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  • V. 042

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    60 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen in der amerikanischen Zeitschrift Colliers Weekly (930/3) sind diese Erzhlungen Remarques fr den deutschen Leser eine Novitt. Sie entstanden nach Remarques Roman Im Westen nichts Neues und stellen die gleiche Frage wie dieser: Was ist aus den Menschen, die den Krieg erlebt haben, geworden? Das Stigma des Krieges zeigt sich in diesen Geschichten erst in den Jahren danach, als unterirdisches Beben, das in den Menschen stille, oft auch dramatische Vernderungen auslst. Josef Thiedemann. im Krieg verschttet und uerlich praktisch unverletzt, verfllt in eine jahrelange katatone Starre, bis seine Frau ihn an den Ort des Kriegsgeschehens zurckfhrt und das Trauma als Erinnerung zurckkehrt und ihn heilt. Die Menschen von der Verdrngung zu befreien, das Grauen des Kriegs in ein neues Bewut sein des Nie nieder zu verwandeln, ist der heimliche Appell dieser Texte. Er macht ihre unverwechselbare Eindringlichkeit aus.

    Remarque kann erzhlen. Mehr als das. er kann Szenen komponieren. Dialoge abrunden. Episoden so formen, da sie eine Pointe haben und dem Ton des Ganzen ebenso entsprechen wie dem Stil des Details. Zudem hat Remarque selbst eine so unwiderlegbare psychologische Sffisanz, zudem wei Remarque so haarstrubend genau Bescheid darber. wie man sich fhlt, wenn die Abgrnde rings herum ghnen.

    Joachim Kaiser

    Was fr ein Glck fr das deutsche Volk, da es in seinen schlimmsten Zeiten, da eine Welt in ihm den Weltfeind sah, solche literarische Reprsentanten hatte, wenn auch im Exil, wie diesen Weltfreund Erich Maria Remarque.

    Hermann Kesten

    Eine Menschenstimme, die sich bemht, gefat ber Unmenschliches zu sprechen.

    Gnter Blcker

    Erich Maria Remarque, 898 in Osnabrck geboren, 96 Soldat. 929 erschien sein Buch Im Westen nichts Neues, das ein ungeheurer Erfolg wurde. 933 wurden seine Bcher entlich verbrannt. Lebte seit 929 berwiegend im Ausland. nach dem Krieg in der Schweiz, wo er 970 starb.

  • Erich Maria Remarque

    Der Feind

    Erzhlungen

    Herausgegeben und mit einem Nachwort von

    Thomas SchneiderAus dem Englischen von

    Barbara von Bechtolsheim

    Kiepenheuer & Witsch

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  • 993 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, KlnAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotogra-e, Mikrolm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfltigt

    oder verbreitet werden Umschlag: Manfred Schulz, Kln Satz: Fotosatz Froitzheim, Bonn

    Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-462-02268-7

  • Inhalt

    Der Feind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

    Schweigen um Verdun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

    Karl Broeger in Fleury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

    Josefs Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

    Die Geschichte von Annettes Liebe . . . . . . . . . . . . . 4

    Das seltsame Schicksal des Johann Bartok . . . . . . . . . 5

    Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

    Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

  • 6Der Feind

    Als ich meinen Schulkameraden Leutnant Ludwig Breyer frag-

    te, welches Kriegserlebnis ihm am lebhaftesten in Erinnerung

    wre, erwartete ich, von Verdun, von der Somme oder von

    Flandern zu hren; denn er war in den schlimmsten Monaten

    an allen drei Fronten gewesen. Aber statt dessen erzhlte er

    mir Folgendes:

    Nicht der lebhafteste, aber der bleibendste meiner Eindrcke

    ng damit an, da wir in einem kleinen franzsischen Dorf

    weit hinter den Linien in Ruhe lagen. Wir hatten in einem

    scheulichen Abschnitt gelegen, wo das Artilleriefeuer extrem

    heftig gewesen war, und waren weiter als sonst zurckge-

    nommen worden, weil wir starke Verluste erlitten hatten und

    wieder Krfte sammeln muten.

    Es war eine herrliche Augustwoche, ein wunderbarer, bibli-

    scher Sommer, und das stieg uns zu Kopf wie der schwere gol-

    dene Wein, den wir einmal in einem Keller in der Champagne

    gefunden hatten. Wir waren entlaust worden; einige von uns

    waren sogar an saubere Wsche gekommen, die anderen koch-

    ten ihre Hemden grndlich ber kleinen Feuern aus; berall

    herrschte eine Atmosphre von Sauberkeit deren Zauber

    nur ein schmutzverkrusteter Soldat kennt , freundlich wie

    ein Samstagabend in jenen weitentfernten Friedenstagen,

    da wir als Kinder in der groen Wanne badeten und Mutter

  • 7die frische Wsche aus dem Schrank holte, die nach Strke,

    Sonntag und Kuchen roch.

    Du weit ja, da es kein Mrchen ist, wenn ich sage, da das

    Gefhl dieses zur Neige gehenden Augustnachmittags mir

    s und stark in die Glieder fuhr. Als Soldat hat man ein ganz

    anderes Verhltnis zur Natur als die meisten Menschen. All

    die tausend Verbote, die Hemmungen und Zwnge fallen vor

    dem harten, dem schrecklichen Dasein am Rande des Todes

    ab; und in den Minuten und Stunden der Unterbrechung, in

    den Tagen der Ruhe, steigert sich manchmal der Gedanke an

    das Leben, die bloe Tatsache, noch dazusein, durchgekom-men zu sein, zu schierer Freude, sehen zu knnen, zu atmen

    und sich frei zu bewegen.

    Ein Feld in der Abendsonne, die blauen Schatten eines

    Waldes, das Rauschen einer Pappel, das klare Strmen ie-

    enden Wassers waren eine unbeschreibliche Freude; aber

    tief drinnen, wie eine Peitsche, wie ein Stachel, lag der scharfe

    Schmerz des Wissens, da dies alles in ein paar Stunden, in

    ein paar Tagen vorbei sein, wieder gegen die verdorrten Land-

    schaften des Todes eingetauscht werden mute. Und dieses

    Gefhl, das so merkwrdig zusammengesetzt war aus Glck,

    Schmerz, Melancholie, Trauer, Sehnsucht und Honungs-

    losigkeit, war die bliche Erfahrung eines Soldaten in Ruhe.

    Nach dem Abendessen ging ich mit einigen Kameraden ein

    kleines Stck aus dem Dorf. Wir redeten nicht viel; zum ersten

    Mal seit Wochen waren wir vllig zufrieden und wrmten

    uns in den schrgen Sonnenstrahlen, die uns voll ins Gesicht

    schienen. So kamen wir schlielich zu einem kleinen, tristen

    Fabrikgebude mitten in einem weiten eingezunten Grund-

    stck, um das Wachposten aufgestellt waren. Der Hof war

  • 8voller Gefangener, die auf den Transport nach Deutschland

    warteten. Die Wachposten lieen uns ohne Umstnde ein, und

    wir konnten uns umsehen. Einige hundert Franzosen waren

    da untergebracht. Sie saen oder lagen herum, rauchten, re-

    deten und dsten. Das nete mir die Augen. Bis dahin hatte

    ich nur kurze, chtige Eindrcke vereinzelt, schemenhaft

    von den Mnnern gehabt, die die feindlichen Grben hiel-

    ten. Ein Helm vielleicht, der einen Augenblick ber den Rand

    der Brustwehr ragte; ein Arm, der etwas warf und wieder

    verschwand; ein Stck graublauen Stos, eine Gestalt, die in

    die Luft sprang fast abstrakte Dinge, die hinter Gewehrfeuer

    lauerten, hinter Handgranaten und Stacheldraht.

    Hier sah ich zum ersten Mal Gefangene, und zwar viele,

    sitzend, liegend, rauchend Franzosen ohne Waen. Ein

    pltzlicher Schock traf mich; gleich darauf mute ich ber

    mich selbst lachen. Mich hatte schockiert, da sie Menschen

    waren wie wir selbst. Aber die Tatsache war wei Gott,

    merkwrdig genug , da ich einfach noch nie darber

    nachgedacht hatte. Franzosen? Das waren Feinde, die gettet

    werden muten, weil sie Deutschland zerstren wollten. Aber

    an jenem Augustabend wurde mir jenes unheilvolle Geheim-

    nis klar, die Magie der Waen. Waen verwandeln die Men-

    schen. Und diese harmlosen Kameraden, diese Fabrikarbeiter,

    Hilfsarbeiter, Geschftsleute, Schuljungen, die da so still und

    resigniert herumsaen, wrden, wenn sie nur Waen htten,

    augenblicklich wieder zu Feinden werden.

    Ursprnglich waren sie keine Feinde; erst als sie Waen be-

    kamen. Das machte mich nachdenklich, obwohl ich ja wute,

    da meine Logik vielleicht nicht ganz richtig war. Aber mir

  • 9dmmerte, da es die Waen waren, die uns den Krieg auf-

    zwangen. Es gab so viele Waen in der Welt, da sie am Ende

    die Oberhand ber die Menschen gewannen und sie in Feinde

    verwandelten ; Und viel spter dann, in Flandern, beobach-

    tete ich wieder dasselbe: Whrend die Materialschlacht wtete,

    waren die Menschen praktisch zu nichts mehr nutze. Die

    Waen schleuderten sich selbst in irrer Wut gegeneinander.

    Als Mensch mute man das Gefhl haben, da auch dann,

    wenn alles zwischen den Waen tot wre, die Waen von

    selbst weitermachen wrden bis zur totalen Vernichtung der

    Welt. Aber hier in dem Fabrikhof sah ich nur Menschen wie

    wir. Und zum ersten Mal begri ich, da ich gegen Menschen

    kmpfte; Menschen, die wie wir von starken Worten und Waf-fen verhext waren; Menschen, die Frauen und Kinder, Eltern

    und Beruf hatten und die vielleicht wenn mir die Eingebung

    durch sie gekommen war doch jetzt auch wach werden und

    sich genauso umschauen und fragen muten: Brder, was

    tun wir denn da? Was soll das?

    Ein paar Wochen danach waren wir wieder in einem ruhige-

    ren Abschnitt. Die franzsische Linie rckte unserer ziemlich

    nahe, aber die Stellungen waren gut befestigt, und auerdem

    war, wrde ich sagen, fast nichts los. Pnktlich um sieben

    jeden Morgen tauschte die Artillerie ein paar Schsse zum

    Gru aus; mittags gab es dann noch einen kleinen Salut und

    gegen Abend den blichen Segen. Wir nahmen Sonnenbder

    vor unseren Unterstnden und wagten es sogar, nachts zum

    Schlafen die Stiefel auszuziehen.

    Eines Tages tauchte pltzlich auf der anderen Seite des

    Niemandslandes ber der Brustwehr ein Schild auf mit der

    Aufschrift: Attention! Man kann sich vorstellen, wie erstaunt

  • 10

    wir es anstarrten. Dann kamen wir am Ende zu dem Schlu,

    sie wollten uns nur warnen, da es ein besonderes Artillerie-

    feuer geben wrde, ber das bliche Programm hinaus; also

    hielten wir uns in Bereitschaft, beim Gerusch des ersten

    Schusses in unsere Unterstnde zu verschwinden.

    Aber alles blieb still. Das Schild verschwand. Dann ging ein

    paar Sekunden spter ein Spaten hoch, und auf der Schaufel

    konnten wir eine groe Zigarettenschachtel erkennen. Einer

    unserer Kameraden, der etwas Ahnung von der Sprache hatte,

    malte mit Schuhwichse das Wort Compris hinten auf eine Kartentasche. Wir hielten die Kartentasche hoch. Da schwenk-

    ten sie auf der anderen Seite die Zigarettenschachtel hin und

    her. Und wir schwenkten daraufhin unsere Kartentasche.

    Dann ging ein weies Stck Sto hoch. In aller Eile nahmen

    wir dem Obergefreiten Bhler, der sich gerade entlauste, das

    Hemd von den Knien und winkten damit.

    Nach einer Weile erhob sich der weie Sto auf der anderen

    Seite, und ein Helm erschien. Wir schwenkten unser Hemd

    heftiger, bis die Luse herausgeregnet sein muten. Ein Arm

    wurde hochgestreckt, der ein Paket hielt. Und dann kletterte

    ein Mann langsam durch den Stacheldraht heraus; auf Hnden

    und Knien kroch er auf uns zu, und dabei winkte er von Zeit zu

    Zeit mit einem Taschentuch und lachte aufgeregt. Etwa in der

    Mitte des Niemandslandes hielt er inne und setzte sein Paket

    ab. Er zeigte mehrmals darauf, lachte, nickte und kroch zurck.

