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Monika Fludernik

Erz�hltheorieEine Einf�hrung

4. Auflage

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

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Einbandgestaltung: Peter Lohse, B�ttelborn

Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittel-alterlichen Weltbildes, 1888.Aus: Camille Flammarion: L’atmosph�re, et la m�t�orologie populaire,Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet �berhttp://www.dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich gesch�tzt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzul�ssig.Das gilt insbesondere f�r Vervielf�ltigungen,�bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

4., erneut durchgesehene Auflagei 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt3., gegen�ber der 2. unver�nderte Auflage 20102., durchgesehene Auflage 20081. Auflage 2006

Die Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG erm�glicht.Einbandgestaltung: schreiberVIS, BickenbachSatz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachGedruckt auf s�urefreiem und alterungsbest�ndigem PapierPrinted in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN: 978-3-534-29920-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erh�ltlich:eBook (PDF): 978-3-534-26217-5eBook (epub): 978-3-534-26218-2

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Erz�hlung und Erz�hlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

II. Die Erz�hltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

III. Das Erz�hlwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

IV. Erz�hlstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32Innere Erz�hlstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36Die Geschichte als Plot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Der Erz�hler: Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Darbietungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Fokalisierung, Perspektive, Point of view . . . . . . . . . . 47

V. Die Erz�hloberfl�che . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51Raum/Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Charaktere oder Romanfiguren . . . . . . . . . . . . . . . 55Handlung und Konturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 57M�ndliche Erz�hlung und das Episodenschema . . . . . . . 58Tempora und Pronomina als kreative Textgestaltung . . . . 61Experimente mit dem Erz�hltempus . . . . . . . . . . . . . 63

VI. Realismus, Illusionismus und Metafiktion . . . . . . . . . . . 66Realismus in der Erz�hlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 66Roland Barthes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67Die Authentizit�t des Erz�hlprozesses . . . . . . . . . . . . 69Fiktionalit�t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Metafiktion und Metanarration . . . . . . . . . . . . . . . 75

VII. Sprache als Rede und Stil in der Erz�hlung . . . . . . . . . . . 78Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Redewiedergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80Sprache und Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Metaphorik und Metonymik . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

VIII. Gedanken, Gef�hle und das Unbewusste . . . . . . . . . . . . 93

IX. Erz�hltypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103Die Erz�hltheorie von Franz Karl Stanzel . . . . . . . . . . 104Die Erz�hltheorie von G�rard Genette . . . . . . . . . . . . 113Neuere Erz�hltheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

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6 Inhalt

X. Geschichte der Erz�hlformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124Von M�ndlichkeit zu Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . 125Wandel von Erz�hlaspekten und kognitiver Wandel . . . . 126Erste Belege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127Neuere Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128Funktionswandel und Theorieanpassung . . . . . . . . . . 129Forschungslakunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

XI. Interpretationsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134Michael Kohlhaas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134Der Schimmelreiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139Die englischen Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Ratschl�ge f�r heranwachsende NarratologInnen . . . . . . . . . . 153Some Don’ts for Narratological Beginners; oder: Was man inSeminararbeiten und anderen Qualifikationsarbeitenvermeiden sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155Fehler und wie man sie vermeidet . . . . . . . . . . . . . . 160

Kleine Fibel erz�hltechnischer Termini . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180Prim�rliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180Sekund�rliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

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Vorwort

Dieser Band zur Einf�hrung in die Erz�hltheorie f�r Erstsemestrige ist derInitiative der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt und insbeson-dere von Frau Jasmine Stern zu verdanken, die mich mit Beharrlichkeitdazu �berredete, auch einmal einen Einf�hrungsband zu schreiben, und dieauch die Geduld aufbrachte, so lang zu warten, bis ich f�r diese AufgabeZeit und Muße fand. Das Verfassen dieses Buches hat mir in vielfacher Wei-se zu neuer Sicht auf, wie ich dachte, altbekannte Probleme verholfen undmich dazu gezwungen, komplexe Sachverhalte so zu durchdenken, dass sierelativ simpel dargelegt werden konnten. Ich war selbst sehr �berrascht,dass sich sogar in der Anordnung der Themen in die einzelnen Kapitel, diezun�chst logisch vorgegeben schien, interessante Umgewichtungen zu fr�-heren Modellen ergaben. Die Arbeit an diesem Band hat mir zudem einegute Ausrede daf�r geliefert, mich wieder mehr mit erz�hltheoretischen Fra-gen zu befassen, Sekund�rliteratur aufzuarbeiten und wieder einmal eineVorlesung f�r das Studium generale zu halten. Wegen des Rahmens als Ein-f�hrung in die Erz�hltheorie konnten allerdings nur wichtige Aspekte der Er-z�hlforschung und streng selektierte Verweise auf Sekund�rliteratur ber�ck-sichtigt werden. Schließlich verdanke ich dem vorliegenden Projekt auchdie einmalige Chance, mein eigenes erz�hltheoretisches Modell in deut-scher Sprache zusammenzufassen, was f�r Nichtanglisten, die sich nichtdurch 400 Seiten Towards a ,Natural‘ Narratology durchqu�len wollen,schon lang ein Desiderat der deutschen Erz�hlforschung war.

