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Romanistische Kulturwissenschaft? Robert Delaunay: Les Fenêtres (1912), aus: Pariser Visionen: Robert Delaunays Serien, The Salomon R. Guggenheim Foundation, New York 1997, No. 48 Deutscher Romanistentag 7.-10. Oktober 2001 in München Die Einheit der Vernunft in der Vielzahl ihrer Stimmen: Sektion 10 - 1 -

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Romanistische Kulturwissenschaft?

Robert Delaunay: Les Fenêtres (1912),aus: Pariser Visionen: Robert Delaunays Serien,

The Salomon R. Guggenheim Foundation,New York 1997, No. 48

Deutscher Romanistentag

7.-10. Oktober 2001 in München

Die Einheit der Vernunft in der Vielzahl ihrer Stimmen:

Sektion 10

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7.-10. Oktober 2001 in München

Die Einheit der Vernunft in der Vielzahl ihrer Stimmen

Sektion 10: "Romanistische Kulturwissenschaft?"

Sektionsleiter:

Prof. Dr. Paul Geyer und Prof. Dr. Rainer Zaiser (Köln)

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InhaltsverzeichnisKonzept.................................................................................................................................................4Programm.............................................................................................................................................5

Montag, 8. Oktober 2001 ................................................................................................................5Dienstag, 9. Oktober 2001 ..............................................................................................................5Mittwoch, 10. Oktober 2001 ...........................................................................................................6

Abstracts...............................................................................................................................................7"Mit den Toten sprechen" - zur Bedeutung der Literatur bei Diderot und Greenblatt (Andrea Eckert, Köln)....................................................................................................................................7Kritische Kulturtheorie (Paul Geyer, Köln).....................................................................................7Warum der dritte Akt von Warten auf Godot komisch ist oder Die Funktion der Literatur als ‚Attraktor' kultureller Tätigkeit (Susanne Hartwig, Madrid)...........................................................8Computerrhetorik. Drei Diskussionsvorschläge (Manfred Hinz, Passau).......................................8Kulturwissenschaft und Erzähltheorie: Zur Kulturkritik in Goytisolos Señas de identidad (Claudia Jünke, Köln)......................................................................................................................9Wissen für das Volk. Zur Geschichte eines Projektes der Aufklärung (Wolfgang Klein, Osnabrück) ......................................................................................................................................9Text und Bild: ästhetizistische Exerzitien als kulturelle Tätigkeit in Huysmans' A rebours (Kirsten Kramer, Köln)....................................................................................................................9Lesen als kulturreflexive Praxis in den Romanen Flauberts (Patricia Oster, Tübingen)...............10Literaturwissenschaft und Gesellschaftstheorie (Hans-Georg Pott, Düsseldorf)..........................10Wahrheitsstreben als Kulturleistung oder: Camus' Rolle für den Osten (Brigitte Sändig, Potsdam)........................................................................................................................................................11Ästhetik und Kulturwissenschaft bei Michel Butor, (Monika Schmitz-Emans Bochum) ............11Dekulturation vs. Rekulturation. Für eine kulturkritische Lektüre Italo Calvinos (Michael Schwarze, Eichstätt).......................................................................................................................12Globalization and Cultural Studies: Conceptualization, Convergence, and Complication (Richard Terdiman, University of California, Santa Cruz)...........................................................................12Die Vertreibung aus dem Paradies als Anfang von Kultur. Boccaccios ‚naturphilosophische‘ Revision des Sündenfalls [mit Lichtbildern] (Winfried Wehle, Eichstätt)...................................12Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft: Antagonismus oder Osmose? (Rainer Zaiser, Köln)..............................................................................................................................................13

Textauszüge und Zusammenfassungen..............................................................................................14Andrea Eckert (Köln): „Mit den Toten sprechen“ – zur Bedeutung der Literatur bei Greenblatt und Diderot....................................................................................................................................14Paul Geyer (Köln): Literatur und Kultur(Textauszug)..................................................................15Claudia Jünke (Köln): Kulturwissenschaft und Erzähltheorie. Zur Kulturkritik in Juan Goytisolos Señas de identidad.........................................................................................................................17Wolfgang Klein (Osnabrück): Wissen für das Volk. Zur Geschichte eines Projektes der Aufklärung.....................................................................................................................................21

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KonzeptDie Legitimation der traditionellen Philologien scheint in den letzten Jahren immer stärker in

Frage zu stehen. Sie werden zunehmend integriert in jene Disziplinen, die unter den Oberbegriff der Kulturwissenschaften gefaßt werden. Dabei läßt sich allerdings feststellen, daß diese Wissenschaften einen eher diffusen Begriff von Kultur veranschlagen und daß die Kulturtheorie daher noch weit davon entfernt ist, ein adäquates methodisches Instrumentarium zur Verfügung zu stellen. Um hier Abhilfe zu schaffen, müßte zuallererst (und von neuem) die wechselseitige Bedingtheit von Kultur, Wissenschaft und Bildung reflektiert werden. Insbesondere wird es auch darum gehen, das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft zu bestimmen. Ziele der Sektion sollen sein:

● die historische Sichtung der Diskussionen um den Kulturbegriff und die Analyse des jeweils darin implizierten Menschenbilds;

● die Entwicklung einer zeitgemäßen Methodologie der Kulturwissenschaften, die den kulturellen Traditionen gerecht wird, aber auch einen kritischen Blick auf die Tendenzen der Gegenwart erlaubt;

● die Bestimmung des Wesens von Literatur als kultureller Tätigkeit (theoretisch und anhand von Fallbeispielen aus den romanischen Literaturen).

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Programm

Montag, 8. Oktober 2001

● 10.00 - 10.40 Rainer Zaiser (Romanistik, Köln) Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft: Antagonismus oder Osmose?

● 10.40 - 11.20 Ralf Konersmann (Philosophie, Kiel) Kulturphilosophie heute

● 11.20 - 12.00 Richard Terdiman (History of Consciousness, Santa Cruz) Globalization and Cultural Studies: Conceptualization, Convergence, and Complication

● 14.40 - 15.20 Wolfgang Klein (Romanische Kulturwissenschaft, Osnabrück) Wissen für das Volk. Zur Geschichte eines Projektes der Aufklärung

● 15.20 - 16.00 Andrea Eckert (Romanistik, Köln) "Mit den Toten sprechen" - zur Bedeutung der Literatur bei Diderot und Greenblatt

● 16.20 - 17.00 Patricia Oster (Komparatistik, Tübingen) Lesen als kulturreflexive Praxis in den Romanen Flauberts

● 17.00 - 17.40 Michael Schwarze (Romanistik, Eichstätt) Dekulturation - Rekulturation: für eine kulturkritische Lektüre Italo Calvinos

● 17.40 Winfried Wehle (Romanistik, Eichstätt) Die Vertreibung aus dem Paradies als Anfang von Kultur: Boccaccios ‚naturphilosophische' Revision des Sündenfalls

● 20.00 Gemütliches Beisammensein der Sektion 10 im Spatenbräu

Dienstag, 9. Oktober 2001

● 09.00 - 09.40 Kirsten Kramer (Romanistik, Köln) Text und Bild: ästhetizistische Exerzitien als kulturelle Tätigkeit in Huysmans' À rebours

● 09.40 - 10.20 Monika Schmitz-Emans (Komparatistik, Bochum) Ästhetik und Kulturwissenschaft bei Michel Butor

● 10.40 - 11.20 Susanne Hartwig (Romanistik, Madrid) Warum der dritte Akt von Warten auf Godot komisch ist oder Die Funktion der Literatur als 'Attraktor' kultureller Tätigkeit

● 11.20 - 12.00 Manfred Hinz (Romanistik, Passau) Computerrhetorik. Drei Diskussionsvorschläge

● 14.00 - 14.40 Franziska Ehmcke (Japanologie, Köln) Anmerkungen zu "Kultur" und "Kultur-Studien" aus japanologischer Sicht

● 14.40 - 15.20 Hans Ulrich Seeber (Anglistik, Stuttgart) Anglistische (amerikanistische) Tendenzen der Kulturwissenschaft

● 15.20 - 16.00 Jacques Leenhardt (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris) La littérature au carrefour des sciences humaines

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Mittwoch, 10. Oktober 2001

● 09.00 - 09.40 Brigitte Sändig (Romanistik, Potsdam) Wahrheitsstreben als Kulturleistung oder: Camus' Rolle für den Osten

● 09.40 - 10.20 Claudia Jünke (Romanistik, Köln) Kulturwissenschaft und Erzähltheorie: Zur Kulturkritik in Goytisolos Señas de identidad

● 10.40 - 11.20 Hans-Georg Pott (Germanistik, Düsseldorf) Literaturwissenschaft und Gesellschaftstheorie

● 11.20 - 12.00 Paul Geyer (Romanistik, Köln) Kritische Kulturtheorie

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Abstracts

"Mit den Toten sprechen" - zur Bedeutung der Literatur bei Diderot und Greenblatt (Andrea Eckert, Köln)

Als tertium comparationis zweier so heterogener Denker wie Diderot und Greenblatt dient dieser Analyse die Frage nach dem Status von Literatur. Ausgehend von der Prämisse, daß es sich bei Literatur nicht um eine ontologische Größe handelt, sondern sie vielmehr in funktionalen Zusammenhängen definiert wird, soll unter dem Aspekt der ‚Ausdifferenzierung' aufgewiesen werden, ob und inwiefern ‚das Literarische' als konstitutives Moment theoretischer überlegungen ein Rolle spielt. In der historischen Perspektive gilt es demnach zu untersuchen, ob sich bei Diderot nicht trotz einer offensichtlichen Vereinnahmung der Literatur durch die Philosophie im Zeitalter der Aufklärung eine Ausdifferenzierung des Literarischen andeutet. Eine ähnliche Problemkonstellation scheint sich auch bei Greenblatts Entwurf einer ‚Poetik der Kultur' herauszukristallisieren: So stellt sich die Frage, ob eine kaum mehr abzugrenzende Literatur in seinem auf dem Austausch ‚sozialer Energien' basierenden Konzept, welches durch das Aufspüren von Tauschprozessen Textgrenzen eigentlich unscharf werden läßt, nicht dennoch unterschwellig als privilegierter Ort fungiert. In jedem Fall muß es überraschen, wenn sich einer der avanciertesten Kulturtheoretiker in geradezu provokanter Weise zu einem emphatischen Literaturverständnis zu bekennen scheint: "Doch wer die Literatur liebt, wird leicht in ihren Simulationen [...] eine weit größere Intensität entdecken als in jeder anderen von den Toten hinterlassenen Textspur". Anhand dieser historischen und aktuellen Reflexionen soll der mögliche Beitrag der Literaturwissenschaft in einem interdisziplinär angelegten kulturwissenschaftlichen Kontext näher beleuchtet werden.

Kritische Kulturtheorie (Paul Geyer, Köln)

Kriterien für Kulturkritik scheinen heute weitgehend verloren. Die Einebnung der begrifflichen Differenzen zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ in der amerikanischen Kulturanthropologie und in den englischen „Cultural Studies“ ging einher mit der Neutralisierung kultureller Wertkategorien. Übrig blieb die diffuse Hoffnung auf eine gerechte und demokratische Verschmelzung oder wenigstens friedliche Koexistenz aller Welt-, Pop- und Subkulturen in einer globalisierten Weltkultur. — Diese Hoffnung trog. Deutlich wird heute, daß die Entzauberung der europäischen bürgerlichen ‚Hochkultur‘ nur die Reduktion ethischer und ästhetischer Wertbegriffe auf den ökonomischen Wertbegriff sanktioniert hat. Die Zersetzung des humanistischen Bildungsbegriffes zugunsten rein funktionaler Aus-Bildung liefert die Jugend an die Leitbilder der profitorientierten Medien aus. Die Ironie der Geschichte aber liegt darin, daß die sich herausbildende Global-Kultur nur die Light-Version der alteuropäischen Kultur ist, und zwar in Form einer Vereinseitigung des neuzeitlichen Rationalisierungsprozesses auf seine technologisch-instrumentellen Momente. Diese Light-Kultur nimmt andere, ‚höhere‘ Kulturelemente in Dienst und degradiert sie zur Folklore. Zum Normalfall nachmodernen Bewußtseinsdesigns wird, was aus der Sicht vergangener Humanismen als Banalisierung, Brutalisierung und kulturelle Verblödung erschienen wäre. Gegen den Trend anzudenken fällt den neu sich formierenden „Kulturwissenschaften“ schwer, weil das heiter-eindimensionale Bewußtsein der Nachmoderne zwischen Bewußtsein und Sein keinen Spalt mehr kennt, an dem kritisches Denken ansetzen könnte.

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Warum der dritte Akt von Warten auf Godot komisch ist oder Die Funktion der Literatur als ‚Attraktor' kultureller Tätigkeit (Susanne Hartwig, Madrid)

In George Taboris imaginärem dritten Akt von Warten auf Godot erscheint der Titelheld den beiden bereits im Schnee versunkenen Protagonisten Vladimir und Estragon und rechtfertigt seine Verspätung mit den Worten: "Entschuldigung, der Verkehr!" Die Komik dieser Szene verweist auf eine fundamentale Tätigkeit des menschlichen Geistes, die Kriz mit "Komplettierungsdynamik" beschreibt: aus gegebenen Daten (hier: die Monotonie der beiden Akte) vollständige Systeme (hier: ‚Die Existenz ist insgesamt monoton') zu ergänzen, welche sich überraschenderweise als völlig deplaziert erweisen können (hier: Die ontologische Feststellung wird entthront durch die Aufdeckung der Belanglosigkeit des Problems). Die These meiner Ausführungen ist, daß eine bestimmte Richtung der Literatur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts genau gegen diese Komplettierungsdynamik polemisiert und zwar insbesondere durch Nutzung ‚lokaler Ordnungen' in ‚chaotischen' Strukturen. Dies wiederum bedeutet, daß Kultur als textuell vermittelter Prozeß der Selbstauslegung die Literatur als "Attraktor" nutzt, welcher in Prozessen individueller Selbstorganisation nur zeitlich begrenzte Strukturierungen hervorbringt. Anders gesagt: Literatur als kultureller Code wird zugleich benutzt und überwunden in Richtung auf die "Fähigkeit, das zu empfangen, was zu denken das Denken nicht vorbereitet ist". Aufgrund seiner polyperspektivischen Wahrnehmungsmöglichkeiten kann dabei gerade das Theater eine solche ‚Attraktorfunktion' übernehmen, was an einigen spanischen Inszenierungen aufgezeigt werden soll. Zudem erfolgt eine Einordnung der Gegenwartsdramaturgie in die Kulturwissenschaft, deren Aufgabe es ist, Analyseverfahren für Wahrnehmung-, Symbolisierungs- und Kognitionsstile bereitzustellen.

