Erhabenheit und Frühromantik. Zu Carl Grosses BuchÜber das Erhabene von 1788

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CARSTEN ZELLE ERHABENHEIT UND FRI]HROMANTIK. ZU CARL GROSSES BUCH (JBER DAS ERHABENE VON 1788 ,,Le sublime est/t la mode." Mit diesem erhabenen Lakonis- mus beseheinigte Mitte der achtziger Jahre der franzfsische Philosoph Jean-Luc Nancy t den deutschsprachigen Geisteswis- senschaftlern ihre ausdauernde Schlafmfitzigkeit. Denn mit Ausnahme der einschlagigen Abhandlung von Karl ViCtor, ~ deren Materialreichtum auch heute noch nicht annahernd zur Kenntnis genommen geschweige denn ausgewertet wurde, ist diese andere Kategorie der modernen Xsthetik kaum Gegen- stand ihres Interesses geworden. Zwar hatte ViCtor Mitte der zwanziger Jahre, nachdem er auf dem Erlanger Philologentag 1925 fiber Die Idee des Erhabenen in der Literatur des 18. Jahr- hunderts 3 vorgetragen hatte, vor, daraus ein Buch zu machen, wie er gegenfiber Kluckhohn aul3erte, doch hielt ihn das gerade fibernommene Ordinariat in Giegen vonder Ausfiihrung dieser Plane ab. ~ Der Vortrag ist dann unter dem Titel De Sublimitate 1937, im Jahre seiner Emigration, in den Harvard Studies er- 1L'offrande sublime (zuerst 1984). In Du sublime. Paris 1988, S. 37 IT. 2 Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur (zuerst 1925 als Vortrag; gedr. 1937). In ders.: Geist und Form. Bern 1952, S. 234 IT. u. 346 ft. 3 In Verhandlungen der 55. Versammlun# deutseher Philolo#en und Schulmiinner. Leipzig, Berlin 1926, S. 63-64. 4 Paul Kluckhohn an Karl ViCtor, 11. Juni 1926: ,,Ihr Aufsatz tiber das Erhabene wird uns in der Deutsehen Vierteljahrssehrift aueh sp~iter willkommen sein. Wird ein Buch daraus, so bitte ich Sie die Ver6ffent- lichungsm6glichkeit in unserer Buchreihe ins Auge zufassen." (Unver- Offentlieht, Deutsehes Literaturarehiv Marbaeh.) Neohelicon XVII/2 Akaddmiai Kiad6, Budapest John Benjamins B. V., Amsterdam

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CARSTEN ZELLE

E R H A B E N H E I T U N D F R I ] H R O M A N T I K . ZU CARL

GROSSES BUCH (JBER D A S E R H A B E N E VON 1788

,,Le sublime est/ t la mode." Mit diesem erhabenen Lakonis- mus beseheinigte Mitte der achtziger Jahre der franzfsische Philosoph Jean-Luc Nancy t den deutschsprachigen Geisteswis- senschaftlern ihre ausdauernde Schlafmfitzigkeit. Denn mit Ausnahme der einschlagigen Abhandlung von Karl ViCtor, ~ deren Materialreichtum auch heute noch nicht annahernd zur Kenntnis genommen geschweige denn ausgewertet wurde, ist diese andere Kategorie der modernen Xsthetik kaum Gegen- stand ihres Interesses geworden. Zwar hatte ViCtor Mitte der zwanziger Jahre, nachdem er auf dem Erlanger Philologentag 1925 fiber Die Idee des Erhabenen in der Literatur des 18. Jahr- hunderts 3 vorgetragen hatte, vor, daraus ein Buch zu machen, wie er gegenfiber Kluckhohn aul3erte, doch hielt ihn das gerade fibernommene Ordinariat in Giegen vonde r Ausfiihrung dieser Plane ab. ~ Der Vortrag ist dann unter dem Titel De Sublimitate 1937, im Jahre seiner Emigration, in den Harvard Studies er-

1L'offrande sublime (zuerst 1984). In Du sublime. Paris 1988, S. 37 IT. 2 Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur (zuerst 1925 als

Vortrag; gedr. 1937). In ders.: Geist und Form. Bern 1952, S. 234 IT. u. 346 ft.

3 In Verhandlungen der 55. Versammlun# deutseher Philolo#en und Schulmiinner. Leipzig, Berlin 1926, S. 63-64.

4 Paul Kluckhohn an Karl ViCtor, 11. Juni 1926: ,,Ihr Aufsatz tiber das Erhabene wird uns in der Deutsehen Vierteljahrssehrift aueh sp~iter willkommen sein. Wird ein Buch daraus, so bitte ich Sie die Ver6ffent- lichungsm6glichkeit in unserer Buchreihe ins Auge zufassen." (Unver- Offentlieht, Deutsehes Literaturarehiv Marbaeh.)