F�r die kompetente Bearbeitung des Manuskripts danke ich Frau SusanneNagel, die die einzelnen Kapitel von handschriftlichen Vorlagen ins Reinetippte und den Text formatierte. Die Endfassung wurde von Frau Luise Loh-mann und Frau Laura Deneke erstellt. F�r das Fahnenlesen, Erg�nzen vonbibliografischen Angaben und Erstellen des Literaturverzeichnisses geb�hrtmeinem Team von MitarbeiterInnen Dank, die mich in der heißen Phaseder Endabfassung mit Engagement unterst�tzten: Jan Alber, Kerstin Fest,Thomas Lederer und Tina Schurreit. Narratologisches Feedback kam vonJan Alber, Manfred Jahn und Greta Olson. Auch bei diesen Personen m�ch-te ich mich sehr herzlich f�r ihre Unterst�tzung bedanken.

Abschließend bleibt mir nur zu hoffen, dass der vorliegende Band f�r vie-le Studierende das Niveau getroffen hat, das sie als erste Einf�hrung in er-z�hltheoretische Fragen und Analyseinstrumente ben�tigen. Ich habe michbem�ht, im vorgesteckten Rahmen eine Marktl�cke zwischen den anderensehr kompetenten Einf�hrungen in die Erz�hlanalyse zu schließen, die ent-weder ausf�hrlicher angelegt sind, f�r das Niveau zwischen Hausarbeit undDissertation konzipiert sind oder sich intensiver mit der praktischen Erz�hl-textanalyse auseinander setzen. Ich sehe dieses Buch auch als einen Ver-such, englischsprachige Standardwerke wie Rimmon-Kenans Narrative Fic-tion oder Mieke Bals Narratology, die beide in revidierter Fassung aufliegen,dahingehend zu komplementieren, dass ich kontextuelle, thematische und

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Vorwort

historische Aspekte der wissenschaftlichen Besch�ftigung mit Erz�hlung indie Narratologie mit zu integrieren suche. In dieser Hinsicht bin ich meinenPrinzipien treu geblieben, die mich zu einer m�glichst umfassenden Erz�hl-theorie verpflichten, die literaturgeschichtliche und interpretative Fragenmit ber�cksichtigt.

Gewidmet ist dieser Band meinen zwei narratologischen Lehrern undVorbildern – Franz Stanzel, bei dem ich 1982 dissertierte und der mich zu-erst in die Erz�hltheorie einf�hrte, und Dorrit Cohn, die mir durch ihre Un-terst�tzung den Wiedereinstieg in die Narratologie erm�glichte, mich in derheißen Phase der Habilitation betreute und mir als Wissenschaftlerin einstrahlendes Vorbild geblieben ist.

Freiburg im Breisgau, Sommer 2005

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I. Erz�hlung und Erz�hlen

Wenn wir heute von Erz�hlung reden, so assoziieren wir damit unweiger-lich die literarische Erz�hlung: den Roman, die Novelle oder die Kurzge-schichte. Das Wort „Erz�hlung“ kommt jedoch vom Verb „erz�hlen“, underz�hlt wird allenthalben um uns herum, nicht nur im Roman. Im Deut-schen ist der Begriff „Erz�hlung“ ganz auf den Akt des Erz�hlens konzent-riert. Eine Erz�hlung ist also vor allem dort anzutreffen, wo uns jemand et-was erz�hlt: der Nachrichtensprecher im Radio, die Lehrerin in der Schule,der Klassenkamerad am Schulhof, der Sitznachbar im Zug, der Zeitungsver-k�ufer am Kiosk, der Ehepartner beim Abendessen, der Reporter im Fernse-hen, der Journalist in seiner Kolumne und der Erz�hler des Romans, in demwir vor dem Zubettgehen noch schm�kern. Auch sind wir alle selbst t�glichErz�hler in unseren Gespr�chen mit anderen, manchmal auch berufliche Er-z�hler (ob als Lehrer, Pressesprecher oder Kabarettisten), und zuweilen er-z�hlen wir sogar ,ganz richtig‘, etwa beim Vorlesen der Gebr�der Grimmals Gutenachtgeschichte f�r die Kleinen. Das Erz�hlen ist also eine g�ngigeund oft unbewusste Aktivit�t in der m�ndlichen Sprache und erstreckt sichvon dieser �ber mehrere Gebrauchstextsorten (Journalismus, Unterricht) bishin zu dem, was wir prototypisch als Erz�hlen auffassen, n�mlich das litera-rische Erz�hlen als Kunstgattung.