Computerrhetorik. Drei Diskussionsvorschläge (Manfred Hinz, Passau)

Wir sind Zeugen, Agenten und Opfer einer technologischen Revolution, die es erforderlich macht, die Grundlagen der philologischen Tradition (in einem sehr weiten Sinn) neu zu durchdenken. Es scheint mir klar, daß die Frage nach der Bedeutung der gegenwärtigen Revolution in der Denkökonomie nur sinnvoll gestellt werden kann, wenn sie zugleich die vorausgegangenen Revolutionen (z.B. den Buchdruck) einbezieht. Dazu können nur einige Überlegungen zur Diskussion gestellt werden:

1. Es ist nunmehr evident, daß die Suche nach dem endgültigen Text und dessen Kommentar (Fundament der philologischen Tradition spätestens seit alexandrinischen Zeiten) technologisch an die Manuskriptkultur und den Buchdruck gebunden ist. Der Hypertext ermöglicht demgegenüber einen "rhapsodischen", "oralen" Umgang mit "Texten", er bildet also die Grundlage für eine neue Rhetorik.

2. Die naturwüchsige Affinität zwischen digitaler Textverarbeitung und poststrukturalistischen Literaturtheorien ist schon öfter nachgewiesen worden. Damit wird der Poststrukturalismus (ohne Rücksicht auf esoterische Terminologien) zugleich auf geradezu ironische Art banalisiert. Es wird evident, daß es sich weniger um unerhört neue, aufregende oder empörende "philosophische" Aussagen handelt, als vielmehr traditionelle Literaturdidaktik. Der Computer schärft beide Seiten des konstruktivistisch-dekonstruktivistischen Dilemmas und legt damit okkasionelle Theoriewechsel nahe (ein Stück aus der rhetorischen Tradition).

3. Der Computer realisiert erstmals tatsächlich eine "Gemeinschaftlichkeit der Künste", die folglich nicht im Ursprung einer "Inspiration" liegt, sondern im technischen Medium. Die digitale Revolution steht damit quer zur Kanonizität der "Großen Werke", die die Disziplinen der Philosophischen Fakultät definiert hat und zwingt zur Definition einer neuen

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"Kulturwissenschaft", die nun auf didaktischer Grundlage und nicht mehr nach Objektbereichen bestimmt werden muß. Nach meiner Auffassung kann nur die Rhetorik die Leitdisziplin einer solchen "Kulturwissenschaft" sein. Was wir benötigen, ist ein "decorum" für das digitale Zeitalter.

Kulturwissenschaft und Erzähltheorie: Zur Kulturkritik in Goytisolos Señas de identidad (Claudia Jünke, Köln)

Während die ‚klassische' strukturalistische Erzähltheorie systematisch ausgerichtet war und es ihr v.a. um die Entwicklung abstrakt-formaler Modelle und eine ahistorisch-synchrone Analyse von narrativen Texten ging, ist neuerdings - besonders durch den Einfluß des New Historicism - die Tendenz zu einer Historisierung der Disziplin zu beobachten, die mit dem Versuch einhergeht, einen Anschluß an verschiedene kulturwissenschaftliche Ansätze zu finden. Statt des mancherorts vermuteten ‚Todes der Narratologie' ist also eine ‚narratological renaissance' (Herman) zu beobachten, die zu einer Erweiterung des Forschungsgegenstandes und zu einer Verlagerung des Interesses auf die kulturtheoretischen und -historischen Implikationen narrativer Strategien führt: Es geht um die "narratological analysis of culture" und die "cultural analysis of narratives" (Bal). Im Kontext einer ‚kulturellen Analyse von Erzählungen' scheint besonders die Frage interessant, auf welche Weise die narrative Form als "sedimentierter Inhalt" (Jameson) in den Prozeß kultureller Bedeutungskonstruktion eingebunden ist. Im Anschluß an den theoretisch ausgerichteten ersten Teil soll das analytische Potential einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Erzähltheorie in einem zweiten Teil anhand eines Textbeispiels - Juan Goytisolos Roman Señas de Identidad - überprüft werden. Die Versuche des Protagonisten Álvaro, seine verlorene individuelle und kulturelle Identität zu rekonstruieren, werden v.a. durch die komplexe Struktur der erzählerischen Vermittlung, d.h. durch die Multiplizierung der Sprechinstanzen und Perspektivträger, in Szene gesetzt. Auf diese Weise wird ein polyphones Netz verschiedener Diskurse ausgestaltet, das in diesem Text zum zentralen Träger der literarischen Kulturkritik wird.

Wissen für das Volk. Zur Geschichte eines Projektes der Aufklärung (Wolfgang Klein, Osnabrück)

Unter den Voraussetzungen, daß "Kulturwissenschaft" kein neuer Name für "Landeskunde", kein wirtschafts-, politik- und ideologiegeschichtsferner Ersatz für "Gesellschaftswissenschaften" und kein die Differenzen von "Geist" und "Natur" samt deren Wissenschaften überwölbendes Dach ist, erprobt der Beitrag die These, daß kulturwissenschaftliches Arbeiten den Gefahren des Spezialisten- wie denen des Banausentums entgehen kann, sobald und soweit ein Gegenstand in den Grenzen der eingeführten geisteswissenschaftlichen Disziplinen nicht zu fassen und nicht zu halten ist. Als einen solchen Gegenstand behandelt er die Geschichte der aufklärerischen überzeugung, daß es den Menschen besser gehe, je mehr sie wüßten. Einige Stationen dieser Geschichte werden im Lichte der Entgegensetzung geprüft, die Lyotard in La condition postmoderne. Rapport sur le savoir entwickelt hat: Während Wissen früher dem "Leben des Geistes und/oder der Emanzipation der Menschheit" dienen sollte, habe es heute nur noch das "funktionale" Ziel der Kompetenzvermittlung für spezialisierte Aufgaben.

Text und Bild: ästhetizistische Exerzitien als kulturelle Tätigkeit in Huysmans' A rebours (Kirsten Kramer, Köln)

Die literarische Produktion der Décadence steht nicht nur im Zeichen eines ästhetizistischen Ideals der Künstlichkeit, das die empirische Alltagsrealität auf den Horizont einer imaginären Transzendenz zu öffnen sucht und sich in expliziter Frontstellung gegen den auf wissenschaftliche

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und zivilisatorische Errungenschaften gegründeten Fortschrittsoptimismus der Epoche artikuliert, sondern zeichnet sich zugleich durch die obsessive Evokation pathologischer Störungen des Nervensystems aus, die den zentralen Gegenstand naturwissenschaftlicher Diskurse bilden. Mit der Thematisierung sensorischer Reiz- oder Erregungszustände situiert sich die Kunst der Décadence innerhalb des kulturellen Erfahrungsraums der Moderne, der sich neueren kulturwissenschaftlichen Bestimmungen zufolge nicht nur über das Zusammenwirken sozialer, politischer und ökonomischer Transformationsprozesse bestimmt, sondern insbesondere durch die Emergenz neuer Strukturen der sinnlichen Wahrnehmung gekennzeichnet ist, die auf die im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung einsetzende Entwicklung innovativer Technologien im Transport- und Kommunikationswesen bezogen sind und vor allem in den Bildmedien des 19. Jahrhunderts ihre Umsetzung finden. Der Beitrag möchte anhand einer Lektüre von Huysmans' Roman A rebours aufzeigen, inwiefern die zunächst religiös konnotierte Praxis der im Text dargestellten ästhetizistischen Exerzitien in wissenschaftliche Selbstversuche umschlägt, im Zuge derer der Protagonist das eigene Sensorium einer Intensität sinnlicher Erregungen aussetzt, die jener chockhaften Reizüberflutung entspricht, die nach W. Benjamin die technisierte Lebenswirklichkeit der Moderne maßgeblich prägt. In einem weiteren Schritt soll gezeigt werden, daß die symbolistische Bildkunst im Text als ästhetisches Modell fungiert, das spezifisch moderne Strukturen der sinnlichen Perzeption veranschaulicht und im Roman als Reflexionsmedium jener synkretistischen Darstellungsverfahren fungiert, mit denen der Erzähler die Exerzitien des Protagonisten fortsetzt und die sich als Ausprägungsform einer literarischen Praxis deuten lassen, die sich unmittelbar in den kulturellen Erfahrungsraum der Moderne einschreibt.

Lesen als kulturreflexive Praxis in den Romanen Flauberts (Patricia Oster, Tübingen)

Der Roman ist prinzipiell Ort eines jeweils avancierten Kulturbewußtseins - dies gilt in besonderer Weise für Flaubert. In fast allen Romanen Flauberts läßt sich eine Kulturtheorie finden, die im Kunstwerk eine erinnerbare Gestalt bekommt, insofern als die Reflexion der Kultur ihrerseits wieder ein Moment der Kultur und des Kulturgedächtnisses wird. In Emma Bovary inszeniert Flaubert die kulturreflexive Funktion des Lesens. Als Gegenfigur zu dem impliziten Leser, dem eine kulturkritische Lektüre angesonnen wird, erscheint hier Emma Bovary, die von ihrer romantischen Lektüre in den Bann gezogen, ja reifiziert ist. Auch Salammbô und die Education sentimentale können als Modelle einer kritischen Kulturtheorie interpretiert werden. Ist in Salammbô der Zerfall des mythischen Grundes Ursache oder Ausdruck des Zerfalls einer Kultur selbst, so treten in der Education sentimentale Religion und Kunst an ihre Stelle. In Bouvard et Pécuchet wird schließlich im Spiegel des Romans mit den Augen des Unwissenden die Welt der Kultur und der Wissensdiskurse in parodistischer Form wahrgenommen. Sind die Romane Flauberts einerseits Ausdruck einer kritischen Kulturtheorie, so bringen sie andererseits in der Gestalt des impliziten Lesers das Lesen selbst als kulturreflexive Praxis zur Anschauung.

Literaturwissenschaft und Gesellschaftstheorie (Hans-Georg Pott, Düsseldorf)

Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaften sind Produkte der gesellschaftlichen Kommunikation und üben zugleich Reflexionsfunktionen der Gesellschaft in der Gesellschaft aus. Allgemein gilt für alle Kulturphänomene, daß mit und in ihnen die Gesellschaft sich über sich selbst informiert. Deshalb kann es keine Literaturtheorie (und Kulturtheorie) ohne Gesellschaftstheorie

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geben. Eine Gesellschaftstheorie liegt vor in der von Niklas Luhmann. Ihre Bedeutung für die Literatur- und Kulturwissenschaften kann heute niemand mehr ignorieren. Ich möchte aufzeigen, welche Konsequenzen es für die Literaturwissenschaften hat, wenn sie an die Luhmannsche Gesellschaftstheorie anschließen.

Wahrheitsstreben als Kulturleistung oder: Camus' Rolle für den Osten (Brigitte Sändig, Potsdam)

Der Beitrag zielt darauf, eine vergangene Erfahrung von Kultur und einen daraus erwachsenen Kulturbegriff verständlich zu machen und auf ihre aktuelle Brauchbarkeit zu befragen. Jenseits der verordneten Kulturdoktrinen in den sog. "sozialistischen" Ländern existierte dort bei den Menschen, die geistige Autonomie zu bewahren versuchten, ein qualitativer Kulturbegriff, dessen Inhalt, über alle ästhetischen Wertungen hinaus, in der Distanz zum institutionalisierten Dogma, in der Absetzung von der Lüge bestand; dementsprechend kamen von Schriftstellern und Theaterleuten aus den Ländern des Ostens Aufrufe und Aussagen wie: "Nicht in der Lüge leben!" (Solschenizyn, 1974), Versuch, in der Wahrheit zu leben (Havel, 1978), "Die Wahrheit sagen hieß da zuerst nicht mitzulügen. [...] Unsere Wahrheit bekam ihr Interesse aus der Differenz zur verordneten." (Adolf Dresen, Wahrheitsagen, 1992) - die Aufzählung ließe sich verlängern. Als eine Art inoffizieller - und allzuoft ohnmächtiger - Gegenmacht erlangte Kultur unter diesen Bedingungen eine exzeptionelle und existentielle Bedeutung, und die Bewertung kultureller Erscheinungen vollzog sich nach anderen Normen. Unter diesen Umständen gewann Albert Camus für die Länder des Ostens besondere Bedeutung: Mit seinem Bemühen um eine eindeutige Scheidung zwischen Wahrheit und Lüge und mit seiner klaren Position zu Rechtsbrüchen in den Ländern des Ostens wurde er dort zu einer Orientierungs- und Legitimationsgestalt; dies soll in dem Beitrag ausgeführt und belegt werden. Ich möchte aus der Sicht der beschriebenen Kultur-Erfahrung und intensiver Beschäftigung mit der Rezeption Camus' die Frage nach der fortdauernden Notwendigkeit eines qualitativen Kulturbegriffs stellen, der auf der ethischen Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheitsstreben besteht; denn ich halte auch - und vielleicht sogar gerade - angesichts einer zunehmend komplexen Realität die Orientierungsleistung eines solchen Kulturbegriffs nicht nur für wichtig, sondern für unverzichtbar.

Ästhetik und Kulturwissenschaft bei Michel Butor, (Monika Schmitz-Emans Bochum)

Butors Gesamtwerk ließe sich als großangelegtes Projekt einer phänomenologisch grundierten Transkription von Wirklichkeit charakterisieren; der Vergleich mit Italo Calvinos Konzeption einer vom Beobachteten ausgehenden Erfassung und Kartierung der Welt (insbesondere im "Palomar") bietet sich an - auch und insbesondere hinsichtlich der Frage nach dem die Beschreibungsarbeit begleitenden Bewußtsein von deren Grenzen. Butors Aufmerksamkeit gilt vorrangig kulturellen, nicht natürlichen Phänomenen, und hier wiederum besonders Bildern. An seiner Auseinandersetzung mit Gemälden (die er selbst als 'Dialog' versteht und inszeniert) lassen sich die Prämissen, Implikationen und Ziele seiner Beschreibungspraxis verdeutlichen. Diese ist den Gegenständen wie den Verfahrenweisen nach durch kulturwissenschaftiche Erkenntnisinteressen geprägt, wie der Vergleich von Butors Beschreibungspraxis mit dem von Clifford Geertz vertretenen Konzept kulturwissenschaftlich-ethnographischer Arbeit zeigen soll. "Les mots dans la peinture" (1969), ein programmatischer und mit vielen anderen Texten Butors vernetzter Text, verdeutlicht u.a. folgendes:

1) Butor konzipiert Kultur als ein Netzwerk der Zeichen und Sprachen, zugleich aber als einen Prozeß. Dieser Prozeß ist 'dialogisch' und vollzieht sich exemplarisch in der wechselseitigen Interpretation von Texten und Bildern.

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2) Leitend ist bei der Auseinandetzung mit kulturellen Gegebenheiten die Frage nach der Beziehung zwischen der Wortsprache und anderen 'Sprachen', insbesondere nach der übersetzbarkeit visueller Strukturen ins Wortsprachliche. Um an deren Möglichkeit als der Grundvoraussetzung seiner Beschreibungspraxis festzuhalten, legt Butor den Akzent auf die virtuelle Sprachlichkeit kultureller Phänomene.