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schienen. An eine Giel3ener Schfilerin schreibt er dariiber jedoch abwinkend: ,,Sic wollen von mir wissen, wo mein Aufsatz fiber das Erhabene steht: [ . . . ] Ich habe davon nichts erz~ihlt, well das ein schwergelehrtes Zeug ist, das ich meinen Schiilern nicht zumuten wollte, und ein Abriss noch dazu, der reich ~irgert. Der Aufsatz sollte 2 x so lang sein. ''5

Ironischerweise hatte die deutsche Germanist ik das Erhabene sogar totgesagt, als jenseits des Atlantiks das Sublime schon l~ingst eine neue, aktuelle Vitalit/it in den Uberlegungen der amerikanischen Avantgardemaler gewonnen hatte. 6 Doch auch nachdem die Kunsthistoriker wieder fiber Erhabenheit debattierten, 7 war hierzulande Ende der siebziger Jahre zu lesen, dab der Begriff des Erhabenen ,,in :ter gegenw~rtigen philo- sophischen und literaturwissenschaftlichen Forschung keine Rolle spielt". 8 Ein gerade erschienenes Literaturlexikon glaubt, ohne das Lemma ,Erhabenheit ' auskommen zu k6nnen. 9 Doch diese ,,Entaktualisierung des Erhabenen ''1~ ist vorbei. In der ~sthet ik des Postmodernismus feiert das Erhabene eine fiber- raschende Wiederkehr. Keine Universit/it zwischen Berlin und Frankfur t am Main, die kein Seminar zum Erhabenen anbieten wtirde. Dem Herausgeber des Merkurs war die , ,Renaissance" dieses Begriffs soeben ein Doppelheft wert und piinktlich zur

Karl ViCtor an Erika Jansen, 8. Dez. 1937. In ders.: Briefe an seine Gieflener Schiiler. Hg. v. Walter Hof. GieBen 1980 (masch.), S. 11.

6 What Is Sublime in Art? In The Tiger's Eye. Vol. I (1948), No. 6, S. 46-57 (mit Statements yon Kurt Seligmann, Robert Motherwell, A. D. B. Sylvester, Barnett B. Newman, Nicolas Calas u. John Stephan).

7 Robert Rosenblum, The Abstract Sublime. In Art News 59 (1961), No. 10; Lawrence Alloway, The American Sublime. In Living Arts 2 (1963), S. 11-22; Bernhard Kerber, Der Ausdruck des Sublimen in der amerikanischen Kunst. In Art International 13 (1969), No. 10, SS. 31-36.

8 Renate Hofmann, Erhabenes und Satirisches. Miinehen 1977, S. 7. 9 Harenbergs Lexikon der Weltliteratur. 5 Bde. Dortmund 1989. 10 A. Mtiller, G. Tonelli, R. Homann, Erhaben, das Erhabene. In

HWPh 2 (1972), Sp. 624 ft.

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Buchmesse war auch das Buch zum Thema der Saison heraus. 11 Freilich ist der historische Kanon der Texte, den insbesondere Jean-Francois Lyotard in seinen zahlreichen Publikationen zur neuen Modekategorie in den letzten Jahren interpretiert hat, vergleichsweise klein und beschr/inkt sich auf Pseudo-Longinos' Trakta t Vom Erhabenen (wohl 20 bis 50 n. Chr.), Boileau- Despr6aux, der mit der Lrbertragung TraitJ du Sublime, ou du Merveilleux clans le Discours, traduit du Grecq de Lonyin (1674) nicht unwesentlich zur Karriere des Erhabenen in der ~sthet ik des 18. Jahrhunderts beigetragen hat, Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin o f our Ideas o f the Sublime and the Beautiful (1757) und Immanuel Kants ,Analytik des Erhabenen' in der Kritik der Urteilskraft (1790).

Gelegentlieh dieser Wiederauferstehung einer totgesagten Ka- tegorie und zumal zum Bicentenaire von Kants dritter Kritik, mag es aus/isthetikgeschichtlicher Perspektive ntitzlich sein, an das verschiittete Buch Ueber das Erhabene 12 von 1788 zu erin- nern - die Erstlingsschrift Carl Grosses, der sich als Verfasser des Genius 13 und einiger anderer Romane der Schauerliteratur bald danach schnell einen Namen gemacht hat, nicht zuletzt im Mutter land der ,gothic novel' selbst. 14

11 Merkur 43 (1989), H. 9/10 (= 487/488); Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Weinheim 1989 (darin eine gute Bibliographie vieler Quellentexte zum Erhabenen sowie der einsehl/igigen Sekund/irliteratur, insbesondere aueh der Publikationen yon Jean-Frangois Lyotard zum Thema).

12 Ueber das Erhabene. (Vignette) G6ttingen und Leipzig, bey Johann Daniel Gotthelf Brose, 1788. Einen Neudruek dieses Werks hat Verf. mit einem Nachwort, heraus gegeben: St. Ingbert: W..I. R0hrig Verlag 1990.