    Das versetzte uns in ungewhnliche Aufregung. Verbunden

    mit dem fast jungenhaften Gefhl, etwas Verbotenes zu tun,

    dem Gefhl, jemandem ein Schnippchen zu schlagen, und

    einfach der nackten Begierde, an die guten Sachen heranzu-

  • 11

    kommen, die da vor uns lagen, war ein Hauch von Freiheit, von

    Unabhngigkeit, von Triumph ber den ganzen Mechanismus

    des Todes. Dasselbe Gefhl hatte ich, als ich mitten unter den

    Gefangenen stand, als sei etwas Menschliches siegreich in die

    bloe Vorstellung vom Feind eingebrochen, und ich wollte

    meinen Teil zu dem Triumph beitragen.

    Hastig suchten wir ein paar Geschenke zusammen, wirklich

    armselige Dinge, denn wir hatten viel weniger zu verschenken

    als die Kameraden da drben. Dann gaben wir wieder unsere

    Signale mit dem Hemd und bekamen direkt Antwort. Langsam

    hievte ich mich hoch; Kopf und Schultern standen im Freien.

    Das war eine verdammt schreckliche Minute, kann ich dir

    sagen, da so ungeschtzt zu stehen, im Freien ber der Brust-

    wehr. Dann kroch ich geradewegs vor; und jetzt nderten sich

    meine Gedanken vollkommen, als wren sie pltzlich in den

    Rckwrtsgang geschaltet worden. Die merkwrdige Situation

    nahm mich gefangen; ich sprte, wie eine starke, berschu-

    mende Freude in mir aufstieg; glcklich und lachend lief ich

    ink auf allen vieren. Und ich erlebte einen wunderbaren

    Augenblick des Friedens eines einzelnen, privaten Friedens,

    eines Friedens auf der ganzen Welt mir zuliebe.

    Ich stellte meine Sachen ab, hob die anderen auf und kroch

    zurck. Und in diesem Augenblick brach der Friede zusammen.

    Ich sprte wieder, wie Hunderte von Gewehrlufen auf meinen

    Rcken gerichtet waren. Mich packte furchtbare Angst, und der

    Schwei lief mir in Strmen herunter. Aber ich erreichte den

    Graben unverletzt und legte mich auer Atem hin.

    Am nchsten Tag hatte ich mich schon ziemlich an die Sache

    gewhnt; und allmhlich vereinfachten wir es, so da wir nicht

  • 12

    mehr nacheinander hinausgingen, sondern beide gleichzeitig

    aus unseren Grben kletterten. Wie zwei von der Leine gelas-

    sene Hunde krochen wir aufeinander zu und tauschten unsere

    Geschenke aus. Als wir uns das erste Mal ins Gesicht sahen,

    lchelten wir uns nur verlegen an. Der andere Kamerad war ein

    junger Kerl wie ich, vielleicht zwanzig Jahre alt. Man konnte

    seinem Gesicht ansehen, wie gut er diesen Spa fand. Bon-jour, camerade, sagte er; aber ich war so verblt, da ich Bonjour, bonjour sagte, es zwei-, dreimal wiederholte und nickte und mich hastig umdrehte. Wir hatten einen bestimm-

    ten Zeitpunkt fr das Treen, und das frhere Zeichengeben

    wurde fallengelassen, weil beide Seiten den ungeschriebenen

    Friedensvertrag einhielten. Und eine Stunde spter feuerten

    wir dann wieder wie vorher aufeinander los. Einmal reichte

    mir der andere Kamerad mit leichtem Zgern die Hand hin,

    und wir schttelten uns die Hnde. Das war schon komisch.

    Damals hatten sich auch an anderen Frontabschnitten hn-

    liche Vorflle ereignet. Das Oberkommando hatte davon

    Wind bekommen, und es war bereits Befehl ergangen, da

    dergleichen absolut verboten sei; in einigen Fllen hatte es

    sogar die tgliche Runde der Feindseligkeiten durchkreuzt.

    Aber uns strte das nicht. Eines Tages tauchte ein Major an

    der Front auf und hielt uns persnlich einen Vortrag. Er war

    sehr eifrig und energisch und sagte uns, da er vorhabe, bis

    zum Abend an der Front zu bleiben. Unglcklicherweise

    bezog er seinen Posten nah an unserem Ausstiegspunkt und

    verlangte nach einem Gewehr. Er war ein sehr junger Major,

    gierig nach Taten.

    Wir wuten nicht, was wir tun sollten. Es gab keine Mg-

    lichkeit, den Kameraden da drben ein Zeichen zu geben;

  • 13

    und auerdem glaubten wir, wir knnten auf der Stelle dafr

    erschossen werden, da wir Geschfte mit dem Feind machten.

    Der Minutenzeiger meiner Uhr rckte langsam vor. Nichts

    passierte, und es sah fast so aus, als wrde alles glimpich

    ausgehen. Zweifellos wute der Major nur von der allgemei-

    nen Verbrderung, die sich entlang der Front abgespielt hatte,

    aber nichts Bestimmtes darber, was wir hier unternommen

    hatten; es war einfach das reine Pech, das ihn gerade jetzt

    hierhergefhrt und ihm diese Aufgabe gegeben hatte.

    Ich berlegte, ob ich zu ihm sagen sollte: In fnf Minuten

    wird jemand von da drben kommen. Wir drfen nicht schie-

    en; er vertraut uns. Aber das wagte ich nicht; und was htte

    das berhaupt genutzt? Wenn ich es tat, wrde er vielleicht

    erst recht dableiben und warten, whrend es so noch immer

    eine Chance gab, da er ging. Auerdem sterte mir Bh-

    ler zu, da er hinter eine Brustwehr gekrochen sei und mit

    seinem Gewehr Fahrkarte gewinkt habe (wie man einen

    Fehlschu auf einem Schiestand signalisiert), und sie htten

    zurckgewinkt. Sie hatten verstanden, da sie nicht kommen

    durften. Zum Glck war es ein trber Tag; es regnete ein

    bichen, und die Dunkelheit brach herein. Es war schon eine

    Viertelstunde nach der fr unser Treen festgesetzten Zeit.

    Allmhlich konnten wir wieder atmen. Dann wurde mein Blick

    pltzlich festgehalten; die Zunge lag mir wie ein Klumpen im

    Mund; ich wollte aufschreien und konnte es nicht; starr vor

    Entsetzen schaute ich ber das Niemandsland und sah, wie

    sich langsam ein Arm zeigte, dann ein Krper. Bhler raste um

    die Brustwehr und versuchte verzweifelt, ein Warnzeichen zu

    geben. Aber es war zu spt. Der Major hatte schon gefeuert.

    Mit einem dnnen Schrei sank der Krper wieder zurck.

  • Einen Augenblick herrschte unheimliche Stille. Dann hr-

    ten wir ein Gebrll, und ein vernichtendes Feuer setzte ein.

    Schieen! Sie kommen! schrie der Major. Dann erneten

    auch wir das Feuer. Wir luden und feuerten wie die Verrckten,

    luden und feuerten, blo um diesen schrecklichen Augenblick

    hinter uns zu bringen. Die ganze Front war in Bewegung, auch

    die Geschtze setzten ein, und so ging es die ganze Nacht

    weiter. Am Morgen hatten wir zwlf Mann verloren, unter

    ihnen den Major und Bhler.

    Von da an wurden die Feindseligkeiten ordnungsgem

    fortgesetzt; Zigaretten gingen nicht mehr hin und her; und

    die Verlustzahlen nahmen zu. Viele Dinge sind mir seither

    passiert. Ich sah viele Mnner sterben; ich selbst habe mehr

    als einen gettet; ich wurde hart und fhllos. Die Jahre gingen

    vorber. Aber die ganze lange Zeit habe ich nicht gewagt, an

    diesen dnnen Schrei im Regen zu denken.

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    Schweigen um Verdun

    Niemand kann genau sagen, wann es beginnt: aber pltz-

    lich verndern sich die glatten, sanft gerundeten Linien am

    Horizont; das Rot und Braun, die leuchtenden, glhenden

    Farben der Bltter des Waldes nehmen unversehens eine ei-

    genartige Tnung an, die Felder verblassen und verwelken zu

    Ockertnen; etwas Merkwrdiges, Stilles, Bleiches ist in der

    Landschaft, und man kann es nicht recht erklren.

    Es sind dieselbe Bergkette, dieselben Wlder, dieselben

    Felder und Wiesen wie zuvor, es ist noch immer dieselbe

    Landschaft wie vor einer Stunde; da geht die Strae, wei und

    endlos weit, hindurch, und das goldene Licht des Sptherbstes

    ergiet sich noch immer ber die Erde wie ser Wein und

    doch ist, unsichtbar, unhrbar, etwas aus der Ferne hereinge-

    kommen; gewaltig, feierlich und mchtig steht es pltzlich da

    und berschattet alles. Es sind nicht jene Kreuze am Straen-

    rand, die alle Augenblicke auftauchen, dnn und dunkel. Schief

    und sehr mde ragen sie da aus dem Rasen, verwstet vom

    vielen Wind, erschpft von ziehenden Wolken, die Kreuze des

    Krieges von 870. Schlanke junge Bume, die man damals da-

    zwischen gepanzt hat, sind lngst zu Bumen mit mchtigen

    sten voll zwitschernder Vgel herangewachsen. Diese alten

    Schtzengrben sind nicht mehr erschreckend, sie erinnern

    kaum noch an den Tod wie eine Parklandschaft sind sie

    schon, malerisch und lieblich, gute Erde und gutes Land. Es

    ist nicht der Charakter dieser schnen, schrecklichen Gegend,

  • 16

    die immer Schlachtfeld gewesen ist und wo der Krieg jahrhun-

    dertelang seinen Abfall abgeladen hat, wie die verschiedenen

    Schichten im Felsen, Ablagerung ber Ablagerung, Schicht auf

    Schicht, Krieg auf Krieg, sogar noch heute genau erkennbar,

    von den Kmpfen der franzsischen Knige bis zu den Grben

    von Mars la Tour und den Massengrbern von Douaumont.

    Es ist auch nicht die geheimnisvolle, zwiespltige Stimmung

    dieses Bodens, wo die weichen blauen Linien am Horizont

    nicht einfach Hgel und Waldland sind, sondern versteckte

    Forts; die glatten Gipfel vor ihnen nicht blo Hgelketten,

    sondern starke, befestigte Hhen; wo idyllische Tler auch

    als Schtzengrben dienen, als Tler des Todes, Sammelplt-

    ze, Aufmarschgelnde; und wo die kleinen Hgel betonierte

    Geschtzstellungen sind, Maschinengewehrnester, durchl-

    chert von Munitionslagern und Stollen; denn alles ist hier in

    Strategie verwandelt worden. In Strategie und Grber.

    Es ist das Schweigen. Das entsetzliche Schweigen um Ver-

    dun. Das Schweigen nach der Schlacht. Ein Schweigen ohne-

    gleichen auf der ganzen Welt; denn bisher hat in allen Kmpfen

    am Ende die Natur die Oberhand gewonnen; das Leben wuchs

    wieder aus der Vernichtung, Stdte wurden wieder aufgebaut,

    Wlder gediehen wieder, und innerhalb weniger Monate wog-

    te wieder junges Getreide auf den Feldern. Aber in diesem

    letzten, schrecklichsten der Kriege hat zum ersten Mal die

    Vernichtung den Sieg errungen. Hier standen Drfer, die nie

    wieder aufgebaut wurden; Drfer, von denen jetzt kein Stein

    mehr auf dem anderen steht. Der Boden darunter ist noch so

    voll von tdlicher Bedrohung, lebendiger Explosivkraft, voll

    von Granaten, Minen und Giftgas, da jeder Hackenschlag, je-

    der Spatenstich gefhrlich ist. Bume waren da, die nie wieder

  • 17

    ausgeschlagen haben, weil nicht nur ihre Wipfel und Stmme,

    sondern auch ihre tiefsten Wurzeln abgehackt, zerstrt und

    zu Splittern zertrmmert wurden. Felder waren da, ber die

    nie mehr ein Pug gezogen wird, weil ihre Saat aus Stahl ist,

    Stahl und noch mal Stahl.

