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Esther Gad (ca. 1767 -1833) ,,Als eine zweite Wolstonecraft vertheidigt sie die Fähigkeiten und den Beruf ihres Geschlechts, auch zu höherer Geistesbildung, gegen Campe's Urtheile und Zurückwei• sungen."1 Esther Gad starmnte aus einer vermutlich wohlhabenden jüdischen Familie. Sie wurde um 1767 als Tochter des ,Fix-Entristen' und späteren Generalprivilegierten Raphael ben Gad in Breslau geboren;2 ihre Mutter war die Tochter des Hamburger C.W.0.A. von Schindel: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. 3 Theile in einem Band. Leipzig 1823 - 1825. Reprint: Hildesheim, New York 1978. l. Teil, S. 104; zit. n. Karin Rudert: Die Wiederentdeckung einer deutschen Wollstonecraft": Esther Gad Bernard Domeier für Gleichberechtigung der Frauen und Juden, in: Quaderni. Dipartimen• to de Lingue e Lettere Straniere. Universita di Lecce No. 10 (1988), S. 213. Die meisten der hier versammelten biographischen Informationen sind dem sorgfältig recherchierten . Artikel von Karin Rudert entnommen. 2 Vor der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, die 1812 erfolgte und nur halbherzig verwirklicht wurde, war seit 1750 in Preußen ein Generalreglement in Kraft, das, wie seine Vorgänger, Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Juden erheblich einschränkte, u.a. durch hohe Schutzgelder, durch Leibzölle, Niederlassungs-, Wohn- und Heiratsbeschrän- 53 ------ -

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Esther Gad (ca. 1767 -1833)

,,Als eine zweite Wolstonecraft vertheidigt sie die Fähig• keiten und den Beruf ihres Geschlechts, auch zu höherer Geistesbildung, gegen Campe's Urtheile und Zurückwei• sungen."1

Esther Gad starmnte aus einer vermutlich wohlhabenden jüdischen Familie. Sie

wurde um 1767 als Tochter des ,Fix-Entristen' und späteren Generalprivilegierten

Raphael ben Gad in Breslau geboren;2 ihre Mutter war die Tochter des Hamburger

C.W.0.A. von Schindel: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. 3 Theile in

einem Band. Leipzig 1823 - 1825. Reprint: Hildesheim, New York 1978. l. Teil, S. 104; zit. n. Karin Rudert: Die Wiederentdeckung einer „deutschen Wollstonecraft": Esther Gad Bernard Domeier für Gleichberechtigung der Frauen und Juden, in: Quaderni. Dipartimen•

to de Lingue e Lettere Straniere. Universita di Lecce No. 10 (1988), S. 213. Die meisten der hier versammelten biographischen Informationen sind dem sorgfältig recherchierten . Artikel von Karin Rudert entnommen.

2 Vor der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, die 1812 erfolgte und nur halbherzig ver• wirklicht wurde, war seit 1750 in Preußen ein Generalreglement in Kraft, das, wie seine

Vorgänger, Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Juden erheblich einschränkte, u.a. durch hohe Schutzgelder, durch Leibzölle, Niederlassungs-, Wohn- und Heiratsbeschrän-

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Oberrabbiners Jonathan Eibenschütz. Zur Zeit der Abfassung ihrer unten abge•

druckten Streitschrift gegen Joachim Heinrich Campe, einen der führenden Köpfe

der späten Aufklärung, war sie Ende Zwanzig, strebte aus einer wahrscheinlich

durch die Eltern gestifteten Ehe heraus, hatte zwei Kinder. Ihres hohen Bildungs•

grads ungeachtet war sie berufs- und stellungslos, ganz wie es sich für bürgerliche

Frauen aus gutem Hause geziemte - und offenkundig alles andere als im Einklang

mit ihrer Lebenslage. Die Neudefinition des Verhältnisses von Privatem und Öffent•

lichem, die in vollem Gange war, schien auch bürgerlichen Frauen eine Neudefini•

tion ihrer gesellschaftlichen Rolle, die Anerkennung als Gebildete zu ermöglichen,

und besonders für gebildete Jüdinnen eröffneten sich jetzt erstmals soziale Räume,

die den Ausweg aus der Enge traditionaler, religiös bestimmter Lebenswelten wie•

sen: In Berlin hatten sich Henriette Herz und Rahe! Levin mit ihren Salons solche

neuen sozialen Räume selber geschaffen . Wenn auch in gänzlich veränderter

Gestalt, so rückte hier doch für jüdische Frauen das im traditionellen Judentum

hochgeschätzte Lernen, bis dahin im wesentlichen Männerdomaine, endlich in

greifbare Nähe .

Esther Gad hatte den für höhere Töchter ihrer Zeit bestimmten Privatunterricht

erhalten, unter anderem in Französisch und Italienisch; mit Hilfe ihres älteren Bru•

ders lernte sie außerdem Englisch, später auch Griechisch und Lateinisch. Antike

und moderne Klassiker waren ihr geläufig, und mit den europäischen Philosophen

beschäftigte sie sich eingehend. Die eingeschränkte Existenz der Juden - und ihrer

selbst - wurde zum Anlaß für ihr Debüt als Schriftstellerin; 1791 wandte sie sich

öffentlich gegen die Unterjochung ihrer Glaubensgenossen.

Aus ihrer ersten, 1796 geschiedenen Ehe mit Samuel Bernard entstammten ein 1

Sohn und eine Tochter ; ein weiteres Kind starb im Alter von zwei Jahren. Nach der .1 1

Scheidung lebte sie zunächst in Dresden und wiederum für kurze Zeit in Breslau.

1797 lernte sie Jean Paul kennen, „mit dem sie einen erst 1990 erschienenen, recht

einseitigen Briefwechsel führt: ,Wer einen Schriftsteller liebt, liebt irnrner ohne

Gegenliebe', schrieb sie ihm".3 Um der vorurteilsgeladenen Atmosphäre der

geschiedenen Jüdin gegenüber zu entgehen, siedelte Esther Gad 1799 nach Berlin

über. Seit 1800 kannte sie Henriette Herz und war Gast in ihrem Salon. In Berlin

lernte sie auch ihren zweiten, ,geliebten' Gatten Wilhelm Friedrich Domeier, Leib•

arzt des Herzogs von Sussex, kennen; die Heirat fand 1801 oder 1802 in London

oder in Lissabon statt. 1801, bevor sie Deutschland zusammen mit Domeier verließ,

trat sie der christlichen Kirche bei und nannte sich fortan Lucie. Ihre Werke wurden

weiterhin in Deutschland publiziert; sie selbst kam erst 1822 für einen kurzen

Besuch zurück . Seit 1801 lebte sie als Schriftstellerin in London , Lissabon, auf

kungen sowie strikte Begrenzungen der Kinderzahl. Gemäß dem Reglement von 1750 wurde außerdem zwischen ordentlichen und außerordentlichen Schutzjuden unterschieden. Nur _ wenige privilegierte Familien, - meist solche mit großem Vermögen, waren von den Bestimmungen des Reglements ausgenommen; sie wurden als Generalprivilegierte beze1chnet. -Die Tätigkeitsbezeichnung Fix-Entrist konnte nicht geklärt werden.

3 Barbara Hahn: „Geliebtester Schriftsteller''. Esther Gads Korrespondenz mit Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean-Pau!-GeseUschaft 25 (1990), S. 26.

Malta und schließlich wieder in London, verkehrte mit Walter Scott und Lord

Byron. Mit Rahel Levin Varnhagen, der anderen führenden Saloniere neben Hen•

riette Herz, korrespondierte sie über dreißig Jahre, von 1796 bis 1828. Zu ihren

Schriften gehören Reisebriefe über England und Portugal, eine Sammlung von

Geschichten, Essays und Gedichten.

Es ist anzunehmen, daß die Reisebriefe Mary Wollstonecrafts Esther Gad für ihr

eigenes schriftstellerisches Tun vorbildlich waren. Wollstonecraft gilt als exempla•

risch für jene Schriftstellerinnen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Brief•

form als eine Möglichkeit der Meinungsäußerung nutzten . Mehr als einmal reflek•

tierte Esther Gad in ihren Schriften die Schwierigkeiten weiblicher Autorschaft - so

auch in der Vorrede zu ihrer Kritik (1814) an Germaine de Stae!s „De l'Allema•

gne": ,,Auch ist es mir bei dieser kleinen Schrift gelungen, meinen Nahmen und

mein Geschlecht zu verhehlen. Mich dünkt, das Urtheil der Leser ist unbefangener,

und folglich unpartheiischer, wenn ihnen beide unbekannt sind. Man hat mir die

Ehre erzeigt, sie für das Werk eines Mannes zu halten".4

Der Analyse Ruderts zufolge entspricht Esther Gads in Briefform verfaßte Streit•

schrift gegen Campes „Väterlichen Rath für meine Tochter" in seiner ,,,äußeren'

Form dem gelehrten Brief der Aufklärer (Lessing, Mendelssohn), der auch bei

Esther noch die ,Spuren' der wissenschaftlichen Abhandlung ... a fweist ... Jedoch

weder die [Form] eines gelehrten Briefes noch eines popularphilosophischen Auf•

satzes offenbart die ,innere' Form. Tatsächlich bildet die Briefform lediglich den

Rahmen der Schrift, innerhalb deren das ,Sie' des Briefadressaten vollkornrnen ver•

schwindet und Gad eine scharfe, argumentative Auseinandersetzung mit Campes

Stellung zur weiblichen Gelehrsamkeit und Schriftstellerei führt, somit die Form

einer polemischen Streitschrift benutzt , die sich als revolutionäres Pamphlet ent•

larvt". Esther Gads Brief „dient der aus gesellschaftlicher Beziehung ausgegrenzten

Jüdin als ,Ersatz' des ,intellektuellen Gesprächs', eine ihr lebenswichtige Kommu•

nikationsform, verwandelt sich aber unter ihrer Feder in eine Flugschrift".5

Rudert macht deutlich, daß schon vor Amalia Holst eine ,deutsche Woll•

stonecraft' wirkte: Esther Gad, deren bisher kaum rezipierte, streitbare Auseinan•

dersetzung mit Campe, dem Klassiker des bürgerlichen Frauenbilds, hiermit der

pädagogischen Geschichtsschreibung und erziehungshistorischen Frauenforschung

zugänglich gemacht wird .