13 Der Genius. Aus den Papieren des Marquis C* von G**. Von Grosse. 4Tle. Halle: Hendel 1791-95 (Ndr. mit einem Nachwort hg. v. G/inter Dammann. Frankfurt/M. 1982). Vgl. Marianne Thalmann: Die Romantik des Trivialen. Von Grosses ,Genius" bis Tiecks , William Lovel'. Mtinchen 1970, bes. S. 46 ft.

14 Eine Gesamtbibliographie von Grosses Werken sowie ihrer Re- zensionen bietet Hans-Joachim Althof: Carl Friedrich August Grosse (1768-1847). Bochum: Phil. Diss. 1975, S. 200 ft.

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Als mann dreier Identit~iten gehSrt Carl Friedrieh August Grosse (* 5. Juni 1768, + 15. M~irz 1847) 15 zum Typus des Abenteurers im 18. Jahrhundert. Der Sohn eines Magdeburger Stadtphysikus immatrikuliert sich 1786 zum Medizinstudium in G6ttingen, einer der ersten Universit/iten des Alten Reichs, und reiissiert hier schnell im Kreis der Aufkl/irer um Michaelis, Meiners, Schl6zer, Lichtenberg, Heyne, Feder und Blumen- bach. Schon friiher wird er in Halle mit dem Naturforscher und Weltumsegler Johann Reinhold Forster bekannt geworden sein. Insbesondere im Hause des Orientalisten Michaelis ist er wohlgelitten: Grosse wird enger Freund des Sohnes Philipp, er widmet der Tochter Charlotte artig eines seiner friihreifen Biicher und verliebt sich in die jiingste Tochter Louise, 16 mit der er auch bald verlobt ist. Nach wenigen Semestern schon wird dem Studenten die Herausgabe des Magazins ffir die Naturgeschichte des Menschen (1788-1791) anvertraut, deren B~inde von der Kritik ausnahmslos freundlich aufgenommen werden. Der Zwanzigj/ihrige scheint am Beginn einer gl~inzen- den Gelehrtenkarriere zu stehen - die in Salzburg erscheinende Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung sieht in ihm gar einen zweiten Herder. Doch was h/itte diese Laufbahn eingebracht? Vielleicht auch einen Hofratstitel, wie ihn Grosses Vater und einige der G6ttinger Lehrer 1788 verliehen bekommen? Im Oktober des gleichen Jahres wechselt Carl Grosse von G6ttin- gen nach Halle; in den Gothaischen gelehrten Zeitungen l~iBt

~5 Zur Biographic Grosses neben den Eintr/igen in der Neuen Deut- schen Biographic (,Grosse') und dem Dansk Bioyrafisk Leksikon (,Var- gas-Bedemar') bes. Else Kornerup: Graf Edouard Romeo Vargas/Carl Grosse. Kopenhagen 1954; dies.: Edouard Vargas Bedemar. En Even- tyrers Saga. Kopenhagen 1959; Althof (Anm. 14), S. 20 ft., 80 iT.; Dam- mann (Anm. 13), S. 725 ft.

1~ Vgl. Louise Wiedemann (geb. Miehaelis): Erinnerungen. Hg. v. Julius Steinberger. G6ttingen 1929.

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er streuen, er reise in die Schweizer Alpen und nach Italien. Von dort kehrt er im Friihjahr 1790 als Marquis bzw. Marchese von Grosse nach G6ttingen zuriick, denn, so seine Begriindung, er babe sich an den Ufern der Brenta mit einer reichen Frau verheiratet, die zwar gleich darauf verstorben sei, ihn jedoch mit dem Titel eines Marquis' und Grafen yon Vargas beerbt ha- be. Nachforschungen und auch die Kontrolle von Grosses Kor- respondenz iiberf'tihren ihn der Hochstapelei. Die Verlobung platzt und der ,,Avanturier" - so erinnert sich die Braut in hohem Alter - ved/iBt seinen ersten Wirkungsort Riehtung Bremen. Dann verliert sich die Spur in Spanien.

Ober Marseille und Korsika gelangt er 1792 wieder nach Italien, wo er sich als Eduard Romeo Graf yon' Vargas - aktenkunding dutch Taufschein, Adelsdiplom und Stammbaum

- zuerst in Siena niederl/iBt, in angesehenen Salons verkehrt und u. a. 1798 eine, Accademia Italiana' griJndet. 1800 wech- selt er naeh Neapel, wird k6niglicher Offizier, Dozent an der dortigen Artillerieschule und Leiter eines mineralogischen Kabinetts. Von Italien setzt Grosse seine weitl/iufige literari- sche Produktion fort, nicht ohne aueh in der anderen Identi- t~it des Grafen von Vargas gelegentlich - freilich sorgf~iltiger geschrieben und vornehmer gesetzt - Novellen, Erz/ihlungen und kleine Aufs/itze zu ver6ffentlichen. 1797 erscheint der letzte Roman unter Grosses Namen, weswegen ihn Goedeke (Bd. V, S. 492) auch bald nach der Jahrhundertwende in Spanien sterben l/il3t. Graf Vargas freilich bleibt auf dem deutschen (bis 1800) und italienischen Buchmarkt pr/isent.