Doch damit noch nicht genug. Wie in der Forschung immer deutlicherwird, ist das menschliche Gehirn so konstruiert, dass es viele komplexe Zu-sammenh�nge in Erz�hlstrukturen oder in Metaphern (Analogien) fasst. Sowie wir eine Beziehung metaphorisch als ein Haus beschreiben k�nnen,das der eine Partner m�hsam erbaut und mit Liebe eingerichtet hat, w�h-rend der andere es sorglos verkommen l�sst, bis der Putz br�ckelt und dasDach einst�rzt, genauso begreifen wir auch unser Leben als eine Reise, dienarrativ gestaltet werden kann. So ereignen sich oft einige unerwartete Din-ge im Leben, die den Gang der Geschehnisse radikal �ndern – z.B. das un-erwartete Zusammentreffen mit dem sp�teren Ehepartner. In unserer Rekon-struktion des eigenen Lebens als Geschichte betonen wir gern, dass ver-schiedene Ereignisse sp�tere hervorgerufen und beeinflusst haben. DasLeben wird wie eine zielgerichtete Ereigniskette beschrieben, die trotz man-cher Hindernisse und dank einiger Gl�cksf�lle zum Jetztzustand gef�hrt hatund die noch weitere vorhersehbare Stadien und unerwartete Entwicklun-gen f�r uns bereith�lt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Psychoana-lyse narrative Lebensentw�rfe mit in den Therapieprozess integriert, ja man-che Psychologen das Erz�hlen ins Zentrum der Therapie stellen.

Die Bedeutung des Erz�hlens f�r die menschliche Kultur l�sst sich auchan der Tatsache erkennen, dass Schriftkulturen ihre Urspr�nge in Mythensuchen und diese sp�ter in den Werken der Geschichtsschreibung niederle-gen und analog zu den Erkl�rungsprozessen individueller autobiografischerErz�hlungen die Leistungen ihrer Vorahnen und die Fortschritte der Nationbis zur Gegenwart als Geschichte(n) bzw. Erz�hlung ins kulturelle Ged�cht-

Erz�hlung ist �berall

Erz�hlen undGeschichte

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Einf�hrung in die Erz�hltheorie

nis einschreiben. Auch andere Bereiche von Kultur und Gesellschaft verfas-sen sich ihre eigenen Geschichten – es gibt die historische Sprachwissen-schaft, die eine Entwicklung des Deutschen aus dem Indogermanischen ,er-z�hlt‘, wie es eine Musikgeschichte, eine Literaturgeschichte und eine Ge-schichte der Physik gibt. Auch der Nationalstaat hat eine Geschichte, undder Aufstieg und Fall von Institutionen (z.B. des Merkantilismus oder derSklaverei) werden ebenso narrativ dargestellt wie die Fortschritte der Gen-technologie. Das Erz�hlen bietet uns eine grundlegende Erkenntnisstrukturan, die uns hilft, die un�bersichtliche Vielfalt der Ereignisse zu ordnen undErkl�rungsmuster daf�r zu liefern.

Erz�hlungen basieren auf Ursache-und-Wirkung-Zusammenh�ngen, dieauf Ereignissequenzen angewandt werden. In der Historiografie kommenmehrere narrative Erkl�rungsmodelle zur Anwendung. Aus sicherer Distanzkann man – mit einer Metapher aus der Biologie – von Geburt, Reife undVerfall einer Nation reden. Man kann auch die Serie der Kontingenzen ana-lysieren, die dazu gef�hrt haben, dass jetzt ein gewisser Ist-Zustand vorhan-den ist. Ein Beispiel daf�r w�re das Problem, warum die Stadt Graz eine sostarke protestantische Gemeinde hat. (Dies l�sst sich nicht als notwendigeKonsequenz eines Entwicklungsprozesses beschreiben, sondern h�ngt mitden Zuf�llen von Vertreibung und Wiederansiedlung im Zeitalter der Refor-mation und Gegenreformation zusammen.) Es gibt aber auch nicht narrativeModelle der historischen Erkl�rung, z.B. solche, die allgemeine Gesetzm�-ßigkeiten in der Geschichte annehmen oder aktuelle Ereignisse als identi-sche Neuauflagen kardinaler Schicksalsmomente der eigenen Geschichtedeuten: der 11. September 2001 als ,Wiederholung‘ (durchaus auch imzwangsneurotischen Sinn) von Pearl Harbor.