(Ingrid Lohmann)

Quellen und weiterführende Literatur:

Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. 1789. Reprint der Ausga•

be Braunschweig 1796. Paderborn 1988; Wollstonecraft, Mary: A Vindication of the

Rights of Women: with Structures on Political and Moral Subjects. London 1792 (Neu•

druck: Verteidigung der Rechte der Frauen. Rettung der Rechte des Weibes. 2 Bde. Mit

einem Vorwort von Berta Rahm. Zürich 1975, 1976)

4 Zit. nach ebd., S. 97.

5 Zit. nach Rudert, Die Wiederentdeckung einer „deutschen Wollstonecraft", S. 228ff.

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Battenberg, Friedrich: Das europäische Zeitalter der Juden . Zur Entwicklung einer

Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas (2 Bde .). Band Il: Von 1650 bis 1945. Darmstadt 1990; Becker-Cantarino, Barbara: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks - und

Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Gnüg,

Hiltrud/ Möhrmann, Renate (Hrsg .): Frauen - Literatur - Geschichte. Schreibende Frau• en .;;om Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 1985, S. 83-103; Blochmann, Elisabeth:

Das „Frauenzimmer" und die „Gelehrsamkeit" . Eine Studie über die Anfänge des Mädchenschulwesens in Deutschland. Heidelberg 1966; Hahn, Barbara: „Geliebtester

Schriftsteller". Esther Gads Korrespondenz mit Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean-Paul• Gesellschaft 25 (1990), S. 7-42; dies.: Domeier, Lucie, in: Dick, Jutta/ Sassenberg, Mari•

na (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek 1993, S. 96-97; Hertz, Deborah: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt am Main 1991; Rudert, Karin : Die Wiederent deckung einer „deutschen Wollstonecraft": Esther Gad Bernard Domeier für Gleichberechtigung der Frauen und Juden, in: Quader•

ni. Dipartimento de Lingue e Lettere Straniere. Universita di Lecce No. 10 (1988), S. 213-261; Schindel, C. WO.A. von: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhun• derts. 3 Theile in einem Band. Leipzig 1823 - 1825. Reprint : Hildesheim, New York

1978, l. Teil; Wilhelmy, Petra: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914). Ber• lin, New York 1989.

Esther Gad: Einige Aeußerungen über Hrn. Kampe'ns Behauptungen, die

weibliche Gelehrsamkeit betreffend .*

(In: Der Kosmopolit. Eine Monathsschrift zur Beförderung wahrer und allgemeiner Huma• nität. Hrsg. von Christian Daniel Voß . Bd. 3. Halle 1798, S. 577-590)

Werthester Freund!

Sie haben mir eine herzliche Freude gemacht durch Thren Vorschlag, Tunen

meine Ideen über meine Lektüren zuweilen mittheilen zu dürfen . Man verdeutlicht

sich selbst manche Gedanken, die uns ausserdem dunkel geblieben wären, wenn

man sich bemüht, sie Andern mitzutheilen. Dies ist ein Vortheil - sollten Sie meine

Irrthümer berichtigen wollen , so wäre es der kleinste. -

* Nachdem obiger Aufsaz längst abgefaßt war (c;r lag schon einige Jahre in meinem Pulte) erfuhr ich, daß Mrs. Wolstonecraft über denselben Gegenstand geschrieben, und diese Materie mit vieler Energie auseinandergesezt habe; daß sie aber solche erschöpft habe, daran zweifle ich, sonst hätte ich meinen Aufsaz nicht dmkken lassen. Wegen einer für mich psychologisch nicht zu erklärenden Idee habe ich noch bis diese Stunde ienes so berühmte Werk nicht gelesen. Vielleicht fürchtete ich meine Unbefangenheit zu verlieren, wenn ich meine Gründe dadurch unterstüzte, daß ich die Ideen eines andern Weibes in mich hineintrüge. Aus sich selbst muß man schöpfen, die Wahrheit muß man aus sich her•

aus tragen - wenn das Innere davon erfüllt ist. Uebrigens glaube ich mich nicht entschuldi• gen zu dürfen, daß ich über dieselbe Materie etwas dmkken lasse, worüber schon eine Andere geschrieben hat. Das Recht des halben Menschengeschlechts ist der höchste Gegenstand der Moral, der von allen Seiten betrachtet werden muß, um es endlich von der rechten zu werden, und dazu trägt nichts so zwekmäßig bei, als die mannigfaltige Darstel• lung desselben .durch verschiedene Individuen .

Ich habe vor einigen Jahren Campe's väterlichen Rath für seine Tochter gelesen,

manches mir auffallende bemerkt, und es damals, ganz ohne Absicht es iemand

lesen zu lassen, niedergeschrieben, und so will ich seine Meinung über weibliche

Gelehrsamkeit, und meine Bemerkungen darüber zum ersten Gegenstand unsres lit•

terarischen Briefwechsels machen. Glauben Sie aber keinesweges, daß ich aus

irgend einer Anmassung eben diesen Gegenstand wählte.

Wenn es nicht nach stolzer Demuth schmekte, und wenn nicht der'raffinirte Ego•

ismus so oft die Masque der Resignation annähme, daß man fast geneigt ist, iedes

wahre Gesicht auch für eine Masque, und iedes bescheidene Urtheil über sich

selbst, das sich auf eine richtige Selbstkenntniß gründet, für verstekte Pretension zu

halten, so würde ich sagen: alles was ich weiß, ist, daß ich nichts weiß. Und es ist .

nicht leicht, dies zu wissen; die Männer sollten die Weiber nicht davon abhalten, es

zu erlernen. - Der Weg zu dieser Kenntniß führt durch eine Menge Anderer; nur der

gebildete unt_errichtete Mensch fühlt den Abgang dessen, was er aicht weiß. Die

Ignoranz ist stolz, gnügsam mit sich selbst zufrieden - und wenn die meisten Wei•

ber so sind, so ist es die Schuld der Männer.

So entfernt ich also auch bin, den Bannstrahl wider das Weib zu schleudern, wel•

che, ohne höhere Berufspflichten auf zu opfern, ihr Genie möglichst ausbildete, und

im Fache der Gelehrsamkeit neben dem Manne da stehet: so wenig bilde ich mir

ein, diese ehrenvolle Stufe erklimmt zu haben, oder sie noch erreichen zu können.

Von meiner frühesten Jugend an kollidirten so viele widrige Verhältnisse mit mei-

11e.m .P.1:lrs --E. -- !? tf2i s_e.!J l!!li:l gl1.teLQ.t?, :. eJCdäß.iCh - i;;- L g-;; unterliegen, und größtentheils darauf resigniren mußte. Ich spreche also wahrlich

nicht für mich, sondern für mein Geschlecht.

Herr Campe empfiehlt seiner Tochter, auf das nachdrüklichste, (und hinterher

unserm ganzen Geschlechte,) doch ia keine Gelehrte, oder Schriftstellerin zu wer•

den. Und warum nicht? -

1) Weil eine Frau, wenn sie sich mit eigenen oder fremden Schriftstellerischen

Arbeiten abgiebt, unmöglich an ihren altäglichen Berufspflichten, als Gattin, Mut•

ter, und Hausfrau Geschmak finden kann. Ob uns Herr Campe hiervon einen

Beweis a posteriori geben könnte, ist wohl sehr zu bezweifeln . Denn wenn Kennt•

niffi>e und Gelehrsamkeit dieienige so despotisch beherrschten, die sich ihnen wid•

men, so müßte der Staat, wo oft Gelehrte das Ruder führen, eben so zerfallen als die

Haushaltung eines Privatmanns, dessen Frau sich mit Kenntnissen und Wissen•

schaften abgiebt. Unsere mehresten Gelehrten aber sind Staatsbeamte, als Prediger,

Rechtsgelehrte, u.d.gl.m.; wenn nun der Schritt vom Schreibe pult, in die Gerichts•

stube, auf die Kanzel und zum Krankenbette, täglich von Männern gethan wird;

warum sollte das Weib ihre gelehrten Beschäftigungen nicht eben so willig verlas•

sen, wenn ihre Gegenwart bei den Kindern, in der Küche, oder sonst wo im Haus•

wesen erfordert wird? Und welche Frau von Gefühl, wird nicht willig dem anzie•

hendsten Genusse, wenn es sein muß, entsagen, wenn sie ihren Kindern dadurch

eine angenehme Empfindung verschaffen, oder irgend eine unangenehme erleich•

tern kann? Der Frau wird hier oft in der Erfüllung ihres Berufes, Erhohlung und

Freude, während der Mann nicht selten, mit Chikane und Neid zu kämpfen hat,

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wenn er die unterdrükte Unschuld in ihre Rechte einsezzen, oder dem moralisch

oder phisisch Kranken, Heil und Gesundheit bringen will.

Mit mehrerem Grunde wäre also zu fürchten , daß ein Gelehrter und Schriftstel•

ler, welcher ein Amt hat, es schlecht verwalten müste; denn wenigen werden

unwillkührliche Brodgeschäfte nach freiwilligen Geistesüb ungen schrnekken. Jeder

aber, der sich mütterliche Gefühle nur einigermaßen vorstellen kann, wird mir

zugeben, daß in einem nicht ganz verdorbenen Mutterherzen, we n ihr Künste und

Wissenschaften auch noch so lieb sind, noch immer Raum für die Liebe zu ihren

Kindern übrig bleiben wird. Denn so wie es keine Liebe giebt, die größerer Resi•

gnation fähig, und die so völlig geläutert wäre, von allen_ Rüksichten auf das eigene

Selbst als die Mütterliche, wodurch sie sich zu der rernsten Tugend veredelt, so

giebt s auch keine, die so ihren Lohn mit sich führt als sie, ob si gleich, _wie

gesagt, dieses Motiv nicht einmal dunkel, vor Augen hat. "'."enn _ nu erne F:au 1h e

Kinder liebt und an richtiges Denken gewöhnt ist, so muß sie nut ernem Blikke die

Vortheile üb,ersehen, die ihren Lieblingen daraus erwachsen, wenn sie über ihre phi•

sische und moralische Vervollkommnung unmittelbar wacht, und ihre Gegenwart

auch der Küche und dem sonstigen Hauswesen nicht entzieht. Und willig als der

Mann, welcher durch seinen Beruf nicht so unmittelbar, wie dieFraÜ-;für das Wohl

der Kinder wirken kann, wird sie ihr Studium verlassen, u m ihren Kindern, wenn es

nöthig ist, oder vielmehr ihrem eigenen Herzen ein frohes Opfer zu bringen. So

wird so muß das rechtschaffene Weib, die gute Mutter handeln, sie mag gelehrt,

oder, ungelehrt sein. Ausnahmen, Auswürfe der Natur kommen hier nicht in

Anschlag; denn diese würden ia wohl auch, und wenn sie gar nichts von den neun

reizenden Schwestern des Helikons wüsten, die fadesten Vergnügungen, selbst zum

Fenster heraus zu gaffen, den süßen Mutterpflichten vorziehen. Ich will aber hof •

fen daß es in der wirklichen Welt nicht viele solcher Frauen giebt; nicht mehr, als

es Männer geben mag, die in der Bücherwelt so sehr herum irren, daß sie die wirk•

liche darüber vergessen, und die ihre geistige Bedürfnisse so unmässig befriedigen,

daß ihre armen Familien zuweilen, der dringendsten körperlichen, entbehren müs•

sen. So wenig man nun diese Ausnahmen zur Regel macht, und den ungerechten

Saz daraus abstrahirt: daß ein Gelehrter oder Künstler kein guter Hausvater oder

würdiger Staatsbeamter sein kann; eben so wenig sollte man Gelehrsamkeit und

Hausmütterliche Tugenden für heterogen ausschreien, und iene von diesen, oder

diese von ienen nothwendig ausschließen. Wenn ich mit Antithesen spielen wollte,

so würde ich zu behaupten wagen, daß hausmütterliche Tugenden vielmehr Wissen•

schaften und Künste, und Wissenschaften und Künste wiederum hausmütterliche

Tugenden in sich schliessen müssen; weil ein wahrhaft veredelter Verstand, das

Herz unfehlbar mit veredelt, ob gleich ein wahrhaft edles Herz, einen veredelten

Verstand zuweilen entbehrlich macht.