    In den Granattrichtern dieses zerlcherten Landes wchst

    allerdings tatschlich zerzaustes, mattes Wildgras. Auch

    an ihren Rndern blhen rote Mohnblumen und Kamille,

    und sogar ein Strauch kriecht manchmal unordentlich und

    schchtern mitten aus dem Abfall hervor; aber dieser spr-

    liche Bewuchs verstrkt noch den Eindruck von Schweigen

    und Trostlosigkeit. Es ist, als ob an diesem Ort ein Loch im

    Laufband der Ereignisse sei, als ob die Zeit hier stillstehe; als

    ob die Zeit, die nicht nur Vergangenes mit sich fhrt, sondern

    auch Zuknftiges, hier aus Mitgefhl ihren Motor abstelle.

    Nirgends auf der Welt gibt es ein solches Land; eine Wste

    ist lebendiger, denn ihr Schweigen ist organisch.

    Nirgends auf der Welt gibt es ein solches Schweigen, denn

    dieses Schweigen ist ein gewaltiger versteinerter Schrei. Nicht

    die Ruhe des Friedhofs liegt darin; denn zwischen den vielen

    mden, erschpften Leben ruht wenig, das begeistert und jung

    war; hier aber wurde fr Hunderttausende die groe Kraft,

    die ihnen in den Augen stand, die Macht, die sie atmen und

    sehen und sich ducken und kmpfen lie, pltzlich zu Atomen

    zerschmettert; hier in der Verkrampfung angespanntester

    Selbstverteidigung begehrte, ja liebkoste man das Leben, man

    glaubte leidenschaftlicher, wilder, glhender, versessener denn

    je daran; und ber diesen verzweifelten, angestrengten Willen,

    diesen brodelnden Wirbel von Aktivitt, Qual, Honung,

    Angst, Lebensgier, brach der Hagel von Splittern und Kugeln

  • 18

    herein. Dann vergo das zheste, zerbrechlichste Ding, das es

    gibt, das Leben, sein Blut, und die groe Dunkelheit breitete

    sich ber achthunderttausend Mnner.

    ber diesen Feldern scheinen die verlorenen Jahre weiter

    zu bestehen, die Jahre, die nicht gewesen sind, die keine Ruhe

    nden der Schrei der Jugend wurde zu frh erstickt, fand

    ein zu jhes Ende.

    Von den Hhen kommt ein grauer, bleierner Wind herab

    und verschmilzt mit dem Glhen des Herbstes, seinem hel-

    len Feuer und goldenen Licht. Von den Hhen kommt das

    Schweigen herab, das die freundlichen Tage schlapp und leblos

    macht, als ob die Sonne sich wie an jenem Nachmittag auf

    Golgatha vernstert habe. Von den Hhen kommen Namen

    und Erinnerungen herab. Vaux, Thiaumont, Belleville, Kalte

    Erde, Totenschlucht, Hgel 304, Toter Mann was fr Namen!

    Vier lange Jahre haben sie unter dem gigantischen Geheul des

    Todes gelebt: heute packt einen die Endlosigkeit ihres Schwei-

    gens. Keine Cooks-Parties, keine angenehmen Tagesausge zu gnstigen Preisen mit Besichtigungen tiefer Unterstnde

    bei romantischem Karbidlicht knnen das ndern. Dieses

    Land gehrt den Toten. Aber in dieser Erde, die immer wieder

    von Granaten jeden Kalibers aufgewhlt wurde, in diesem

    Land des erstarrten Grauens, in dieser Kraterlandschaft leben

    Menschen. Man sieht sie kaum, so gut haben sie sich im Laufe

    der Zeit angepat, so wenig unterscheiden sie sich von ihrer

    Umgebung. Ihre Kleidung ist gelb und grau und schmutzig

    von ihren Opfern. Manchmal sind es Hunderte, manchmal

    mgen sie wohl Tausende zhlen, aber sie arbeiten einzeln und

    sind so verstreut, da es immer nur wenige zu sein scheinen

    eiige kleine Ameisen in hohlen Trichtern. Sie leben ein

  • 19

    Leben fr sich, bleiben oft ganze Monate in ihren dunklen Ba-

    rackenlagern und kommen selten in die Drfer. Es sind Sucher.

    Die Schlachtfelder sind zu Spekulationsobjekten geworden.

    Ein Unternehmer hat von der Regierung eine Genehmigung

    bekommen, alles wertvolle Metall zu sammeln. Dafr stellt

    er die Sucher an. Sie jagen nach allem, was Metallwert hat,

    alte Gewehre, Blindgnger, Bomben, Eisenbahnschienen,

    Drahtrollen, Spaten fr sie sind diese Felder der Erinnerung,

    der Stille und Trauer Eisen-, Stahl- und Kupferminen. Kupfer

    haben sie am liebsten. Das bringt den besten Preis.

    Die meisten Sucher sind Russen. In dem Schweigen sind

    auch sie schweigsam geworden. Meistens bleiben sie unter

    sich. Niemand sucht ihre Gesellschaft; obwohl die Regierung

    tausend Genehmigungen erteilt hat, hat man doch das Gefhl,

    das es nicht recht ist, was sie da tun. Metall im Wert von Mil-

    lionen von Francs ist da in der Erde; aber eben auch Trnen,

    Blut und Angst von Millionen.

    Es ist ein eintrgliches Geschft, und viele der Sucher kn-

    nen sich bald ein Auto leisten. Jahrelang sorgte die Artillerie

    dafr, da sie nun ihr Auskommen haben. Das erste, hastige,

    oberchliche Sammeln ist vorbei, und jetzt mssen sie tiefer

    graben bis zur nchsten Schicht vergrabener Schtze. Der Bo-

    den ist fest, und sie haben schon eine Woche an einer einzigen,

    ein paar Quadratmeter groen Grube gegraben. Deshalb ist es

    wichtig, geeignete Stellen zu nden. Das erfordert Erfahrung.

    Gewhnlich wird der Boden erst mit langen Eisenspitzen,

    die in die Erde getrieben werden, nach Metall abgesucht. Da

    kann es dann passieren, da man auf einen Stiefel stt, der

    Widerstand bietet; denn die Stiefel der Toten da unten sind

    im allgemeinen gut erhalten; aber ein Sucher kann das be-

  • 20

    urteilen; er hat ja bung. Er kann im allgemeinen von oben

    beurteilen, ob sich die Ausgrabung lohnt oder nicht. Wenn

    er auf einen Stahlhelm trit, schn und gut; das hat seinen

    Wert insofern, als es auf eine mgliche Beute hinweist. Es

    gibt einige alte, erfahrene Sucher, die nur an Stellen graben,

    wo irgendein Strauch spriet. Sie kalkulieren, da an solchen

    Stellen verschttete Unterstnde mit Leichen sind sonst

    wre der Busch nicht so gut gediehen. Und in Unterstnden

    sind gewhnlich alle Arten von Metall zu haben. Wenn einer

    Glck hat, stt er auf ein Maschinengewehr oder sogar ein

    kleines Munitionslager. Dann sind natrlich auf einen Schlag

    einige tausend Francs zu gewinnen. Ein Fund, von dem man

    noch immer spricht, war ein deutsches Flugzeug. Auf dem

    Pilotensitz hockte noch das Skelett, und zwischen seinen

    Beinen lag eine Kiste mit 5 000 Goldmark.

    berall ist es das gleiche Bild. Die Erde wird zuerst gelockert

    und aufgegraben und dann mit den Hnden weiter umge-

    whlt. Handgranaten, deutsche mit langen Grien, und ein

    Kochgeschirr kommen ans Licht. Sie wecken wenig Interesse.

    Ein Gewehrlauf andererseits, verbogen und korrodiert, wird

    auf den Haufen mit verrostetem Eisen geworfen, das schon

    gesammelt worden ist. Ein Helm dann ein bleicher, feuch-

    ter Lumpen, graugrn, fadenscheinig, schon halb zu Lehm

    geworden, ein Schdel, noch mit Haaren, blonden Haaren,

    ein Schdel mit einem gesplitterten Loch, das in die Stirn

    geschmettert wurde. Der Sucher legt ihn in eine kleine Kiste

    hinter sich. Er schttelt eckige braune Knochen aus dem

    armseligen, schmutzig-grnen Lumpen. Die letzten zerrt er

    aus den Stiefelspitzen. Alles wandert in die Kiste, um abends

    zur Identikation in das Hauptdepot geschickt zu werden.

  • 21

    Eine vergammelte Brse mit etwas geschwrztem Geld bleibt

    liegen. Die berreste einer ziemlich verrotteten Brieftasche

    auch. Aber jetzt klingt der Spaten noch einmal auf Metall, Ei-

    senpfhle und Drahtrollen kommen zum Vorschein ein guter

    Fund Es ist immer dasselbe Bild, hundertmal, tausendmal;

    in der Herbstsonnne liegt ein Soldat, ein paar vergammelte

    Lumpen, ein paar Knochen, ein Schdel, einiges an Ausrstung

    mit einer rostigen Grtelschnalle, einer Patronentasche. Auch

    er wre sehr glcklich, jetzt noch am Leben zu sein.

    Einige Sucher meinen, nach der Form des Kinnknochens

    sagen zu knnen, ob sie einen deutschen oder einen fran-

    zsischen Schdel vor sich haben. Und es ist wichtig, da

    die Knochen abends wieder ins Hauptdepot zurckgebracht

    werden, sonst wrden bis zum Morgen die Fchse sie fressen.

    Es ist komisch, da hier die Fchse Knochen fressen. Sicher

    gibt es nichts anderes fr sie zu fressen. Und doch leben hier

    viele Fchse. Die Sucher hocken in ihren unzhligen kleinen

    Lchern und graben wie die Maulwrfe. Es stimmt schon, die

    Knochen, die sie nden, werden identiziert, auf Friedhfen,

    in Mausoleen, in riesigen Steinsrgen gesammelt. Und doch

    wre es vielleicht besser, diese Soldaten ruhen zu lassen, wo

    sie jetzt zehn oder zwlf Jahre geruht haben, Kameraden sie

    alle.

    Und es ist, als ob sie es selbst nicht anders haben wollten. Es

    ist, als wache die Erde selber ber sie und verteidige sie gegen

    die Hnde, die nach Metall und Geld zwischen ihnen suchen.

    Denn neben den toten Soldaten schlafen ihre Waen. Und oft

    haben diese Waen noch ihre Schlagkraft behalten.

    Ein Schlag mit der Hacke auf den Boden gengt. Ein scharfer

    Spatenstich reicht aus, und der Boden birst mit einem dump-

  • fen Krach, Splitter iegen, und der Tod greift mit rascher Hand

    aus der Erde nach den Suchern. Schon viele sind in Fetzen

    gerissen worden, viele verstmmelt, und jede Woche kommen

    neue hinzu. Der Tod, der zuerst die Soldaten hingemht hat,

    wacht jetzt ber den Grbern der Ermordeten, und die Erde

    bewahrt sie, als sollten sie nicht in groartigen Mausoleen

    liegen, sondern bleiben, wo sie gefallen sind.

    Und ber diesem Leichentuch ist die Zeit zum Stillstand

    gekommen, vor der Qual, die zwischen diese Horizonte ein-

    gespannt ist; ber diesem Leichentuch brtet das Schweigen,

    und Trauer und Erinnerung.

  • 23

    Karl Broeger in Fleury

    Der Wagen fegt mit Vollgas die Strae entlang, die Reifen

    singen, die Strae ist gerade, die Fenster klappern leise, und

    Straburg und Metz liegen schon weit hinter uns. Neben mir

    sitzt Karl Broeger und it ein Butterbrot, ist aber nicht vllig

    konzentriert. Seine Gedanken sind anderswo.

    Es ist zwei Stunden her, seit wir zu Mittag gegessen haben.

    Nachdem wir uns von der angenehmen berraschung eines

    halben Hummer mayonnaise fr fnfundzwanzig Franc als

    hors doevre von der Realitt anderer appetitanregender Dinge gar nicht zu reden und der riesigen Kseplatte bei

    dem denkwrdigen Essen erholt haben, fngt Karl an, mir

    ausfhrlich ber seine Plne und Zukunftschancen Rechen-

    schaft abzulegen.

    Ich verstehe nicht viel davon, denn eine Menge Wenns und

    Abers und Berechnungen und Leute sind damit verbunden. Ob

    es die Folge des Hummers oder des Weins ist oder vielleicht

    sogar, da beides so erstaunlich billig war, seine Aussichten

    stapeln sich, bis sie sich in den Wolken des Mount Everest

    verlieren in zehn Jahren wird er Geschftsfhrer sein, in

    zwanzig Direktor, Generaldirektor, Prsident und so weiter.