Womit wir auch bei der Frage sind, was denn dann �berhaupt keine Er-z�hlung mehr ist, oder wie man Erz�hlung definieren soll, um sie vomnicht-erz�hlenden Diskurs abzugrenzen.

In den bisherigen Ausf�hrungen haben wir den Begriff „Erz�hlung“ soverwendet, wie er allgemein im Volksmund gebraucht wird, n�mlich invielfacher Bedeutung. Um zu einer Erkl�rung f�r das spezifisch Narrativedes Erz�hlens zu kommen, m�ssen wir nun die hilfreichen Unterscheidun-gen der Erz�hltheorie (auch Narratologie genannt) bem�hen, um mehr Klar-heit in das Wirrwarr zu bringen.

Oben haben wir gesagt, dass Erz�hlung von Erz�hlen kommt und dass Er-z�hlen eine sehr weit verbreitete T�tigkeit ist. Im Deutschen ist daher derBegriff der Erz�hlung eng mit dem Sprechakt des Erz�hlens verbunden undsomit mit der Figur eines Erz�hlers. Man k�nnte also Erz�hlung als all dasdefinieren, was ein Erz�hler erz�hlt. Doch, Achtung, was ist es genau, dasder Erz�hler erz�hlt? Ist es der Roman? Oder ist es die Geschichte, die indiesem Roman beschrieben ist?

Hier erweist sich G�rard Genettes Unterscheidung zwischen den drei Be-deutungen des franz�sischen Wortes r�cit (Erz�hlung) als Ausweg aus demDilemma. Genette unterscheidet zwischen narration (dem Erz�hlakt des Er-z�hlers), discours (der Erz�hlung als Text bzw. �ußerung) und der histoire(der Geschichte, die der Erz�hler in seiner Erz�hlung erz�hlt). Man kannauch die ersten beiden Ebenen der Erz�hlung zusammen als Erz�hlerbericht(frz. discours, engl. discourse) bezeichnen, indem man den Erz�hlakt und

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Definition – Was istErz�hlung?

Erz�hlakt –Erz�hldiskurs –

Geschichte

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Erz�hlung und Erz�hlen

sein Produkt in eins fasst und sie von der dritten Ebene, der Geschichte (frz.histoire, engl. story) bin�r abgrenzt. Die Geschichte ist dann das, was derErz�hlerbericht aussagt oder darstellt.

Diese Unterscheidungen erm�glichen es uns, z.B. der Tatsache Rech-nung zu tragen, dass dieselbe Geschichte in vielfacher Form dargestellt wer-den kann. So wird das Leben Karls des Großen in mehreren Geschichtswer-ken ganz verschiedenartig erz�hlt, und die Geschichte von Schneewittchensieht in der Grimmschen Fassung ganz anders aus als in modernen Nacher-z�hlungen und Parodien der M�rchenvorgabe. W�hrend n�mlich im M�r-chen die Grausamkeit der Stiefmutter im Vordergrund steht, die kannibali-sche Z�ge tr�gt, wie auch �berhaupt das Essen eine wichtige Rolle spielt,sind in modernen Fassungen die exzessiven Grausamkeiten der Grimm-schen M�rchenwelt oft eliminiert, wof�r aber die etwas anst�ßige Situationvon Schneewittchen im Haushalt der sieben (m�nnlichen) Zwerge Anlasszu Spekulationen gibt. (Neben einer Vielzahl von Cartoons ist hier z.B. anDonald Barthelmes Roman Snow White [1967] zu denken.) VerschiedeneErz�hlungen fokussieren also ganz verschiedene Aspekte der Geschichte;oder: noch genauer – die Geschichten, die wir aus verschiedenen Erz�hl-texten rekonstruieren, sind oft komplement�r zueinander. Sie erg�nzen inparodistischer oder zeitgeschichtlich relevanter Weise die L�cken, welchefr�here Versionen ,derselben Geschichte‘ (Fabel) in ihrer Darstellung belas-sen haben (vgl. Stanzel 1977), oder schreiben die Geschichte einfach um,z.B. aus feministischer Sicht. Es gibt also eine Ebene der Geschichte, die Fa-bel, die in der volkskundlichen Motivgeschichte als Basis f�r alle Schnee-wittchenerz�hlungen gelten kann; andererseits gibt es mehrere Manifes-tationen dieses Motivs in verschiedenen Ereignisabfolgen und Charakter-konstellationen, also im Plot, die in jeweils existierenden Texten die Ebeneder fiktiven Welt der Erz�hlung ausmachen.