Eine Anklage wegen politischer Konspiration zwingt Grosse 1808 Italien zu verlassen, Schon friiher gekniipfte Beziehungen fiihren ihn nach D/inemark, wo er sich im Juli 1809 als Graf von Vargas etabliert - nun mit dem zus/itzliehen Titel eines Barons Bedemar. In D/inemark, wo er in den besten H~iusern, etwa bei den Reventlows, verkehrt, macht Grosse zum drit- tenmal und nun richtig Karriere. Er avanciert 1813 zum Kam- merherrn, betreut das k6nigliche Mineralienkabinett, macht ira Laufe der Jahre mehrere ausgedehnte Studienreisen, yon denen

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er in geologischen und geognostischen Biichern und Aufs/itzen beriehtet, ist seit 1829 Direktoriumsmitglied des naturwissen- schaftlichen Museums in Kopenhagen, schlieBlich naeh 1842 dessen Leiter, erh/ilt Sitz in der d/inischen Gesellschaft der Wis- senschaften und wird Ehrenmitglied der mineralogischen Ge- sellsehaft zu Jena, deren Ehrenpr/isident Goethe ist. 1816 war ihm ein Sohn, Edmond Alfons, geboren worden. Ober Grosses erfolgreiehes drittes Leben informiert tibrigens vorziiglich das D~inisehe Biographische Lexikon unter der Eintragung, Vargas- Bedemar'.

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Carl Grosse lebte den Roman, ,,den er besser h/itte schreiben sollen. ''17 Diese Bemerkung fiihrt iiberraschend aus dem letzten Lebensabschnitt in Kopenhagen zuriick zu den intellektuellen Anf~ingen in G6ttingen, denn im angemal3ten Titel des Barons Bedemar, den ein geffilschtes Malteserpatent aus dem Jahr 1795 bezeugt, versteckt sich eine feinmaschige Verkntipfung yon Biographie und Literatur. Von diesem Namen, der ihn zu einem weitlfiufigen Abkommen jenes Alphonse de la Cueva, Marquis de Bedmar (1572-1655) machte, der als Gesandter Spaniens in Venedig konspirierte, um die Lagunenstadt in spanische H~inde fallen zu lassen, hat Grosse erst seit der fJbersiedlung nach D/inemark Gebrauch gemacht. Sein Sohn tr~igt den Vornamen des grogen Ahnen. Die historischen Ereignisse sind sp~ter zum literarisehen Stoff des ,geretteten Venedigs' geronnen, der etwa in Otways Drama und auch im 18. Jahrhundert oftmals gestal- tet wurde, so dab der Name des Verschw6rers dem Vielleser Grosse gelfiufig gewesen sein wird, insbesondere wohl auch aus dem Encyclop6die-Artikel ,H~il31ichkeit' (1765), in dem Diderot Grosses ,Verwandten' zur Verdeutlichung des Sachverhalts an- fiihrt, dab/isthetische und ethische Betrachtungsweise einander

17 Althof (Anm. 14), S. 97.

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durchaus entgegenstehen: ,,Eine Sache ist unter zwei verschiede- nen Aspekten sch6n oder hh/31ich. Betrachten wir die Ver- schw6rung von Venedig im Hinblick auf ihren Anfang, ihre Entwicklung und ihre Werkzeuge, so rufen wir aus: Was fiir ein Mann ist doch der Graf von Bedmar I Wie grol3 ist ert Be- trachten wit aber dieselbe Verschw6rung unter moralischen Gesichtspunkten - im Hinblick auf die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit, dann sagen wir: Wie schrecklich ist sie, und wie abscheulich der Graf von Bedmar! ''is Auf den Zusammenhang von Gewalt, Erhabenheit und ~sthetik im allgemeinen und auf den Grafen Bedrnar im besonderen ist Diderot im Zuge seiner Burke-Rezeption im Salon von 1767 nochmals zurfickgekom- men. Die Vorliebe fiir den erhabenen B6sewicht, die Diderot mit Schiller verbindet, 19 sollte auch Carl Grosse in seiner ~istheti- schen Erstlingsschrift teilen. Dazu pal3t sehr sch6n, dal3 sich Louise Michaelis von ihrem vormaligen Verlobten der Ein- druck eingepr~igt hat, dab der mensch ,,etwas geheimnisvolles, u. imponirendes wie furchterregendes" gehabt haben soil. s~

Die Besch~iftigung mit dem Sublimen macht einen nicht un- bedeutenden Tell der fri2hen schriftstellerischen Produktion Grosses aus. Neben dem noch anonym gedruckten Erstling, von dem 1801 - nun unter Nennung des Autors Carl Grosse - eine zweite Auflage erschien, 21 ver6ffentlichte er 1790 einen Aufsatz Ueber Grb'fle undErhabenheit, 22 der den von den Rezen-

is Denis Diderot, ,)[sthetische Schriften. Bd. I. Hg. v. Friedrich Bas- senge. Berlin, Weimar 1967, S. 494.