Dekulturation vs. Rekulturation. Für eine kulturkritische Lektüre Italo Calvinos (Michael Schwarze, Eichstätt)

Italo Calvinos Fiktionen sind in den letzten 20 Jahren, wohl auch aufgrund seiner biographischen wie literarischen Nähe zu den nouveaux romanciers, wiederholt als Produkte spielerischer Uneigentlichkeit interpretiert worden. Dies kommt einem Reduktionismus gleich, der das programmatische Engagement dieses Autors ausblendet. Ausgehend von Calvinos Diagnostik der modernen Welt im Zeitalter der Massengesellschaften möchte ich verschiedene Wege nachzeichnen, auf denen Calvino versucht hat, dem "Labyrinth" der Gegenwart fiktional zu begegnen. Calvinos Erzählwerk nach 1960 erweist sich dabei als bedeutender Beitrag zu einer literarischen Kulturarbeit, insofern es immer neue narrative Ansätze zur Erfassung der modernen Welt erprobt. Literatur kann diese Welt in ihrem Lauf nicht ändern. Dennoch, oder gerade deswegen bleibt ihr die Aufgabe, sich der Bedingungen unserer Lebenswelt fortwährend zu vergewissern. Calvino tat dies, indem er fortlaufend neue Erzählweisen schuf. Mit ihnen verfolgte er stets aufs neue den Versuch, die unendlich komplexe Welt auf eine andere Weise als der Rationalismus zu begreifen. Kulturarbeit bedeutet für Calvino vor allem die literarische Auseinandersetzung mit einer als "Meer" erfahrenen Wissenswelt. Die kritische Besprechung von Wissenschaft durch Literatur hat dabei stets auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Individuums einzugehen. In dieser Perspektive kann Calvino als ein aufklärerischer Literat des 20. Jahrhunderts gelten: Sein Schaffen ist Teil der Kultur, dem es darum geht, mit literarischen Mitteln und quasi von innen kritisch auf Kultur zu reflektieren.

Globalization and Cultural Studies: Conceptualization, Convergence, and Complication (Richard Terdiman, University of California, Santa Cruz)

A remarkable portion of the energy in recent critical debates in the human sciences has been organized around two terms or emblems: "Cultural Studies" and "Globalization." Though these signifiers nominally refer to quite different entities, or paradigms, or problems, nonetheless across their difference and apparent lack of parallelism there are significant convergences that can help to illuminate our discourse concerning each of them. This paper considers the historical and methodological elements that define each of these areas of inquiry, and speculates about the characteristics of a more inclusive model that might bring them into closer and more illuminating contact.

Die Vertreibung aus dem Paradies als Anfang von Kultur. Boccaccios ‚naturphilosophische‘ Revision des Sündenfalls [mit Lichtbildern] (Winfried Wehle, Eichstätt)

Die ‚Fragwürdigkeit‘ von Kultur ist einer ihrer größten Vorzüge: sie weist darauf hin, daß Kultur ohne Selbstreflexion - also Kulturkritik - nicht bestehen kann. Andererseits befand Kultur sich, mehr oder minder offensichtlich, stets in der Position eines Gegenüber: sie setzt etwas ‚Unkultiviertes‘ voraus, an dem sie sich erst auswirken konnte. Als dieses Primäre, Primitive aber galt ihr elementar das Natürliche in allen seinen Derivaten. Aus dem Gegensatzzusammenhang mit ihm lebte ihr Begriff. Eines war dem anderen Alternative des Selbstverständnisses. – Selten sind

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diese Grundverhältnisse so exemplarisch untersucht und auf neuzeitliches Niveau gebracht worden wie in Boccaccios Decameron. An ihm läßt sich deshalb exemplarisch die Dynamik und Problematik von Kultur als einer humanen Praxis entwickeln. Von ihm her ließe sich selbst noch bedenken, warum der ‚Untergang des Abendlandes‘ (O. Spengler), trotz aller kulturellen Katastrophen, vorläufig nicht stattfinden muß.

Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft: Antagonismus oder Osmose? (Rainer Zaiser, Köln)

Wenn man die gegenwärtige Diskussion um das Verhältnis zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft verfolgt, ist man geneigt zu glauben, daß die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Literaturwissenschaft eine Erfindung der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ist und daß die Verfechter dieser Ausrichtung die Literaturwissenschaft überhaupt in der Kulturwissenschaft aufzuheben gedenken. Unklar oder zumindest heterogen bleibt dabei allerdings das Verständnis des Kulturbegriffs, der in der derzeitigen Diskussion häufig schwankt zwischen "popular culture" und Medienkultur. In meinem Beitrag gehe ich dagegen von einem Kulturbegriff aus, der nicht nur auf die kulturellen Spezifika der Gesellschaft der Postmoderne gemünzt ist, sondern sich auch historisch verwerten läßt. Dabei vertrete ich die These, daß Literaturwissenschaft schon immer Kulturwissenschaft war und daß das Verhältnis dieser beiden Disziplinen zueinander immer nur eine Frage der Selektion ist, die ganz unterschiedliche Lösungen finden kann, ja sogar finden muß. Die Selektion bezieht sich dabei zum einen auf das Untersuchungsmaterial, d.h. auf die literarischen Diskurse und die kulturellen Praktiken, und zum anderen auf die Verstehensprozesse, d.h. auf die Möglichkeiten und Grenzen der wechselseitigen hermeneutischen Beleuchtung von literarischen Diskursen und kulturellen Praktiken. Entscheidend ist dabei erstens, daß die literarischen Diskurse selbst Teil der kulturellen Praktiken einer Gesellschaft sind und zweitens, daß sich diese kulturellen Praktiken letztlich nur im Medium des Textes (im Sinne eines Zeichensystems, das außersprachliche Zeichen mit einschließt) beobachten und beschreiben lassen. Dabei erweist sich das Textgewebe der literarischen Diskurse gerade als ein hoch komplexer Ort, in den die kulturellen Praktiken einer Gesellschaft im Prozeß ihrer Modellierung, Modifizierung und überschreitung eingeschrieben sind. Die literarischen Diskurse entpuppen sich somit als vorzügliche Studienobjekte des kulturellen Geschehens einer Epoche in seiner jeweiligen Vielheit und Widersprüchlichkeit.

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Textauszüge und ZusammenfassungenPaul Geyer / Rainer Zaiser (Hrsg.): Romanistische Kulturwissenschaft?

Gesammelte Beiträge der Sektion 10 des XXVII. Deutschen Romanistentags,

7.-10. Oktober 2001 in München. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg, 2004.

Andrea Eckert (Köln): „Mit den Toten sprechen“ – zur Bedeutung der Literatur bei Greenblatt und Diderot

„Mit den Toten sprechen“ – diese nahezu leitmotivisch wiederkehrende Formulierung verwendet Stephen Greenblatt zur Charakterisierung der literaturwissenschaftlichen Motivation. Der Aufsatz versucht am Beispiel der Verhandlungen mit Shakespeare das Konzept des prominentesten Vertreters und zugleich Begründers des New Historicism vorstellen und seinen Theorieansatz auf eine – romanistische – kulturwissenschaftliche Auswertung hin zu befragen.

Greenblatts methodisches Vorgehen basiert auf der Annahme einer Aufgliederung der Kultur in unterschiedliche Teilbereiche – in ästhetische und soziale Zonen – zwischen welchen ein permanenter Austausch – eine „Zirkulation sozialer Energie“[1] – stattfindet. Der von Greenblatts verwendete Energiebegriff steht dabei für diskursive Spuren, die an den Rändern der Texte aufgezeigt werden, um dann ihren Übergang und die damit verbundenen Auswirkungen zu beobachten. Konkret bedeutet dies, daß Greenblatt einen (nicht zwingend kanonisierten) Text aus dem sozialen Bereich auf diskursive Spuren untersucht, zu denen er in einem Shakespeare-Text dramatische Entsprechungen vermutet. Der Gedanke des Austausches basiert folglich auf einem semiotischen Kulturmodell, das sich, aus einem Netzwerk von Texten bestehend, durch die Vorstellung eines kontinuierlichen Tauschs von Diskursformationen auszeichnet. Dieser Austausch vollzieht sich jedoch nicht als einfache Textkollage noch als rein inhaltliche Übertragung. Vielmehr wird die Zirkulation mittels eines rhetorischen Vokabulars erläutert, das der Komplexität dieser Operation Rechnung tragen soll – zu ‚simplifizierende‘ Erklärungsansätze wie das Postulat des rein subversiven oder rein affirmativen Charakters des Shakespeareschen Werks sollen auf diese Weise vermieden und der Blick auf die Funktionsweise (literarischer) Textstrategien freigelegt werden.

Methodologisch gesehen speist sich der New Historicism vor allem aus Elementen des Konzepts interpretativer Anthropologie von Clifford Geertz sowie der Foucaultschen Diskurs- und Machtanalyse. Im Gegensatz zum foucaldischen Literaturbegriff, der sich in den Aporien des Epistemenbegriffs verliert, geht für Greenblatt Literatur jedoch nicht mehr in einer erkenntnistheoretischen Epochenstruktur auf, vielmehr ist ein dezidiertes Festhalten an dem Konzept des Literarischen und an der Bedeutung des einzelnen Werks zu konstatieren. Und gerade darin könnte die produktive Kraft und auch das kritische Potential dieses Ansatzes begründet liegen: Im kulturellen Feld die gegenseitigen Beeinflussungsstrukturen von ästhetischem und sozialem Bereich und deren Auswirkungen in das Blickfeld zu rücken, was in dem neohistoristischen Chiasmus der „Geschichtlichkeit der Texte“ und der „Textualität der Geschichte“ als Anspruch formuliert ist. Und zugleich an der Grenze der Literatur als ‚Erkenntnisgrenze’ festzuhalten, allerdings nicht verstanden als ontologische Festlegung der Literatur, sondern als eine Bestimmung aus dem kulturellen Kontext heraus.

Der zweite Teil dieses Aufsatzes versucht, diesen kulturwissenschaftlichen Ansatz für romanistische Fragestellungen fruchtbar zu machen, was an dem französischen Aufklärer Diderot skizziert wird. Konnte Greenblatt für den ästhetischen Bereich noch in höchster Allgemeinheit das Renaissancetheater als räumliche und rechtliche Sphäre ohne nähere inhaltliche Bestimmungen voraussetzen, stellt sich das Problem der Abgrenzung im 18. Jahrhundert in veränderter Form.

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Insofern kann die nun folgende Praxisanalyse keine reine Applikation des Greenblattschen Ansatzes bedeuten, sondern muß – gegenstandsbedingt – einen Schritt ‚hinter’ seine Analysen zurückgehen: es gilt zunächst, eine historische Konkretisierung der Grenze des Literarischen vorzunehmen, deren Ausformulierung sich als ein Problem der Epoche erweist. Dies soll ausgehend von dem Phänomen, dass Philosophen des 18. Jahrhunderts häufig zugleich auch Literaten waren, geleistet werden, das als Kristallisation der aufklärerischen Thematisierung der Grenze aufgefaßt wird. Eine zentrale Rolle – wie sich in den philosophischen und literarischen Schriften Diderots nachweisen läßt – spielt dabei das Konzept der Hypothese, da es zugleich auf das Bindeglied zwischen Kunst und Wissenschaft verweist: auf die imagination.

Ausgangsthese ist nun, daß – angesichts der (im Aufsatz ausgeführten) Ausdifferenzierungstendenzen des 18. Jahrhunderts – die immer wieder thematisierte Nähe wissenschaftlicher Methodik zu literarischen Verfahren zunehmend als Problem des aufklärerischen Wissenskonzepts aufgefaßt werden kann. Folglich übernimmt der sich im 18. Jahrhundert neu konstituierende Literaturbegriff zugleich die Funktion, Differenzen zwischen fiktionalem und wissenschaftlichen Schreiben abzusichern und dadurch an der Durchsetzung des aufklärerischen Wissensprogramms teilzuhaben.[2] Entwickelt wird diese These anhand einer Lektüre von Diderots Jacques le Fataliste, der nicht nur eine Inszenierung der Imagination und damit eine Verortung der Einbildungskraft im ästhetischen Medium vollzieht, sondern zugleich eine Kritik dieses – historisch als Differenzkriterium aufgewerteten – Vermögens vornimmt.

[1] Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt 1993, Einleitung. [2]Vgl. dazu John Bender: Fiktionalität in der Aufklärung. In: Wolfgang Klein / Waltraud Naumann-Beyer: Nach der Aufklärung. Berlin 1995, 95-107.

Paul Geyer (Köln): Literatur und Kultur(Textauszug)

Abschließend sei nun noch gefragt, welche kulturellen Funktionen der Literatur zukommen können, und, enger auf mein eigenes Fach zugeschnitten, welche Funktion die romanistische Literaturwissenschaft in einer Kritischen Kulturwissenschaft ausfüllen könnte.

Die 1000-jährige Geschichte der romanischen Literaturen repräsentiert exemplarisch alle 4 Kulturtypen, von denen oben die Rede war. Angefangen beim Rolandslied, das den Anfang vom Ende des mythischen Typus gestaltet, über den traditionalen Typus mit seinen verschiedenen Graden der Ausdifferenzierung von Kultur und Zivilisation im Hoch-Mittelalter, im Renaissancehumanismus und in den nationalen Klassiken, bis hin zur modernen Kultur, die in der Romantik beginnt, in der z.B. Chateaubriands René oder Leopardis Canti die Einsicht in die radikale Kontingenz menschlicher Kultur und Subjektivität formulieren. Die moderne Utopie einer Wiederaufhebung der Zivilisation in Kultur verfolgen die Ästhetizismen des 19. und 20. Jahrhunderts, die Aufhebung der Kultur in die Zivilisation z.B. der italienische Futurismus. Auch die Ausbildung zukünftiger Hybridformen der Kultur spiegelt sich in der Gegenwartsliteratur, zu deren Nachbarkünsten sich nun auch jüngere Medien wie Film und bestimmte Musikarten gesellen, die sich zum Teil auch der Gleichschaltung durch die Kulturindustrie zu entziehen suchen. Dies läßt sich konstatieren, aber es gibt, im Gegensatz zu Horkheimer/Adornos Verdammungsurteil von 1944, kein überzeitliches Wertkriterium, das Kulturindustrie als Massenbetrug zu charakterisieren erlaubte. Kulturindustrie erscheint als Massenbetrug nur im Kultur- bzw. Bewußtseinstypus 3a) oder 3b).

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Nun könnte man einwenden, daß die Repräsentationsfunktion der Literatur für die vier Kulturtypen ja quasi-tautologisch auf der Hand liege und daß diese Funktion auch von anderen Textsorten oder nur im Verbund der Literatur mit anderen Textsorten erfüllt werden könnte. Dagegen lassen sich zwei Argumente für eine privilegierte Position der Literatur in einer Kritischen Kulturwissenschaft anführen:

Zum einen kann man zeigen, daß Literatur seismographisch kulturelle und bewußtseinsspezifische Veränderungen aufzeichnet und befördert, noch bevor andere Textsorten darauf reagieren. Literatur registriert frühe Spuren der kulturell-zivilisatorischen Ausdifferenzierungsprozesse und ihrer Auswirkungen aufs individuelle Bewußtsein. In einer Art Teleologie ex post läßt sich rekonstruieren wie die romanischen Literaturen seit ihren Anfängen und in zunehmendem Maße Symptome der Auflösung mythischer und traditionaler Kulturen aufweisen. Dadurch aber wird Literatur zum wichtigsten Medium der eben entworfenen transzendentalen Kritik der Kultur: Eine gewisse Art von Literatur, die man Hohe Literatur nennen könnte, diskutiert Werte und Menschenbilder, eröffnet Vergleichsmöglichkeiten, widerlegt die Normativität des Faktischen, erschließt Alternativen, macht Implizites explizit, entschleiert moralisch verschleierte Interessen (vgl. Geyer 1997b). Ob die Literatur (und die anderen Künste) diese Funktionen in den möglichen Ausprägungen des zukünftigen Kultur- oder Zivilisationstypus 4 beibehalten kann, ist allerdings offen.