Hier unterscheidet sich die fiktionale Erz�hlung (ob im M�rchen, Romanoder Fernsehfilm) radikal von der Geschichtsschreibung. W�hrend der Autorbeim Schreiben eines Romans oder eines Drehbuchs die fiktive Welt entwirftund so gleichzeitig die Geschichte und – mit ihr untrennbar verbunden –den erz�hlenden Diskurs samt Erz�hltext produziert, konstruieren Historikeraus Quellen (die auch Erz�hlungen sein k�nnen) einen m�glichst �berzeu-genden und konsistenten Hergang der Dinge. Wichtig ist hier vor allem, dasses dem Historiker nicht erlaubt ist, den Aussagen der Quellen ohne gutenGrund (Unzuverl�ssigkeit des Verfassers, Datierungsprobleme) zu wider-sprechen. Die entworfene Geschichte des Historikers darf nicht frei erfundensein, sondern nur diejenigen Bereiche ausgestalten, die als Unbestimmt-heitsstellen zwischen den Eckpfeilern der durch die Quellen vorgegebenenElemente Spekulationen erlauben. Aber auch im historischen Diskurs gibt eskeine eindeutige Geschichte, weil jeder Historiker im Rahmen seiner spe-ziellen Sicht auf die Dinge verschiedene Aspekte der beschriebenen Epocheund Ereignisse wegl�sst und verschiedene andere betont.

Geschichte hat immer auch mit Perspektive zu tun. Nicht nur, dass keinHistoriker oder Romanautor je die (wirkliche oder fiktive) Welt in toto wie-dergeben kann (sonst erginge es ihm wie Tristram Shandy in Laurence Ster-nes Roman desselben Namens (1759–67), der es nach mehreren hundertSeiten Erz�hlung noch immer nicht geschafft hat, seine Geburt zu beschrei-

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Geschichte als Fabelund Plot

Historie undGeschichte

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Einf�hrung in die Erz�hltheorie

ben, da er bereits in der Vorgeschichte seiner Empf�ngnis vom Hundertstenins Tausendste kommt). Erz�hlung ist Selektion. Jede Historie ist zudemgrundlegend perspektivisch. Sie verr�t den Blickwinkel des Autors, seinerNationalit�t und Herkunft, des Zeitalters, in dem er schreibt/schrieb, undsie ist auf ein Publikum zugeschnitten, das gewisse Vorurteile, ideenge-schichtliche �berzeugungen und Erwartungshaltungen hat. Geschichte alsHistoriografie ist nie objektiv, auch wenn sie sich noch so um Wahrheit be-m�ht. So ist der schulische Geschichtsunterricht traditionell dem National-staat verpflichtet gewesen, was nicht nur dazu gef�hrt, hat, dass Kontaktemit anderen Nationen sich in der Freund-/Feind-Metaphorik dargestellt fan-den, sondern auch alle weltgeschichtlichen Ereignisse vornehmlich aus ,un-serer‘ (n�mlich der europ�ischen) Sicht pr�sentiert wurden. Folgerichtig er-fuhren Ereignisse, die nur nationalstaatliche Konsequenzen ausl�sten, eineAufwertung in histoire und discours (dem Plot) des Historiografen, w�hrendzentrale Ereignisse und Entwicklungen im Ausland nur am Rande gestreiftoder g�nzlich ausgelassen wurden. Der deutsche Geschichtsunterricht spie-gelte somit den g�ngigen Eurozentrismus der europ�ischen Staaten wider,im Rahmen dessen das chinesische Reich, die Moguldynastie in Indien oderdie Geschichte Afrikas vor der europ�ischen Kolonisierung kaum Ber�ck-sichtigung fanden. (Zur Ehrenrettung des deutsch[sprachig]en Geschichts-unterrichts sei hier jedoch darauf verwiesen, dass in den USA die Betonungder amerikanischen Perspektive noch viel drastischer ist.)