In dem engen Kreise meiner Bekannten, habe ich fast immer gefunden, daß die

kultivirtesten Frauen, das Interesse ihrer Männer ganz zu dem ihrigen machten, und

daß sie ihren Kindern nicht blos mit affenmäßigem Instinkt, sondern mit einer von

allen Schlakken gereinigten, ächt moralischen Liebe anhiengen. Und was Wunder

auch! Sie kennen ihre Pflichten nicht blos,_ sie erke.nn,eri sie ... Wen.n es mir erlaubt ··- ·· „. ..„. ......,_ ·- . ·

wäre, die häuslichen Tugenden einiger meiner vortreflichen Freundinnen bekannt

zu machen, die die Welt längst als sehr instruirte Frauen, und zum Theil, als Schrift•

stellerinnen kennt, so könnte es niemanden befremden, daß ich mich . von der

Unschädlichkeit weiblicher Gelehrsamkeit a posteriori überzeugt halte; ich sage

von der Unschädlichkeit weiblicher Gelehrsamkeit, in wiefern, oder, ob ich glaube,

daß sie auch nüzlich sein kann, werde ich weiter unten sagen. Unverantwortlich ist

es daher, wenn ein Mann von Herrn Campe's entschiedenen Verdiensten, Meinun•

gen a priori, öffentlich hinwirft, die durch die anerkannte Autorität eines solchen

Mannes, zu Gesezzen gestempelt werden.

2) Führt Herr Campe an, daß unser Körperbau, zu angestrengtem Denken, und zu

einer sizzenden Lebensart, zu schwach sei. Wer weiß aber nicht, daß geistige und

körperliche Kräfte sehr oft im umgekehrten Verhältnisse stehen? Und daß die größ•

ten Denker oft schon von der Geburt an, die schwächsten Körper hatten? Zum Siz•

zen aber sind wir von Kindheit an· sogar mehr gewöhnt als die Männer, da unsere

mehrsten Beschäftigungen sizzend verrichtet werden, und mithin der nachtheilige

Einfluß durch die frühe Gewohnheit eher gemildert wird. Und sollte nicht eben die

unläugbar größere Schwäche unsrer Organisation, unsere intellektuelle Ausbildung

zu einer nothwendigern Bedingung machen? „Der Kranke, sagt einer der vorzüg•

lichsten philosophischen Schriftsteller*, ohne Vermögen und ohne Freunde, der ein

denkender, und ein mit guten Kenntnissen, und guten Prinzipien bereicherter Mann

ist, behält, so lange sein körperliches Uebel und seine äussem Unglüksfälle seinen

Verstand nicht schwächen, einen Trost, und eine Unterhaltung, welche andern Men•

schen verborgen ist. Kein Wunder, wenn er Einsamkeit und Trübsäle, die ienen

unerträglich scheinen, geduldig aushält, weil er eine Welt, die er betrachten kann, in

sich selbst trägt, hier Endzwekke findet, die er noch immer zu verfolgen, und Arbei•

ten, die er auszurichten vermag, nachdem alle seine übrigen Absichten gestöhrt, und

seine Geschäfte unterbrochen worden sind. '

Welcher mit guten Kenntnissen und guten festen Principien (und diese ohne iene 1können vielleicht gut, aber niemals fest sein:) bereicherte Mann, wird nicht in weni•

ger oder mehr trüben Epochen seines Lebens, von der Wahrheit dieser Säzze durch•

drungen, und durch den Trost derselben aufgerichtet worden sein? Und mit wel•

chem Rechte will man die Hälfte des Menschengeschlechts von dem bewährten

Troste in Leiden, ausschließen? Die Hälfte, die dieses Trostes am öftersten bedarf?

Denn wer ist mehreren Krankheiten ausgesezt, als das Weib;** wessen Vermögen

ist unsicherer als des Weibes, das die Verwaltung desselben fast . immer Andern

übertragen muß; wer ist durch phisische, moralische und politische Gesezze mehr

für die Einsamkeit bestimmt, als das Weib? Womit soll sie sich nun gegen die

unvermeidlichen Leiden waffnen, die ihr Natur und bürgerliche Verhältnisse unmit•

telbar und mittelbar auferlegen; was soll sie stark machen, häufige, und oft wüthen•

de körperliche Schmerzen geduldig selbst zu ertragen, und sie dem Manne und Kin-

* Herr Prof. Garve in seiner vortreflichen Abhandlung über die Geduld. S. 41.

** „Zwanzig Männer verbunden ertrügen nicht diese Beschwerde. Und sie sollen es nicht; doch sollen sie dankbar es einsehn." - Sagt einer der grösten Dichter Deutschlands. -

Göthe, in Herrmann und Dorothea S. 132.

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dem erträglich zu machen, wenn es nicht die Erwerbung guter, nüzlicher Kenntnis•

se ist, welche eine Welt in uns erschaffen, die keine Erschütterung umstürzen kann?

Ich finde eine außerordentliche Inkonsequenz darinne (weil ich nicht noch etwas

schlimmeres darin finden will) , daß man unsere größere Schwäche anerkennt, und

uns die besten Stärkungsmittel dagegen aus den Händen zu winden sucht.

Paul Richter [Jean Paul] , dieser lichte Genius, in dem Swifts Laune, und Steme's

delikate hinreissende Gefühle, wunderbar vereint sind, und den Teutschland nur

nach und nach kennen und würdigen lernt; Paul Richter läßt seine Klotilde aus dem

Wahrheiten: sie werden übersehen, und vergessen . Wenn nun das Weib, wie Herr

Ca pe es ausdrüklich_ fordert, von Musik, Zeichnen, Naturgeschichte, Weltge•

schichte u.a.m. Kenntmsse erworben, und sonst Lust hat, sich über ihre Schwestern

zu erheben, und den Neid derselben zu erregen, so kann , und wird sie's, ohne

Gelehrte oder Schriftstellerin zu sein. Und folglich hat Herr Campe durch seinen

Rath blos die Ursachen abgeändert, keinesweges aber die Wirkung vertilgt. Er for•

; dert zwar, daß sie alle die empfohlenen Kenntnisse nicht blikken lassen, daß sie

sich niemals unaufgefordert in ein wissenschaftliches Gespräch mengen soll - um 1

Herzen aller gefühlvollen und denkenden Weiber sagen: „0 so oft ich daran denke, 1 nicht Neid zu erregen . Höchstens soll sie, wenn iemand etwas irriges vorträgt , wel•

daß das männliche Geschlecht mit dem Stoffe zu den grösten göttlichen Wohlthaten

beglükt ist, daß es wie ein Gott Augen , Leben, Recht , Wissenschaften austheilen

kann, indes mein Geschlecht sein Herz das sich nach Wohlthun sehnt, auf kleinere

Verdienste, auf eine Thräne die es abtroknet, auf eine eigene die es verbirgt, auf

eine geheime Geduld mit Glüklichen und Unglüklichen einschränken muß: so

wünsch' ich, möchte doch dieses Geschlecht, das die höchsten Wohlthaten in Hän•

den hat, uns die größten vergönnen, es - nach zu ahmen, und Güter in die Hände zu

bekommen, die uns beglükten , wenn wir sie vertheilten! - Jezt kann ein Weib mit

nichts in ihrer Seele groß sein, als nur mit ihren Wünschen."*

Wann wird man sich endlich von der Gerechtigkeit dieser Klagen überzeugen;

wann wird man einsehen lernen: daß die Weiber achtungswürdiger sein würden,

wenn sie geachteter wären ? Man wirft uns mit Recht und Unrecht unzählige kleinli•

che Empfindungen vor, und doch erlaubt man uns nichts Großes - als höchstens

den Wunsch darnach. -Daß uns

3) der politische Grund von Schriftstellerei und Gelehrsamkeit abhalten sollte,

weil wir uns dadurch den Neid und Haß der Frauenzimmer, und zuweilen auch den

der Mannspersonen zuziehen , das leuchtet freilich am mehrsten ein, ob gleich, wie

mich dünkt, eher zu besorgen ist, daß die Weiber die Kenntnisse ihrer Mitschwe•

stern vielmehr lächerlich als beneidungswürdig finden werden. Denn wahrlich die

Meisten werden eher die beneiden , die es verstehet, einen Knoten an ihren Schlei•

fen mit Geschmak zu schürzen, als irgend einen Saz des Euklides mit Scharfsinn

auf zu lösen . Und ist es wohl ein Wunder, wenn sie sich ausschließend, und stark

auf Unkosten des Mannes, mit Ausschmück u ng der Sehaale beschäftigen, da man

sie fast zu überreden sucht, daß sie keinen Kern haben? - desezt aber die Besorgniß

wegen Erwekkung des Neides wäre völlig gegründet, so räumt ia Herr Campe

durch seine Rathschläge dies Uebel nicht aus dem Wege, indem Er selbst seiner

Tochter ein ganzes Verzeichniß von Kunstfertigkeiten und Wissenschaften macht ,

die er ihr zu lernen empfiehlt. Und es läßt sich hier auf Herrn Kampe anwenden,

was einer unserer größten Schriftsteller, einem Frau enzimmer von ihrem Geliebten

sagen läßt:** „er machte es wie alle Männer, spottete über gelehrte Weiber, und bil•

dete unaufuörlich an mir." - Diese Bemerkung ist so wahr als richtig, und ich habe

sie wohl hundertemale bestätiget gefunden, aber es geht ihr wie allen alltäglichen

ili Hl! pl!rn !!rnterTh. S.339. ** Die Bekenntni sse einer schönen Seele in Willielm Meisters Lehrjahren von Göthe.

i ches sie besser weiß, eine bescheidene Einwendung machen. (Gebe Gott, daß sie 1

nicht durch diese Bescheidenheit mehr Neid und Haß errege, als durch die Einwen•

dung selbst!) Wenn nun aber Herr Campe sich getrauet, dies von einem Frauenzim•

mer fordern zu können, welches von Vielem Etwas weiß, so begreife ich nicht,

warum er es nicht auch derienigen zutrauet, welche nur in Einern Fache gründliche

Kenntnisse hat. Denn, mich dünkt, ein Mensch, gleichviel von welchem

Geschlecht, die Seele hat kein Geschlecht, der von vielen Dingen oberflächliche

Kenntnisse hat, kann eher einer Gesellschaft lästig werden , wenn er unbescheiden

ist, als ein Mensch der nur Ein Fach, aber dieses desto gründlicher studirt hat. Des

Leztern Anmaßung, wenn er deren hat, kann man leichter begegnen, dadurch daß

man vermeidet , in seiner Gegenwart die Wissenschaft zu berühren, die er vorzüg•

lich inne hat. Eine Person hingegen, die von Vielem Etwas weiß, findet überall

Gelegenheit mit zu sprechen, und kann also um so eher Aufmerksamkeit, und so

nach leichter Neid und Haß erregen - wenn sich anders überall diese bösartigen

Gefühle, zu der Aufmerksamkeit, die man einer Frau erweißt, verhalten müssen, wie Wirkung zur Ursache.

