen und damit erfolgreichen Mo-dernisierung Großbritanniens beigetragen hat.

33 Vgl. [John Stuart Mill]: Parties and Ministry (1837). In: John M. Robson (Hrsg.): Collected Works of John Stuart Mill, Bd. 6: Essays on England, Ireland, and the Empire. Toronto 1982, S. 383-404, sowie [John Stuart Mill]: The Reorganization of the Reform Party (1839). In: ebd., Bd. 6, S. 467-495.

36 Vgl. [W. G. Greg]: Representative Reform. In: Edinburgh Review 106 (1857), S. 254-286; Wil-liam T. Haines: Liberalism in England. London 1881; [John Bright]: The Work of the Liberal Party during the last fifty Years. A Letter from die Right Hon. John Bright. London 1885; George Otto Trevelyan: The Liberal Party. Speech on May 16th, 1887. London 1888; Ders.: The Work of Liberalism since the Great Reform Act. A summary of political History, 1832-1899. London 1899.

37 Vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition (1983). Camb ridge 1992.

Erfahrungsgeschichte der Moderne 565

Vor diesem Hintergrund heben sich die Kennzeichen der Semantik von liberal und liberalism in England umso stärker ab. Im Gegensatz zu Frankreich fehlte die Frag-mentierung der politischen Bezeichnungen. Dem für Frankreich so signifikant dyna-misierten Verbrauch politischer Etiketten nach jedem neuen revolutionären Bruch seit 1789 stand in England die rela tive semantische Kontinuität historischer Deutungs-muster gegenüber, die auf die Revolutionen des 17. Jahrhunderts zurückgingen und auch im 19. Jahrhundert den Bedeutungshorizont neuer politischer Grundbegriffe be-stimmten. Im Unterschied zu Deutschland fehlte die weltanschaulich-gesinnungsethi-sehe Aufladung des Begriffsfeldes. Adaption und Integration von liberal in den be-stehenden whig-Diskurs und die Einbeziehung auch fortschrittlicher tory-reformers wie Canning oder Peel verhinderte hier die ideologische Polarisierung durch politi-sche Bewegungsbegriffe bis in die 1830er und 1840er Jahre. Die eigene Tradi tion parlamentarischer Interessenrepräsentation ließ in England die charakteristischen In-teressenantagonismen des Kontinents, die sich im Kampf der Ismen niederschlugen, nicht entstehen. Dazu gehörte auch die fehlende Relevanz des Staates als positivem oder negativem Orientierungspunkt von liberal/liberalism. Hinzu kam die dominie-rende Bipolarität der Begriffsstruktur, sei es im Antagonismus whig/tory oder libe-ral/conservative. Ein der deutschen Semantik von radical/Radicalismus vergleichba-rer, potentiell systemtranszendierender Bedeutungsgehalt lässt sich für radical/radi-calism in England hingegen nicht konstatieren: Eine massenwirksame revolutionäre oder republikanische Konnotation fehlte hier. Stattdessen überwog selbst bei den ra-dicals eher eine entschiedene, aber letztlich systemimmanente und auf das Parlament hin orientierte Reformstrategie.

III. Zusammenfassung und Ausblick: Von der Semantik europäischer „Liberalismen " zur Temporalisierung von Erfahrungsdeutungen

Als zeitgenössisches Deutungsmuster bildete Liberalismus in ganz unterschiedlichen europäischen Zusammenhängen im frühen 19. Jahrhundert jene Strukturwandlungen, Umbrüche und Krisenerfahrungen ab, welche die Doppelrevolution seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, die politischen Umbrüche von 1776 und 1789 und die Umwälzung der traditionellen Sozialstruktur, prägte. Der neue Begriff machte diese Konfliktpotentiale in vielerlei Hinsicht zum ersten Mal kommunizierbar, aber er lie-ferte keine ideengeschichtlich sanktionierte und verbindliche, gleichsam „europäi-sche" Interpretation der Ereignisse von 1789. Vielmehr stellte er zunächst eine offene Reflexionsfläche dar, auf der sich Zeiterfahrungen und Zukunftserwartungen in ihren Ambivalenzen, Überlagerungen und Ungleichzeitigkeiten abbilden konnten. Das er-klärt die Unterschiede der europäischen Liberalismen, sei es in den historischen Be-griffen oder in den konkreten Handlungsbedingungen. Erst angesichts vielfaltiger Modernisierungserfahrungen ließ sich retrospektiv eine ideengeschichtliche Kontinu-ität des historischen Phänomens Liberalismus im Sinne einer Leitidee Europas for-mulieren. Das vermittelte dem Begriff stets viel mehr Klarheit und Verbindlichkeit, als ihm in seiner Inkubationszeit zukam. Aber der Pluralismus der zeitgenössischen Liberalismen im frühen 19. Jahrhundert lässt sich mit einem solchen Universalbegriff nicht auf den Punkt bringen. In den Liberalismen bildete sich gerade die Vielfalt Eu-ropas und seiner zahlreichen und ungleichzeitigen Übergänge von der altständischen