19 Vgl. Jutta Linder, ~sthetik des Biisen. In Museum Patavinum 3 (1985), H. 2., S. 327 ft.

~o Zit. nach Althof (Anm. 14), S. 80. ~1 Ueber das Erhabene, von Carl Grosse. (Vignette) Zweyte Auflage.

G6ttingen, bey Johann Daniel Gotthelf Brose 1801. Tats~ichlich han- delt es sich um eine Titelausgabe des Drueks von 1788 mit ge~indertem Titelblatt (abet gleicher Vignette) sowie fortgelassener Widmung und Vorrede.

m In Deutsche Monatsschrift Jg. 1790, 2. Bd. [Mai bis August], S. 275-302 [gez. mit ,,Grol3e"].

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senten z~ vermiBten ,,philosophischen Zusammenhang ''24 nach- zutragen versucht. Im gleichen Jahre erschien Grosses ~ber- setzung von James Beatties Dissertations (1783), desses hier interessierende Illustrations on Sublimity ~5 von Grosse bereits 1785 vorab unter dem Titel Erliiuterungen fiber das Erhabene 26 iibersetzt wurden und die den Heranwachsenden schon vor der G6ttinger Zeit an das Thema herangefiihrt haben werden. Auch wird man zu Grosses Sehriften aus dem Unkreis des Erhabenen seinen Reisebericht Die Sehweiz z~ihlen mfissen, der 1791 unter dem Namen Carl Marchese yon Grosse erschien und der nebst seinem Portrait sowie einigen Kupfern mit einer Reihe yon Beschreibungen grausender Erhabenheit und geheimer Sehreeken angesiehts der Triimmer der Alpen aufwartue kann. 27

Aus den Briefen an Wackenroder, in denen aueh sonst viel von Shakespeare und Longin, ven Schauerlichem, Abenteuerli- ehem und Romantischem, kurz: yon Empfindsamkeit und Er- habenheit die Rede ist, erfahren wir, welche hysterisehe Ner- venkrise die Lektfire des zweiten Teils des Genius bei Ludwig Tieck ausgel6st hat. ~ Es ist zurecht auf den gemeinsamen Zug, ja auf die die ideengeschiehtliehe Verwandtschaft yon Erhabe-

33 In G6ttin#ische Anzei#en yon gelehrten Sachen, 29. Aug. 1789, St. 138, S, 1377-1380 (Verf. ist. Johann Gottlieb Gerhard Buhle); All- gemeine Literatur-Zeitun#, Jg. 1790, 1. Bd. [Januar bis M/irz], Sp. 381- 383; Al&emeine deutsche Bib[iothek, 95. Bd., 2. St., S. 439-440 (Verf. ist Georg Shatz).

~ Ueber Grb'fie und Erhabenheit (Anm. 22), S. 275. 2~ James Beattie, Bemerkun#en fiber das Erhabene. In ders. : Moralische

und kritische Abhandlun#en. Aus dem Engl., mit Zus~itzen [von Carl Grosse]. 3 Tle. G6ttingen: Brose 1789-90, hier Bd. II (1790), S. 209 ft.

e~ In Neue Bibliothek der seh6nen Wissensehaften und der freyen Kiinste 30 (1785), S. 5 ft. u. 195 ft.

27 Carl Marehese yon Grosse, Die Schweiz. 2 Bde. Halle: Hendel 1791, bes. Bd. I, TI. 1, S. 86 ft.

~8 Wilhelm Heinrieh Waekenroder, Werke und Briefe. Heidelberg 1967, Tieck an Wackenroder, 12, Juni 1792, S. 314 ft.

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nem und Romantischem hingewiesen worden. 29 Auch hinsicht- lich des Schauerlichen als eines /isthetischen Reizes ist der Bezug zum Erhabenen bald erkannt worden, mag sich auch die von Miiller-Dyes im folgenden Zitat behauptete Affinit/it von Erhabenheit und Religiosit~it nur fiir den deutsch-schweizeri- schen Sonderweg bei Bodmer und Klopstock halten lassen: ,,Sobald der religifse Klang im Begriff des Erhabenen schwin- det und dieser zum blol3en wirkungspoetischen terminus wird, gelangt er an einen Punkt, wo er einmal schon den 1Jbergang zur Romantik markiert, die in ihm den Ausdruck fiir die grund- satzliche Ambivalenz der Gefiihlsinhalte sieht. ''3~ Sowohl bei Grol3e als aueh bei seinem ergriffenen Leser Tieck ist diese Verbindung bezeichnenderweise in der Bildungsgeschichte der beiden jungen Manner greifbar. Bevor Grosse Autor schauer- romantischer Romane wurde, hat er deren Atmosph~ire und Protagonisten in der Auseinandersetzung mit dem Erhabenen gewonnen. Nicht zuletzt die Rezeptionshaltung des angenehmen Grauens findet ihren Ort in der Theorie des Erhabenen. W&ih- rend Tieck in seinen Briefen an den Berliner Freund von Shake- speare, Schauern und Grosses Scharteke schw~irmt und n~icht- lings dutch die romantische Gegend urn den Giebichenstein stromert, versichert er sich zugleich in einem gelehrten Versuch der Tradition des Erhabenen, sl der freilich erst 1935 aus dem Nachlag ver6ffentlicht wurde.