1 Freilich, wenn sie, wie Herr Campe es wünscht, alles fein in sich schließt, so

wäre dem Uebel abgeholfen, aber ohne den möglichsten Grad von Blödigkeit,

(warum sollte ich es veredlen , und Bescheidenheit nennen?) dürfte wohl dieser

Wunsch des Herrn Campe unerfüllt bleiben. Gelehrsamkeit schließt ia aber diese

Blödigkeit nicht nothwendig aus, und so mit könnte sich ia wohl ein gelehrtes Frau•

enzimmer eben so negativ verhalten, als das, das wie Herr Campe will, von Vielem

Etwas weiß - damit sie dem Neid ihrer Schwestern entgienge.

Jedes Geschrei, welches man gegen eine ganze Gattung wegen einzelner Indivi•

duen erhebt, scheint mir höchst ungerecht. Ich will nicht sagen, daß es unfehlbar

gut wäre, wenn man, wie Condorcet, in einem Journale das vor einigen Jahren in

Paris heraus kam, verlangte, alle Mädchen ohne Unterschied in den Schulen an dem

Unterrichte der Knaben Theil nehmen ließe; denn wenn auch nicht zu läugnen ist,

daß wir durch die ersten Eindrükke am mehrsten auf die Bildung der Knaben, der

künftigen Männer, wirken: so ist eine solche Neuerung doch darum nicht zu wün•

schen, weil die etwannigen guten Folgen davon, noch ungewiß sind, die bisherige

Ordnung hingegen unbezweifeltes Gute hat. Das wahre Genie hat ohnehin weder

Schule noch Katheder nöthig; es verbreitet Nuzzen und Annehmlichkeit um sich,

wenn es auch nur aus sich selbst spinnt. Aber man lasse frei und ungehindert wir•

ken ; und wenn sich hier und da eine Frau über den ihr engscheinenden Horizont

,,,t,

;•

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ihrer Berufspflichten hinausgezogen fühlt, so überlasse man sie ungestöhrt ihrer

Neigung. Ueberspannte, zu weit getriebene Aeußerungen über die weibliche

Gelehrsamkeit, haben Stoff zu u.nzähligen falschen Schlüssen gegeben, und neue

Fehler erzeugt, anstatt alte ausgerottet zu haben . Frauen, die ieden Fehler ihres

Geschlechts haben, nur den so sehr gerügten der Gelehrsamkeit nicht , brüsten sich

oft damit, und indem sie sagen: ich bin freilich keine Gelehrte, glauben sie ihren

weiblichen Werth, so wie den Unwerth ihrer gelehrten Schwester erwiesen zu

haben, und oft muß der Mann wegen dieser vermeinten negativen Eigenschaft, alle

positiven Untugenden geduldig ertragen .

Alle diese Aeußerungen scheinen mir um so zwekwidriger, da doch in keinem

Falle zu vermuthen ist, daß eine Frau durch ihr Beispiel ihr ganzes Geschlecht, zu

Gelehrten oder Schriftstellerinnen machen wird. Denn bringt sie schlechte, oder

auch mittelmäßige Produkte hervor , so wird sie schwerlich ihr Geschlecht zur

Nachahmung reizen , und ich fürchte, dies Geschlecht selbst, wird den ersten Stein

nach ihr werfen; denn wenn es auch in solchen Fällen nicht immer kompetent rich•

ten kann, so hat dafür das Publikum eine so hörbare Stimme, daß das allzuleicht

gläubige Geschlecht bald wissen wird, wie es mit dem neuen Geistesprodukte ste•

het. Schreibt hingegen ein Weib etwas Gutes, oder Vortrefliches, so dürfte die

Nachahmung nicht so leicht sein; reizt es aber dadurch zur Emulation und ihren

Folgen -wo stekt das Verbrechen?

Wenn es in der gelehrten Welt für entschieden angenommen wird, daß die Erwei•

terung der Kenntnisse auch die Ausbreitung der Wahrheit, und dadurch allgemeines

Glük befördern, so sehe ich nicht ein, warum dies nicht eine weibliche Feder auch

soll- wenn sie's kann . Daß dies aber durchaus keine weibliche Feder vermag, dürf•

te Herr Campe, so sehr er es auch zu wollen scheint, nicht behaupten, ohne in eine

unverzeihliche Inkonsequenz zu verfallen.

Denn Seite 104 sagt er selbst, nachdem er seiner Tochter einige Vorschriften in

Ansehung der Religion gegeben hat: „solltest du aber wider Vermuthen sie dennoch

in einem oder dem andern Falle nicht zureichend finden: so empfehle ich dir, als ein

gutes Mittel zur völligen Beruhigung in s.olchen Fällen, ein von einer Person deines

Geschlechts geschriebenes Buch, welches den Titel führt: Lettres sur la religion

essentielle a l'homme. A Londre 1765, dem ich selbst, in meinen Jünglingsjahren , die Besiznehmung des ersten, festen sichern Fleks im Gebiete der theologischen,

und religiösen Wahrheiten verdanke .

„Ich kann nicht begreifen, wie Herr Campe in einem Buche wider die weibliche

Schriftstellerei es über sich vermochte, das gelehrte Werk eines Weibes zu zitieren ,

dem er selbst so unendlich viel zu verdanken hat, und er müßte entweder diese

seine Besiznehmung religiöser und theologischer Wahrheiten für etwas unnüzzes

und gleichgültiges erklären, oder er kann nicht umhin, unserm Geschlechte, oder

vielmehr einzelnen Individuen desselben, die Fähigkeit einzuräumen , etwas wahr•

haft nüzliches, auch ausser unserer Haushaltung hervor bringen zu können . Ich

räume meinerseits gern ein, daß ein Frauenzimmer eine sehr achtungswerthe Gattin

\111<1 Mutter sein K"1Illl1 wonu OS l\\Wn Koine anoere BUcher als die Bibel und das

Hamburger Kochbuch gelesen hat. Aber Herr Campe verlangt selbst mehr - viel

62

sogar - nur gelehrt soll sie nicht sein, und ich glaube fast, Herr Campe hat einen so

monströsen Begriff von gelehrten Frauenzimmern, als Friedrich der Große von

deutschen Gele 1ten hatte, welcher auch niemals hierin eine andere Meinung

annahm. Nur wunschte ich, daß dieser irrige Begrif des sonst so helldenkenden

Campe nicht allgemeiner würde, und vielmehr so allgemein widerlegt wäre, als es

iene Meinung des großen Friedrichs ward; und daß man sich davon überzeugen

möchte, daß wenn weibliche Liebenswürdigkeit mit dem Mangel an Gelehrsamkeit

und Kunstfertigkeit bestehen kann, auch die Wissenschaften, wenn eine Frau deren

besizt, häusliche und also wichtigere Eigenschaften, durchaus nicht ausschließen

müssen . Wohl dem Manne, dessen Frau keine andern Abwege einschlägt, als diese.

Wenn ich mich, für Ihre Geduld, zu lange bei dem Gegenstande, den der erste Theil

enthält, aufgehalten habe, so kann ich Ihnen den Trost geben, werthester Freund ,

daß ich fast gar nichts über den zweiten sagen werde, weil erblos allgemeine Wahr•

nehmungen über die Menschen, und Lebensregeln , wie man sich gegen diese oder

iene Gattung zu benehmen habe, enthält. Für diese Art von Unterricht aber, habe

ich gar keinen Sinn; denn so lange man nicht die unendlichen Abstufungen und

Modifikationen in den menschlichen Karakteren bezeichnen kann, so lange bleiben

mir immer die Resultate solcher Wahrnehmungen zweifelhaft. Denn wenn auch

Herr Campe den Prahler oder Dumkopf versinnlicht beschreibt (wie er den leztem

auch wirklich S. 390 meisterhaft schildert:) nämlich, wie er ihm aufstieß, und

zugleich auch anzeigt, wie mit diesem am besten fortzukommen sei; so bleibt

immer die Frage, wie man sich gegen unzählige Andere zu benehmen habe, die eine

verschiedenartige Erziehung , und mancherlei individuelle Verhältnisse, anders, völ•

lig anders werden ließen .

So wenig nun die Anwendung der ersten medicinischen Resultate unfehlbar ist

ohnerachtet alle thierische Körper nach Einern unabänderlichen Gesezze der Natu;

gemodelt sind, und sich daher in ihrer ursprünglichen Konstitution eher gleichen

müssen, als die Karakterzüge, so wenig können im leztern Falle, allgemeine Regeln

untrüglich sein. Alle diese psychologischen Hypothesen scheinen mir um nichts

besser, als die phisionomischen.

Die angenehme Sensation, die uns zuweilen ein Buch macht, welches Regeln

über den Umgang mit Menschen enthält, besticht unsern Kopf; wir freuen uns über

die Stellen, wo der Autor eben die Bemerkungen macht, die wir gelegentlich selbst

gemacht haben, und unsere Eigenliebe, die sich geschmeichelt fühlt, ähnliche Ent•

dekkungen mit dem berühmten Autor gemacht zu haben, findet in dem zufälligen

Zusammentreffen unserer Ideen mit den seinigen, Beweise für die Richtigkeit der•

selben . Alles übrige, was wir nicht schon selbst bemerkt haben, läßt uns kalt. Er soll

stets, wie wir gesehen haben, wir wollen nicht wie er sehen - und wir können es

auch selten.

. Leben Sie wohl! Verzeihen Sie, daß ich über dem Freund , den Gelehrten vergaß;

1ener möge mich bei diesem entschuldigen, daß ich ihm durch meinen so großen

Brief, so viel von seiner kostbaren Zeit geraubt habe. C.B** geb. G*

63

5C

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Caroline Rudolphi ( 1754-1811),Amalia Holst (1758-1829)

und Betty Gleim (1781 - 1827)

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich ein intensiver pädagogischer

Diskurs über Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts. Neben den

führenden zeitgenössischen Pädagogen meldeten sich auch Frauen zu Wort: Caroli•

ne Rudolphi, Amalia Holst und Betty Gleim. Wie ihre männlichen Kollegen kamen

auch sie aus der „Praxis". Sie gründeten, leiteten und unterrichteten in Mädchen•

schulen, vertraten aber unterschiedliche pädagogische Konzepte.

Zu ihren Lebzeiten war Caroline Rudolphi eine bekannte Erzieherin und gefeier•

te Dichterin, deren Gedichte u.a. vom preußischen Hofkapellmeister Reichardt ver•

tont wurden. Als Erzieherin gebührt ihr noch heute ein Platz in der deutschen

Mädchenbildungsgeschichte, als Dichterin ist sie wohl zu Recht vergessen.