Das zweite Argument für eine privilegierte Position der Hohen Literatur in einer Kritischen Kulturwissenschaft ist ihre einzigartige Perspektive, die man als "Bewußtseinsgeschichte von innen" beschreiben könnte. Sehr bezeichnend dafür ist eine Aussage von Maurice Agulhon aus der mentalitätsgeschichtlichen Schule von Georges Duby, der seine vergeblichen Versuche, die Mentalität der Revolutionäre, Konterrevolutionäre und Mitläufer von 1848 zu beschreiben, mit der Bemerkung abschließt:

Au reste, Flaubert a tout fait revivre de l'esprit de ce temps dans son admirable Education Sentimentale. (Maurice Agulhon, "La Seconde République, 1848-1852", 1970, 403)

Im übrigen hat Flaubert den Geist jener Zeit in seiner wunderbaren Education Sentimentale vollkommen wieder aufleben lassen.

Die wichtigste Relaisstation im Umschlag sozialer Energien und im Ausdifferenzierungsprozeß der Kulturtypen 2 und 3 ist das einzelne Subjekt. Sein Schicksal im zukünftigen Kulturtypus 4 ist ungewiß. Philosophie und Wissenschaft, auch Moraltraktate, Beichtspiegel oder Gerichtsurteile aber können das konkrete menschliche Subjekt nur diskursiv umstellen, fassen können sie es nicht. Diese leere Mitte der Theorie füllt die Literatur. Natürlich nicht jede Literatur, sondern nur Hohe Literatur:

Große Autoren sind [...] Spezialisten im kulturellen Austausch. Die von ihnen geschaffenen Werke sind Strukturen zur Akkumulation, Transformation, Repräsentation und Kommunikation gesellschaftlicher Energien und Praktiken. (Stephen Greenblatt, "Kultur", 1990, 55)

Greenblatts Arbeiten zur englischen Renaissance können im nachhinein als großangelegte Prüfung der Relevanz der kanonischen literarischen Werke im Kontext anderer Textsorten interpretiert werden. Im Ergebnis wurde dadurch indirekt die privilegierte Position der Hohen Literatur bekräftigt. Was natürlich keineswegs heißt, daß der Kanon damit ein für allemal festgeschrieben wäre. Im übrigen haben Médiévistes oder Dix-septièmistes schon immer synchron intertextuelle Verhandlungen zur kritischen Prüfung der Relevanz des literarischen Kanons betrieben (vgl. Jauß 1994). Genauso legitim ist aber auch der diachrone Zugang, der Kanonrevisionen von der Relevanz für die jeweilige Gegenwart abhängig macht. Dabei könnte es

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natürlich geschehen, daß der zukünftige, eindimensionale Kulturtypus 4 die hochausdifferenzierten und elaborierten Kulturleistungen der Kulturtypen 2 und 3 nicht mehr versteht.

Um das kulturkonstitutive und kulturkritische Potential der Literatur zu entbinden, ist neben Kontextstudien in allererster Linie das Studium der ganz eigenen und unvergleichlichen Sprache der Literatur nötig. Und da kann ein Literaturwissenschaftler nun allerdings wenig von der kulturanthropologischen Allegorese balinesischer Hahnenkämpfe lernen (vgl. Geertz 1973a). Man kann literarische Zeugnisse aus den Kulturtypen 2 und 3 methodisch nicht behandeln wie Nacherzählungen lebensweltlicher Geschehnisse aus dem Kulturtypus 1. Literatur ist selbst verdichtete Kulturanthropologie (vgl. Haug 1999 gegen v. Graevenitz 1999). Ihr wichtigstes methodisches Instrument aber ist die Rekonstruktion und kritische Dekonstruktion kultureller Wertoppositionen und idealer Menschenbilder. Die gestalterischen Mittel, die sie zu diesem Zweck einsetzt, sind diskursive Verdichtung, Pathosformen, Metaphorik, Allegorie, Karikatur, Parodie, Paradoxie, Ironie, in der Moderne auch die erlebte Rede oder die lebendige Metapher. Auf diesem weiten Feld kann die Literaturwissenschaft, solange sie sich den kulturellen Leistungen der Kulturtypen 2 und 3 noch irgend verbunden weiß, ihre kulturwissenschaftliche Relevanz unter Beweis stellen. Damit erbringt sie ihren Beitrag im offenen Prozeß der Herausbildung der zukünftigen Weltzivilisation.

Claudia Jünke (Köln): Kulturwissenschaft und Erzähltheorie. Zur Kulturkritik in Juan Goytisolos Señas de identidad

Während gegen Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von verschiedenen Forschern eine ‚Krise der Erzähltheorie’ konstatiert wurde,[1] scheint heute eine „narratological renaissance“ (Herman 1999: 1) zu beobachten, die nicht zuletzt auf die zunehmende Öffnung narratologischer Theoriebildung gegenüber kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zurückzuführen ist. Betrachtet man die Forschungsliteratur der vergangenen zehn Jahre, so hat das Bemühen um die Integration kulturwissenschaftlicher Perspektiven die Erzähltheorie offensichtlich in zweierlei Hinsicht beeinflußt: Einerseits wird zunehmend versucht, einen erzähltheoretischen Zugang zu unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen zu finden, das heißt der Untersuchungsgegenstand der Erzähltheorie wird ausgeweitet – auf die Beschäftigung mit Film, bildender Kunst, Comics, Drama, Geschichtsschreibung, Alltagskonversation, Ethnographie, philosophischen und psychologischen Texten. Andererseits finden sich verstärkt kulturwissenschaftlich ausgerichtete Analysen von literarischen Erzählungen, was auf eine Ausweitung der Untersuchungsmethode der Erzähltheorie verweist. Dem Formalismus, der die klassisch-strukturalistische erste Phase der Theoriebildung dominiert hatte, stellt sich ein kulturwissenschaftliches Interesse an die Seite, was eine Akzentverschiebung von der Systematisierung von Erzähltechniken auf deren Sinndimension und Weltdeutungspotential mit sich bringt. Mieke Bal faßt diese Entwicklung folgendermaßen zusammen:

“the concern for a reliable model for narrative analysis has more and more been put to the service of other concerns considered more vital for cultural studies” (Bal 1990: 729).[2]

Die folgenden Ausführungen sind im Kontext der zweiten hier angesprochenen Tendenz in der aktuellen Erzählforschung zu situieren, d.h. sie beschäftigen sich mit den Möglichkeiten einer kulturwissenschaftlich orientierten narratologischen Textanalyse. Es geht also um die Frage, inwiefern eine Analyse der Erzählweisen und Erzähltechniken Aufschluß gibt über das einem Text implizite Kulturverständnis. Wichtige Impulse konnten in diesem Zusammenhang speziell zwei Forschungsansätze geben, und zwar einerseits der von Stephen Greenblatt entwickelte ‚New Historicism’ und andererseits die von Clifford Geertz geprägte Variante der Kulturanthropologie. In dem 1990 erstmals erschienenen Aufsatz „Kultur“ stellt Greenblatt die Frage, inwiefern es für den

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Literaturwissenschaftler nützlich sein könne, auf den Kulturbegriff zu rekurrieren. Literatur erscheint hier als einer der Orte, an dem das ‚Ensemble von Überzeugungen und Praktiken’, das eine bestimmte Kultur konstituiert, geltend gemacht wird. Dabei geht es Greenblatt um die Darstellung der ‚Zirkulation sozialer Energien’, um die Rekonstruktion der ‚Verhandlungen’ über den Austausch von materiellen Gütern, kulturellen Praktiken, Vorstellungen und Werten. Gleichzeitig weist er jedoch auch darauf hin, daß eine solche Rekonstruktion der kulturellen Verhandlung von Diskursen eine genaue Formanalyse des literarischen Textes selbst nicht ersetzen könne:

Die folgenden Ausführungen sind im Kontext der zweiten hier angesprochenen Tendenz in der aktuellen Erzählforschung zu situieren, d.h. sie beschäftigen sich mit den Möglichkeiten einer kulturwissenschaftlich orientierten narratologischen Textanalyse. Es geht also um die Frage, inwiefern eine Analyse der Erzählweisen und Erzähltechniken Aufschluß gibt über das einem Text implizite Kulturverständnis. Wichtige Impulse konnten in diesem Zusammenhang speziell zwei Forschungsansätze geben, und zwar einerseits der von Stephen Greenblatt entwickelte ‚New Historicism’ und andererseits die von Clifford Geertz geprägte Variante der Kulturanthropologie. In dem 1990 erstmals erschienenen Aufsatz „Kultur“ stellt Greenblatt die Frage, inwiefern es für den Literaturwissenschaftler nützlich sein könne, auf den Kulturbegriff zu rekurrieren. Literatur erscheint hier als einer der Orte, an dem das ‚Ensemble von Überzeugungen und Praktiken’, das eine bestimmte Kultur konstituiert, geltend gemacht wird. Dabei geht es Greenblatt um die Darstellung der ‚Zirkulation sozialer Energien’, um die Rekonstruktion der ‚Verhandlungen’ über den Austausch von materiellen Gütern, kulturellen Praktiken, Vorstellungen und Werten. Gleichzeitig weist er jedoch auch darauf hin, daß eine solche Rekonstruktion der kulturellen Verhandlung von Diskursen eine genaue Formanalyse des literarischen Textes selbst nicht ersetzen könne:

Literarische Texte beziehen sich nicht nur auf Kultur, indem sie kulturelle Praktiken abbilden oder auf sie verweisen, sie sind selbst eine aktive Kraft im Spannungsfeld ‚Kultur’, da sie Werte, Normen und Mentalitäten in sich aufgenommen haben. Die von diesen Werten, Normen und Mentalitäten konstituierte kulturelle Dimension eines literarischen Textes erschließt sich nicht ohne eine detaillierte Analyse seiner formalen Gestaltung. Kulturwissenschaftliche und formalistische Annäherungen an einen Text schließen sich also nicht aus, sondern sind vielmehr wechselseitig aufeinander bezogen. Die Narratologie kann dabei das begriffliche Instrumentarium für die „sorgfältige Formanalyse“ zur Verfügung stellen, auf die sich Greenblatt im letzten Zitat bezieht.

Möchte sich eine solche Formanalyse nun dem Sinnpotential des Textes nähern, kann sie sich nicht in einer systematisch-technischen Darstellung von Textstrukturen erschöpfen. Eine Analyse, die sich die Frage stellt, inwiefern die formalen Spezifika eines Textes Bedeutungen transportieren – z.B. „soziale Werte“, wie es im Zitat heißt –, kann die kulturellen Implikationen des Textes ausleuchten, sich – wie es Greenblatt formuliert – zunehmend der „gesellschaftlichen und historischen Dimension symbolischer Praxis“ (Greenblatt 1995: 56) zuwenden. Ein kulturwissenschaftliches Interesse ergänzt die formalistische Strukturanalyse also um eine interpretative Komponente, die das Sinnstiftungspotential des Textes stärker berücksichtigt. In der Kulturanthropologie steht dieser ‚interpretive turn’ in engem Zusammenhang mit dem von Clifford Geertz’ geprägten Konzept der ‚dichten Beschreibung’, das auch der Erzähltheorie neue Impulse geben konnte. Ausgehend von einem semiotischen Kulturbegriff hebt Geertz (1997: 9) hervor, daß die Kulturwissenschaft eine interpretierende Wissenschaft sei und es ihr um die Deutung gesellschaftlicher Ausdrucksformen gehe. Diese Deutung könne nun mittels ‚dichter Beschreibung’ geleistet werden, das heißt durch eine detaillierte Beschreibung aller bedeutungsvollen Strukturen, die eine Tätigkeit in einer bestimmten Kultur annehmen kann. Übertragen auf die narratologische Textanalyse ließe sich sagen, daß eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzähltheorie ‚dichte

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Beschreibungen’ praktiziert. Sie konzentriert sich nicht auf eine rein formalistische Darstellung von Textstrukturen, sondern fokussiert das Bedeutungspotential von Erzählstrategien, um die kulturelle Dimension des Textes herauszuarbeiten.

Konzeptualisiert man nun die kulturwissenschaftlich-narratologische Analyse eines literarischen Textes als eine Art der ‚dichten Beschreibung’ bedeutungsvoller Textstrukturen, so muß berücksichtigt werden, daß eine erste ‚dichte Beschreibung’ bereits vom literarischen Text selbst geleistet wird. Ein narrativer Text ist nicht nur eine kulturelle Praktik unter anderen, er inszeniert darüber hinaus kulturelle Phänomene bereits auf spezifische Weise – er leistet also immer schon eine besondere Deutung des kollektiven Sinnsystems, dessen Bestandteil er ist. Wird der Text nicht nur als kulturelle Praktik, sondern bereits als Kulturdeutung aufgefaßt, dann besitzt er offenbar auch ein kulturkritisches Potential. So verweist auch Greenblatt in dem schon erwähnten Aufsatz auf die „Fähigkeit der Künstler zu neuartiger Montage und Gestaltung der Kräfte ihrer Kultur“ (Greenblatt 1995: 57). Auf diese Weise entstünden Kunstwerke, die „gegen die Beschränkungen ihrer eigenen Kultur wüten“ (Greenblatt 1995: 57). Die Erzähltheorie läßt sich damit als Instrument begreifen, das es ermöglicht, die einem Text eingeschriebene Kulturkritik, das „Veränderungspotential“ (Grabes 1996: 386) von Literatur, einsichtig zu machen. Darauf verweist auch Ingeborg Hoesterey in ihrer Einleitung zu dem Sammelband Toward a Critical Narratology:

“The specter of formalism so often associated with narratological pursuits is about to vanish into the fresh air of a cultural critiquethat synthesizes ‚Ideologiekritik’, psychoanalysis, and structuralist/poststructuralist positions” (Hoesterey 1999: 10; Herv.Vf.).

Das kulturanalytische und kulturkritische Potential einer narratologischen Textuntersuchung läßt sich nun beispielhaft anhand von Juan Goytisolos 1966 erschienenem Roman Señas de identidad (SI) überprüfen. Der Protagonist Álvaro Mendiola, ein 32jähriger spanischer Fotograf, der seit 1952 im freiwillig gewählten Exil in Frankreich gelebt hat, kehrt im August 1963 in das Landhaus seiner großbürgerlichen Familie in der Nähe von Barcelona zurück, um dort an vier Tagen über sein bisheriges Leben nachzudenken. Der unmittelbare Auslöser für seine Rückkehr ist ein gescheiterter Suizidversuch. Álvaro versucht nun einerseits, den Prozeß zu rekonstruieren, der zu dieser existentiellen Krisensituation geführt hat, und er macht sich andererseits auf die Suche nach den verlorengegangenen ‚Identitätszeichen’, um diese zurückzugewinnen und die – wie er es formuliert – Totalität seines Selbst- und Weltverhältnisses wiederherzustellen. Diese Rahmenhandlung nimmt im Text nun jedoch nur sehr wenig Raum ein und erschließt sich darüber hinaus erst einer gründlichen Lektüre. Der umfangreichste Teil der Romans präsentiert Álvaros ‚recherche du temps perdu’– er spricht selbst ausdrücklich vom ‚Wiederfinden der verlorenen Zeit’ – und umfaßt eine Spanne von fast 100 Jahren. Mit Hilfe von Fotos, Briefen, Büchern, Landkarten, Programmheften, Reiseführern und anderen Dokumenten, aber auch mit der Unterstützung seiner Ehefrau sowie einiger spanischer Freunde, evoziert Álvaro die Zeit von den unternehmerischen Aktivitäten seines Urgroßvaters im Kuba des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart der Erzählung im Jahr 1963. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möchte er sich sowohl der Konstituenten seiner individuellen Identität vergewissern als auch die Spuren seiner national-kollektiven, kulturellen Identität auffinden.