    Derzeit steht Karl auf einer so niedrigen Stufe der Leiter, so

    da er ganz sicher ohne ernsthafte Verletzungen herunter-

    fallen kann. Er ist Bankangestellter und hat eine gesunde

    Konstitution. Deshalb kann er schon zwei Stunden nach dem

    Hummer wieder essen ein gutes, schlichtes Butterbrot.

  • 24

    Inzwischen ist er, um der Verwirklichung seiner Ideale nicht

    vorzugreifen, damit beschftigt, davon zu trumen, was er als

    Geschftsfhrer einst tun wird. Das ist Karl.

    Der Wagen rast weiter durch die Drfer spitze Giebel,

    Khe, bunte Frauenkleider, Herbstwind und Misthaufen

    sausen an unseren Fenstern vorbei, Kurve um Kurve, Hgel

    um Hgel, bis die Alleen und Bume aufhren; die Straen

    gabeln sich und werden schmaler; schwerfllige, rumpelnde

    Busse mit fetten aufgemalten Buchstaben und Wahlsprchen

    nhern sich, und auf den Ortsschildern tauchen Namen auf,

    bei denen alles stehenbleiben mu.

    Karl packt seine Brieftasche zusammen. Zwischen Bankpa-

    piere hat er Ausschnitte aus einer Sportzeitung gestopft, die

    das ruhmreiche Fuballspiel Rheine gegen Mnster beschrei-

    ben (Karls Mannschaft siegte berlegen mit 6 zu 0, und Karl

    wurde lobend erwhnt), aber am bedeutsamsten sind einige

    Bilder von charmanten Damen, die er whrend des Nachtischs

    betrachtet hatte.

    Vor uns ist die Strae zu Ende. Der Wagen bleibt mit einem

    Quietschen der Bremsen stehen; wir steigen aus und benden

    uns auf einer Art Marktplatz. Autos sind da geparkt, besorgte

    Chaueure stehen herum, ganz Tchtigkeit in ihren spitzen

    Fahrermtzen, Gruppen von Leuten versammeln sich und stel-

    len sich auf, Fhrer jagen herum und sammeln ihre Lmmer

    ein und marschieren los. Um uns herum betreiben Mnner

    mit unterdrcktem, hastigem Gester eifrig ihr Gewerbe;

    die Todesstraen von gestern haben sich in Boulevards mit

    achtbaren Nachkriegsbesuchern verwandelt, und wo frher

    jeder Schritt Blut bedeutete und schreckliche Angst einem

    den Hals zuschnrte, verlaufen heutzutage Holzplankenwege,

  • 25

    damit die Schuhe der Touristen sauber bleiben, und gut aus-

    gebildete Dolmetscher marschieren voran, so da jeder alles

    sieht garantiert alles. Douaumont.

    Auch um uns schwirrt jemand herum, aufgeregt, schnell

    und eifrig er will uns die Strategie der Dinge hier erklren,

    uns sozusagen au fait machen. Karl, gestrkt von Hummer und Butterbrot, lchelt freundlich und ist ganz Ohr, und wir

    gestatten uns auch, uns bei Karbidlicht durch das Fort fh-

    ren zu lassen; auch wir lassen uns erklren, wie praktisch die

    Deutschen waren, indem sie, sobald sie das Fort eingenommen

    hatten, Maschinen im Keller einbauten, elektrisches Licht

    legten und Krne aufstellten, um die Munition hochzuhieven,

    was es alles vorher nicht gegeben hatte.

    Karl nickt zustimmend: Ja, so war das. Aber wie wir so vor

    den rostigen Stahlhelmen, den verdrehten Gewehrlufen

    und Blindgngern stehen und der Fhrer hier auch wieder

    anfngt zu schwafeln und neben uns noch einer mit derselben

    Geschichte auf englisch loslegt, winkt Karl; ihm reichts; wir

    drngeln uns nach drauen. Vor den Helmen, Brustpanzern,

    Granatsplittern da unten ist er ganz still geworden.

    Drauen, nach der erstickenden Luft in dem Tunnel, kommt

    uns ein Windhauch entgegen, so sanft und mild, da man sich

    am liebsten dagegenlehnen wrde. Noch ist es ziemlich hell,

    aber es ist schon jene geheimnisvolle Stunde, wenn Tag und

    Nacht sich die Waage halten, die Waagschalen in ihrer endlosen

    Schwingung einen Moment innehalten und stillzustehen schei-

    nen noch ein Herzschlag, und der Zauber ist vorbei, pltzlich

    ist ein schwaches Schimmern des Abends da, eine Kuh muht

    auf der Wiese, und die Nacht ist hereingebrochen.

  • 26

    Welle um Welle liegen die Hhen in violettem Schatten vor

    uns. Der Fhrer ist uns gefolgt und fngt hinter uns wieder

    an: Die Pfeerbchse da drben war ein strategisch hchst

    interessanter Punkt

    Weiter kommt er nicht. Karl schaut sich ungehalten um und

    sagt bestimmt: Halten Sie die Schnauze Er sagt es nicht

    bsartig, sondern eher ruhig und damit abschlieend.

    Dann geht er voran, weg von der strategischen Schlachtauf-

    stellung, weg von dem undeutlichen Geschnatter der Touri-

    stengruppen, weg von Hummer, Butterbrot, Damenbildern

    und Bankgeschften, weg von den zehn Friedensjahren.

    Er geht, und sein Gesicht wird immer ernster; die Augen

    werden schmaler, sie schauen angestrengt zu Boden; Gras

    raschelt, Steine knirschen, ein Schild warnt noch vor Gefahr

    irgendwo, aber um diese Dinge kmmert sich Karl nicht mehr.

    Er ist auf der Suche. Die Spur fhrt ber die von Granaten

    zerlcherten Felder durch Reste von Stacheldrahtverhauen

    hinaus. Der Dolmetscher bleibt weit zurck, nachdem er uns

    haufenweise Warnungen nachgebrllt hat. Unterstnde, die

    verschttet und wieder ausgegraben sind, kommen in Sicht,

    Stabgranaten und vllig durchlcherte Kochgeschirre liegen

    herum, in dem gelben Lehm steckt eine armselige rostige

    Gabel, und an ihrem Ende hngt ein halber Lel.

    Wir gehen einige Zeit weiter. Karl bleibt oft stehen und

    prft die Lage der Dinge. Dann nickt er und drngt weiter.

    Die Richtung eines Grabens ist auszumachen. Aber nur die

    Richtung Trichter, zwischen denen sich ein paar Spuren

    hindurchschlngeln und dann scharf um die Ecke biegen.

    Noch ein paar Schritte. Noch ein Blick. Karl hat gefunden,

    was er sucht.

  • 27

    Er schweigt einen Moment, ehe er sagt: Hier und bleibt

    stehen und geht weiter: Hier etwa mu es gewesen sein

    hier waren wir damals alles tobte, ein paar Schsse und

    dann Angri Er wiederholt: Und dann Angri.

    Damit lt er den Graben hinter sich, springt auf und greift

    selber wieder an. Aber das ist jetzt nicht mehr Karl Broeger,

    der Mann mit Bankgeschften und Fuballnachrichten; das

    ist ein ganz anderer, zehn Jahre Jngerer, dies ist Unterozier

    Broeger, den die Erde wieder gepackt hat, der wilde Aschen-

    geruch der Schlachtfelder und die Erinnerung, die wie ein

    Wirbelwind auf ihn einstrmt.

    Seine Bewegung ist nicht mehr wie vorher: kein zgerndes Su-

    chen mehr; das ist auch nicht die Gangart, an die ich gewhnt

    war; unbewut, ungewollt ist da wieder eine Ahnung von dem

    sprunghaften, aufmerksamen, vorsichtigen Schleichen, die in-

    stinktive Sicherheit des Tieres; er selbst merkt nicht, wie er den

    Kopf zwischen die Schultern gezogen hat, wie ihm die Arme

    locker in den Gelenken hngen, zum Fallen bereit, auch nicht,

    wie er vermeidet, sich deutlich zu zeigen, als wolle er nicht

    gesehen werden, aber er bleibt immer in Deckung. So gehen

    wir voran. Vor ein paar Stunden wre er wohl noch nicht in der

    Lage gewesen, sich berhaupt zurechtzunden; jetzt kennt er

    jede Bodenfurche; die Vergangenheit hat ihn wieder. So folgen

    wir der Spur zwei Mnner in mageschneiderten Anzgen

    mit Hten und Spazierstcken , wir folgen der Spur, ber

    die er und sein Zug in jener schrecklichen Nacht gekrochen

    sind, als die Leuchtkugeln wie riesige Bogenlampen ber der

    Vernichtung hingen und der ganze Boden um Thiaumont und

    Fleury sich wie ein Meer unter den Fontnen der Explosionen

  • 28

    hob und senkte wir gehen wieder diesen Weg, und um uns

    ist die grenzenlose Abendruhe, aber in den Ohren von Unter-

    ozier Broeger tobt die Schlacht, er hlt seinen Spazierstock

    wie eine Handgranate, noch einmal fhrt er seine Mnner

    durch die Granattrichter zum Sturm auf die Stadt.

    Und die Stadt gibt es nicht mehr. Sie ist verschwunden, dem

    Erdboden gleichgemacht; nicht wiederaufgebaut, weil die Erde

    noch immer vermint ist, vollgestopft mit explosivem Material,

    zu gefhrlich, wieder bebaut zu werden.

    Karl lehnt sich an das Denkmal, das die Stelle markiert, wo

    einst Fleury stand, das Dorf des Schreckens, dessen Ruinen

    sechsmal in einer Nacht erstrmt und verloren wurden.

    Da war ein junger Rekrut, sagt er. Er war die ganze Zeit

    dicht neben mir. Als wir uns dann zurckziehen muten, war

    er weg. Und spter

    Spter, als sie die Stelle eingenommen hatten, fanden sie nur

    noch ein Stck von einem Leichnam, aber sie wuten nicht,

    ob er das war. Und so wurde er vermit gemeldet, und seine

    Mutter hot noch bis zum heutigen Tag, da er eines Morgens

    in ihr rotes Plschwohnzimmer eintreten und sich, gro ge-

    worden, krftig und breitschultrig, neben sie aufs Sofa setzen

    wird. Es gibt keinen Grund, warum er nicht noch am Leben

    sein sollte, berlegt Karl und schaut mich dster an. Meinst

    du, er wre Musiker geworden? Das wollte er damals.

    Ich wei es nicht, und wir gehen. Die Dmmerung ist einem

    dunklen Blau gewichen. Karl bleibt noch mal stehen und

    sagt mit einer wegwischenden Geste: Sieh mal, ich versteh

    das einfach nicht; einmal war es so, da man gar nicht mehr

    denken konnte, es war die Hlle, es war die reine Hlle, das

    Letzte, das Ende, ein Hexenkessel, honungslos, und da sa

  • 29

    ein Mensch drin und war doch gar kein Mensch mehr und

    jetzt laufen wir hier herum, und es ist blo ein kleines Tal, da

    in der Dunkelheit, ein harmloses Hgelchen

    Das Mausoleum ragt wei in die Dunkelheit. Die Reisebusse

    sind startbereit. Summend fahren sie weg mit ihren gepol-

    sterten Sitzreihen.

    Wieder rollt die dunkle Landschaft am Auto vorbei. Ehren-

    male, viele Ehrenmale gleiten durch das Licht der Scheinwer-

    fer. Meist ist auf ihnen von Gloire und Victoire die Rede. Karl schttelt den Kopf: Das erzhlt nicht die ganze Geschichte,

    nein, berhaupt nicht. Aber sie haben schon recht, da sie

    Denkmler aufrichten, denn mehr als dort und in der ganzen

    Umgebung ist nirgends gelitten worden. Nur eines haben sie

    ausgelassen: Nie wieder. Das fehlt. Du

    Die Strae erstreckt sich wei vor uns und steigt langsam an.

    Hinter den Wolken kommt der Mond rot und traurig heraus.

    Allmhlich wird er kleiner und heller, bis er silbern auf den

    amerikanischen Friedhof vor Romagne scheint. Vierzehntau-

    send Kreuze schimmern in dem fahlen Licht. Vierzehntausend

    Kreuze in Reihen hintereinander die Augen brennen einem,

    so verblend gerade sind sie, vertikal, diagonal. Unter jedem

    ein Grab. Auf jedem eine Inschrift: Herbert C. Williams,

    . Leutnant, Chemische Kriegsfhrung, Connecticut, 3.