Die Schulen der Rudolphi, von 1787-1803 wirkte sie in Hamm, einem Vorort

von Hamburg, danach in Heidelberg, werden häufig als das weibliche Pendant zu

den pädagogischen Einrichtungen Campes betrachtet. Die Rudolphi ließ sich

zunächst in der Nähe des bekannten Pädagogen nieder. Sie·mag den persönlichen

Kontakt mit Campe gesucht haben, letztendlich hat aber die enge Bezieh ng zu

ihrem älteren Bruder Ludwig, der bei Campe als Hauslehrer arbeitete, den Aus•

schlag für die Wahl des Wohnorts gegeben. Das ausgesprochen liebevolle Verhält•

nis zwischen den Geschwistern läßt sich vielleicht durch den vorzeitigen Tod des

Vaters erklären, der „zuletzt eine Stellung als Lehrer am Mägdehaus des Militärwai•

senhauses in Potsdam inne hatte."1 Die Familie geriet durch seinen Tod in wirt•

schaftliche Not. Ludwig Rudolphi kam ins Franckesche Waisenhaus nach Halle,

während Caroline die Elementarschule besuchte und sich ansonsten autodidaktisch

weiterbildete. An eine Heirat sei unter diesen Umständen nicht zu denken gewesen,

lautet das einhellige Urteil ihrer Biographen. Die fehlende Mitgift sei nicht das ein•

zige Ehehindernis gewesen, ihre äußere Erscheinung - sie war bucklig - habe auf

den ersten Blick wenig anziehend gewirkt. Die unglückliche, nicht erwiderte Liebe

zu einem Offizier habe ihren bereits gefaßten Entschluß verstärkt, Erzieherin zu

werden. Diese idealtypische Konstruktion der häßlichen, sitzengebliebenen alten

Jungfer, die notgedrungen Erzieherin wird, ist bereits in der posthum erschienen

Autobiographie der Rudolphi angelegt. Lebenslauf und Bildungsweg werden von

ihr ausschließlich fremdbestimmt und derart klischeehaft dargestellt, daß die Gren•

ze zwischen autobiographischem Zeugnis und romanhafter Verdichtung nicht

immer scharf gezogen werden kann.

Rudolphis „Erziehungsinstitut für junge Demoiselles" in Hamm war eine Erzie• .!

hungsanstalt im Sinne einer erweiteren Familie. Konzipiert war es zunächst nur für

vier Schülerinnen. Caroline Rudolphi war zuvor bei den Eltern der Mädchen, Herrn

und Frau von Roepert, auf dem Rittergut Trollenhagen bei Neu-Brandenburg als

Gouvernante angestellt gewesen. Da sich das häusliche Milieu ungünstig auf die

Entwicklung der Mädchen auswirkte, wurde Caroline Rudolphi nach ihrer Kündi-

Maria von Bredow : Karotine Rudolphi. Eine Pädagogin des 18. Jahrhunderts, in: Frauen• bildung 3 (1904), S. 203.

gung gebeten, die Mädchen mit sich zu nehmen. Nach einiger Zeit mußte das Insti•

tut erweitert werden, da die Familie von Roepert ihre finanziellen Zusagen nicht

einhielt. Zum Schluß bestand die Einrichtung aus 24 Schülerinnen, wobei alle

Altersjahrgänge von sechs bis 21 Jahren vertreten waren. Die über 15jährigen

beschäftigten sich hauptsächlich mit der Haushaltsführung, halfen beim Unterrich•

ten der jüngeren Schülerinnen und durchliefen damit die damals übliche Form der

Gouvernantenausbildung. Caroline Rudolphi unterrichtete die Mädchen im Lesen

und Schreiben und gab Stunden in Französisch und Handarbeiten. Der Unterricht in

Englisch, Zeichnen, Klavierspielen und Tanzen wurde von freiberuflich tätigen

Fachlehrern übernommen. Der wissenschaftliche Unterricht lag in den Händen

eines festangestellten akademisch gebildeten Hauslehrers. Die Aufteilung der ein•

zelnen Fächer auf die verschiedenen Lehrkräfte war im Institut nicht zufällig

geschlechtsspezifisch verteilt. Diese Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung

wurde von C. Rudolphi sowohl in ihrer Autobiographie als auch in ihrem entwick•

lungspsychologischen Hauptwerk „Gemälde weiblicher Erziehung" vertreten. Das

„Gemälde" ist in Form eines fiktiven Briefwechsels zwischen der ehemaligen

Erzieherin Selma und ihrem früheren Zögling Emma angelegt. „Tante Selma" berät

die junge Mutter in allen Fragen der Säuglingspflege und Kindererziehung und

übernimmt, als Emma ihrem Mann, einem Diplomaten nach Rußland folgen muß,

selbst die Erziehung der Kinder, d.h. die der Töchter Ida und Mathilde. Ratschläge

für die Erziehung des Sohnes zu geben, diesem Ansinnen hatte sich „Tante Selma"

schon früh verweigert. ,,Dies Gebiet ist der weiblichen Feder verboten", schrieb sie

„und mit Recht. Zwar schreiben und lehren die Männer viel über weibliche Erzie•

hung; aber das berechtigt uns nicht, über.die Gränze zu gehen! Ihr Gebiet ist größer,

ist nicht so eng abgesteckt, als das unserige." 2 Der neunjährige Woldemar erhält

einen Mentor, mit dem er zur Abrundung seiner Erziehung auf Reisen geht. An die•

ser Stelle setzt der nachfolgend abgedruckte Textauszug an.

Im Vergleich zu Amalia Holst und Betty Gleim waren Rudolphis Erziehungsin •

tentionen stark von den Ideen Rousseaus und seinem Bildungsideal im Hinblick auf

das weibliche Geschlecht geprägt. Vor allem Betty Gleim, die dem Neuhumanismus

näher stand, setzte sich mit der Bildungsauffassung Rudolphis kritisch auseinander.

Bei ihrem Besuch des Rudolphischen Instituts in Heidelberg kritisierte sie in ihrem

Reisetagebuch die Oberflächlichkeit und Unsystematik des Unterrichts, in dem

keine „ernste Geistesarbeit" von den Schülerinnen verlangt werde. „Viel Schein

und Spiel statt gediegenen, stillen Wesens und Arbeitens" urteilte sie vor dem Hin•

tergrund ihrer eigenen Bildungsvorstellungen über das besuchte Philanthropin .3

Von den pädagogischen Koryphäen ihrer Zeit wurde Rudolphis Briefroman zu•

stimmend aufgenommen. Bis 1857 erlebte das Buch insgesamt vier Auflagen. 1807

wurde es ins Holländische und 1813 ins Schwedische übersetzt. Die Fülle kluger

Einsichten in die frühkindliche Entwicklung kann an dieser Stelle nicht rekapitu•

liert werden; was der modernen Leserin aufstößt, ist das Verhaftetbleiben der Auto•

rin in den engen Standes- und Geschlechtsgrenzen der Spätaufklärung.

2 Caroline Rudolphi: Gemälde weiblicher Erziehung. Erster Teil. Heidelberg 1807, S. 90. 3 Zit. nach A. Kippenberg: Betty Gleirn: Ein Lebens- und Charakterbild. Bremen 1882, S. 28.

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Amalia Holst war die aus zweiter Ehe stammende Tochter des bekannten Karwrali•

sten Johann Heinrich Gottlob v. Justi, der 1765 zum königlich preußischen Berg•

hauptmann und Oberaufseher der Glas- und St ahlfabriken ernannt und 1768, ver•

mutlich zu Unrecht, beschuldigt wurde, staatliche Gelder veruntreut zu haben . Er

starb 1771 als Staatsgefangener in Küstrin noch vor Ende des Gerichtsverfahrens.

Wo seine gerade dreizehnjährigen Tochter blieb, ist ungewiß. 1791 kam sie nach

Hamburg und heiratete ein Jahr später den promovierten Juristen Johann Ludolf

Holst, der sich als Vorsteher einer Lehransta lt in der Hamburger Vorstadt St. Georg

niedergelassen hatte. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Amalia Holst hatte

bereits vor ihrer Ehe als Erzieherin gearbeitet, un d sie blieb in diesem Beruf tätig.

Sie leitete zunächst im Institut ihres Mannes die Vorsch u le - eine durchaus übliche

Form der Arbeitsteilung zwischen einem Lehrerehepaar -, bevor sie 1802 ein

Mädchenpensionat in St. Georg eröffnet haben soll. Zwischen 1802 und 1807 muß

sie Hamburg verlassen haben. Weitere ungesicher te Stationen ihres Lebens waren

Wittenburg und Parchim. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie bei

ihrem Sohn, der auf das Rittergut Groß-Timkenberg bei Boizenburg geheiratet

hatte. Aus der Tatsache, daß ihr Mann bis zu seinem Tod 1825 in Hamburg blieb,

kann man den Schluß ziehen, daß das Ehepaar sich getrennt hatte.

Das theoretische Werk Amalia Holsts war lange Zeit in Vergessenheit geraten

und wurde erst in den achtziger Jahren dieses Jahrhunder ts wiederentdeckt. Bei

ihrer ersten Schrift „Bemerkungen über die Fehler unserer modernen Erziehung"

(1791) handelt es sich um die erste von einer Frau verfaßten Kritik an den Philan•

thropen und deren Rousseau-Rezeption. „Die Fehler unserer modernen Erziehung"

hatte Amalia Holst noch auf Jugend allgemein bezogen, da für sie eine besondere

Form der Mädchenerziehung und -bildung nicht existierte: Mädchenerziehung war

für sie in erster Linie allgemeine Menschenerziehung. Ihre zweite Schrift, die

„Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung" (Berlin 1802), aus der der

folgende Textauszug stammt, widmete sie nur deshalb Fragen der Mädchen- und

Frauenbildung, weil einflußreiche zeitgenössische Pädagogen die Bildung von

Frauen auf ihre „natürliche Bestimmung" als „Hau sfrau, Gattin und Mutter" be•

schränkt wissen wollten und den Frauen das Recht auf allgemeine Bildung bestrit•

ten. Im Verlauf ihrer Schrift nahm sie die Argumente männlicher Pädagogen gegen

die Vereinbarkeit von höherer Bildung mit dem dreifachen Beruf der Frau kritisch

unter die Lupe. Sie gelangte zu dem Schluß, daß die Logik der Männer sich vor

allem am Eigeninteresse orientierte, wenn es gelte, Frauen vom Erwerb höherer

Bildung auszuschließen. Mit einer Form der Beweisführung, di wesentliche Argu•

mente der späteren bürgerlichen Frauenbewegung vorwegnahm, versuchte sie eine

Begründung für das von ihr angenommene Grundrech t der Frau auf Bildung zu lie•

fern. Letztlich könnten, so argumentierte sie, mit der Einlösung ihrer Forderung die

Männer nur gewinnen, da die Frauen nur dann ihrer dreifachen Bestimmung sinn•

'!Gll nichkammen könnten, wenn sie eine umfassende Bildung erfahren hätten . Amalia Holsts Schrift ist geprägt vom Umbruch zwischen Aufklärungsdenken

und neuhumanistischer Reflexion über die Bildung des Menschen. Ihre Argumenta•

tion ging von einem grundlegenden Recht auf Bildun g aus, das -entsprechend sei-

nem .universalistischen Charakter - auch das Recht nach geistiger Selbstentfaltung

der Frau und Befreiung ihrer Geistesbildung aus männlicher Bevormundung ein•

schloß. Der daraus abgeleitete Bildungsanspruch für das weibliche Geschlecht

unterlag jedoch klaren Standesgrenzen. So bezog sich ihre Forderung nach uneinge•

schränktem Bildungszugang nur auf Frauen der oberen sozialen Stände und Schich•

ten; die unteren Bevölkerungsgruppen, die sie dem Verstande nach Kindern gleich•

setzte, grenzte sie davon aus.