So steht am Ende des 18. Jahrhunderts das Erhabene quer zu den uns vertrauten Epocheneintilungen - in der Spanne eines

2~ Raymond Immerwahr, Romantisch. Genese und Tradition einer Denk- form. Frankfurt/M. 1972, bes. S. 37 ft. Vgl. Robert Ignatius Le Tellier, Kindred Spirits. Interrelations and Affinities between the Romantic Novels o f England and Germany (1790-1820). With Special Reference to the Work o f Carl Grosse (1768-1847}. Forgotten Gothic Novelist and Theorist o f the Sublime. Salzburg 1982.

so Klaus Mtiller-Dyes, Der Schauerroman und Ludwi# Tieck. G6t- tingen: Phil. Diss. 1965 [maseh.], bes. S. 82-93, hier S. 88.

81 Edwin H. Zeydel, Tiecks's Essay ,iiber das Erhabene'. In PMLA 50 (1935), S. 537-549.

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halben Jahrzehnts fesselt diese Kategorie das Interesse des Schauerromanciers Grosse, des Aufkl/irungsphilosophen Kant, des Frfihromantikers Tieck und sehlieBlieh unseres Klassikers Schiller.

III

Bekanntlich ist in Kants Kritik der Urteilskraft die rfihrende Intensiffit des Erhabenheitserlebnisses der reizenden Kontempla- tion von Schfnheit entgegegestellt. W/ihrend das Wohlgefallen am Sch6nen zeigt, dab der Mensch in die Welt paBt, vermittelt die negative Lust des Erhabenen ein GeistesgefiihI, dab wir fiber sie hinaus sind. Kant entdeckt in unserer Rede vonder ,erhabenen Natur' eine Verwechslung: Erhabenheit n~imlich ist kein Prfidikat unermel31icher oder gewaltiger Dinge, diese sind vielmehr ungestalt oder gr~il31ich, sondern Erhabenheit ist ein Pr~dikat der Vernunft, welches unser Gemfit angesichts jener Erscheinungen ,,sich ffihlbar machen kann" (KdU, S 28, B 105). Mit diesem Mechanismus indirekter Darstellung der Idee, die Schiller in den/isthetischen Schriften der neunziger Jahre aufgrei- fen und die Kant selbst nochmals ffir die Deutung des Schau- spiels der FranzSsischen Revolution als eines Geschichtszeichens fruchtbar machen wird, gelingt es ihm, die zwei wesentlichen Traditionsstr~inge der Diskussion fiber das Erhabene seit der produktiven Rezeption der Pseudo-Longinschen Schrift durch Boileau-Despr6aux (1674) zu verkniipfen, und zwar die ,fran- zSsische', um Heroismus und magnanimitas angeordnete Linie des Sittlich-Erhabenen und die ,englische', auf delightful horror abhebende Linie des Natur-Erhabenen.

Diese Syntheseleistung gelingt dem gerade Zwanzigj~hrigen freilich noch nicht. Gleichwohl ist die Tradition der Kategorie des Erhabenen einige Jahre vor der klassischen H6he ihrer Begriffsentfaltung bei Kant und Schiller dank Grosses er- staunlicher Belesenheit pr/isent: ,,Er scheint viel gelesen, aber noch bei weitem nicht alles verdaut zu haben", schreibt der Rezensent yon Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek. Mit

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Longin - , , d e r grol3e Lehrer des Erhabenen ''32 - ist Grosse ebenso vertraut, wie mit den englischen Kritikern, z3 die in Uber- setzungen vorlagen, nnd den deutschen Asthetikern. z~ Freilich holt er sich dariiberhinaus die ,erhabene' Natur aueh durch eifrige Lektiire einer Anzahl von Reisebeschreibungen ins Hans. B~rangers Briefen i~ber die Provence (dtsch. 1787) entnimmt er die erhabenen Schrecken der Vaucluse, Brydones Reise dutch Sicilien und Malta (dtsch. 1777) das ffirchterliche Bild vom H611enschlund des Atnas und Georg Forsters Beschreibung der v~iterlichen Reise um die Welt (dtsch. 1778-80) manehe Anek- dote fiber die erhabenen Sitten der Sfidsee.