Wie eine detaillierte Analyse des Textes zeigt, ist die in SI geleistete Zeitkritik zum einen bereits auf der Ebene des Inhalts manifest. Zum anderen wird aber auch und vor allem die Form zur Trägerin der dem Text impliziten Kulturkritik. Erzähltechnisch greift der Text auf experimentelle Darstellungsweisen zurück, die insbesondere in drei Bereichen in den Vordergrund treten: (1) in der Gestaltung der erzählerischen Vermittlung, (2) im Rückgriff auf intertextuelle Verweise sowie (3) in der Modellierung der Zeitstruktur. Eine Untersuchung dieser drei Textebenen läßt das für den Gesamtroman konstitutive Prinzip des Dialogischen erkennen: Die Interaktion verschiedener Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen, die Dialogisierung der Perspektive des Protagonisten mittels

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Page 20: Romanistische Kulturwissenschaft?€¦ · 09.40 - 10.20 Claudia Jünke (Romanistik, Köln) Kulturwissenschaft und Erzähltheorie: Zur Kulturkritik in Goytisolos Señas de identidad

der Ersetzung der Ich-Erzählung durch eine Du-Erzählung, das in der Gestaltung von intertextuellen Bezügen entworfene Mosaik verschiedener zeitgenössischer Diskurse und die durch das anachronische Erzählen in Szene gesetzte spannungsvolle Interferenz verschiedener Zeitebenen verweisen auf eine Polyphonie, die im Sinne einer Kulturkritik semantisiert wird. Mit dem Prinzip des Dialogischen entwirft der Text nämlich nicht allein ein narratives, sondern gleichzeitig auch ein kulturelles Modell, das eine Alternative zu den auf der Ebene der erzählten Geschichte dargestellten Mythen und Ideologien bietet, die sich vor allem durch ihre Monologhaftigkeit auszeichnen. Dies gilt gleichermaßen für die offizielle Staatsmeinung und für die Überzeugungen, die von den nach Frankreich emigrierten oppositionellen spanischen Intellektuellen propagiert werden.

Ist das ursprüngliche Anliegen der Emigranten zunächst die Gründung einer „revista de confrontación y de diálogo“ (SI, 266; Herv.Vf.), so muß Álvaro ernüchtert feststellen, daß sich die in diesen Kreisen geführten Diskussionen zunehmend zu Monologen und Selbstgesprächen entwickeln (vgl. SI, 290). Das offizielle Weltverständnis des franquistischen Spaniens zeichnet sich ebenfalls durch Monologhaftigkeit aus, die hier vor allem aus der Praxis des ‚Schweigens’ resultiert, das heißt aus dem Bestreben, jeden Verweis auf vergangene oder zukünftige Alternativen im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich auszulöschen. Das Prinzip des Dialogs widersetzt sich einer derartig monologischen Interpretation der historischen und kulturellen Erfahrungswelt. Das in Señas de identidad durch die Gestaltung des narrativen ‚discours’ favorisierte Konzept der Polyphonie setzt dem ‚Schweigen’ das ‚Sprechen’, dem ‚Vergessen’ das ‚Erinnern’ und dem Monolog die Vorstellung von einer unabschließbaren kommunikativen Koexistenz und Interaktion verschiedener Stimmen und Perspektiven entgegen. Auch Álvaro selbst erkennt am Ende seiner vier Tage währenden Reflexionen die Notwendigkeit, dem ‚Schweigen’ mit ‚Sprechen’ zu begegnen:

deja constancia al menos de este tiempo no olvides cuanto ocurrió en él no te calles (435; Herv.Vf.).

Mit dem Projekt des Nicht-Vergessens und des Nicht-Schweigens endet die Identitätssuche des Protagonisten nicht in der von ihm zunächst angestrebten (Wieder)Herstellung einer Totalität, sondern in dem Vorhaben, sich für die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses zu engagieren und vom Vergangenen zu berichten. Im Verlauf des Gesamtromans rhythmisieren die Begriffe ‚recuerdo’ und ‚memoria’ die Bewußtseinsinhalte von Álvaro. Sein Vorhaben des „no olvides“ und des „no te calles“ wird vor allem zu einem Instrument des Widerstandes gegen einen offiziellen Diskurs, der darum bemüht ist, die Spuren einer anderen Vergangenheit zu verwischen und die Verweise auf eine andere Zukunft unkenntlich zu machen.

Die durch die formalen Besonderheiten des Romans valorisierten Prinzipien des Dialogs, der Offenheit, der Vielstimmigkeit und der Multiperspektivität bieten also einen kritischen Gegenentwurf zu den auf der Geschichtsebene dargestellten, monologischen Sinnstiftungsmodellen. Zum Abschluß soll noch einmal auf den oben erwähnten Aufsatz von Stephen Greenblatt verwiesen werden. Greenblatt sagt:

„auch wenn man einen subtilen historischen Sinn für das kulturelle Material zu entwickeln beginnt, aus dem ein literarischer Text gemacht ist, bleibt die Untersuchung der Techniken wesentlich, mit denen dieses Material formal zusammengefügt und artikuliert wird, will man die kulturelle Leistung verstehen, die der Text vollbringt“ (Greenblatt 1995: 56f.; Herv.Vf.).

Eine detaillierte narratologische Analyse von SI zeigt, daß die ‚kulturelle Leistung’ dieses Textes insbesondere in der durch die formalen Spezifika vermittelten Ideologie-, Mythen- und Kulturkritik zu verorten ist.

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Zitierte Literatur

● Bal, Mieke. 1990. „The Point in Narratology“ Poetics Today 11.4, 727-753.

● Geertz, Clifford. 1997. „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“. Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 7-43. [„Thick Description: Towards an Interpretive Theory of Culture“. The Interpretation of Cultures. New York: Basic Books (1973), 3-30].

● Goytisolo, Juan. 1999 [1966]. Señas de identidad. Madrid: Alianza Ed.

● Grabes, Herbert. 1996. „Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft – Anglistik“. Anglia 114, 377-395.

● Greenblatt, Stephen. 1995. „Kultur“. M. Baßler (Hg.). New Historicism: Literaturgeschichte als Poetik der Kultur.Frankfurt a.M.: Fischer, 48-59 [„Culture“. F. Lentricchia/T. McLaughlin. Critical Terms for Literary Study. Chicago/London: The Univ. of. Chicago Press (1995 [1990]), 225-232].

● Herman, David. 1999. „Introduction: Narratologies“. D. H. (Hg.) Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Columbus, Oh.: Ohio State UP, 1-30.

● Hoesterey, Ingeborg. 1992. „Introduction“. A. Fehn/I. Hoesterey/M. Tatar (Hgg.). Neverending Stories: Toward a Critical Narratology. Princeton: Princeton UP, 3-14.

● Nünning, Ansgar. 2000. „Towards a Cultural and Historical Narratology: A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects“. B. Reitz/S. Rieuwerts (Hgg.). Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings. Trier: Wiss. Verlag, 345-373.

● Rimmon-Kenan, Shlomith. 1989. „How the Model Neglects the Medium: Lingustics, Language, and the Crisis of Narratology“. The Journal of Narrative Technique 19/1, 157-166.

Anmerkungen

[1] Vgl. Herman (1999: 3), der in diesem Zusammenhang von der zunehmenden Verbreitung der‚ Geschichte vom Tod der Narratologie’ spricht, Rimmon-Kenan (1989: 156f.), die auf eine ‚Krise der Narratologie’ verweist und Bal (1990: 728), die zu dem Schluß kommt, daß die Erzähltheorie offenbar außer Mode gekommen sei. [2] Zum Stand der Forschung vgl. zusammenfassend auch Nünning (1999).

Wolfgang Klein (Osnabrück): Wissen für das Volk. Zur Geschichte eines Projektes der Aufklärung

Der Beitrag wurde angekündigt mit folgendem Abstract:

Unter den Voraussetzungen, daß „Kulturwissenschaft“ kein neuer Name für „Landeskunde“, kein wirtschafts-, politik- und ideologiegeschichtsferner Ersatz für „Gesellschaftswissenschaften“ und kein die Differenzen von „Geist“ und „Natur“ samt deren Wissenschaften überwölbendes Dach ist, erprobt der Beitrag die These, daß kulturwissenschaftliches Arbeiten den Gefahren des Spezialisten- wie denen des Banausentums entgehen kann, sobald und soweit ein Gegenstand in den Grenzen der eingeführten geisteswissenschaftlichen Disziplinen nicht zu fassen und nicht zu halten ist. Als einen solchen Gegenstand behandelt er die Geschichte der aufklärerischen Überzeugung, daß es den

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Menschen besser gehe, je mehr sie wüßten. Einige Stationen dieser Geschichte werden im Lichte der Entgegensetzung geprüft, die Lyotard in La condition postmoderne. Rapport sur le savoir entwickelt hat: Während Wissen früher dem „Leben des Geistes und/oder der Emanzipation der Menschheit“ dienen sollte, habe es heute nur noch das „funktionale“ Ziel der Kompetenzvermittlung für spezialisierte Aufgaben.

Der Beitrag geht aus von zwei Zuständen des Wissensprojektes im 20. Jahrhundert:

● dem enthusiastischen Setzen auf die Bildung des Volkes, wie es der sowjetische Revolutionsfilm Leuchte mein Stern leuchte noch 1970 vorführte;

● dem funktionalistischen Universitätskonzept des Kanzlers der Potsdamer Universität Alfred Klein aus dem Jahr 2000.

Drei historische Konstellationen werden dann genauer betrachtet:

● die Lyotards Strukturbildung zugrunde liegenden Positionen von Rousseau (Emile) und der französischen Revolution (Lepeletier) einerseits, Wilhelm von Humboldt andererseits;

● die in den 1880er Jahren gleichzeitig entwickelten Extreme der Selbsterziehung (Nietzsche) und der Volksschulbildung (Ferry);

● die die Zwischenkriegszeit bestimmende Konfrontation zwischen aufklärerischen Erneuerungsversuchen (Deiters, Meyerhold, Gramsci, García Lorca) und praktizierter „Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Menschen“ (Hitler).

Die abschließenden Thesen lauten:

1. Lyotards Strukturierung wird der Komplexität der Geschichte des von ihm und hier betrachteten Projektes an keinem Punkt gerecht – was die Hochrechnung verantwortbar macht, daß auch der von ihm bezeichnete vorläufige Endpunkt in der funktionalen Kompetenzgewinnung komplexerer Betrachtung nicht standhält. Alfred Kleins Vision ist also nicht nur grauslich, sondern vor allem einfältig. Die des Iskremas gefällt vielleicht eher – einfältig ist aber auch sie.

2. Gegenwärtige Diskurse über solche komplexeren Probleme können genauer werden, wenn die empirische Basis des Urteilens kontrolliert ausgeweitet wird und wenn Zusammenhänge zwischen den historischen Konfigurationen der Probleme hergestellt sind – wenn sie also wissenschaftlich geführt oder doch wesentlich beeinflußt werden.

3. Wenn – wie im vorliegenden Fall – wenigstens Philosophie-, Pädagogik-, Theater-, Politik- und Literaturgeschichte aufgeboten werden müssen, um einem Problem zu Leibe zu rücken, kann dessen wissenschaftliche Bearbeitung jedoch disziplinär nicht erfolgen. Da die verwendeten Mittel zu Rationalitätsgewinn zudem nicht formal bleiben konnten, kann die geforderte Art von Wissenschaftlichkeit auch nicht rein methodisch bestimmt sein. Das legt es nahe, für die wissenschaftliche Bearbeitung von Problemen (oder Gegenständen), die in den Grenzen einer eingeführten geistes- oder sozialwissenschaftlichen Disziplin nicht zu halten sind, „Kulturwissenschaft“ zuständig zu machen [1] – da der Kulturbegriff, wenn man dem Resümee seiner Geschichte durch Dirk Baecker folgt, doch vor allem durch „das Schillernde“ seines Operierens im Feld alles von Menschen Gemachten ausgezeichnet ist

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[2].

4. Wenn das Problem im vorliegenden Fall zwischen Rußland und Spanien durch Europa wandert und auch in anderen komplexeren Fällen selten an Sprachgrenzen haltmachen dürfte, wird es schwierig, Kulturwissenschaft philologisch einzugrenzen. Auf die uns gestellte Frage „Romanistische Kulturwissenschaft?“ antworte ich also: eher nicht.

5. Wilhelm Voßkamps zurückhaltender Empfehlung, sich kulturwissenschaftlich dann zu orientieren, wenn man als Literaturwissenschaftler auf „Literatur als Phänomen kultureller Selbstwahrnehmung“ stößt [3], möchte ich so wenig folgen wie zur anderen Seite Hartmut Böhmes und seiner Kollegen emphatischem Bemühen, sich in der „Entwicklung des Fachs Kulturwissenschaft“ durch nichts „beeinträchtigen (zu) lassen“ [4], oder Jürgen Mittelstrassens seit der Denkschrift Geisteswissenschaften heute mehrfach erneuertem Appell zur „Überwindung des Zwei-Kulturen-Mythos“ in der Vergewisserung über „die kulturelle Form der Welt“ als „Einheit einer geisteswissenschaftlichen und einer technischen Kultur“[5]. Das Problem dieser Bestimmungen sehe ich generell in ihrer Wissenschaftszentriertheit (moderner: Selbstreflexivität).

6. Mein Plädoyer gilt also dem gelassenen, oder auch pragmatischen, Nutzen eines kulturwissenschaftlichen Vorgehens, das sich als abhängig von bestimmten, nämlich verwickelten, Arten von Gegenständen begreift. Das jetzt von Jörn Rüsen geleitete Kulturwissenschaftliche Institut Essen nennt solche Gegenstände in seiner Internet-Präsentation „Querschnittsfragen, die durch fachspezifische Fragestellung allein nicht beantwortet werden können“; Friedrich Kittler spricht dagegen, „das Feld der Kulturwissenschaft wie einen claim“ gegen Natur, Technik und Gesellschaft abzustecken und orientiert auf einer Basis kanonischer Texte auf „das Spiel der Differenzen und Interdependenzen“[6]; Michael Hagner schlägt im Nachdenken über Wissenschaftskulturen gelassen pluralistisch vor, „Vermischungen und Überkreuzungen verschiedener Schichten, Gewebe und Fluchtlinien ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen“[7]; Frederic Jameson bezeichnet „die Vervielfachung und Differenzierung der kulturellen Ausdrucksformen“ als Begründung für Cultural Studies [8]. Solche Sachbezogenheit könnte Kulturwissenschaft meinem Verständnis nach bestimmen.