Amalia .Hclst btl.. ®I.l!.IJg.§1..JJ.jffiL.:;::, wie sie selbst ausdrücklich

betonte -_21,El e ,:_ &J.!Ug"\ies.h.estehendet.1,-Geschlechte.tY.erhältnisJ>es "„MiL4 m

Ansp1:1.S.1!.J .IJ.f höl:, !_ 1, !?,.!9. .11_1;t - !- ,, .;?.,1,. _il;! !_c, .12„auf f:rw .r.?. ?.cl1=

te. }_lsiupg,"l22. , . ,:';.%. - ß, .1?,m1.l n. ,!:' ts,§R. i, . its. ! -s I :.!\?.,!,?, ..

K,2 t L -' raditio!1::1J, !!.J „ - .! -„ E,,:Pf.li.Sht\f-IJ,,,t;\ r pµ g rUs;.b n J r;;!Jl ,,.

Denn nicht in der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse - schrieb sie -,

sondern in der Zufriedenheit mit dem eigenen Zustande liege die erste Bedingung

zur Glückseligkeit.

Stärker noch als Amalia Holsts Schrift ist "'„Erziehung und

Unterricht des weiblichen Geschlechts" von 1810 vom bildungsphilosophischen

Diskurs des 19. Jahrhunderts bestimmt. Sie gehörte zu den wenigen Pädagoginnen,

deren Arbeit auch in der männlichen Fachwelt Anerkennung fand.

Betty Gleim entstammte einer angesehenen Bremer Kaufmannsfamilie. Ihr Vater

war Weinhändler und Neffe des berühmten Dichters Johann Wilhelm Ludwig

Gleim. Über ihre Mutter war die Familie mit den ersten Patriziergeschlechtern Bre•

mens verwandtschaftlich verbunden . Die damals übliche Schulbildung für Mädchen

trug vermutlich wenig zur geistigen Entwicklung Betty Gleims bei, ihre breite Bil•

dung läßt sich wohl eher auf das geistig anregende familiäre Milieu und das rege

geistige Leben Bremens - besonders um den späteren Bürgermeister Johann Smidt

- zurückführen. Vor allem die um 1800 in Bremen diskutierte Reform des Unter•

richtswesens im Sinne Pestalozzis dürfte Betty Gleims Beschäftigung mit bildungs •

theoretischen und -praktischen Fragen beeinflußt haben .

Die Sorge um die eigene Existenzsicherung -ausgelöst durch Krankheit und Tod

des Vaters - führte 1806 zur Gründung einer Lehranstalt für höhere Töchter in Bre•

men. Trotz anfänglichen Erfolges - 1812 besuchten bei einem beachtlichen Schul•

geld von 80 bis 160 Mark jährlich 80 Schülerinnen die Anstalt - zwangen finanziel•

le Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten zwischen Eltern und Lehrerinnenschaft

1815 zur Aufgabe der Schule. Nach Reisen und einem Aufenthalt in England grün•

dete Betty Gleim 1816 eine Mädchenschule in Elberfeld, die allerdings nicht lange

bestand. Auch ihr fortschrittlich gesinntes Bemühen, über das lithographische

Gewerbe neue Erwerbsmöglichkeiten für Frauen zu eröffnen, hatte wenig Erfolg.

Für die 1819 in Bremen gegründete „Lithographische Anstalt für Frauen" fand sich

kaum Nachfrage. Noch im selben Jahr gründete sie daher unter Mithilfe von Freun•

den und Verwandten erneut eine höhere Mädchenschule in Bremen, die sie zusam•

men mit einer Lehrerin bis zu ihrem Tode leitete.

Betty Gleims schriftstellerische Arbeiten umfassen ein breites Spektrum. Auf die

nachschulische Lebensphase bezog sich ihre 1814 veröffentlichte Schrift „Ueber

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die Bildung der Frauen und die Behauptung ihrer Würde in den wichtigsten Ver•

hältnissen ihres Lebens". Daneben verfaßte sie noch mehrere Schriften zur deut•

schen Sprache und Grammatik, 1808 auch ein Kochbuch, das 1892 in der dreizehn•

ten Auflage erschien.

Ihr Hauptwerk ist jedoch „Erziehung und Unterricht des weiblichen

Geschlechts", eine systematische und auf der damaligen bildungsphilosophischen

Diskussion basierende pädagogische Konzeption zur Mädchenbildung, die auch die

Grundlage ihrer praktischen Schularbeit bildete . Wie Amalia Holst ging auch Betty

Gleim von der Bildung des Menschen aus und begründete daraus - unter dem Ein•

fluß der Pädagogik Pestalozzis - eine allgemeine, also von Geschlecht, Beruf und

Stand unabhängige Menschenbildung . Diesem allgemeinen Bildungsansatz, bei

dem sie zwischen intellektueller, ästhetischer und moralisch-religiöser Bildung

unterschied, war die Geschlechts- bzw. Berufsbildung untergeordnet. Die Erzie•

hung und Bildung der Frau sollte sich dem Gleimschen Konzept zufolge zuerst auf

ihre menschliche, erst dann auf ihre weibliche und gesellschaftliche Bestimmung

richten.

Ein weiteres wesentliches Moment ihres Ansatzes ist der Versuch, Bildung und

Erziehung des weiblichen Geschlechts nicht allein auf Heirat und Ehe zu beschrän•

ken, sondern - wie zuvor schon Elisabeth Eleonore Bernhardi (1798) - auch Ehelo•

sigkeit und die Situation der unverheirateten }<rau in das Blickfeld des Bildungsge•

schehens zu rücken. Im Hinblick auf eine ökonomische Unabhängigkeit der Frau

forderte sie, Mädchen genauso wie Jungen eine Erwerbsbildung zu erteilen. Die

Erwerbsmöglichkeiten für Frauen lagen für sie jedoch primär im traditionellen, d.h.

insbesondere im erzieherischen und hauswirtschaftlichen Bereich.

(Elke Kleinau/ Christine Mayer)

Quellen und weiterführende Literatur:

[Bernhardi, Elisabeth, Eleonore:] Ein Wort zu seiner Zeit. Für verständige Mütter und

erwachsene Töchter. In Briefen einer Mutter. Hrsg. von Karl Gottlob Sonntag . Freyberg

1798; [Justi, Amalia von:] Bemerkungen über die Fehler unserer modernen Erziehung .

Von einer praktischen Erzieherinn. Hrsg. vom Verfasser des Siegfried von Lindenberg .

Leipzig 1791; Gleim, Betty: Ueber die Bildung der Frauen und die Behauptung ihrer

Würde in den wichtigsten Verhältnissen ihren Lebens . Ein Buch für Jungfrauen, Gattin•

nen und Mütter. Bremen, Leipzig 1814; Recke, Elisa von der: Mein Journal . Elisas neu

aufgefundene Tagebücher aus den Jahren 1791 und 1793/95. Hrsg. und eingeleitet von

Johannes Werner. Leipzig 1927; Schriftlicher Nachlaß von Caroline Rudolphi mit dem

Portrait der Verfasserin . Zum Besten der in Heidelberg errichteten Kleinkinderanstalt.

Heidelberg 1835

Blochmann, Elisabeth: Das „Frauenzimmer" und die „Gelehrsamkeit" . Eine Studie über die Anfänge des Mädchenschulwesens in Deutschland. Heidelberg 1966; Bredow,

Maria von : Karoline Rudolphi. Eine Pädagogin des 18. Jahrhunderts, in: Frauenbildung

3 (1904), S• 201-210; Jacoby, Karl: Amalia Holst, geb. von Justi- Hamburgs erste Frau•

enrechtlerin, in: Beiträge zur deutschen Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts . Ham•

burg 1911; Framke, Gisela: Amalia Holst. Bemerkungen zur Pädagogik der Aufklärung,

in: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde. Hrsg. von Jöm Bracker. Museum

für Hamburgische Geschichte 23 (1984), S. 31-46; Kippenberg, August:: Betty Gleim.

Ein Lebens- und Charakterbild. Als Beitrag zur Geschichte der deutschen Frauenbildung und Mädchenerziehung, zugleich erwachsenen Töcl;ttern eine Mitgabe für . das Leben.

Bremen 1882; Käthner, Martina/ Kleinau, Elke : Höhere Töchterschulen um 1800, in:

Kleinau, Elke/ Opitz, Claudia: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Bd. 1.

Frankfurt a. M./ New York 1996, S. 393-408; Kleinau, Elke: Amalia Holst, in: Demokra•

tische Wege . Deutsche Lebensläufe aus vier Jahrhunderten . Ein Lexikon. Hrsg. von

Asendorf, Manfred/ von Bockei, Rolf/ Reemtsma, Jan Philipp ... Stuttgart 1996; Plum,

Maria: Theorie der Mädchenerziehung ·bei den hervorragenden Pädagogen des 19.Jahr•

hunderts . Köln 1921; Rüdiger, Otto: Caroline Rudolphi. Eine deutsche Dichterin und

Erzieherin, Klopstocks Freundin . Hamburg, Leipzig 1903; Schmid, Pia: Bürgerliche

Theorien zur weiblichen Bildung. Klassiker und Gegenstimmen um 1800, in:Hansmann,

Otto/ Marotzki, Winfried (Hrsg.): Diskurs Bildungstheorie II. Problemgeschichtliche Ori•

entierungen . Weinheim 1989, S. 537-559; Zimmermann, Josefine: Betty Gleim (1781 -

1827) und ihre Bedeutung für die Geschichte der Mädchenbildung . Diss. Köln 1926

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Betty Gleim: Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts

(Ein Buch für Eltern und Erzieher. Leipzig 1810 (Neudruck: Paderborn 1989, mit einer Ein• leitung von Ruth Bleckwenn) S. 51-57)

Von der Erziehung und Bildung

überhaupt;

ihrem Begriff und Zweck; ihren Hauptrichtungen,

und ihrer Nothwendigkeit für jedes Menschenindividuum.

Von der Erziehung und Bildung

der Frauen insbesondere;

in Hinsicht auf ihre menschliche, weibliche und

bürgerliche Bestimmung .

(...)

Das Wesen der ächten Geistescultur besteht nach Allem, was bisher gesagt ist, in

dem richtigen Verhältniß der intellectuellen, ästhetischen und moralisch-religiösen

Bildung.