    Sept. 98 Albert Peterson, 37. Inf. 35. Div. North Dakota,

    28. Sept. 98 vierzehntausend fnfundzwanzigtausend

    waren es. Gettet bei dem Angri auf Montfaucon, gettet

    ein paar Wochen vor dem Frieden. Nur ein Friedhof fr so

    viele. berall, an Hunderten von Orten, liegen die anderen,

    die weien Holzkreuze der Franzosen, die schwarzen der

    Deutschen.

  • Mitten unter den vierzehntausend Kreuzen auf dem breiten

    Hauptweg geht, entfernt und klein, ein einzelner Mann hin

    und her, hin und her. Das ist bedrckender, als wre alles still.

    Karl drngt weiter.

    In den Stdten spielen Kinder auf den Pltzen. Um sie herum

    sind Geschfte, Huser, Kirchhfe, Zeitungen, Lrm, Schreie,

    Straen, die Welt; aber sie spielen weiter, in ihre schlichten

    Spiele versunken, spielen wie berall auf der Welt.

    Kinder, sagt Karl, und in der Dunkelheit sieht man nicht,

    was mit ihm los ist, Kinder sind berall gleich, nicht wahr

    Kinder wissen noch von nichts Und whrend ich noch

    darber nachdenke und einen Blick auf ihn werfe, dreht er

    sich zu mir um: Jetzt mal los, Mann was stehen wir hier

    rum? und dreht den Kopf um und schaut den ganzen Rest

    der Reise angespannt aus dem Fenster.

  • 31

    Josefs Frau

    Es war im Jahr 99, und der Holunder stand schon in Blte,

    als der Unterozier Josef Thiedemann heimkehrte. Nur seine

    Frau war bei ihm. Sie selber hatte ihn abgeholt nicht einmal

    den Kutscher hatte sie mitgenommen.

    Den ganzen Tag saen die beiden schweigend nebeneinander.

    Die glnzenden braunen Pferdercken vor ihnen schaukelten

    leicht hin und her. Sie kamen in die Dorfstrae und fuhren sie

    langsam entlang. In der Abendsonne standen Leute vor ihren

    Husern, und gelegentlich legte eine Frau ihrem Mann die

    Hand auf den Arm. Aber Thiedemann erkannte niemanden

    nicht einmal seine Frau oder seine Pferde.

    Er war im Juli 98 von einem Granatwerfer verschttet

    worden, als er mit ein paar Kameraden in einem Unterstand

    sa. Es war nur der reinste Zufall ein Stck der zerborste-

    nen Holzverschalung des Unterstands, das sich quer ber

    ihn schob , der ihn davor rettete, zerquetscht zu werden. Es

    dauerte ein paar Stunden, bis man ihn erreichte, und jeder

    glaubte, da er schon erstickt sein msse; aber zwei der zer-

    splitterten Balken hatten sich so verkeilt, da ein schmaler

    Spalt dazwischen blieb, durch den er noch ein bichen Luft

    bekommen konnte. Das hatte ihm das Leben gerettet.

    Thiedemann war noch bei Bewutsein, als sie ihn heraushol-

    ten, und dem ueren Anschein nach praktisch unverletzt. Er

    sa eine Zeitlang apathisch am Rand des Grabens auf dem Bo-

  • 32

    den und starrte abwesend auf die Leichen seiner Kameraden.

    Ein Krankentrger rttelte ihn an der Schulter und versuchte,

    ihm eine Tasse Kaee mit etwas Schnaps zwischen die Zhne

    zu pressen. Dann seufzte er tief und brach zusammen.

    Er hatte oenbar einen schweren Schock erlitten, und fast

    ein Jahr lang wechselte er von einer Nervenklinik zur anderen.

    Dann gelang es seiner Frau schlielich, die Genehmigung zu

    bekommen, ihn nach Hause zu holen. Als der Wagen in den Weg

    bog, der zu dem Bauernhof fhrte, und zum Schuppen hinber-

    holperte, richtete Thiedemann sich auf. Seine Frau wurde bla

    und hielt den Atem an. Im Stall grunzten Schweine, und der

    Duft von Linden wehte herber. Thiedemann drehte den Kopf

    erst hierhin, dann dorthin, als suche er etwas. Aber dann sank

    er wieder zurck und blieb wieder teilnahmslos, sogar als seine

    Mutter, whrend er am Tisch sa, hereinkam. Er a, was ihm

    vorgesetzt wurde, und machte dann eine Runde durchs Haus.

    Er fand sich berall zurecht, wute genau, wo das Vieh gehalten

    wurde und wo das Schlafzimmer war. Aber er erkannte nichts

    wieder. Der Hund, der ihn erst aufgeregt beschnelt hatte,

    legte sich wieder neben den Ofen und winselte. Er leckte ihm

    nicht die Hnde und sprang auch nicht an ihm hoch.

    Whrend der ersten paar Wochen sa Thiedemann viel al-

    lein in der warmen Sonne neben der Scheune. Er schenkte

    niemandem Beachtung, und man lie ihn tun, was er wollte.

    Nachts litt er oft an Erstickungsanfllen. Dann sprang er auf

    und schlug um sich und schrie. Einmal verblutete er fast, als

    er das Fenster eingeschlagen und sich dabei das Handgelenk

    verletzt hatte. Daher lie seine Frau im Schlafzimmer Fenster

    mit Maschendraht einsetzen.

  • 33

    Spter war Thiedemann sehr glcklich, wenn er mit den Kin-

    dern spielte. Er machte ihnen kleine Papierschie und schnitt

    ihnen Pfeifen aus Weidenzweigen. Sie mochten ihn, und als

    die Heidelbeerzeit kam, nahmen sie ihn mit in den Wald, um

    welche zu suchen. Auf dem Nachhauseweg wollten sie eine

    Abkrzung nehmen und ber ein Stck oenes Land gehen.

    Aber kaum hatten sie den Schutz der letzten Bume hinter

    sich gelassen, als er unruhig wurde. Verngstigt und aufgeregt

    rief er den Kindern etwas zu und warf sich auf den Boden. Sie

    sahen ihn erstaunt an. Er zog den Kleinen neben sich auf die

    Erde herunter und lie sich nicht berreden, aufrecht weiter

    ber das oene Feld zu gehen. Er wollte kriechen und bckte

    sich dauernd. Die Kinder wuten nicht, was sie tun sollten,

    also zogen sie los, um seine Frau zu holen. Und als sie sich ber

    die Felder davonmachten, rief Thiedemann uerst beunruhigt

    hinter ihnen her und machte die Augen zu, als ob gleich etwas

    Schreckliches passieren wrde.

    Im Laufe der Zeit wurde er dick und schwammig er tat

    nichts und a achtlos und zu viel. Allmhlich lernte er die

    Leute im Haus kennen; aber er begri nicht, da er zu ihnen

    gehrte. Ihr ueres war ihm nicht mehr vertraut. Er war

    fast immer freundlich und zufrieden. Nur ab und zu, wenn er

    zufllig ein Stck frisch gesplittertes, helles Holz sah, weinte

    er und war nicht leicht zu trsten.

    Seine Frau bewirtschaftete den Hof allein. Sie entlie den

    Vorarbeiter, weil er sich einmal bei Tisch ber eine gewisse

    hilose Geste von Thiedemann lustig gemacht hatte. Der Kerl

    kam nach ein paar Tagen wieder zurck, um zu erklren, da

    er es nicht bse gemeint habe, aber sie reichte ihm nur seinen

  • 34

    Lohn, ohne ihm zuzuhren, und ging aus dem Zimmer. Eines

    Abends, als der Mllerssohn sich an sie herangemacht und die

    Tr hinter ihr verschlossen hatte, ergri sie ein Sportgewehr,

    das an der Wand hing, und blieb damit stehen, bis er sich

    bld grinsend davongemacht hatte. Auch andere versuchten

    es, aber keiner hatte Erfolg. Die Frau war fnfunddreiig und

    von einer dunklen, wrdevollen Schnheit. Sie arbeitete hart,

    aber sie blieb allein.

    In den ersten Monaten kamen fters rzte auf den Hof.

    Thiedemann versteckte sich vor ihnen und mute jedesmal

    gesucht werden. Nur wenn seine Frau rief, war er bereit zu

    kommen. Ein Arzt blieb fast ein ganzes Jahr auf dem Hof, um

    ihn zu behandeln. Als er abreiste, mute die Frau einige Stck

    Vieh verkaufen. In diesem Jahr wurde die Ernte durch Som-

    merregen geschdigt, und die Kartoeln hatten auch gelitten.

    Es war ein schwieriges Jahr.

    Aber Thiedemanns Zustand nderte sich nicht. Die Frau

    nahm das rztliche Urteil ungerhrt hin, als wre es ihr vllig

    gleichgltig. Aber nachts, wenn Thiedemann im Schlaf unver-

    stndliche Worte murmelte und sich im Bett hin und her warf,

    drckte sie sich gegen ihn, als msse die Wrme ihres Krpers

    ihm helfen und sie horchte auf ihn und stellte Fragen und

    sprach ihn an. Er antwortete nicht, wurde aber ruhiger und

    schlief dann bald ein. So vergingen die Jahre.

    Einmal kam ein Kamerad von Thiedemann fr ein paar Tage zu

    Besuch. Er hatte ein paar Fotos aus jenen Zeiten mitgebracht,

    und am letzten Abend zeigte er sie der Frau. Darunter war

    ein Gruppenbild von Thiedemanns Zug. Darauf hockten die

    Mnner mit nacktem Oberkrper vor einem Unterstand und

  • 35

    grinsten, whrend sie ihre Hemden nach Lusen absuchten.

    Thiedemann war der zweite von rechts und lchelte, er hielt

    eine Hand hoch, Daumen und Zeigenger fest zusammenge-

    pret. Die Frau sah sich die Bilder eines nach dem anderen

    an. Whrend sie so darin vertieft war, kam Thiedemann ins

    Zimmer. Mit schwerem Schritt ging er zum Ofen hinber und

    setzte sich auf einen Stuhl. Die Frau nahm das Gruppenbild

    und hielt es eine ganze Zeit in der Hand. Ihre Augen schweiften

    von dem verblaten Schnappschu zu der apathischen Gestalt

    am Ofen. Da war es also? fragte sie. Der Freund nickte. Die

    Frau schwieg eine Weile. Nur Thiedemanns schweres Atmen

    war in der Stille zu hren. Eine Motte og zum Fenster her-

    ein und atterte um die Lampe. Der zitternde Schatten ihrer

    Flgel ackerte ber den Tisch und auf die Fotos und verlieh

    ihnen eine Illusion von Bewegung und Leben. Die Frau zeigte

    auf die Bilder von den Grben und zerstrten Drfern. Ist

    das noch immer so?

    Sicher doch, sagte der Kamerad. Mit einer schnellen Be-

    wegung bot sie ihm einen Bleistift und strich eine Zuckertte

    glatt, die in Reichweite auf der Fensterbank lag. Schreiben

    Sie den Namen des Ortes auf. Und den Weg. Der Freund hob

    den Kopf. Wollen Sie hinfahren?

    Die Frau betrachtete das Bild, auf dem Thiedemann, noch

    lchelnd und gesund, vor dem Unterstand sa. Dann schaute

    sie ruhig auf. Ja, antwortete sie.

    Wir wrden alle gern einmal wieder hinfahren, sagte

    der Freund bedchtig, whrend er langsam die Buchstaben

    schrieb. Sie mssen ber Metz fahren.

    Es dauerte lange, bis alles vorbereitet war. Die Leute ver-

  • 36

    standen nicht, warum sie fahren wollte, und versuchten, es

    ihr auszureden. Aber sie beachtete keinen Einwand. Sie sa

    ruhig da und packte entschlossen zusammen, was fr die Reise

    notwendig war. Als die Leute sie ausfragten, antwortete sie

    knapp. Sie sagte einfach: Es mu sein.

    Die Reise war schwierig. Von der Fahrt bekam Thiedemann

    Kopfschmerzen, und die Frau hatte niemanden bei sich, der

    ihr geholfen htte. Auch verstand sie die Sprache nicht. Aber

    sie stand blo da und schaute die Leute an, bis sie verstanden,

    was sie meinte.

    Am Nachmittag des dritten Tages kamen sie in dem Ort an,

    wo Thiedemanns Kompanie gelegen hatte. Es war ein des,

    tristes Dorf mit langen Reihen grauer Huser. Von den Ruinen

    auf dem Foto war nichts zu sehen. Der Ort war vollkommen

    wiederaufgebaut.