Wir haben also festgestellt, dass fiktionale Erz�hlungen fiktive Weltenkreieren, w�hrend Historiker kollektiv dieselbe reale Welt unter verschie-densten Perspektiven erz�hlend und erkl�rend darzustellen trachten. Als Le-ser konstruieren wir aus dem Erz�hltext eines Romans die Geschichte (Figu-ren, Ort der Handlung, Ereignisse), w�hrend es bei historischen Texten dieHistoriker sind, welche auf der Basis der Quellen eine Geschichte entwer-fen und diese dann sprachlich niederlegen. Man kann das so darstellen:

Historiker Autor

hhf

hhf

historiografischer Text Romantextdhh

hhf

Geschichte Geschichte

dhh

Quellen

Abb. 1: Geschichte in Historie und Roman

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Erz�hlung und Erz�hlen

Um auf das M�rchen zur�ckzukommen: Wenn man Erz�hlung mit Ge-schichte (Fabel) identifiziert, dann sind auch Darstellungen dieser Ge-schichte in anderen Medien Erz�hlungen. Im englischsprachigen Raum istes daher nicht nur �blich, Roman und Film als narrative Gattungen zu ana-lysieren, sondern auch Dramen, Cartoons, Ballette und Pantomimik. In denletzten Jahren wird sogar dar�ber debattiert, inwieweit Musik, Malerei undLyrik sich narrativ verstehen lassen und narratologischer Analyse zug�nglichsind. (Vgl. u.a. N�nning/N�nning [2002a], insbesondere den Beitrag vonWolf, sowie H�hn [2004] und einige der Aufs�tze im Blackwell Companionto Narrative Theory [Phelan/Rabinowitz 2005].) Nehmen wir als Beispieldas Ballett Dornr�schen, das eine zugrunde liegende Geschichte aufweist,die in M�rchenform auch als Erz�hlung existiert. Hier werden Ballett undM�rchen als alternative Manifestationen derselben Geschichte (Fabel) gese-hen. Die russischen Formalisten, die in den zwanziger und dreißiger Jahrendes vorigen Jahrhunderts aktiv waren, haben f�r diese grundlegende Ebene,die mehreren Versionen (auch in verschiedenen Medien) zugrunde liegt,den handlichen Begriff der fabula gepr�gt. Wir werden daher im Folgendendie Fabel unterscheiden von der spezielleren Inkarnation des Sujets in derEbene der Geschichte, also der (konstruierten) Ebene des Erz�hlwerks, dieder Diskurs als fiktive Welt entwirft. Wir werden in Zukunft auf diese als diePlotebene oder die fiktive Welt referieren. (Die russischen Formalistennannten sie sujet (sjuzet), aber dies ist missverst�ndlich, da das Sujet einesRomans im Deutschen sich eher auf dessen Thematik bezieht.)

Womit wir wieder zur Frage nach der Definition von Erz�hlung zur�ck-kehren. Zum Teil wegen der gebr�uchlicheren deutschen Termini „Erz�hler“und „Erz�hlung“ sind Definitionen der Erz�hlung im deutschen Sprachraumeng gefasst, also auf die Figur des Erz�hlers bezogen gewesen. Erz�hlung istalso die Geschichte, die ein Erz�hler erz�hlt. Damit reiht sich die Forschungin die Tradition der Goetheschen Dreiteilung von Lyrik, Epik, Dramatik ein,wonach die Epik das grundlegend Narrative ist. Und die Epik hat einen Bar-den, einen Erz�hler, der erz�hlt. Nach dieser traditionellen Auffassung gibtes also wohl Textgattungen, denen eine Geschichte zugrunde liegt – dasDrama z.B. – aber diese sind nicht genuin narrative Gattungen, weil inihnen kein Erz�hler obwaltet. Aus diesem Grund ist in der Erz�hltheorievon F. K. Stanzel (2001) das Drama keine Erz�hlgattung. Diese Zusammen-h�nge kann man so darstellen:

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Abb. 2: Definition von Erz�hlung auf der Basis eines Erz�hlers

Lyrik Drama, Ballett Erz�hlung(Roman, Historie)

ohne Geschichte mit Geschichteohne Erz�hler

mit Geschichteund Erz�hler

Fabel vs. Plot

Der Erz�hler

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Einf�hrung in die Erz�hltheorie

Das heißt: Die Erz�hlung ist eine Teilmenge der Gattungen mit Ge-schichte.

Im angloamerikanischen Sprachraum hat sich hingegen in der Folge vonSeymour Chatmans einflussreichem Buch Story and Discourse (1978) eineeher weite Definition von Erz�hlung entwickelt, die auch andere Medienals die des erz�hlenden Diskurses zul�sst. Hatte noch Gerald Prince in sei-nem Standardwerk, A Dictionary of Narratology (1987), die Erz�hlung defi-niert als:

narrative: The recounting […] of one or more real or fictitious EVENTScommunicated by one, two, or several (more or less overt) NARRATORSto one, two, or several (more or less overt) NARRATEES (58)