566 Jörn Leonhard

Lebenswelt zur Moderne ab. Das wird an den hier skizzierten Grundlinien des histo-risch-semantischen Vergleichs und an den Rückschlüssen auf die je besonderen Sat-telzeiten des Deutungsmusters Liberalismus in unterschiedlichen europäischen Kon-texten erkennbar. Das mit Blick auf die deutsche Entwicklung konzipierte Modell ei-ner Sattelzeit des politisch-sozialen Vokabulars erweitert sich auf diese Weise zu ei-ner Pluralisierung europäischer Sattelzeiten als Paradigma der Vielfalt vergangener Erfahrungsdeutungen.

Während libéral und l ibéral isme die semantischen Entwicklungsstufen der Politi-sierung und polarisierenden Ideologisierung in Frankreich mit der Julirevolution 1830 bereits durchlaufen hatten, setzte vor allem die ideologische Prägung und gesell-schaftliche Diffusion der Begriffe in Deutschland und abgeschwächter auch in Ita lien erst seit 1830 ein. Für England ist im Gegensatz zu den semantischen Umbruchspha-sen, die sich in den kontinentaleuropäischen Vergleichsländern zwischen 1789 und etwa 1820 und vor allem um 1830 und 1848/49 ausbildeten, von einer besonderen Prägephase auszugehen, die über die traditionellen Parteibezeichnungen whig und tory bis in das 17. Jahrhundert zurückreichte. Das semantische Ancien Régime des englischen Politikdiskurses lief erst mit den 1830er Jahren aus. In der whig interpre-tation of history erfuhr es gleichsam Aufhebung und Historisierung zugleich. Dabei stellt die geradezu nationale Stilisierung des ehemals unenglischen kontinentaleuro-päischen Bewegungsbegriffes liberalism seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine se-mantische invention of tradition dar.

Damit aber zeigt sich am Beispiel europäischer Bestimmungen des Deutungs-musters liberal/Liberalismus, dass die Komplexität von Erfahrungsdeutungen in Übergangsgesellschaften die retrospektive Kausalität starrer Chronologisierungen bei weitem übersteigt. Die Verknüpfung von diachroner semantischer Analyse und sys-tematischem Vergleich als Paradigma einer komparativen Erfahrungsgeschichte er-schließt demgegenüber nicht allein die Wege des Impo rts und Exports von Deutungs-mustern im europäischen Kontext, sondern auch die unterschiedlichen historischen Temporalisierungen von Erfahrungen. Diese relativen Ungleichzeitigkeiten werden im Pluralismus je besonderer Sattelzeiten erkennbar. Zumal die Persistenz vormoder-ner Elemente und damit die longue durée von Deutungen in den europäischen Libe-ralismen des 19. Jahrhunderts verweisen auf einen komplexen Prozess langfristiger Überlappungen tradierter und neuer Interpretamente. Diese Prozesse entziehen sich statischen Epochenabgrenzungen, sie machen vielmehr die Analyse der longue durée im Rahmen einer Diachronie synchroner Vergleiche zu einem Desiderat. Ein solches Programm immunisiert auch gegen die vorschnelle geschichtspolitische Konstruktion generalisierender Europaismen. Der retrospektiven Teleologie, Linearität und Sug-gestivität der vom Ergebnis her operierenden Narrative setzt eine vergleichende Er-fahrungsgeschichte Europas die nicht selten sperrige Vielfalt und Uneindeutigkeit, die Ambivalenz und die Ungleichzeitigkeit entgegen. »

3= Vgl. Jöm Leonhard: Erfahrung im 20. Jahrhundert. Methodische Perspektiven einer „Neuen Po-litikgeschichte". ln: Norbert Frei (Hrsg.): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Ge-schichte des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2006, S. 156-163, sowie Jöm Leonhard: Europäisches Deutungswissen in komparativer Absicht. Zugänge, Methoden und Potentiale. In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 4 (2006) 3, S. 341-363.