7. In gewissem Sinne würden Kulturwissenschaftler damit allerdings Intellektuelle: Diese kümmern sich, um eine oft verfälschte Formulierung Sartres richtig ins Gedächtnis zu rufen, um das, was sie angeht, und von dem die anderen sagen, daß es sie [da sie keine Spezialisten seien] nichts angehe.[9]

Fußnoten

[1] Vgl. Wolfgang Klein, Kulturwissenschaft und Realismus, in: Hans-Otto Dill (Hg.), Geschichte und Text in der Literatur Frankreichs, der Romania und der Literaturwissenschaft. Rita Schober zum 80. Geburtstag, Berlin 2000, S. 179-184. [2] Dirk Baecker, Kultur, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2001, S. 512. [3] Wilhelm Voßkamp, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Frank Füberth u.a. (Hg.), Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversmmlung in Frankfurt am Main (1846-1996), Tübingen 1999, S. 821. [4] Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000, S. 33. [5] Jürgen Mittelstraß, Die kulturelle Form der Welt. Thesen zur transdisziplinären Aufgabe der Geisteswissenschaften, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.5.2001, S. 80.

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[6] Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. 16f. [7] Michael Hagner, Wissenschaftskulturen. Plädoyer für einen gelassenen Pluralismus, in: Ebd., S. 79. [8] Frederic Jameson, Die Dialektik ist überhaupt erst im Werden, in: Berliner Zeitung, 20.2.2001, S. 12. [9] Vgl. Jean-Paul Sartre, Plaidoyer pour les intellectuels, Paris 1972, S. 38; sowie zu der Verfälschung Jacques Julliard/Michel Winock (Hg.), Dictionnaire des intellectuels français, Paris 1996, wo es S. 11 heißt: Intellektuelle seien laut Sartre Leute, die sich um Dinge kümmern, die sie nichts angehen.

Brigitte Sändig (Potsdam): Wahrheitsstreben als Kulturleistung oder: Camus’ Rolle für den Osten

„[...] von der DDR kann eigentlich nichts anderes übrig bleiben als Kultur“ [1], sagte ein Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung im vorigen Jahr auf einer Veranstaltung des Forums Ostdeutschland der SPD in Berlin. Wenn dem so wäre – und es wäre ja immerhin etwas –, von welcher Kultur wäre dann die Rede? Zweifellos nicht von der seinerzeit verordneten Massenkultur, die als Ausdruck gesunden proletarischen Lebensgefühls propagiert wurde und die heute, ihrer Stützung durch die Macht entkleidet, der ihr schon immer anhaftenden Lächerlichkeit verfallen ist. Wohl aber von einer Kultur, die dort, wo alle anderen Diskussions- und Regulationsinstrumente gesellschaftlichen Lebens weitgehend lahmgelegt oder der Macht gleichgeschaltet worden waren, mehr oder weniger, da immer bedroht, als Refugium für selbstbestimmtes Denken- und Lebenwollen fungierte, mit dieser Funktion freilich auch überfordert war. Von denen, die Kultur so verstanden, wurde der Begriff oft, mit Selbstverständlichkeit, ohne komplizierende Auffächerung gebraucht. Ein beliebiges Beispiel dessen ist etwa das Tagebuch der 1988 aus der DDR ausgebürgerten Theatermacherin Freya Klier, in dem die Begriffe „Kultur“, „kulturell“ und auch „Bildung“ auf ca. zwanzig Seiten in folgenden Verbindungen erscheinen: „Dort tut sich kulturell einiges“ (im Moskau Gorbatschows. B.S.) [2], „Raum schaffen für junge Kultur“ [3], „’Kultur und Evangelium’“[4], „kulturelle Flaute“[5], „[...] eine Analyse beginnen. Über die Kultur, vor allem über das Bildungswesen des Landes“, [6] „dieses katastrophale Bildungsdefizit“[7]. Solch selbstverständliches, trotz aller Zwänge und Behinderungen optimistisches Kulturverständnis hatte eine eindeutige Ausrichtung, wenn die Regisseurin in ihrem Tagebuch beispielsweise erklärt: „[...] null Interesse daran, Theater für Insiderklüngel zu veranstalten. Was wir wollen, ist staatliche Tabus zu durchbrechen – Werte wenigstens auf der Bühne zu behaupten, die längst aus der Gesellschaft herausgezogen wurden.“ [8]

„Werte wenigstens auf der Bühne [...] behaupten“: Das geschah – mit starken Behinderungen, vereinzelt, dann jedoch sehr wirkungsvoll – nur auf der Bühne, nur in der Malerei, nur in der Literatur, aber es geschah; Grundlage dessen war (neben dem erforderlichen Quantum Zivilcourage und Können) nicht mehr und nicht weniger als die selbstverständliche Überzeugung, daß es Werte gebe, deren Verteidigung sich lohne. Das ist nun offenbar eine Überzeugung, die nonkonforme Künstler und mit Kultur Befaßte der östlichen Hemisphäre und damit auch der DDR einte. Sie alle lebten – zweifellos mit vielfältigen Abstufungen und Differenzen – im staatlichen Raum letztendlich in den verordneten Halbwahrheiten und Lügen; angesichts dessen erlangte „Wahrheit“ für sie eine unerschütterliche Bedeutung – nicht in Form eines naiven Glaubens an absolute Wahrheiten, sondern als graduell zu verwirklichende Bestrebung in Entgegensetzung zur Lüge. Obwohl es eine Fülle von Beispielen dafür gibt, möchte ich nur drei bezeichnende Aussagen von Schriftstellern aus drei unterschiedlichen Ländern anführen: Der ungarische Autor Gyula Hay schreibt 1956 (ich zitiere, nach Alain Touraine, französisch): „Le problème le plus essentiel à mon avis [...] est celui de la vérité. Les meilleurs écrivains connus – après beaucoup de difficultés, de grandes erreurs et une violente lutte spirituelle – ont décidé que plus jamais, à aucune condition, ils

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n’écrivaient de mensonges“[9]; in dem ebenfalls in den fünfziger Jahren entstandenen Roman von Wassili Grossman „Leben und Schicksal“ heißt es im Autorkommentar (ich zitiere wiederum französisch, da der Roman auf dem deutschen Buchmarkt nicht zu finden ist): „Oh, la force claire et merveilleuse d’une conversation sincère! Oh, la force de la vérité! Quel prix terrible payaient parfois des hommes pour quelques mots courageux prononcés sans arrière-pensée“[10], und „Il est dur de vivre sans vérité, ou avec des bribes de vérité, avec une vérité tondue et raccourcie. Une vérité partielle n’est pas une vérité“[11]; schließlich möchte ich noch Vaclav Havels Buch mit dem programmatischen Titel Versuch, in der Wahrheit zu leben [12] aus den siebziger Jahren anführen, in dem es heißt: „Es scheint, daß das ‘Leben in Wahrheit’ [...] das eigentliche Hinterland und der eigentliche Ausgangspunkt für das ist, was man im breitesten Sinne des Wortes als ‘Opposition’ bezeichnen könnte.“[13] – Angesichts solcher Erfahrungen ist für mich die heute auch im kultur- und literaturwissenschaftlichen Betrieb vorhandene Tendenz, dem Wahrheitsbegriff mit Indifferenz oder herablassender Leugnung zu begegnen, nicht akzeptabel.

(Nach diesen Darlegungen wird gezeigt, wodurch Albert Camus für die Länder des Ostens besondere Bedeutung gewann: Mit seinem Bemühen um eine Scheidung zwischen Wahrheit und Lüge und mit seiner Ablehnung von Rechtsbrüchen in den Ländern des Ostens wurde er dort zu einer Orientierungs- und Legitimationsgestalt; zum Beweis dessen wird der Band: Brigitte Sändig (Hrsg.), Camus im Osten. Zeugnisse der Wirkung Camus’ zu Zeiten der Teilung Europas, Potsdam 2000, angeführt und erläutert.)

Fußnoten

[1] Dokumentation der Veranstaltung des Forum Ostdeutschland 1. Juli 2000, Willy-Brandt-Haus, Berlin, S. 58.[2] Freya Klier, Abreißkalender. Versuch eines Tagebuchs, München, Kindler 1988, S. 158.[3] Ebenda, S. 166.[4] Ebenda, S. 179.[5] Ebenda, S. 183.[6] Ebenda, S. 164.[7] Ebenda, S. 187.[8] Ebenda, S. 164.[9] Zitiert nach: Alain Touraine, François Dubet, Michel Wieviorka, Jan Strzelecki, Solidarité. Analyse d’un mouvement social Pologne 1980 - 1981, Paris, Fayard 1982, S. 42.[10] Vassili Grossman, Vie et destin, Paris, Julliard/L’âge d’homme 1983, S. 268.[11] Ebenda, S. 623/4.[12] Vaclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, dt. Reinbek, Rowohlt 1989[13] Ebenda, S. 30.

Hans-Ulrich Seeber (Stuttgart):Tendenzen der anglistischen (amerikanistischen) Kulturwissenschaft

Bei der allenthalben zu beobachtenden Wende zu den Kulturwissenschaften scheint in Deutschland die Anglistik/Amerikanistik eine Vorreiterrolle gespielt zu haben. Das hat einmal mit der Logik wissenschaftsimmanenter Entwicklungen zu tun, mit der Auflösung eines priviligierten Status der Literatur und der Infragestellung der Grenze zwischen Text und Kritik, 'hoher' und 'niederer' Literatur einerseits und aus Amerika und Großbritannien hereinströmenden Einflüssen andererseits. Letztere sind zuerst in den Blick zu nehmen. Betrachtet man neuere publizistische Deutungen des state of the art, so läßt sich eine bemerkenswerte Zwiespältigkeit feststellen. Die Abwendung von einer puristischen, dem Werkbegriff huldigenden Literaturwissenschaft ist gerade in Amerika allenthalben zu beobachten, wird aber mehr und mehr nicht als Lösung der oder gar

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Erlösung aus der Malaise angesehen, sondern als Symptom des Problems. Die Einbeziehung der populären Kultur, von Filmen, Postern, der Blick auf kulturelle Praktiken usw. usw. mag zwar mittlerweile unverzichtbar sein, hat aber das Prestige der Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität selbst und in der Öffentlichkeit nicht gemehrt – im Gegenteil. Die fortgesetzte Debatte darüber, wie die American Studies zu konzipieren seien, zeigt, daß man auch in Deutschland von einem allgemein akzeptierten Paradigma nicht sprechen kann, auch wenn die Rückkehr zur Werkimmanenz auf breiter Front zumindest vorläufig ausgeschlossen scheint. Das trifft auch auf die spezielle anglistische Situation zu, wo sich unter starkem Einfluß der British Cultural Studies (der u.a. auf die aktive Kulturpolitik des British Council zurückgeht) eine zumindest von der jüngeren Generation in der Regel mitgetragene Wende zur Kulturwissenschaft vollzieht, bei der man meist für ein gleichberechtigtes Nebeneinander zwischen Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft plädiert. Während die von Williams, Hoggart und Hall (Centre for Contemporary Cultural Studies, Birmingham) ins Leben gerufenen Cultural Studies an die Tradition der viktorianischen Sozial- und Kulturkritik anknüpfen, dieser aber eine demokratische – Legitimierung der popular bzw. common culture als Ausdruck berechtigter Werte und Interessen – und marxistische Wende geben, hält man in der Anglistik meist Distanz zu spezifischen marxistischen Deutungen und bevorzugt das kultursemiotische Paradigma 'Kultur als Text', das sich leicht an die hermeneutische Tradition der Theorie des Fremdverstehens und an die von der Fremdsprachendidaktik erhobene Forderung nach dem Erwerb einer 'interkulturellen Kompetenz' anschließen läßt. Im expliziten (ablesbar an der Lehrpraxis) und impliziten (ablesbar an Einführungen in die Anglistik) Selbstverständnis der Anglistik tendiert man also auf der Grundlage des Konzepts der Zeichenvermitteltheit von Geschichte und Kultur dazu, Literatur- und Kulturstudien nicht als strikt getrennte Forschungs- und Lehrfelder zu betrachten. Mit Recht ist allerdings in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht worden, daß ein nicht semiotisch bzw. linguistisch fundiertes Verständnis von Sozialwissenschaften und Landeskunde, auf das man nicht verzichten könnte (es gibt schließlich Fakten und Systeme), mit einer solcherart konzipierten Kulturwissenschaft nicht ohne weiteres verrechenbar ist. (J. Kramer)

An wissenschaftsgeschichtlichen Gründen für die Faszination der Kulturwissenschaft, die auch für die anglistische Kulturwissenschaft gelten, lassen sich vor allem zwei nennen: erstens das wirtschaftsfreundlich oder gesellschaftskritisch motivierte politische Interesse an Kulturstudien, zweitens der aus der Spezialisierung der Philologien hervorgegangene Zwang zur Interdisziplinarität, der u.a. die Hinwendung zur Anthropologie erklärt. Denn sie bietet als Grundlagenwissenschaft der Kulturbetrachtung jenen historischen und theoretischen Rahmen, in dem sich auch Literaturstudien (z.B. Fiktionstheorie, Medientheorie) sinnvoll situieren lassen.

Als interpretatives Unternehmen beerbt die anglistische Kulturwissenschaft zahlreiche theoretische Richtungen (New Historicism, Cultural Materialism, Medientheorie, vor allem Kultursemiotik und Hermeneutik, Diskurstheorie), was in einigen Bereichen zu ertragreichen, gewichtigen Studien geführt hat (Filmgeschichte, Intermedialität, Kultur- und Diskursgeschichte von Technik und Industrialisierung, Geschlechterforschung, Funktionsgeschichte des Romans, postkoloniale Studien, Kulturgeschichtsschreibung) – bezeichnenderweise alles Studien, die mit Landeskunde im engeren Sinne nichts zu tun haben. Sofern sie also nicht einen relativ engen Bezug zur Landeskunde wahren (wie etwa in der Stereotypenforschung oder in der Forschung zur Englishness) spiegeln anglistische Cultural Studies im weiteren Sinne den allgemeinen Trend zur theoretisch reflektierten Öffnung und Entgrenzung der traditionellen Literaturwissenschaft. Eine kulturwissenschaftlich akzentuierte Literaturwissenschaft weiß allerdings oft mit dem ästhetischen, gerade auch kulturreflexiven Potential ihres Gegenstands nichts anzufangen, interpretiert sie – entgegen der berechtigten Einwände des Formalismus – wieder als Dokument und neigt dazu, das populärwissenschaftliche Niveau des in Texten sedimentierten kulturellen Wissens nicht zu überschreiten. Ich plädiere für ein dialogisches Modell – eine kulturwissenschaftlich reformierte

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Landeskunde, die nicht beliebig Themen addiert, sondern sich auf jene Komponenten der britischen Kulturen konzentriert, die ihre Andersartigkeit begründen, und eine literaturorientierte Kulturwissenschaft, zu deren Kernbereich nach wie vor close reading und Interpretation von literarischen Texten, Rhetorik, Poetik und Stilistik gehören, die aber zugleich die soziokulturelle und diskursive Situierung von Texten und ihre gesellschafts- und kulturreflexive Funktion mitbedenkt.