so definiert Chatman zwar die Erz�hlung (narrative) als Konjunktion vonDiskurs und Geschichte, erweitert aber die Diskursdefinition medial undsetzt z.B. in Analogie zum Erz�hler traditioneller Pr�gung einen „cinematicnarrator“ (1990: 126–34) an, der eine �hnliche Vermittlungsfunktion in derDarstellung der Geschichte erf�llt wie der Erz�hler im Roman. Da die vorlie-gende Einf�hrung f�r Studierende in Einf�hrungskursen philologischer Stu-dienrichtungen konzipiert ist, werden wir im Folgenden nur selten auf denFilm rekurrieren und uns haupts�chlich dem traditionelleren sprachlichen Er-z�hlmedium zuwenden. Allerdings werden wir bei der Analyse des Hand-lungsschemas auch auf das Drama zur�ckgreifen, da sich die Plotanalyse f�rRoman und Drama weitgehend in �bereinstimmung befindet.

Der Begriff „Plotanalyse“ bringt mich jedoch noch zu einem weiterenPunkt, n�mlich der Bedeutung von Handlungsabfolgen f�r die Definitionder Erz�hlung. Traditionell wird die Geschichte als eine Sequenz von Ereig-nissen begriffen, die einen Beginn, eine Mitte und ein Ende haben und meist�ber Komplikationen im Mittelteil Spannung erzeugen, welche sich durchdie L�sung der Konflikte am Werkende aufheben. Die oben zitierte Defini-tion von Prince versucht, das Narrative in einer Minimalausf�hrung auf „einoder mehrere“ Ereignisse zu beschr�nken. Doch ist das nur die radikaleAusf�hrung der allgemeinen These, wonach Geschichte und Handlung ei-nander gegenseitig bedingen.

Diese Verschr�nkung von Geschichte und Handlung stimmt auch gr�ß-tenteils – in den meisten Erz�hlungen geht es in der Geschichte um Ereig-nisketten. Ereignisse sind also ein charakteristischer Teil von erz�hlten Wel-ten. Manche Erz�hlgattungen leben fast ausschließlich vom Interesse desGeschehens („Und was passierte dann?“). Andererseits geht es in Erz�hlun-gen nicht vorrangig um Ereignisketten, sondern um fiktive Welten, in denendie Figuren der Geschichte leben, handeln, denken und f�hlen. Neueretheoretische Entw�rfe der Erz�hltheorie wie die Theorie der m�glichen Wel-ten (possible worlds theory; siehe Kapitel X) und die nat�rlichkeitstheoreti-sche Narratologie (Fludernik 1996) haben daher die Existenz von fiktivenPersonen in einer fiktiven Welt in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt.Aus kognitionstheoretischer Perspektive ist es so, dass Handeln, Denkenund F�hlen sich automatisch als Existenzbedingung einer menschlichen Fi-gur darstellen, also implizit aus ihrer Existenz folgen.

Die Betonung auf „menschliche“ Figur ist ausschlaggebend. Ein Kriteriumf�r das, was Erz�hlung ausmacht, ist die Notwendigkeit, menschliche oder

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Geschichte undHandlung

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Erz�hlung und Erz�hlen

menschen�hnliche Protagonisten in den Mittelpunkt zu stellen. Texte, dieGene w�hrend der Zellteilung beschreiben, sind nur insofern ,narrativ‘, alssie Ereignissequenzen nachzeichnen. Unter Erz�hlforschern ist jedoch un-umstritten, dass ,richtige‘ Erz�hlungen menschliche Protagonisten oder an-thropomorphe Figuren (den sprechenden Hasen der Fabel, das sprechendeAuto, etc.) haben. Auch wenn nicht alle Erz�hlungen die Gedankenwelt derFiguren in den Mittelpunkt der Geschichte stellen, so ist die Darstellung derInnenwelt von fiktiven Figuren f�r die fiktionale Erz�hlung charakteristisch,denn nur in der Fiktion ist es m�glich, die Gedanken von anderen Personeneinzusehen. (Diese Erkenntnis stammt von der Erz�hlforscherin K�te Ham-burger [1957/1994].) Um aber der Erkenntnis, dass Ereignisfolgen in Ge-brauchstexten auch irgendwie narrativ sind, Rechnung zu tragen, kann manf�r Ereignisfolgen den Begriff „Berichtform“ einf�hren und anmerken, dassErz�hlungen typischerweise Ereignisketten in Berichtform enthalten unddiese berichtenden Teile auch in nicht-narrativen Gattungen wie in einembiologischen Aufsatz �ber die Zellteilung zur Anwendung kommen.