Insbesondere die in der empfindsamen Fassung seit Mendels- sohn angelegte Subjektivierung des Erhabenen treibt Grosse in seinen Ausfiihrungen voran. Bei allem Eklektizismus - die langatmige Verbreitung fiber National-, Temperaments- und Geschlechterunterschiede bei der Empf~inglichkeit ffirs Sch6ne und Erhabene z5 sehreibt Kants Frfihschrift aus - glanbe ich in Grosses bis in den .~sthetizismus forcierten Subjektivismus den eigentfimlichen Beitrag seines Buches zur ~isthetischen De- batte am Ende des 18. Jahrhunderts sehen zu k6nnen. Daneben weisen Grosses fragmentarische Hinweise zur ,,Erziehung zum Erhabenen", denen er das abschliel3ende vierte Kapitel 3n wid-

a~ Grosse, Ueber das Erhabene (Anm. 12), S. 181, vgl. den Ehrentitel fiJr Longin als ,,Eiche der Kritik", S. 36.

as Zit. werden u. a. Addisons Essays on the Pleasures of the Imagina- tion (1712), Burkes Enquiry (1757), Beatties Illustrations (1783) und Blairs Lectures (1783).

8a Zit. werden u. a. Kants Beobaehtungen iiber das Gefiihl des Sch~inen und Erhabenen (1764), Mendelssohns Sammlung seiner Philosophischen Schriften (1771), Sulzers Stichworte zum ,Erhabenen' und ,GroBen' in der All#emeinen Theorie (1771) sowie insbesondere Schlossers im An- hang seiner Longin-Obersetzung abgedruckter Versuch ~ber das Erha- bene (1781).

88 Vgl. Grosse, Ueber das Erhabene (Anm. 12), S. 134 ff. 86 Kap. I ,Begriff, Natur und Wfirkung des Erhabenen' (ebd., S. 6 ft.)

Kap. II ,Das Erhabene in der Natur' (ebd., S. 91 ft.); Kap. III ,Von dem Erhabenen in den Sitten' (ebd., S. 157 ft.); Kap. IV ,Einige Fragmente vonder Erziehung zum Erhabenen' (ebd., S. 213 ft.).

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met, auf Schillers Gedanken yon der ~isthetischen Erziehung zu Anmut und Wiirde voraus.

Hellsichtig betont Grosse gegentiber der sp~itestens mit Her- ders Kant-Kritik der Kalligone (1800) einsetzenden Wiederan- nfiherung der beiden Inhalte der Nsthetik, die unumggngliche Trennung und Unvertrgglichkeit des Erhabenen mit dem Sch6nen. Die schon von Pseudo-Longinos herausgestellte, be- sondere Intensit/it des Erhabenheitserlebnisses, bei dem das Herz mit einem Schlage hingerissen und erschiittert wird, steht quer zur Rezeptionsform des Schfnen. Aufgrund de rnur ex negativo in Erscheinung tretenden Qualitat des Erhabenen - sehr eindrucksvoll illustriert Grosse die mit dem Erhabenen einhergehende Privation (Leere, Finsternis, Einsamkeit, Stille), die schon Burke herausgestellt hatte, mit dem Satz: ,,Nie spricht die Phantasie lauter, als wenn alles um sie her schweigt".z7 -~ihnelt der Erhabenheitsforscher dem Traumdeuter. Wie dieser aus der manifesten Traumerinnerung auf die verdr~ing- ten und sublimierten Triebregungen ~uriickschliel3en mug, so jener yon den ungestalten und unermel31ichen Naturerscheinun- gen auf das durch diese angeregte Gefiihl bzw. Bewugtsein - Grosse schwankt bei der Bezeichnung des selbstreferentiellen Verm6gens - f'tir die in uns liegende ,,Seelenenergie". 88

Das Schauspiel, das dieses Bewul3tsein ausl6st, kann sich Grosse gar nicht chaotisch und desastr6s genug vorstellen. Seitenlang werden dem Leser Orgien der Gewalt geboten: ,,Wenn die Elemente wtiten, und in ztigellosen Grimm sich zerkr/impfen; wenn ein Erdbeben die Lander zerreigt, Stadte vernichtet, und die Menschen in ihr urspriingliches Nichts zu- riickziehet; wenn Berge Steine ergiegen und blitzenden Ranch und fltissiges Feuer in gr~inzenlosen Str6men, halbe St~idte in Rauchwolken zergehen und die Flammen den Dampf r6then, Orkane das Meer zu Schaum zerwiilalen, dann dehnt sich die

~7Ebd., S. 111. as Ebd., S. 17 (,,BewuBtseyn"), S. 48 (,,Gefiihl"),

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ERHABENHEIT U N D F R O H R O M A N T I K 39

Seele aus [...].,,so Der Kraft, die in den zerst6rerischen Werken der Natur oder in den erhabenen Taten der Menschen zum Ausdruck kommt, korrelliert im Betrachter ein Mal3stab, der nur in ihm selbst liegt: Die ,,Empfindung des Erhabenen h/ingt keinem Gegenstande [ . . . ] an, [ . . . sondern . . . ] das Erhabene wfirkt [ . . . ] durch eine ganze igene Operation; dutch die Ver- anlassung einer besonderen Handlung der Seele, durch die Erweiterung". ~~ Das Bewuf3tsein dieser Seelenerhebung ist mit Wohlgefallen, einem ,,inhere[n] seelige[n] Entzficken ''41 ver- bunden, und zwar gem/il] des Gesetzes, dab die blol3e Tatigkeit unserer Erkenntnisverm6gen ganz unabhangig von dem diese Bewegung ausl6senden Gegenstand der Erkenntnis angenehm ist. Hier rekurriert Grosse auf das ,je sens, donc je suis' der Empfindsamkeit, das fiber Mendelssohn und Dubos auf den sp~iten Descartes zurtickgeht.