Monika Schmitz-Emans (Bochum): Ästhetik und Kulturwissenschaft bei Michel Butor

Versteht man unter „Kultur“ einen zu interpretierenden vielschichtigen, aus Zeichenketten bestehenden „Bedeutungszusammenhang“, dann ist „Kultur“ in einem globalen und gleichsam enzyklopädischen Sinn Michel Butors Generalthema, und zwar sowohl in seinen theoretischen Schriften als auch in seinen fiktionalen Texten. Seine Essays behandeln die verschiedensten Klassen, Spielformen und Bereichen kultureller Phänomene in ihren komplexen Wechselbeziehungen, deren latenten oder aktuellen Text-Charakter und der Vernetzung unterschiedlicher Texturen untereinander. Stets geht er davon aus, daß sich die jeweils einzelne kulturelle Gegebenheit aus ihrem Kontext erschließen läßt, und daß insbesondere künstlerische Werke Bestandteile eines weitgespannten Gewebes sind, das sich wandelt, ohne einem Ziel zuzusteuern, das transsubjektiv ist und gleichwohl den einzelnen Leser zur Interpretation einlädt. Verpflichtet ist Butor insbesondere der kultursemiologischen Arbeitshypothese von der Bedeutung der Medien für die Prozesse der Generierung, Konsolidierung oder auch Modifikation kultureller Praktiken und Kommunikationssysteme. Der Eigenart einzelner Medien widmet er eingehende Analysen und Reflexionen: dem Bild, der Schrift, der Musik, dem „Buch als Objekt“ etc. In der Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomenen wie Bildern und Texten gilt sein Interesse werkübergreifenden Vernetzungen, intertextuellen und intermedialen Siginifaktionsprozessen, Prozessen des Zitierens, der Übersetzens, der medienübergreifenden Kommunikation. Bei aller stilistischen, thematischen und diskursiven Vielfalt wird Butors Oeuvre durch eine durchgängig tragende Voraussetzung zusammengehalten: Auch und gerade literarisches Schreiben steht für ihn im Dienst der Erkenntnis. Geprägt insbesondere durch seine phänomenologischen Studien und durch ein philosophisches Interesse an rationaler Durchdringung der Welt, das nach seiner eigenen Einschätzung in produktiver Spannung zu anderen Impulsen steht, bemüht sich Butor auch als Erzähler und als Experimentator mit neuen Textformen darum, eine opake Wirklichkeit zu erhellen, und bei der Beobachtung der Welt zumindest Oberflächen abzutasten, die Dinge beschreibbar zu machen oder der Beschreibbarkeit anzunähern. Im Zusammenhang damit steht sein ebenfalls durchgängiges Interesse der Konstitution von Gegenständlichkeit; den Anteil der Einbildungskraft an dem, was als „Wirkliches“ erscheint, hebt er ebenso hervor wie die Bedeutung narrativer Modelle für die Organisation von Erfahrungen zu Kontexten.

Butor weiß, daß der Interpret kultureller Gegebenheiten nicht auf einer höheren Beobachtungsebene steht und daß das Schreiben über kulturelle Praktiken selbst eine kulturelle Praxis ist - gebunden an erlernte und allenfalls auf der Basis des Erlernten modifizierbare Formen der Strukturierung und Vernetzung von Wissen, an Codes, an Grammatiken, an Spielregeln der Entzifferung. Kultur läßt sich nicht neutral beschreiben, und vielfach erscheint es unmöglich, zu ihr auf beobachtende Distanz gehen zu wollen. Worüber man jedoch nicht objektivierend sprechen kann, das kann man doch vielleicht zeigen. Butor zieht daraus die Konsequenz, die „Textur“, als welche er Kulturen begreift, in der Form seiner Texte zur Anschauung zu bringen. Zudem fordert er die Entwicklung neuer Modelle, um der Gewöhnung an verfestigte Sehgewohnheiten vorzubeugen. Es gibt keine Möglichkeit, der Modellbildung zu entkommen, man kann nur neue Modelle entwerfen, um sich der eigenen Bindung an kontingente Organisationsmuster von Erfahrung und kultureller Praxis bewußt zu werden. Doch es geht nicht allein darum, Kulturelles interpretierend

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darzustellen, sondern auch darum, verfügbare Interpretationsspielräume zu erweitern - und damit die Spielräume (relativer) Freiheit für den Interpreten. Indem „Texturen“ sichtbar gemacht werden, erscheinen sie als kontingent; was so oder so organisiert und strukturiert ist, könnte auch anders aussehen. Kontingenz-Bewußtsein ist jener Möglichkeitssinn, der die Einsicht vermittelt, alles könne auch anders sein (Musil): Indem das Web-Muster einer Kultur als solches sichtbar wird, kann der Leser das, was ist, mit dem vergleichen, was möglich wäre. Zur Vertiefung des Kontingenz-Bewußtseins kommt es anläßlich der Beschreibung kultureller Gegebenheiten vor allem durch Selbstbeobachtung.

Der Terminus, der vielleicht am besten dazu geeignet ist, den von Butor vorausgesetzten kritischen Erkenntnisanspruch der Literatur zu charakterisieren, ist der des ‘Modells’: Literarische Modelle stellen dar, nach welchen Regeln Wirklichkeit organisiert ist - sie können aber auch dazu diienen, neue Spielregeln vorzuschlagen, weil man an Modellen herumbasteln, herumdrehen, herumexperimentieren kann. Vor allem Butors „Improvisations“ sind ein Selbstporträt des Modellbauers Butor.

I. DER ÄGYPTISCHE TISCH

Dem Thema der fremdkulturellen Erfahrung sind in den „Improvisationen“ vor allem jene Abschnitte gewidmet, in denen Butor über seine in Ägypten verbrachte Zeit berichtet. Abschnitt 11, „Der ägyptische Tisch“, enthält die anekdotische Erinnerung daran, wie schwierig es war, einen für französische Bedürfnisse zugeschnittenen Tisch von einem ägyptischen Tischler herstellen zu lassen. Nachdem ein extra hoher Tisch bestellt worden war, wurde zunächst ein viel zu hohes Exemplar geliefert; Nachbesserungen führten dann dazu, daß der Tisch zu niedrig wurde. Die Tisch-Geschichte hat parabolischen Charakter: Am Beispiel der Herstellung eines alltäglichen Gebrauchsobjekts illustriert sie die Unterschiedlichkeit zweier Kulturen, ihrer Codes und ihrer auf diesen Codes (hier: den innenarchitektonischen) begründeten Lebensformen. Zu einem echten Zeichen - das auf einen möglichen Gebrauch verweist - wird er der interkulturelle Tisch dann zuletzt durch Unterlegung der Beine mit Büchern. Bücher kompensieren das Gefälle zwischen dem fremden oder mißlungenen Zeichen bzw. Text und dem lesbaren, eigensprachlichen Gelände. Am ägyptischen Tisch dann wird auch die Welt Frankreichs auf neue Weise beschreibbar: Mehrfach betont Butor, daß er den zeitweiligen Aufenthalt in der Fremde vor allem dazu genutzt habe, die Strukturen der heimatlichen Kultur aus der (relativen) Distanz besser zu erfassen.

II. LABYRINTH UND METALABYRINTH

Das Konzept des Labyrinths bietet sich an, um komplexe kulturelle Gegebenheiten modellhaft zu bespiegeln, denn Labyrinthe sind ja keine chaotischen, wohl aber für den Einzelnen schwer oder gar nicht überschaubare Strukturen. Gerade der ‘Leser’ einer fremden Kultur bewegt sich insofern in einem Labyrinth von Zeichen. Indem er diese in eigene Aufzeichnungen übersetzt, geht es ihm um Orientierung durch Lesbarmachung. Zu selbstkritischen Befunden gibt dabei nun die Beobachtung Anlaß, daß der Leser und Beschreiber durch seine Arbeit die Komplexität seines Gegenstandes nicht reduziert, sondern womöglich steigert. „L’emploi du temps“ ist nicht nur die Geschichte eines Aufenthalts in der kulturellen Fremde eines anderen Sprach- und Lebensraums, sondern zugleich eine Geschichte über das Schreiben. Über das Schreiben, die Schreibsituation sowie insbesondere die Schreibzeit wird in den fiktiven Aufzeichnungen immer wieder explizit gesprochen, so daß der Leser stets zwei Geschichten übereinander zu lesen bekommt: die des Lebens von Revel in Bleston (das abschnittweise erzählt wird) sowie die seiner zeitlich verschobenen Darstellung dieses Lebens (die ebenfalls abschnittweise, in Gestalt begrenzter Aufzeichnungen, erfolgt). Die Transkription kultureller Prozesse ist also noch keine Lesbarmachung. So gesehen, vermittelt „L’emploi du temps“, bezogen auf das Projekt der Entzifferung kultureller Texturen, einen skeptischen Befund.

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Aufgehoben allerdings (im doppelten Wortsinn) ist dieser Befund im literarischen Modell, im Roman. Dieser macht vieldeutige und änigmatische Zeichen zwar nicht eindeutig und lesbar, aber er bringt Komplexität als solche zur Anschauung.

III. DIE SPRACHE DER ALCHEMIE

Der frühe Aufsatz „Die Alchemie und ihre Sprache“ (1960, aus „Repertoire I“) setzt sich zunächst mit mehreren - nach Butor Überzeugung irrigen - Deutungen der alchemistischen Schriften auseinander. Butors eigene These zu den alchemistischen Schriften lautet: Der ‘alchemistische Text’ ist ein codierter Text, der zusätzlich zu dem verschlüsselt Mitgeteilten auch noch seinen eigenen Code in sich enthält, wenngleich verborgen. Demnach ginge es den Verfassern der alchemistischen Schriften nicht allein um die Mitteilung eines geheimen Wissens, sondern auch um eine Lese(r)-Schulung. Ein solches Lesen-Lernen - die Suche nach dem im Text selbst versteckten Schlüssel - ist ein Gleichnis jeder Initiation in kulturelle Praktiken, Denkweisen, Wissensformen.

IV. ENTWURF ZU EINER TASCHEN- ITEROLOGIE

Als Parabel über Verfahrensweisen und Erkenntnisinteressen kulturwissenschaftliche Studien zu lesen wäre Butors Vorschlag zur Begründung einer neuen Wissenschaft, der „Iterologie“. Dem voraus geht die Bekräftigung der Analogie zwischen Lesen und Reisen, die letztlich sogar mehr als eine Analogie, nämlich eine von zwei Seiten lesbare Gleichung ist: Wer reist, „liest“ das durchreiste Gelände, und Reiseberichte sind Übersetzungen des gelesenen Textes. Den vielfachen Spiegelungsbeziehungen zwischen Reisen durch die Welt und der Reise des Schreibenden und Lesenden widmet Butor eingehende Überlegungen. Was immer an Einzelüberlegungen im folgenden über das Reisen angestellt wird, gewinnt so eine metaphorische Dimension. Iterologie ist somit eine Lese- und Schreibwissenschaft, die Lehre von der Entstehung und Lektüre von Zeichen, und damit ein Gleichnis der Kulturwissenschaft, wenn denn kulturelle Praxis bedeutet, Zeichenketten zu erzeugen wie Spuren, die sich lesen lassen. Wiederum gilt: Eine Meta-Wissenschaft würde nur zusätzliche Komplexität („Labyrinthik“) erzeugen und angesichts der Kontingenz aller Wirklichkeiten doch nicht zu letzten Gründen vorstoßen. Das Modell - eine imaginäre Wissenschaft namens „Iterologie“ - hingegen bespiegelt, wie kulturelle Wege und Bahnen sich verfolgen und entziffern ließen. Was Butor in den Einzelabschnitten seines Entwurfs zu einer Taschen-Iterologie klassifiziert, sind nicht nur Reiseformen, -praktiken- und -kulturen, sondern auch allgemeine kulturelle Verhaltensweisen. Diese als „Ortsveränderungen“ zu beschreiben, liegt nahe, wenn man zum einen voraussetzt, daß symbolische Systeme „Topographien“ sind, und zum anderen davon ausgeht, daß die kulturellen Praktiken der Menschen im Zeichen permanenter, sei es langsamer, sei es schneller Veränderungen dieser Topographien stehen. Wir verändern ständig unseren Ort, und die Orte selbst verändern sich auch. Setzt man als Leser Butors für die Orte (Ausgangsorte, Zwischenorte, Zielorte...), von denen er spricht, die Idee einer symbolischen Topologie, so lassen sich seine klassifizierenden Beobachtungen auf die Prozesse der Ortssuche und Ortsveränderung, des Wandels und der Umgestaltung beziehen, welche die Existenz des Menschen als Mitglied kultureller Gemeinschaften, als Gast in fremden Kulturen und als Konstrukteur neuer kultureller Gebilde ausmachen. Kulturen, so suggeriert der Entwurf - sind zwar „Territorien“ und lassen sich wie Territorien kartieren, doch kulturelle Praxis ist ein Reisen auf solchen Territorien, ein Unterwegs-Sein. Das bedeutet für den Kulturologen, daß er es nicht bei der Kartierungsarbeit von Geländen belassen kann, sondern zu zeigen hat, wie, mit welchen Absichten, mit welchen Zielen und gemäß welchen Mustern man auf diesen Geländen unterwegs ist, wie man sie durch seine Reisebewegungen das Territorium um neue Wege bereichert oder aber alten Wegen folgt und damit deren Brauchbarkeit bekräftigt. Wichtig ist für den

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vergleichenden Iterologen (also den Kulturwissenschaftler) natürlich auch und vor allem die Beobachtung, wie der Reisende sich zwischen differenten Territorien bewegt. Die Iterologie als solche beruht auf der Prämisse, daß überhaupt gereist wird, daß nicht Seßhaftigkeit die maßgebliche Verhaltensform des Menschen ist, obgleich die Idee der Seßhaftigkeit, also des Sich-Niederlassens auf einem bestimmten kulturellen Territorium, den Grenz- oder Nullwert darstellt, von dem sich die Reiseformen kontrastiv abheben. Neu ist in Butors Essay nicht die Analogisierung bzw. Gleichsetzung kultureller und geographischer Territorien, nicht die Betrachtung solcher Territorien als beschriftete Flächen, denen sich kulturspezifische Zeichen und Texte eingeschrieben haben. Neu, ein „Vorschlag“, ist die Idee, den Kulturologen nicht als Kartographen, sondern als Iterologen zu betrachten. Nicht, wie ein Gelände strukturiert ist, erscheint damit als die entscheidende Frage (obgleich man auch dies natürlich wissen muß), sondern wie man sich im Horizont solcher Struktren bewegt. Nicht die Codes einer Kultur sind entscheidend, sondern die Modalitäten des Verfahrens mit ihnen. Denn - und das entdeckt der Iterologe vor allem bei der Auseinandersetzung mit Entdeckungsreisen und mit dem Nomadimmus, es gilt aber generell, die Reisen verändern und prägen die durchreisten Territorien selbst. Kultur ist Praxis, beruhend auf Codes, gleichzeitig aber Überformung dieser Codes. Die Grundidee einer Iterologie korrespondiert in diesem Punkt dem dekonstruktivistischen Verständnis von Sprachen als instabilen, im Gebrauch permanent modifizierten Gefügen.