Ein letztes Kriterium daf�r, was eine Erz�hlung ist und was nicht, ergibtsich durch die zeitliche Verankerung des narrativen Geschehens. Dies h�ngtauch mit der Zentralit�t der Protagonisten als in kognitiver Hinsicht ,real-weltlichen‘ Figuren zusammen. Jeder Mensch ist in seiner Existenz an einenZeitpunkt sowie an einen Ort gebunden. Was davor geschah, ist vergangenund im Ged�chtnis verankert, was danach geschieht, wird Zukunft sein, diein Gegenwart und dann Vergangenheit �bergeht. Eine wichtige Unterschei-dung zwischen Lyrik und Erz�hlung ist daher, dass Gedichte ihr lyrischesIch oft nicht zeitlich und �rtlich fixieren, so dass die existenzielle Veranke-rung des Ichs in Raum und Zeit fehlt. Damit entf�llt auch eine m�gliche nar-rative Deutung solcher Gedichte.

Um nun die geschilderten Kriterien zusammenzufassen, k�nnen wir dieDefinition von Erz�hlung wie folgt angeben:

Eine Erz�hlung (engl. narrative, frz. r�cit) ist eine Darstellung in einemsprachlichen und/oder visuellen Medium, in deren Zentrum eine odermehrere Erz�hlfiguren anthropomorpher Pr�gung stehen, die in zeitlicherund r�umlicher Hinsicht existenziell verankert sind und (zumeist) zielge-richtete Handlungen ausf�hren (Handlungs- oder Plotstruktur). Wenn essich um eine Erz�hlung im herk�mmlichen Sinn handelt, fungiert ein Erz�h-ler als Vermittler im verbalen Medium der Darstellung. Der Erz�hltext ge-staltet die erz�hlte Welt auf der Darstellungs- bzw. (Text-)Ebene kreativ undindividualistisch um, was insbesondere durch die (Um-)Ordnung der zeitli-chen Abfolge in der Pr�sentation und durch die Auswahl der Fokalisierung(Perspektive) geschieht. Texte, die von Lesern als Erz�hlungen gelesen (bzw.im Drama und Film: erlebt) werden, sind automatisch narrative Texte; siedokumentieren dadurch ihre Narrativit�t (engl. narrativity, frz. narrativit�).

Der letzte Satz bezieht sich auf stilistische Techniken in Erz�hlungen, wiedie M�glichkeit, zuerst am Ende des Geschehens mit der Darstellung einzu-setzen und dann im R�ckblick die Ereignisse bis dahin zu beschreiben, wiedies in Hundert Jahre Einsamkeit von Garc�a Mrquez geschieht. Wir wer-den diese Techniken ausf�hrlich in Kapitel IV beschreiben. Desgleichenk�nnen Erz�hlungen auch zwischen mehreren Standpunkten w�hlen, z.B.ob sie die Ereignisse aus der Sicht des Erz�hlers oder einer Figur schildern,

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Definition

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Einf�hrung in die Erz�hltheorie

ob sie uns Einblick in die Gedanken der einen Figur, nicht aber der anderengew�hren. Im Film werden diese Effekte oft mit Nahaufnahmen erzielt. Die-se M�glichkeiten werden wir in Kapitel VIII diskutieren. Zwischen der Plot-und der Diskursebene erfolgen also mehrere Umstrukturierungen, die auchmedial bedingt sind (Dramen, Filme und Romane gestalten ihre Diskurs-oberfl�che in verschiedener Weise).

Wir haben in diesem Kapitel gelesen, dass es fiktionale (erfundene) undnicht fiktionale Erz�hlungen gibt, ebenso wie es sprachliche (Roman, All-tagserz�hlung), visuelle (Ballett) und sprachlich-visuelle (Drama, Film) Er-z�hlungen gibt. Verbale Erz�hlungen haben h�ufig einen Erz�hler, der denerz�hlenden Diskurs, also den Erz�hltext, produziert. Aus der Erz�hlungkonstruieren wir die darunter liegende Handlungsstruktur (Plot), die auchGeschichte heißt und eine Manifestation der Fabel ist, des Motivkomplexesder Geschichte. Diese Zusammenh�nge lassen sich wie folgt in Abbildung 3darstellen:

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Abb. 3: Fabel, Plot und Diskurs in verschiedenen Medien

Diskurs Erz�hlerbericht/Text Bild- und Ton-abfolge

Tanzgeschehenund B�hnen-

gestaltung

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dhh

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Umstrukturierung durch Fokalisierung, Zeitgestaltung, etc.

Medium Roman Kurzgeschichte Film Ballett

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Plotebene Plot 1 Plot 2 Plot 3 Plot 4

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Fabel Fabel

Zusammenfassung