Diese auf das Selbstgeffihl unserer eigenen Energie zuriickge- bogene Definition des Erhabenen, in der sozusagen die von Mendelssohn herausgearbeitete Struktur der vermischten Em- pfindung desentimentalisiert wird, erkl/irt die Bejahung des ne- gativen Grundes des Erhabenheitserlebnisses: Naturgewalten mit ihrer alles zernichtenden Kraft und Menschen mit ihren b6sesten Taten sind sichere Mittel, die negative Lust des Er- habenen auszul6sen - einer Geffihlsreaktion, in der fibrigens die ganze sp~itere suspense-Dramaturgie in nuce enthalten ist. Somit ist in Grosses Bestimmung des Erhabenen nicht nur die schaurigsch6ne Naturkulisse seiner sp/iteren Romane, sondern auch die Gestalt der auf diesem Hintergrund agierenden Pro- tagonisten vorgezeichnet: der erhabene B6sewicht. ,,Ist Mil- tons Satan nicht grol3? ''4~ fragt Grosse mit Blick auf dessen Kfihnheit, Macht und Unerschrockenheit und zerreil3t mit sei-

S~Ebd., S. 105 f. 4~ S. 25, vgl. S. 19 u. 23. 41 Ebd., S. 46, vgl. S. 61. 42Ebd., S. 172.

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ner Schw~irmerei fiir ,,gl/inzende Laster ''.3 beil/iufig das Band zwischen Ethik und )~sthetik. Damit einher geht eine Abwer- tung der ethischen Qualit~it des Mitleids. Diese in der Aufkla- rung so favorisierte Empfindung entlarvt Grosse als eine Lei- denschaft der Eigenliebe. Aufgewertet werden dagegen Hobbes und Lukrez. Hinsichtlich der Frage nach dem Grund des Ver- gniigens an tragischen Gegenst/inden heigt es schlicht: ,,Lukrez sagt, dab es siig sey, dem auf dem Meere herumirrenden See- fahrer [ . . . ] zuzusehen, well es ein Vergntigen ware. Uebel vor Augen zu haben, von denen man frey ist. Lukrez hat Recht". ~4 In diesem Znsammenhang stoBen wir auf den Dekadenz- bzw. Xsthetizismus-Topos der neronischen Wonne. ~5 Nero soll bekanntlich Rom angeziindet haben, um sich an dem Bran- de zu erg6tzen. Grosse, der die einschlfigigen Passagen aus Mendelssohn und Beattie kannte, dem wir darfiberhinaus die exotisch-kolonialistische Variante der ,brennenden Zucker- plantage '46 verdanken, kommt mehrmals auf jene ,,brennende Stadt ''47 zurfick, an der sich eine lodernde Einbildungskraft labt, ,,die sich nicht am guten sondern am sch6nen erg6tzt". 48 Wie so oft in der Aufkliirung, ftihrt die Auseinandersetzung mit dem angenehmen Schrecken des Erhabenen auch Grosse an die Grenze zum Nsthetizismus. Denn glauben wir nicht Nietzsches Stimme yon jenseits yon gut und b6se zu h6ren und schauen wir nicht in Leiris' Spiegel der Tauromaehie, wenn Grosse gelegentlich einiger Ausffihrungen zum Zusammenhang yon Maeht und Erhabenheit, die ihren Anlal3 in Burkes Ab- sehnitt zu ,power' finden diiften, fiber Tiergefechte im allge- meinen und Stierkfimpfe im besonderen schreibt: ,,Daher lauft

4~ Ebd., S. 174, vgl. S. 182: der ,,B6sewicht" flN]t ,,Achtung" ein. 44 Ebd., S. 58. 4nVgl. Carsten Zelle, /fsthetischer Neronismus. In DV.is 63 (1989),

S. 397 ft. 46 Grosse, Ueber das Erhabene (Anna. 12), S. 79. ~TEbd., S. 66 u. 80. 48 Ebd., S. 67.

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man so gem zu solchen Schauspielen trotz dem weinerlichen Zurufe sehlaffer Moralisten bin; man folgt so gem dem Zuge des Herzens nach Scenen, wo ungeheure Kr~ifte sich zeigen; man diirstet nicht nach dem rauchenden Blute edeler Thiere, aber man dfirstet nach den ausdrucksvollen Mienen, nach ihren Anffillen und ihrem kraftvollen sch6nen Tode. ''49 In der ~sthetik finder die Aufkliirung stets schon ihr Ende.

~9 Ebd., S. 83.