    Ein paar Pferdewagen mit Touristen fuhren vor dem Gast-

    hof vor. Ein Dolmetscher kam auf die Frau zu und sprach sie

    an. Sie fragte, ob er ihr etwas ber den Frontabschnitt sagen

    knne, wo Thiedemann verschttet worden war. Er zuckte die

    Schultern jetzt waren berall wieder Felder; die wurden seit

    einiger Zeit wieder bestellt.

    berall? fragte die Frau.

    Oh, nein! Der Dolmetscher begann Anzeichen des Ver-

    stehens zu zeigen und erklrte, da in der Nhe, kaum mehr

    als einen Kilometer entfernt, das Gebiet mit Grben und Gra-

    nattrichtern noch immer fast genauso wie frher dalge. Sollte

    er sie hinfhren? Sie nickte, und kaum da sie sich Zeit nahm,

    ihr Gepck im Gasthof abzustellen, machten sie sich auf.

    Der Tag war klar und schn. Ein leichter Wind ging ber die

    Hnge, und winzige blaue Schmetterlinge atterten zwischen

  • 37

    den Grben und Drahtverhauen hin und her. Mohnblumen und

    Kamille wuchsen an den Kraterrndern. Die Wiesen, die noch

    immer hier und da in diese Landschaft hineinreichten, blieben

    allmhlich zurck, das Dorf verschwand, und als sie einen

    Hgelrcken berquert hatten, erhob sich pltzlich rings um

    sie das fahle Schweigen der Schlachtfelder, gestrt nur von ein

    paar kleinen Gruppen von Mnnern bei der Arbeit hier und da

    zwischen den Granattrichtern. Es waren die Metallsammler, er-

    klrte der Fhrer die suchten nach Eisen, Kupfer und Stahl.

    Hier? fragte die Frau. Der Fhrer nickte. Der Boden ist

    voll von Munition, sagte er. Deshalb ist die ganze Gegend

    an eine Metallverwertungsrma verpachtet worden. Leichen,

    die sie nden, werden gesammelt und auf den verschiedenen

    Friedhfen in der Nhe begraben. Er zeigte nach rechts, wo

    lange Reihen mit weien Kreuzen zu sehen waren, die in der

    Sonne glnzten.

    Die Frau blieb mit Thiedemann bis zum Abend da drauen.

    Sie ging mit ihm durch viele Grben und Krater, sie stand mit

    ihm vor vielen zusammengefallenen und eingestrzten Unter-

    stnden. Sie schaute ihn oft an, dann ging sie immer weiter.

    Aber er ging teilnahmslos mit, und kein Licht brachte Leben in

    seinen erloschenen Gesichtsausdruck. Am nchsten Morgen

    war die Frau wieder da drauen. Sie kannte jetzt den Weg, und

    Tag fr Tag waren die beiden zu sehen, wie sie langsam ber

    die lehmigen Kraterfelder gingen der mde, gebeugte Mann

    und die groe, schweigsame Frau. Am Abend kehrten sie dann

    in den Gasthof zurck und gingen auf ihr Zimmer. Manchmal

    begleitete der Dolmetscher die beiden auf dem Schlachtfeld.

    Einmal fhrte er sie zu einem Gebiet, wo Touristen selten

  • 38

    hinkamen. Keine Menschenseele war zu sehen auer ein paar

    Grppchen von Sammlern bei ihrer Arbeit.

    An einer Stelle war das Labyrinth der Frontgrben praktisch

    unberhrt geblieben. Thiedemann blieb vor einem Unterstand

    stehen und beugte sich hinunter. Das hatte er schon oft getan,

    aber diesmal hielt die Frau inne und fate den Arm des Dol-

    metschers. Ein paar verrottete Bretter, mit denen die Wnde

    des Unterstands verschalt gewesen waren, ragten aus dem

    Eingang heraus. Thiedemann untersuchte sie mit den Hnden,

    tastend, vorsichtig.

    In diesem Augenblick ertnte pltzlich ein scharfes Hm-

    mern von einigen Sammlern, die ein paar hundert Meter ent-

    fernt zu graben anngen. Es schien so unertrglich laut, da

    die Frau eine Geste machte, als wolle sie es mit der Hand zum

    Schweigen bringen aber im nchsten Augenblick erscht-

    terte ein heftiges Krachen den Boden, und darauf folgte ein

    Pfeifen, Heulen, Zischen, dann ein verzweifelter, kreischender

    Schrei von der Gruppe der Sammler.

    Eine Explosion! rief der Dolmetscher und lief hinber.

    Sie haben beim Graben eine Granate erwischt!

    Die Frau wute nicht, wie es geschehen war, aber schon

    kniete sie neben einem Mann, dessen Bein in Stcke zerfetzt

    war. Sie hatte den rmel von einer Arbeiterjacke gerissen und

    wickelte ihn um den Oberschenkel; sie nahm ein Eisenstck

    vom Boden, zwngte es in den Knoten und band den Mann ab,

    der ohnmchtig wurde, als er sich auf dem Ellbogen aufsttzte,

    um die Wunde zu sehen. Seine Kameraden trugen ihn weg zu

    den Htten. Die Frau stand auf. Der Dolmetscher berschtte-

    te sie mit Gerede dies war die siebte Explosion hier in zwei

    Wochen! Sie sah sich um nach einem Grasbschel, mit dem sie

  • 39

    sich das Blut von den Hnden wischen konnte. Dann war sie

    ganz pltzlich hellwach und horchte auf. Der verletzte Mann

    war schon auer Hrweite, aber noch immer war ein hohles,

    ersticktes Schreien zu hren. Sie lief zurck

    Der Schrei kam von Thiedemann. Er lag ach auf dem Bo-

    den, als htte er sich wie verrckt in Deckung geworfen. Seine

    Schultern hoben sich, und er brllte in die Erde hinein. Der

    Dolmetscher sah ihn erstaunt an und wollte ihn aufheben.

    Aber die Frau hielt ihn zurck.

    Ein paar Arbeiter kamen von der Htte herbergelaufen. Sie

    meinten, Thiedemann sei verwundet, und wollten ihn weg-

    tragen. Aber die Frau lie niemanden heran. Sie war pltzlich

    wie verwandelt: Sie bewegte sich hastig, und doch zwang sie

    sie wegzugehen, solche Kraft und solch ehende Angst waren

    in ihren Augen. Kopfschttelnd gingen sie endlich weg, sogar

    der Dolmetscher, und die Frau beobachtete sie, bis sie sich im

    Labyrinth der Grben verloren. Dann setzte sie sich auf die

    Stufen des Unterstands und wartete.

    Die Dmmerung brach herein, und Thiedemann wurde ganz

    still. Er lag jetzt auf dem Boden wie damals, und die Klnge

    des Angeluslutens schwebten ber dem nchtlichen Lager.

    Aber die Frau blieb weiter reglos sitzen.

    Schlielich rhrte Thiedemann sich. Er versuchte, sich auf

    den Ellbogen aufzurichten, aber er sackte wieder hin. Nach

    einer Weile versuchte er es ein zweites Mal. Die Frau bot ihm

    keine Hilfe. Sie zog sich nur tiefer in die Dunkelheit des Un-

    terstands zurck.

    Thiedemann tastete ber den Boden. Seine Hnde lockerten

    ein Stck der Holzverschalung. Er versuchte aufzustehen,

  • aber vergeblich. Dann sa er da und strich immer wieder mit

    den Hnden ber das Gras. Er hob den Kopf und drehte ihn

    langsam hin und her. Und das machte er eine ganze Zeit.

    Ein Vogel ng an, ber den Kpfen der beiden Menschen

    zu singen. Thiedemanns Hnde beruhigten sich. Anna ,

    sagte er, leicht erstaunt.

    Die Frau sagte noch immer nichts, aber als sie jetzt Thiede-

    manns Arm nahm, um ihn wegzufhren, zuckte ihr Gesicht

    pltzlich, als wrde es in Stcke fallen, und sie schwankte

    einen Moment.

    Ein paar Wochen spter konnte Thiedemann den Hof wieder

    bernehmen. Seine Frau hatte ihn gut bewirtschaftet; denn

    das Vieh hatte sich um vierzehn junge Khe vermehrt, und

    auerdem hatte sie die Wiesen und ein paar Felder dazukaufen

    knnen.

  • 41

    Die Geschichte von Annettes Liebe

    Annette Stoll wuchs in einer kleinen Universittsstadt in

    Mitteldeutschland auf. Sie war ein frisches, junges Mdchen

    mit hellem Teint, unbekmmert und zum Lachen aufgelegt.

    Sie besuchte die Schule mit migem Eifer und hatte eine

    Schwche fr Sigkeiten und Filme. Der Spielgefhrte ihrer

    Kindheit war der junge Gerhard Jger, etwa drei Jahre lter

    als sie, dnn und schlaksig, mit einer Vorliebe fr Bcher und

    ernsthafte Gesprche.

    Sie waren Nachbarn, und ihre Eltern waren befreundet. So

    ergab es sich, da die beiden wie Bruder und Schwester zu-

    sammen aufwuchsen. Die Abenteuer des einen waren auch

    die Abenteuer des anderen die verlassenen Grten, die

    gewundenen Gassen, die Sonntage mit Glockengelut, die

    Sommerwiesen, die Dmmerung, die Sterne, der Duft und

    der atemlose, dunkle Zauber der Jugend all dies hatten

    sie gemeinsam. Spter war es dann anders. Das Mdchen,

    frhreif und hbsch, erlangte die khle Selbstbeherrschung

    einer kecken Sechzehnjhrigen. Sie geriet pltzlich aus dem

    oenen, vertrauten Garten kindlicher Kameradschaft in das

    Zwielicht faszinierender Geheimnisse. Der junge Gerhard

    Jger, der noch bis vor kurzem ihr lterer Freund und Bescht-

    zer ihrer Kindheit gewesen war, erschien ihr jetzt unbeholfen,

    viel jnger als sie selbst, und in seiner unentschlossenen

    Nachdenklichkeit schon fast lcherlich. Sie hatte die runden,

  • 42

    glatten Dinge im Leben gern, und es war nicht schwer, ihren

    Werdegang vorauszusagen er wrde sicher und friedlich

    und ganz gewhnlich sein, mit einem respektablen Ehemann

    und gesunden Kindern.

    Als Gerhard sein erstes Semester an der Universitt abge-

    schlossen hatte, waren sich die beiden fremd geworden.

    Dann kam der Krieg. Das allgemeine Fieber der Begeisterung

    steckte die Stadt an. Tag fr Tag tauschten mehr Primaner

    und Anfangssemester ihre bunten Studentenmtzen gegen

    die grauen Regimentsmtzen der Freiwilligen. Und ihre jun-

    genhaften Gesichter sahen schon fast entrckt aus, ernsthaf-

    ter, lter, aber auch schn in ihrer jugendlichen Bereitschaft

    zum Opfer und doch zu nah noch an Schulbank, Ruderclub

    und abendlichen Eskapaden dem Frieden noch zu nah, um

    irgendein echtes Verstndnis dafr zu haben, was das alles

    bedeutete und wohin sie gingen.

    Gerhard Jger gehrte zu den ersten Freiwilligen. Der ruhige,

    zgernde, nachdenkliche Junge war wie verwandelt. Er schien

    von einem inneren Feuer zu glhen, das noch weit entfernt

    war von der Malosigkeit der kriegsberauschten Professoren.

    Er und seine Kameraden sahen im Krieg mehr als blo Kampf

    und Verteidigung; fr sie war er der groe Angri, der die

    veralteten Ideale eines selbstgefllig geregelten Daseins aus-

    rumen und das gealterte Leben verjngen sollte.

    Sie brachen alle zusammen an einem Sonntag auf. Am

    Bahnhof gab es viele weinende, aufgeregte und begeisterte

    Freunde und Verwandte. Fast die ganze Stadt war erschienen.

    berall waren Blumen, Zweige von frischem Grn wurden in

    die Gewehrmndungen gesteckt, und das Musikkorps spielte,

    und Schreie und Rufe ogen hin und her. Als der Zug gerade

  • 43

    abfuhr, sah Gerhard Jger Annette pltzlich vor dem Fenster

    seines Abteils. Sie winkte jemandem in einem anderen Waggon

    zu. Er ergri ihre Hand. Annette

    Sie lachte und warf ihm den Rest ihrer Blumen zu. Bring mir

    etwas Hbsches aus Paris mit!