Auf eine solche ächte Bildung haben nun alle Menschen Anspruch; das Weib so

gut wie der Mann, der Arme so gut wie der Reiche ; der beschränkte Mensch so gut

wie der geniale*. Die Bildung ist nicht das Privilegium einiger besonders Begün-

* Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich bei dieser Stelle Manchem die bekannte Einwendung

gegen die Verbreitung einer allgemeinen Bildung aufdtingen wird: „Aber wenn nun alles cultivirt ist, wer wird dann das Land bauen, die Schuhe machen, flicken und putzen, die Schornsteine fegen u.s.w.?" Auf diese Frage diene Folgendes zur Beherzigung. Erstlich: Selbst bei den besten Bildungsanstalten wird doch immer noch Stumpfsinn und natürliche Beschränktheit, so wie Unfleiß und Trägheit j ene glückselige Idee einer allgemeinen geisti• gen Veredlung nicht in jedem Individuum zur Verwirklichung kommen lassen. Zweitens: Wenn auch Jedermann cultivirt ist, so wird doch deswegen, nach wie vor, die Verschieden• heit der Individualität bleiben, und mit derselben eine unendliche Mannichfaltigkeit der Neigungen, die eine zu diesem die andere zu j enem Geschäft. Erinnere man sich nur, daß auch schon jetzt Mancher, der einen sehr gründlichen wissenschaftlichen Unterricht genoß, doch immer eine bestimmte Vorliebe für mechanische Arbeiten behielt. Drittens: Ist es gewiß, daß wenn die Meisten solche Berufsarten wählen, die vorzüglich die Geisteskräfte in Anspruch nehmen, dadurch die mechanischen Beschäftigungen in Ansehung des Erwerbs die einträglichsten und vorteilhaftesten werden müssen . Die Aussicht auf ein unabhängiges und angenehmes Dasein wird daher nun Manchen bestimmen, sich densel• ben zu widmen.

Aber gesetzt , dies Alles wäre auch nicht, sagt, sollen die unteqi Stände ohne Aufhören in der Unwissenheit und Geistesfinstemiß trauriger Nacht seufzen? Soll nie der Einsicht und Erkenntnis beglückende Klarheit sie umfangen? ... soll das Alles nie sein? bloß deswegen,

damit die höhern Stände nicht genöthigt werden, vielleicht hier und da ihre gewohnte

Bequemlichkeit einzuschränken, oder einige ihrer erkünstelten Bedürfnisse aufzugeben ,

stigten, sondern sie ist ein Gemeingut der Menschheit. Alle sollen zur Erkenntniß

der Wahrheit, zum Gefühl und zur Anschauung des Schönen, zur Sittlichkeit und

Religion gelangen*. Gott will, daß allen Menschen geholfen werde. Wer daran

zweifelt, wer dies läugnet, wer dies zu verhindern sucht, spricht der Menschheit

Hohn, und schändet sich selbst.

Menschheit, in der sich ein göttliches Sein wiederspiegelt, ist höchste und letzte

Bestimmung für Jeden, der ein menschliches Angesicht trägt.

Da aber der Mensch in der Erscheinung nicht als reiner Mensch auftritt, sondern

in der Individualität eines Mannes oder Weibes, und unter bestimmten Standes- und

Berufsverhältnissen, so geht hieraus die Notbwendigkeit hervor, außer der allge•

meinen Menschenbildung auch noch auf eine besondere Geschlechts- und Berufs•

bildung Rücksicht zu nehmen.

Dem gemeinen Menschen ist der Zweck und die Summe aller Erziehung, Vollen•

dung des Geschlechtscharakters und der Berufsbildung; er vergißt, daß, ohne

Nachtbeil für das Individuelle des Geschlechts, der allgemeine Charakter der Gat•

tung dargestellt werden soll; daß die Geschlechts - und Berufsbildung sich allein auf

diese Erde, auf das Leben bezieht, das sechzig, siebenzig, wenn's hoch kommt,

achtzig Jahre währt, daß aber der Mensch als Mensch ewig sein und leben wird .

Der höhere Sinn faßt auch einen höheren Gesichtspunct. Ihm ist vollendete Huma•

nität das Ziel aller Cultur, und jene Geschlechtsindividualität nichts als Form und

Hülle, in der die Psyche ihrem schöneren Leben entgegen reift.

Die Geschlechts - und Berufsbildung soll daher der Menschenbildung unterge•

ordnet, untergeordnet ! aber ja nicht versäumt oder übersprungen werden.

Wenn aber reine Menschheit die letzte höchste Bestimmung des Menschen ist,

könnte man ihn dann nicht geraden Weges dazu führen, ihn bloß für seine ewige

Bestimmung bilden? Diese Frage muß gänzlich verneint werden, denn nur durch

die irdischen und zeitlichen Arbeiten und Verhältn isse kann der Mensch für sein

eigentliches Leben vorgebildet und tüchtig gemacht werden .. Sie sind das Organ

od r 'doch wenigstens theurer zu bezahlen? Wahrlich, aus solch einem Grunde das allge• meme Menschenwohl hindern, ist um nichts besser, als den verabscheuungswürdigen Scla• venhandel deshalb nicht abgeschafft wissen wollen, weil man den Kaffee und Zucker nicht missen mag. - Hinweg also mit dergleichen egoistischen Bedenklichkeiten! Sie verrathen wahrlich keinen großen Fond von Liebe und Werthschätzung der Menschheit.

* Die gewöhnliche Ansicht der Bildung ist die, daß zwar alle Menschen moralisch und reli• giös, aber daß nur die Vornehmem und Reichem, was man gewöhnlich ausdrückt, die höhem Stände, intellectuell und ästhetisch gebildet werden müßten. Allein man bedenkt nicht, daß das Erkenntnißvermögen für jede Art der Bildung vielleicht die wichtigste Grundkraft im Menschen ist, durch deren Entwicklung und Richtung meist die de.s Gefühls- und Begehrungsvermögens bedingt wird. Es waltet ein Irrthum da, wo man glaubt, daß das Verderben des Menschen einzig von seinem Willen ausgehe. Nein , es ist auch und in nicht geringem Maße in seinem Verstande gegründet; in intellectueller Schief• heit'. Unklarheit und in Mangel an Tiefe, in Verurtheilen und unrichtigen oder einseitigen Ansichten, und vorzüglich in dem nicht genug aufgeregten und gestärkten Wahrheitssinne. Auch ist es gar nicht einmal denkbar, daß der Wille für das Gute gewonnen werden könne, ohne vorhergegangene oder gleichzeitige Bildung zur Vernünftigkeit . Denn das unbedingte Thun des Guten ist ja höchste Vernünftigkeit.( ...) '

82 83

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und die Bedingung, unter der allein sich das Ewige in ihm entwickeln kann, sie sind

das Uebungs- und Bildungsmaterial, an dem seine höhere Natur erstarken, durch

d_as der Geist frei werden soll für seine höhere Freiheit. - Welcher Platz uns daher

auch von der Vorsehung möge angewiesen sein, er ist für unsere Erziehung _ und Ausbildung der paßlichste . Auf keinem andern könnten wir das werden, was wir auf

diesem, der für unsere Kräfte genau berechnet ist, auf dem wir die meiste Gelegen•

heit haben, sie zu üben, zu werden vermögen. Wir sollen uns, in dem uns hier ange•

wiesenen kleinen Wirkungskreise, zu einem größern vorbereiten; und wohl uns,

- wenn wir dies thun! Wer das geringfügigste Geschäft gewissenhaft und

pflicht• mäßig vollbringt, wird dadurch zu dem wichtigsten, zu dem

bedeutendsten, fähig und würdig.

Es wird also in der Erreichung der irdischen Bestimmung das sicherste Funda•

ment zu der ewigen gelegt.

Jeder Mensch ist nun entweder Mensch, Mann und Erdenbürger; oder Mensch,

Weib und Erdenbürger. In diese zwei Hauptsätze theilt sich das - Menschenge•

schlecht; bleiben wir bei dem zweiten stehen.

Jedes Kind, das ein Mädchen ist, soll also werden, erstlich: Mensch; zweitens :

Weib; drittens: Erdenbürger.

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Jean Paul: Levana

§ 26 .

. . . Jeder von uns hat seinen idealen Preismenschen in sich, den er heim•

lich von Jugend auf frei oder ruhig zu machen strebt. Am hellesten

schauet jeder diesen heiligen Seelen-Geist an in der Blütezeit aller

Kräfte, im Jüngling-Alter. Wenn nur jeder sich es recht klar bewußt

wäre, was er damals hatte werden wollen und zu welchen andern und

höhern Wegen und Zielen das eben aufgeblühte Auge hinaufgesehen als

später das einwelkende! Denn sobald wir an irgendein gleichzeitiges In•

und Umeinander-Wachsen des leiblichen und des geistigen Menschen ·

glauben: so müssen wir auch die Blütezeiten beider zusammenfallen las•

sen. Folglich wird dem Menschen sein individueller Idealmensch am

hellsten (wenn auch nur hinter Wünschen und Träumen) gerade in der

293

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Vollblüte des Jugendalters erscheinen. Und zeigt sich dies nicht in der

gemeinsten Seele, welche z. B. während dieses Durchgangs, _vorher und

nachher in sinnliche und habsüchtige Liebe gesunken, einmal in edler

kulminierte und mitten am Himmel stand? - Später verwelkt bei der

Menge der Idealmensch von Tage zu Tage - und der Mensch wird, fal•

lend und überwältigt, lauter Gegenwart, Geburt der Not und Nachbar•

schaft. Aber die Klage eines jeden: "Was hätt' ich nicht werden kön•

nen!" bekennt das Dasein oder Dagewesensein eines ältesten paradiesi•

schen Adams neben und vor dem alten Adam.

Aber in einem Anthropolithen (versteinerten Menschen) kommt der Ideal•

mensch auf der Erde an; ihm nun von so vielen Gliedern die Stein•

rinde wegzubrechen, daß sich die übrigen selber befreien können, dies ist

oder sei Erziehung .... Folglich hat die Erziehung im zweiten Kapitel

die Individualität des 1dealmenschen

§ 27.

auszuforschen und hochzuachten....

§ 28.

Auch gibt dies jeder Erzieher zu, sogar der matteste, und flößet diese

Achtung für Eigentümlichkeit , z. B. für seine eigene, den Zöglingen ein;

nur arbeitet er in derselben Stunde wieder stark darauf hin, daß jeder

nichts als sein Stief- und Kebs-Ich werde . .Sich selber läßt er so viel In•

dividualität hingehen, als er braucht, um fremde auszutilgen und seine

einzupflanzen. Wenn überhaupt jeder Mensch heimlich seine eigne

Kopiermaschine ist, die er an andere ansetzt, und wenn er gern alles in

seine geistliche und geistige Verwandtschaft als Seelen-Vettern hinein•

zieht, z.B. Homer gern die Weltteile irr Homeriden und Homeristen

verwandelt, oder Luther in Lutheraner: so wird der Erzieher noch mehr

streben, in den wehr- und gestaltlosen weichen Kindergeistern sich ab•

und nachzudrucken, und der Vater des Kindes trachten, auch der

Vater des Geistes zu werden. Gott gebe, daß es selten gelinge! Und zum

Glücke glückt es auch nicht! Bloß die Mittelmäßigkeit verdrängt fremde

durch eigne, d. h. eine unmerkliche Individualität durch eine unmerk•

liche; daher die Menge Nachahmer der Nachahmer . ..

§ 45.