V. MOBILES

Kulturtheorien und Kulturbegriffe besitzen dann und nur dann auch ein kritisches Potential, wenn auf ihrer Grundlage Kultur in einer Weise definiert wird, die den Trägern und Gestaltern von Kultur Freiräume des Handelns und der Entscheidung zugesteht. Bezogen auf Theorien, welche Kultur üner den Zeichen- und Textbegriff bestimmen, bedeutet dies, daß sowohl die Lektüre als auch die Fortsetzung des Zeichen-Geflechts „Kultur“ im Spielraum möglicher Alternativen stattfinden muß. Daß die einzelnen jeweils kulturspezifischen Zeichenordnungen nicht auf eine allgemeine und determinierende Grundstruktur zu reduzieren sind, macht es möglich und notwendeig, sie zu vergleichen, zu relativieren und zu kritisieren. Die aktuelle philosophische Semiotik bietet einen für die Würdigung der kulturtheoretischen Implikationen literarischer und künstlerischer Phänomene besonders fruchtbaren Ansatz zur Bestimmung des Kulturbegriffs. Jenseits der überholten Dichotomie von Subjekt und Objekt geht es ihr nicht allein darum, Spielräume und Grenzen des interpretierenden Verhaltens zur Welt zu erfassen, sondern damit auch das Fundament möglichen Handelns zu erörtern. Der Prozess des Verstehens und immer wieder Andersverstehens von Zeichen als Inbegriff von Kommunikation und sozialer Interaktion ist ein kulturelles Geschehen. Vernunft, einst als überzeitliche Instanz konzipiert, verzeitlicht sich. Damit aber ergeben sich für das Denken neue Herausforderungen: Sein Erkenntnisinteresse richtet sich nicht auf die eine Vernunft (im Singular), sondern auf „die Kulturen“ (im Plural), und seine Methodik ist im wesentlichen eine vergleichende. Gegenüber der damit drohenden Diffusität und Unverbindlichkeit vergleichende Praktiken fungiert der Kulturbegriff als Korrektiv. Denn mit ihm wird gleichsam ein Rahmen konstruiert, innerhalb dessen Vergleiche möglich und gültig sein sollen. Der Rahmen selbst ist kontingent, doch Selbstreflexion des vergleichenden Beobachters verhindert, daß das, was innerhalb des Rahmens stattfindet, sich in Beliebigkeit verliert. Bildlich gesprochen: Wer sich als „Leser“ mit kulturellen Gegebenheiten auseinandersetzt, sollte sich seiner eigenen perspektivischen Lese-Praxis bewußt bleiben. Die Idee der Beschreibung einer kulturellen Landschaft unter dem Aspekt der Mobilität findet sich in Butors „Mobile“ programmatisch umgesetzt: in ein literarisches Modell. Auch hier konzipiert Butor seinen Text so, daß dessen Struktur ein Analogon der thematisierten Welt ist; wie in seinem Labyrinth-Roman „L’emploi du temps“ ist es ein Artefakt, welches das Grundmuster liefert: dort das Labyrinth, hier das Mobile.

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VI. RAHMENDURCHBRÜCHE

Butor sucht und findet immer wieder Formeln und Bilder, in denen sich zugleich kulturelle und kulturwissenschaftliche Praktiken bespiegeln. Das „Mobile“ als Gegenkonzept zu einer statischen Struktur ist ein solches Bild: Es korrespondiert der Idee einer Mobilität kultureller und gesellschaftlicher Gegebenheiten in analoger Weise wie das Projekt einer „Iterologie“. Eine ähnlich programmatische Metapher für die Tätigkeit dessen, der sich beschreibend mit kulturellen Prozessen auseinandersetzt, ist die Durchbrechung von Rahmen, von der Butor im Zusammenhang seiner Reflexionen über Text-Bild-Beziehungen ausführlich spricht, und die er als Erzähler wie als Bildinterpret in vielfältigen Formen in Szene gesetzt hat. Eng verknüpft mit der Vorstellung eines interpretierenden und be-schreibenden Eindringens ins Bild ist die Idee, mit sprachlichen Mitteln Bilder in ‘Bewegung’ zu versetzen. Und auch solche Prozesse hat Butor als Erzähler, Bildinterpret und Theoretiker des Bilderlesens vielfach vollzogen bzw. beschrieben. Daß sich das Eindringen des Textes in ein Bild als Gleichnis der kulturologischen Praxis verstehen läßt, ist Butor zweifellos bewußt: Wer beschreibt, setzt in Bewegung, verändert, was er beschreibt. Wer Details beschreibt, verschiebt Ganzheiten, wer übersetzt, transformiert. Über seine eigene schriftstellerische Arbeit an Künstlerbüchern berichtet Butor, er habe sie als subversiv empfunden.

Das Beschriften eines fremden Bildes ist ein Akt, welcher der Verwandlung unerschlossenen Geländes in eine Kulturlandschaft an Bedeutung gleichkommt: Es ist ein Prozeß der der Bedeutungszuweisung, der Herstellung von Beziehungen zwischen Zeichen - und es ist ein schöpferischer Akt, der im engeren Sinn kritisch sein kann (je nachdem, wie sich der Text zum Bild verhält), in jedem Fall aber implizit kritisch ist - weil er verändert, einen Spielraum eröffnet.

Eine Bilanz: Butor ist, unabhängig von den einzelnen Gegenständen und Resultaten seiner kulturwissenschaftlichen und -kritischen Untersuchungen, vor allem in einer Hinsicht wegweisend: Er demonstriert in der literarischen Praxis die engen Beziehungen zwischen im engeren Sinn kulturwissenschaftlicher Arbeit und literarischem Erzählen: deren gemeinsame Interessen und deren strukturelle Anlogien. Durch die vielfältige Kombination theoretischer und spekulativer Interessen mit Formen der Narration verdeutlicht er, daß es ‘Objektivität’ bei der Lektüre von Kulturen ohnehin nicht geben kann. Möglich und notwendig ist hingegen die Konstruktion von Modellen. Hierzu aber kann gerade die erzählende Literatur wichtige Beiträge leisten. Konstruiert bzw. erkundet wird im Oeuvre Butors eine ganze Reihe von Modellen kultureller Gegebenheiten und Praktiken sowie entsprechender Beobachtungstechniken - kultwissenschaftlicher Praxis also -, wobei er die Analogien zwischen Beobachtungsgegenständen und Beobachtungsprozessen bestont.

Zu den wichtigsten Texten gehört wohl in dieser Hinsicht der Entwurf zu einer Iterologie, denn er impliziert die Wendung von einer Kulturwissenschaft, die sich als Kartographie versteht, zu einem ‘mobileren Konzept’, welches in Betracht zieht, daß Kultur stets eine Kultur des Unterwegsseins ist, nicht erst heute, heute allerdings in besonders deutlich wahrnehmbarer Weise. Unterwegs sind die Träger von Kultur (kollektive und einzelne Subjekte), unterwegs sind ihre auch Beobachter, die Kulturwissenschaftler, in den Spuren ihrer Gegenstände.

Eine Kulturwissenschaft, die sich als Iterologie beriffe, würde zum einen der Gegenwartkultur Rechnung tragen, die durch ihre Mobilität und die vielfältigen Formen des Austauschs zwischen heterogenen Sphären geprägt ist, sie korrespondiert zum anderen einem neuartigen Verständnis von Sprachen und Kulturen, die heute weniger denn je als geschlossene Systeme gelten können. Gerade wenn Kultur als Text verstanden und entsprechend dem Paradigma von Sprache und Sprachen beschrieben und interpretiert wird, sind solche Konzepte in Betracht zu ziehen, denen zufolge die Sprachen einander konstinuierlich wechselseitig beeinflussen und überformen.

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Rainer Zaiser (Köln): Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft: Antagonismus oder Osmose?

Wenn man die Tendenzen der Literaturwissenschaft in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten Revue passieren läßt, scheint sich in relativ kurzen Abfolgen und zum Teil auch in zeitlichen Überlagerungen ein strukturelles Paradigma zu wiederholen, das sich ganz gut im Bild der binären Oppositionsbildungen – oder etwas drastischer formuliert – der feindlichen Lagerbildungen festhalten läßt. Stark verknappt und Überschneidungen inbegriffen läßt sich dieses Bild unter anderem auffächern in die Dichotomien von Strukturalismus versus Poststrukturalismus, Hermeneutik versus Dekonstruktion, Philologie versus Diskursanalyse, Historismus versus Textualität und in jüngster Zeit eben auch Literaturwissenschaft versus Kulturwissenschaft. Dabei zeichnet sich das letzte Oppositionspaar durch die Besonderheit aus, daß seine beiden Terme nicht mehr auf einen Methodenstreit innerhalb der Literaturwissenschaft verweisen, sondern daß die Literaturwissenschaft nun schlichtweg zur Disposition steht und durch eine andere Disziplin, die man Kulturwissenschaft nennt, abgelöst werden soll oder zumindest mit dieser eine Symbiose eingehen soll. Verglichen mit den methodischen Zerreißproben, denen die Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder ausgesetzt war, scheint es auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert nunmehr um das Ganze eines Faches zu gehen, das aufgrund einer angeblich geringen gesellschaftlichen und ökonomischen Relevanz für eine breite Öffentlichkeit in seiner Legitimität ohnehin schon immer suspekt gewesen ist. Dieser latente Verdacht, daß der Literaturwissenschaftler im und für den Elfenbeinturm forscht und lehrt, konnte für außenstehende Beobachter letztlich nur noch an Evidenz gewinnen, als sich in den neunziger Jahren, zunächst vorwiegend an britischen und amerikanischen Universitäten, auch im Kreise der Fachvertreterinnen und Fachvertreter Stimmen zu Wort meldeten, die der sprach- und literaturwissenschaftlichen Ausrichtung der philologischen Fächer das Wort streitig machten und die Disziplin der sogenannten „Cultural Studies“ zu kanonisieren versuchten.[1] Sie sind in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in Großbritannien entstanden und lassen sich in ihrem Ursprung in einer linksorientierten, marxistischen Kulturkritik verorten, die im Sinne einer „Demokratisierung des Kulturverständnisses“ ihren Blick öffnete auf die Assimilationsprobleme einer aus den Folgen des British Empire hervorgegangenen multikulturellen Gesellschaft und die sich sukzessive zum Anwalt und Sachverwalter der „Arbeiterkultur“, von „jugendlichen Subkulturen“ und „feministischen Fragestellungen“ machten.[2] In den Pionierzeiten der „British Cultural Studies“, die mit den Namen von Richard Hoggart und Raymond Williams verbunden sind,[3] war somit im Keim bereits alles angelegt, was im Horizont poststrukturalistischer Theoriebildung dann unter den Begriffen der „political correctness“, der „gender studies“ und des „Postkolonialismus“ behandelt werden sollte. Hinzu kommt seit den neunziger Jahren noch die phänomenale Explosion der Medienkultur, die den „Cultural Studies“ einen weiteren schier unerschöpflichen Gegenstandsbereich eröffnet hat. Somit entfalten sich die „Cultural Studies“ nunmehr am Beginn des 21. Jahrhunderts in einem Verhandlungsraum, in dem Sean Connerys alias James Bonds Augenbrauen – so lautet ein kurzes, aber legendäres Kapitel in Antony Easthopes Buch Literary into Cultural Studies[4] – genauso einen Platz finden wie der Sport, die Mode, die Werbung, Fernsehserien, Talkshows oder Videoclips, und in dem die Vielfalt der Ethnien und ihr Verhältnis zu nationalen Identitätsbildungen genauso beschrieben und analysiert werden wie die Geschlechterrollen in der Gesellschaft.

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An dieser Stelle scheint es mir wichtig festzustellen, daß die sehr polemisch geführte anglo-amerikanische Auseinandersetzung zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft am deutlichsten die extreme Bandbreite zur Anschauung bringt, innerhalb derer sich das Verständnis des Kulturbegriffs zu bewegen und immer wieder auch zu oszillieren scheint. Auf der einen Seite steht am äußersten Ende der Kulturskala ein Florilegium von Meisterwerken der Kunst, auf der anderen Seite ein Sammelsurium von Alltagsritualen und gestischen Inszenierungsformen wie etwa die Semiotik des Fußballs oder die Bedeutung von Sean Connerys Augenbrauen in seiner Rolle als James Bond. Im ersten Fall haben wir es mit einem Kulturbegriff der elitären Beschränkung zu tun, der nach welchen Prinzipien auch immer die Spreu vom Weizen zu trennen versucht, und im zweiten Fall mit einen Kulturbegriff der demokraktischen Entgrenzung, der sich auf alle Vorgänge und Produkte des menschlichen Tuns bezieht.

Entgegen dieser antagonistischen Tendenzen in der gegenwärtigen Diskussion vertrete ich die These, daß Literaturwissenschaft schon immer Kulturwissenschaft gewesen ist und daß das Verhältnis dieser beiden Disziplinen zueinander immer nur eine Frage der Selektion ist, die ganz unterschiedliche Lösungen finden kann, ja sogar finden muß. Die Selektion bezieht sich dabei zum einen auf das Untersuchungsmaterial, d.h. auf die literarischen Diskurse und die kulturellen Praktiken, und zum anderen auf die Verstehensprozesse, d.h. auf die Möglichkeiten und Grenzen der wechselseitigen hermeneutischen Beleuchtung von literarischen Diskursen und kulturellen Praktiken. Entscheidend ist dabei erstens, daß die literarischen Diskurse selbst Teil der kulturellen Praktiken einer Gesellschaft sind und zweitens, daß sich diese kulturellen Praktiken letztlich nur im Medium des Textes (im Sinne eines Zeichensystems, das außersprachliche Zeichen miteinschließt) beobachten und beschreiben lassen. Dabei erweist sich das Textgewebe der literarischen Diskurse gerade als ein hoch komplexer Ort, in den die kulturellen Praktiken einer Gesellschaft im Prozeß ihrer Modellierung, Modifizierung und Überschreitung eingeschrieben sind. Die literarischen Diskurse entpuppen sich somit als vorzügliche Studienobjekte des kulturellen Geschehens einer Epoche in seiner jeweiligen Vielheit und Widersprüchlichkeit.

Fußnoten

1. hierzu die einschlägigen Arbeiten von Patrick Brantlinger, Crusoe’s Footprints: Cultural Studies in Britain and America.London: Routledge, 1990; Graem Turner, British Cultural Studies: An Introduction. Boston: Routledge, 1990; Antony Easthope, Literary into Cultural Studies. London: Routledge, 1991; Lawrence Grossberg, Cary Nelson, Paula Treichler (eds.), Cultural Studies. London: Routledge, 1993; cf. ferner die Synthese von Jürgen Kramer, British Cultural Studies. München: Fink, 1997. 2. den Eintrag „Culturals Studies“, in Ansgar Nünning, Hrsg., Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998, pp. 76-78. 3. die Initialarbeiten von Richard Hoggart, The Uses of Literacy: Changing Patterns in English Mass Culture, London: Chatto and Windus, 1957 und Raymond Williams, Culture and Society, 1780-1950, London: Chatto and Windus, 1958. 4. „Sean Connery’s Eyebrows“, in Easthope 1991, pp. 125-128.

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