    Er nickte, konnte aber nichts mehr sagen, denn der Zug

    fuhr schon schneller, und auf dem Bahnhof war ein Tumult

    von Gesang und schmetternden Blaskapellen. Das atternde

    weie Sommerkleid des Mdchens war die letzte Erinnerung,

    die er mitnahm

    Whrend der ersten Monate hrte Annette wenig von

    Gerhard. Dann kamen allmhlich immer huger Briefe und

    Feldpostkarten. Sie wunderte sich eigentlich darber; sie

    konnte nicht verstehen, warum es so pltzlich passiert sein

    sollte. Aber noch weniger verstand sie, warum sich all diese

    Briefe im Laufe der Monate immer ausschlielicher mit

    Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit beschftigten.

    Sie erwartete eindringliche Beschreibungen khner Angrie

    und war jedesmal erneut enttuscht, nur Dinge zu hren, die

    sie schon kannte und die sie langweilten.

    Gerhards Brigade erlitt in der Flandern-Schlacht schreckli-

    che Verluste. Ein paar Tage spter erhielten seine Eltern nur

    eine kurze Nachricht, die besagte, da von zweihundert er und

    siebenundzwanzig andere noch unverwundet waren. Ande-

    rerseits bekam Annette einen langen Brief, in dem Gerhard

    fast leidenschaftlich einen gewissen Morgen im Mai und den

    weiblhenden Kirschbaum hinter dem Kreuzgang des Doms

    in Erinnerung rief. Sein Vater schttelte den Kopf, als er den

    Brief las. Er fhlte sich den hheren Idealen verpichtet und

  • 44

    wre glcklich gewesen, wenn sich sein Sohn ein wenig he-

    roischer gezeigt htte. Annette legte den eng beschriebenen

    Brief mit einem Schulterzucken beiseite sie konnte sich nicht

    mehr an den Morgen im Mai erinnern.

    Um so grer war das Erstaunen der beiden, als sie kurz

    danach erfuhren, Gerhard habe so groe Tapferkeit in der

    Flandern-Schlacht bewiesen, da er im Feld ausgezeichnet

    und befrdert worden sei.

    Einige Zeit danach kam er auf Urlaub nach Hause, drahtig,

    schlank und sonnengebrunt, ganz anders, als Annette ihn

    sich nach den Briefen vorgestellt hatte. Im Gegensatz zu dem

    geschwtzigen Stolz seines Vaters erschien er doppelt ernst,

    manchmal sogar geistesabwesend und eigenartig zerstreut. Als

    er das erste Mal mit Annette allein war, nach einer merkwrdi-

    gen, fast wortlosen Stunde mit unbeholfenem Umherschauen

    und unvermittelten Blicken, nahm er sie ganz pltzlich bei

    der Hand und fragte sie, ob sie nicht heiraten knnten. Und

    er blieb auf sehr beharrliche und stille Weise dabei, selbst als

    der Einwand kam, sie wren noch zu jung. Er war neunzehn

    und sie noch nicht einmal siebzehn.

    Damals war nichts Ungewhnliches an hastigen Kriegshei-

    raten und -Verlobungen dergleichen gehrte zu der allge-

    meinen Begeisterung. Nach der ersten momentanen ber-

    raschung gewhnte sich Annette schnell an den Gedanken

    sie kam zu dem Schlu, da es faszinierend wre, die erste

    in ihrer Schulklasse zu sein, die heiratete und sie mochte

    den mnnlich wirkenden jungen Ozier recht gern, der sich

    aus dem vertrumten Gerhard ihrer Kindheit entwickelt hat-

    te, und mehr als das war kaum notwendig. Auch ihre Eltern,

    wohlhabend und gutmtig und noch dazu patriotisch, gaben

  • 45

    ihre Zustimmung und waren sogar angetan die Hochzeit

    wrde den Vorwand liefern fr ein groes Fest.

    Die Feier fand mittags statt. Am Nachmittag whrend des

    Hochzeitsessens erschien eine Sonderausgabe der Zeitung,

    die von einem neuen groen Sieg an der Ostfront berichtete.

    Gerhards Vater lie alle verfgbaren Zeitungen hereinbringen

    und las der Gesellschaft die Berichte laut vor. Zehntausend

    Russen gefangengenommen! Die Hochzeitsgste berlieen

    sich einer schwelgerischen Freude. Reden wurden gehalten,

    patriotische Lieder wurden gesungen, und Gerhard in seiner

    grauen Uniform erschien als die Verkrperung der Ideale, von

    denen sie alle berauscht waren.

    Der Priester schttelte ihm die Hand, der Lehrer klopfte ihm

    auf die Schulter, sein Vater spornte ihn an, wieder mit dersel-

    ben Zielstrebigkeit auf sie loszugehen, und alle Anwesenden

    traten vor, um mit ihm auf Sieg, Ruhm und Glck in der

    Schlacht zu trinken. Gerhard, der nur noch nsterer und

    schweigsamer geworden war, sprang daraufhin ganz pltz-

    lich auf, ergri sein Glas, und whrend die Gesellschaft in

    stummer Erwartung herumsa, setzte er es so heftig wieder

    auf den Tisch, da es zersplitterte. Ihr , sagte er,ihr ,

    und mit dunklen, glnzenden Augen schaute er von einem

    zum anderen Was wit ihr schon davon? und ging

    hinaus.

    An diesem Abend und die ganze Nacht hindurch redete er

    aufgewhlt mit Annette als wolle er etwas festhalten, das

    ihm zu entgleiten drohte er sprach von Jugend, von Ziel,

    vom Leben. Die ganze Zeit redete er nur von ihr und doch

    schien es ihr oft, als meinte er gar nicht sie.

  • 46

    Am nchsten Abend fuhr er an die Front zurck. Aber den

    ganzen Tag ber versuchte er, allein mit Annette zu sein. Er

    war wie im Fieber. Er wollte sonst niemanden sehen, nur mit

    ihr ber die Pltze und durch die Grten schlendern und

    mit ihr in den Wiesen am Flu sein, bis es Zeit fr ihn wre

    zu fahren. Ihr erschien er merkwrdig, und sie hatte fast ein

    bichen Angst vor ihm. Als er Abschied nahm, umarmte er

    sie fest und sprach schnell, stammelnd vor Hast, als wre

    noch vieles ungesagt, ungetan. Dann sprang er auf den Zug,

    der schon fuhr. Vier Wochen spter el er, und Annette war

    Witwe mit siebzehn.

    Der Krieg ging weiter, und die Jahre wurden immer blutiger,

    bis es schlielich kaum noch ein Haus in der kleinen Stadt

    gab, wo man nicht Trauer trug, und Annettes Schicksal, von

    dem anfangs oft geredet wurde, verblate vor den hrteren

    Prfungen jener Familie, wo Vter und Shne gefallen wa-

    ren. Und sie selbst sprte es allmhlich nicht mehr. Sie war

    zu jung, und die wenigen Tage, die sie zusammen verbracht

    hatten, reichten fr sie nicht aus, Gerhard als ihren Ehemann

    anzusehen. Fr sie war er nur ein Freund ihrer Jugend, der

    gefallen war wie so viele andere.

    Doch es el auf, da jetzt eine gewisse Zurckgezogenheit

    in ihr Leben einkehrte. Mit ihren Freundinnen von frher

    verband sie eigentlich nichts mehr dazu war sie nicht mehr

    mdchenhaft genug. Und andererseits fand sie, da sie ge-

    nausowenig zu den Erwachsenen gehrte dazu war sie noch

    zu mdchenhaft. Und so kam es, da sie kaum wute, wie

    sie sich verhalten sollte. Zu viel war passiert und zu schnell

  • 47

    vergangen. Aber die Ereignisse der letzten Kriegsjahre lieen

    ihr keine Zeit zum Nachdenken. Sie arbeitete von morgens bis

    abends als freiwillige Hilfsschwester in einem Krankenhaus.

    Der Malstrom der Zeiten brach herein und verschlang jeden

    einzelnen.

    Dann kam der Waenstillstand, die Revolution, die Zeit

    der Putsche, der Alptraum der Ination und schlielich, als

    alles vorber war und Annette zu sich kam, entdeckte sie fast

    erstaunt, da sie eine Frau von fnfundzwanzig geworden war,

    ohne da der Reichtum ihres Lebens sich um irgend etwas ver-

    mehrt hatte. Denn an Gerhard dachte sie jetzt kaum noch.

    Bald danach starben ihre Eltern. Ihr Vermgen war derart

    geschrumpft, da Annette dankbar sein mute, eine Stelle als

    Krankenschwester in einer norddeutschen Stadt zu bekom-

    men. Ein paar Monate spter lernte sie einen Mann kennen,

    der ihr den Hof machte und sie heiraten wollte. Sie zgerte

    erst, aber mit der Zeit mochte sie ihn, und der Tag fr die

    Hochzeit wurde festgesetzt. Jetzt htte sie wirklich glcklich

    sein sollen, und doch wurde sie ruhelos. Irgend etwas in ihr,

    sie wute nicht, was, schreckte davor zurck. Sie ertappte sich

    dabei, in Gedanken verloren zu sein; sie hrte geistesabwe-

    send zu, wenn jemand mit ihr sprach. Ihre Gedanken wurden

    nebelhaft und verzogen sich in die Entrcktheit einer trben,

    dsteren Melancholie. Nachts wachte sie grundlos weinend

    auf. Dann wieder versuchte sie, durch ungestme Zrtlichkeit,

    durch eine leidenschaftliche Sehnsucht nach Zuneigung die

    merkwrdige Barriere zu berwinden, die allmhlich vor ihr

    erstand. Manchmal, wenn sie in ihrem Zimmer allein war

    und aus dem Fenster auf die nackten grauen Huser gegen-

    ber schaute, schien es ihr, als lsten die Wnde sich in einen

  • 48

    durchsichtigen Dunst auf, und dahinter neten sich Tren,

    und da waren Gassen und Giebeldcher, Sommerwiesen und

    heie, verlassene Grten und dann berkam sie eine drn-

    gende Sehnsucht, wieder zu Hause zu sein, bis sie schlielich

    zu der berzeugung gelangte, da all ihre Schwierigkeiten

    daher kmen. Es war blo Heimweh, und um es zu berwin-

    den, mute sie nur wieder dorthin zurckkehren und alles

    wiedersehen. Sie beschlo, ihre Heimat fr ein paar Tage zu

    besuchen, und ihr Verlobter begleitete sie.

    Sie kamen am Abend an. Annette war sehr aufgeregt. Sobald

    sie ihre Sachen im Hotel ausgepackt hatte, machte sie sich von

    ihrem Verlobten frei und ging allein los. Sie stand vor dem

    Haus, das ihr Zuhause gewesen war. Sie lief in den Garten. Ihre

    Aufregung wurde grer. Der Mond schien, und die Dcher

    glnzten. Ein Duft von Frhling lag in der Luft, und sie hatte

    das Gefhl, da etwas vor ihr lag, ein Anfang es stieg schon

    am Horizont auf, kam herber, wollte erinnert werden, wollte

    einen Namen.

    Sie ging durch die Wiesen. Das Gras war schwer von Tau.

    Die Kirschbume schimmerten wie frischer Schnee. Und da

    war es ganz pltzlich: eine Stimme, eine entrckte, vergessene,

    versunkene Stimme, ein entrcktes, vergessenes, versunkenes

    Gesicht; im Inneren ri etwas auf, etwas Atemloses, etwas

    unendlich Fernes, unvorstellbar Mdes, Schweres, Trauriges

    sie hatte schon nicht mehr daran gedacht; jetzt erhob es sich

    und war mchtiger, als es je im Leben gewesen war; ganz pltz-

    lich sehr geliebt, verloren und doch nie ihr eigen Gerhard

    Jger. Sie kam ins Hotel zurck, schwankend, benommen. Sie

    schaute ihren Verlobten an wie fremd er ihr war! Sie htte

    ihn hassen knnen, wie er da so vor ihr stand, lebendig und

  • 49

    gesund. Nur mit Mhe konnte sie ihm die wenigen notwen-

    digen Worte sagen. Er wollte mit ihr reden; er bedrngte sie,

    es nochmals zu berdenken; er versprach ihr zu warten. Sie

    nickte nur zu all dem und wollte allein sein.

    Die wenigen Tage, die sie mit Gerhard erlebt hatte, wurden

    jetzt zur Qual und zum Geheimnis fr Annette. Sie holte seine

    Briefe hervor und las sie, bis ihr die Augen blind vor Trnen

    waren. Sie suchte einige seiner Kameraden auf und war un-

    ermdlich, sie nach dem zu fragen, was sie von ihm wuten.

    Einer hatte viel mit ihm geredet und sogar noch an dem Tag

    mit ihm gesprochen, an dem er el. Zum ersten Mal hrte

    Annette jetzt, was der Krieg eigentlich gewesen war; zum er-

    sten Mal erkannte sie, wovon Gerhard in der Nacht vor seiner

    Abfahrt gesprochen hatte; zum ersten Mal begri sie, was er

    sich von ihr ersehnt hatte einen Ruheplatz, einen Hafen, ein

    kleines Feuer der Liebe inmitten von so viel Ha; einen Funken

    Menschlichkeit inmitten der Vernichtung; Wrme, Vertrauen,

    einen Grund, auf dem er stehen konnte; die Erde, eine Heimat,

    eine Brcke, ber die er zurckkommen konnte.

    Sie wurde von Reue befallen, und von Liebe. Sie, fr die das

    alles nur eine kleine Eitelkeit gewesen war, eine leichtfertige

    Neigung zum Ungewhnlichen, eine kleine Freundschaft und

    ein bichen mdchenhafter Genu; sie, die so schnell verges-

    sen hatte, die sich kaum noch erinnerte, begann jetzt pltzlich

    zu lieben einen Schatten zu lieben.

    Sie zog sich von allem zurck. Ihre Bekannten versuchten,

    sich mit ihr auseinanderzusetzen, ihr dabei zu helfen, wieder

    zu sich selbst zu nden. Aber es ntzte alles nichts. Htte

    sie mit einem menschlichen Wesen gelebt, wre es vielleicht

  • mglich gewesen, sie davon zu befreien; aber sie lebte mit

    einer Erinnerung.

    Sie wurde immer merkwrdiger. Oft, wenn sie allein in

    ihrem Zimmer war, redete sie laut mit sich selbst. Schon

    bald hatte sie ihre Stelle verloren. Spter trat sie einer kleinen

    Sekte bei, die spiritistische Sitzungen abhielt. Einmal meinte

    sie, Gerhard auf sich zukommen zu sehen. So vergingen die

    Jahre Eines Tages war sie nicht mehr Das Letzte, was sie

    sah, war das dunkle Kreuz des Fensterrahmens, hinter dem

    die untergehende Sonne stand.

  • 51

    Das seltsame Schicksal des Johann Bartok

    Johann Bartok, ein Klempner und Installateur, war fnf Monate

    verheiratet, als der Krieg ausbrach. Er wurde sofort eingezogen

    und in eine sterreichische Garnison an die Grenze geschickt.

    An dem Tag, als er abfuhr, war er damit beschftigt, seine An-

    gelegenheiten in Ordnung zu bringen und sein kleines Geschft

    seiner Frau und seinem Gesellen zu bergeben. Es gelang ihm

    sogar noch, zwei weitere Auftrge zu bekommen. Dies nahm

    ihn tatschlich bis nachmittags in Anspruch; aber andererseits

    hatte er die Genugtuung, nun zu wissen, da jetzt wenigstens

    bis Weihnachten alles geregelt sein wrde. Als es Abend wurde,

    zog er seinen besten Anzug an und ging mit seiner Frau zum

    Fotografen. Bislang hatten sie sich nicht dazu aufgerat, sich

    fotograeren zu lassen sie hatten hart arbeiten mssen, um

    durchzukommen, so da ihnen dergleichen als eine trichte

    Ausgabe erscheinen mute. Aber jetzt war das etwas anderes.

    Der Fotograf brachte die Fotos am nchsten Morgen zum Zug.

    Obwohl sie etwas grer auselen, als Bartok erwartet hatte,

    versuchte er, einen Ausschnitt mit ihren beiden Gesichtern zu

    machen, der in seinen Uhrendeckel passen wrde, aber es gelang

    ihm nicht; also nahm er sein Messer, schnitt sein eigenes Bild

    ab und behielt nur das von seiner Frau. Jetzt pate es.

    Bartoks Regiment wurde bald an die Front verlegt. Es rckte

    im Winter 94 vor und wurde in ein heftiges Nachtgefecht

  • 52

    verwickelt, bei dem der Feind eine Flankenbewegung machte

    und drei Kompanien abschnitt. Die verteidigten sich einen

    ganzen Tag; als sie dann keine Munition mehr hatten, mu-

    ten sie sich ergeben. Und zu ihnen gehrte Bartok. Die Ge-

    fangenen verbrachten einige Monate in einem Sammellager.

    Bartok sa den ganzen Tag in der Htte herum und brtete.

    Er htte gern gewut, wie es seiner Frau ging und ob sie neue

    Auftrge fr den Betrieb hatte sichern knnen, denn der

    mute ja jetzt ihren Lebensunterhalt einbringen. Aber es gab

    keinen einzigen Brief fr das ganze Lager, und das einzige,

    was Bartok tun konnte, war zu versuchen, Briefe nach Hause

    zu schicken mit Ratschlgen und Adressen von Leuten, die

    vielleicht ein neues Eisengitter brauchten oder ein Wasserklo

    beispielsweise. Gegen Anfang April wurde ein Trupp von 800

    Mann zusammengestellt und an die Kste verlegt. Bartok und

    seine Kameraden waren unter ihnen. Sie wurden an Bord eines

    Dampfers genommen, und das Gercht ging um, da sie in

    ein Lager in Ostasien verschit werden sollten.

    In den ersten paar Tagen waren fast alle seekrank. Danach

    saen sie herum, hockten in der stickigen Atmosphre des

    dunklen Laderaums zusammen und rauchten, solange sie

    noch Zigaretten hatten. Nur durch ein paar schmale Bullaugen

    konnten sie einen chtigen Blick auf das Meer erhaschen, also

    schauten sie reihum hinaus. Das Wasser war blau und klar,

    und manchmal konnte man weie Flgel oder den Schatten

    eines groen Fisches sehen.

    Allmhlich wurden die Wachen nachlssig. Die Gefangenen

    beobachteten das und schmiedeten den Plan, die Besatzung zu

    berraschen und die Gewalt ber das Schi an sich zu reien.

  • 53

    Einige von ihnen spionierten die Rume aus, wo die Waen

    aufbewahrt wurden, und andere rsteten sich heimlich mit

    Maripfriemen, Tauen und Messern aus.

    Dann brachen sie in einer strmischen Nacht los. Drei rie-

    senhafte Unteroziere fhrten den Trupp an, zu dem Bartok

    gehrte. Scheinbar harmlos schlenderten sie auf die Kajts-

    treppe zu und warfen sich dann pltzlich wie Katzen auf die

    erstaunten Wachen, die keinen Widerstand leisten konnten.

    Wenige Augenblicke spter hatten sie die Luken aufgebrochen

    und waren drauen an Deck.

    Ein Teil der Besatzung wurde im Schlaf berwltigt, und der

    Rest mute sich ergeben. Nur der Kapitn und zwei Oziere

    verschanzten sich und erneten das Feuer. Drei Gefangene

    wurden durch Revolverschsse gettet. Aber als ein Maschi-

    nengewehr in Stellung gebracht wurde, ergab sich der schwer

    verwundete Kapitn.

    Die Gefangenen hatten vor, sich zu einem neutralen Hafen

    durchzuschlagen, denn sie waren gut mit Waen und Nah-

    rungsmitteln versorgt, und einige von ihnen waren schon

    vorher zur See gefahren. Ein ehemaliger Schisozier ber-

    nahm das Kommando. Jeden Tag wurde exerziert, und Bartok

    wurde am Maschinengewehr ausgebildet. Der kommandie-

    rende Ozier schtzte, da sie eine volle Woche bis zum

    nchsten Hafen brauchen wrden. Aber es kam anders. Denn

    am vierten Tag schob sich der niedrige graue Rumpf eines

    Kriegsschis ber den Horizont. Mit rauchenden Schloten

    hielt er geradewegs auf das Dampfschi mit den Gefangenen

    zu. Sie versuchten, sich davonzumachen, waren aber nicht

    schnell genug. Dann brachten sie alles in Bereitschaft, um

    sich zu verteidigen in der Honung, bis zum Einbruch der

  • 54

    Nacht durchzuhalten und dann im Schutz von Nebel und

    Dunkelheit zu entkommen.

    Aber sie hatten keinen Erfolg. Sie hatten zwar Gewehre, aber

    sie waren nicht in der Lage, den Kreuzer damit zu erreichen.

    Nach einer Stunde waren viele tot, und sie waren gezwungen,

    die weie Flagge zu hissen. Der Schisozier erscho sich, als

    das erste Boot des Kriegsschis seitlich herankam. Der Kapitn

    des Kreuzers behandelte die Gefangenen nicht als Soldaten,

    sondern als Meuterer, und so wurden sie in eine Strafkolonie

    auf einer Insel gebracht. Einige der Rdelsfhrer wurden er-

    schossen, und einer von ihnen war Michael Horvath, Bartoks

    Freund. Er bergab Bartok seine Uhr und seine Brieftasche.

    Viel Glck, Johann, sagte er und schttelte ihm zum Ab-

    schied die Hand, egal, ob ich auf diese oder jene Weise sterbe

    es kommt letztlich doch auf dasselbe heraus Hoen wir,

    da du durchkommst! Wenn meine Mutter dann noch lebt,

    gib ihr diese Sachen, ja?

    Die brigen Gefangenen wurden der Meuterei fr schuldig

    befunden. Jeder fnfte wurde zu lebenslnglich verurteilt

    und der Rest zu fnfzehn Jahren Zwangsarbeit. Als sie abzhl-

    ten, hatte Bartok Glck er bekam nur fnfzehn Jahre.

    Fnfzehn Jahre, dachte er am Abend des ersten Tages,

    als er sich mit schmerzenden Gliedern in einer Ecke der

    brennendheien Wellblechhtte hinlegte, fnfzehn Jahre.

    Heute bin ich zweiunddreiig. Dann werde ich siebenundvier-

    zig sein. Er nahm das Bild seiner Frau aus dem Uhrendeckel

    und schaute es lange an. Dann schttelte er den Kopf und

    versuchte einzuschlafen.

  • 55

    Die Arbeit war hart und das Klima mrderisch. Einhunder-

    tachtzig Mnner starben im ersten Jahr. Im zweiten einhun-

    dertzehn. Im vierten Jahr freundete sich Bartok mit Wilczek

    an, einem Bauern aus dem Banat. Im sechsten begrub er ihn.

    Im siebten verlor er seine Vorderzhne. Im achten erfuhr er,

    da der Krieg schon lange vorbei war. Im neunten Jahr wurde

    er grau. Im zehnten Jahr ohen sechzehn Leute, wurden aber

    wieder gefangengenommen. Im zwlften Jahr sprach keiner

    mehr von Zuhause. Die Welt war zu einer Insel zusammen-

    geschrumpft, das Leben war Plackerei und tiefer Schlaf, die

    Sehnsucht war ausgelscht, der Schmerz war abgestumpft, die

    Erinnerung zerstrt ber den sinnlosen berbleibseln von

    Wesen, die sich jeden Abend stumm zum Sterben hinlegten

    und doch am Morgen wieder aufstanden, standen nur Wch-

    ter, gro und gebieterisch, und Fieber und Verzweiung.

    Als der Aufseher ihnen sagte, da sie frei seien, glaubten sie

    es zuerst gar nicht. Bis zum allerletzten Tag hatten sie damit

    gerechnet, da er kommen und ihnen mitteilen wrde, da sie

    noch weitere fnf Jahre bleiben mten so wenig konnten sie

    sich vorstellen, was es bedeutete, frei zu sein. Sie packten ihre

    wenigen Habseligkeiten zusammen und marschierten hinunter

    zum Hafen. Bartok sah sich noch einmal um. Da, vor den Ht-

    ten, sah er die berlebenden jener Kameraden, die lebenslange

    Freiheitsstrafe bekommen hatten und jetzt zurckbleiben mu-

    ten. Sie schauten ihnen schweigend nach. Vor dem Abmarsch

    hatte Bartok zwei von ihnen gefragt, ob er ihnen nicht etwas

    von Zuhause schicken knnte. Halt den Mund! hatte einer

    geantwortet und war weggegangen. Der andere verstand gar

    nichts mehr. Aber der erste kam ein paar Schritte hinter ihnen

  • 56

    hergelaufen Wir kommen auch! schrie er. Die anderen

    rhrten sich nicht. Sie standen blo da und starrten.

    Auf dem Weg zum Schi nahm Bartok seine Uhr heraus.

    Das Bild von seiner Frau war noch da es war vllig verblat,

    und nichts Erkennbares war geblieben. Aber er nahm es heraus