. . . Einen traurigen Mann erduld' ich, aber kein trauriges Kind; denn

jener kann, in welchen Sumpf er auch ei1.1:sinke, die Augen entweder in

das Reich der Vernunft, oder in das der Hoffnung erheben; das kleine

Kind aber wird von einem schwarzen Gifttropfen der Gegenwart ganz

umzogen und erdrückt. Denkt euch ein Kind, das zum Blutgerüst gefüh•

ret würde - denkt euch Amor in einem deutschen Särglein -oder seht

einen Schmetterling nach dem Ausreißen seiner Vierflügel kriechen als

Raupe: so fühlt ihr, was ich meine . ...

Der erste Schreck ist desto gefährlicher, je 1unger er fällt; später er•

schrickt der Mensch immer weniger; der kleine Wiegen- und Betthimmel

des Kindes wird leichter ganz verfinstert als der Sternenhimmel des

Mannes.

§ 47.

... Freudigkeit - dieses Gefühl des ganzen freigemachten Wesens und

Lebens, dieser Selbstgenuß der innern Welt, nicht eines äußern Weltteil•

chens - öffnet das Kind dem eindringenden All, sie empfängt die

Natur nicht lieb-, nicht wehrlos, sondern gerüstet und liebend und lässet

alle jungen Kräfte wie Morgenstrahlen aufgehen und der Welt und sich

entgegenspielen, und sie . gibt Stärke, wie die Trübseligkeit sie nimmt.

Die frühem Freudenblumen sind nicht Kornblumen zwischen der Saat,

sondern jüngere kleinere Ähren. Es ist eine liebliche Sage, daß die Jung•

frau Maria 14 und der Dichter Tasso als Kinder nie geweinet ....

§ 48.

Was heiter und selig macht und erhält, ist bloß Tätigkeit. Die gewöhn•

lichen Spiele der Kinder sind - ungleich den unsrigen - nichts als die

Äußerungen ernster Tätigkeit, aber in leichtesten Flügelkleidern; wie•

wohl auch die Kinder ein Spiel haben, das ihnen eines ist, z. B. das

Scherzen, sinnloses Sprechen, um sich selber etwas vorzusprechen etc.

Schriebe nun ein Deutscher ein Werkchen über die Kinderspiele -wel•

ches wenigstens nützlicher und später wäre als eines über die Karten•

spiele -, so würde er sie sehr scharf und mit Recht - dünkt mich -

nur in zwei Klassen teilen: 1) in Spiele oder Anstrengungen der emp•

fangenden, auffassenden, lernenden Kraft; 2) in Spiele der handelnden,

gestaltenden Kraft. Die eine Klasse würde die Tätigkeit von außen hin•

ein begreifen, gleich·den Sinn-Nerven; die andere die von innen hinaus,

gleich der Beweg-Nerven. Folglich würde der Verfasser, wenn er sonst

tief ginge, in die erste Klasse, die er die theoretische nennt - die zweite

hingegen die praktische -, die meisten Spiele bringen, die eigentlich nur

eine kindliche Experimental-Physik, -Optik, -Mechanik sind. Die Kinder

haben z.B. große 'Freude, etwas zu drehen, zu heben - Schlüssel in

Schlösser oder sonst eine Sache in die andere zu stecken - Türen auf•

und zuzumachen, wozu aber noch die dramatische Phantasie, den Raum

bald eng, bald weit, sich bald einsam, bald gesellig zu sehen, eingreift -

einem elterlichen Geschäfte zuzuschauen, ist ihnen ein solches Spiel -

desgleichen Sprechen-Hören. -

14 Originalanm.: Pertschens Kirchenhistorie.

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In die zweite oder praktische Abteilung würde der gedachte Verfasser

alle Spiele setzen müssen, worin sich das Kind seines geistigen Überflus•

ses durch dramatisches Phantasieren, und seines körperlichen durch Be•

wegungen zu entladen sucht. Die Beispiele werden in den nächsten Para•

graphen kommen.

Doch müßte, glaub' ich, ein so wissenschaftlicher Mann noch eine dritte,

schon angedeutete Spielklasse errichten, die nämlich, worin das Kind das

Spiel nur spielt, nicht treibt, noch fühlt, nämlich die, wo es behaglich

Gestalt und Ton nimmt und gibt - z. B. aus dem Fenster schauet, auf

dem Grase liegt, die Amme und andere Kinder hart. -

§ 49.

Das Spielen ist anfangs der verarbeitete Überschuß der geistigen und der

körperlichen Kräfte iugleich; . später, wenn der Schulzepter die geistigen

alles Feuers bis zum Regnen entladen hat, leiten nur noch die Glieder

durch Laufen, Werfen, Tragen die Lebenfülle ab. Das Spiel ist die erste

Poesie des Menschen (Essen und Trinken ist seine J>rose und das Streben

danach sein erstes solides Brotstudium und Geschäftleben); folglich bil•

det das Spiel alle Kräfte, ohne einer eine siegende Richtung anzuwei•

sen ...

§ 51.

Zuerst spielt der Kindgeist mit Sachen, folglich mit sich. Eine Puppe ist

mit ihm ein Volk oder eine Schauspielergesellschaft; und er ist der Thea•

terdichter und Regisseur. Jedes Stückchen Holz ist ein lackierter Blu•

menstab, an welchen die Phantasie hundertblätterige Rosen aufstengeln

kann. Denn nicht bloß für Erwachsene ist ah und für sich, sobald bloßes

Einbildglück entscheidet, das Spielzeug glei hgültig, ob mit Kaiser- oder

mit Lorbeerkronen, mit Schäfer- oder Marschallstäben, Streit- oder

Dreschflegeln; sondern sogar für Kinder. Vor der wunderkräftigen

Phantasie treibt jeder Aaronsstecken Blüten. Wenn die elysäischen Fel•

der der Alten ohnweit Neapel (nach Marcard) auf nichts hinauslaufen

als auf einen Busch in einer Höhle, so ist ja für Kinder ein Busch ein

Wald; und sie haben jenen Himmel, den Luther in seinen Tischreden den

Seligen verspricht, wo die Wanzen wohlriechend, die Schlangen spie•

lend, die Hunde goldhäutig sind und Luther ein Lamm; ich meine, im

kindlichen Himmel ist der Vater Gott der Vater, die Mutter die Mutter

Gottes, die Amme eine Titanide, der alte Diener ein Engel der Ge•

meine, der Puterhahn ein Edencherub 1 und Eden wiederholt. Wißt ihr

denn nicht, daß es eine Zeit gibt, wo die Phantasie noch stärker als im

Jünglingalter schafft, nämlich in der Kindheit, worin auch Völker ihre

Götter schaffen und nur durch Dichtkunst reden? - ·

296

Vergeßt es doch nie, daß Spiele der Kinder mit toten Spielsachen darum

so wichtig sind, weil es für sie nur lebendige gibt und einem Kinde eine

Puppe so sehr ein Menschen ist als einem Weibe eine erwachsene, und

weil ihm jedes Wort ein Ernst ist. Im Tiere spielt nur der Körper, im

Kinde die Sede. Diesem begegnet .nur Leben - keines begreift über•

haupt einen Tod oder etwas Totes -; und daher umringt sich das frohe

Wesen belebend nur mit Leben und sagt z.B.: „die Lichter haben sich

zugedeckt und sind zu Bette gegangen - der Frühling hat sich angezo•

gen - das Wasser kriecht am Glase herab - da wohnt sein Haus -der

Wind tanzt" 15 - oder von einer leeren räderlosen Uhr: „sie ist nicht

lebendig" ....

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Schleiermacher

1. Wesen und Aufgabe der Erziehung

Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf

die jüngere, und sie ist um so unvollkommener, je weniger gewußt wird,

was man tut und warum man es tut. Es muß also eine Theorie geben, die

von dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend

sich die Frage stellt: Was will denn eigentlich die ältere Generation mit

der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der

Tätigkeit entsprechen? Auf diese Grundlage des Verhältnisses der älte•

ren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung auf die andere

obliegt, bauen wir alles, was in das Gebiet dieser Theorie fällt ....

Die Pädagogik ist eine rein mit der Ethik zusammenhängende, aus ihr

abgeleitete angewandte Wissenschaft, der Politik koordiniert . ...

Wenn es nämlich so steht um die anthropologischen Voraussetzungen,

und auch das ethische Ziel infolge der versch iedenen ethischen Systeme

nicht ein durchaus entschiedenes ist: welchen Grad von Allgemeingültig•

keit kann wohl unsere Theorie haben? Wird es möglich sein, eine allge•

meingültige Pädagogik aufzustellen, d. h. für alle Zeiten und Räume?

Diese Frage müssen wir verneinen. Sie hängt aber freilich mit der ande•

ren zusammen: was soll unsere Theorie für eine Gestalt haben? Soll sie

rein empirisch sein, so daß alle Maximen nichts sind als Resultate der

Erfahrung; oder spekulativ, so daß alle Regeln aus dem Begriff der

menschlichen Natur abgeleitet werden?

Wenn wir letzteres bejahen können, dann ist auch die erste Frage ent•

schieden. Die menschliche Natur ist an und für sich immer dieselbe; und

sind alle Erziehungsregeln aus dieser abgeleitet, so müssen sie auch für

alle Menschen ohne Unterschied von Zeit und Raum gelten und gleich

sein. Ist aber das erste wahr, daß alle Maximen nur Resultate der Er•

fahrung sind, so wäre die Pädagogik etwas absolut Spezielles und müßte

bei jedem anderen Gegebenen verschieden sein und fortwährend sich

ändern.

Wenn wir die eme rrage leugneten, so wollen wir dadurch die zweite nicht bejahen in bezug auf ihren ersten Teil. Denn wäre die Pädagogik

etwas absolut Spezielles, dann könnte gar nichts dieser Theorie auf einen

wissenschaftlichen Charakter Anspruch geben. Bloße Empirie kann nicht

wissenschaftlich sein, wenngleich eine Menge von geistreichen und

scharfsichtigen Beobachtungen aufgestellt werden können. Es muß im

Gegenteil der Pädagogik das Spekulative zum Grunde liegen, da die

Frage, wie der Mensch erzogen werden soll, nicht anders als aus der Idee

des Guten beantwortet werden kann. Aber darüber werden wir wohl

leicht uns einigen, daß, was aus dieser Idee unmittelbar ausgeht, eigent•

lich nur die allgemeine Formel enthalten kann, die den Zusammenhang

der Erziehungstheorie mit der Ethik und Wissenschaft angibt. So wie

aber in die Theorie Spezielles hineinkommen soll, so werden wir auch

faktische Voraussetzungen annehmen, ohne welche die Theorie nicht be•

stehen kann. Denn die Theorie der Erziehung ist nur die Anwendung des

spekulativen Prinzips der Erziehung auf gewisse gegebene faktische

Grundlagen. Diese faktischen Voraussetzungen werden aber einerseits · i sich beziehen auf den Zustand, in welchem die Pädagogik den zu Erzie• :j henden findet, andererseits auch den Zustand, für welchen er zu erzie• 1

hen ist. Stellen wir nun die allgemeine aus der Ethik hergeleitete Formel 1

für die Erziehung des Menschen auf und sagen: Die Erziehung soll be• i 1

wirken, daß der Mensch, so wie sie ihn findet - unentschieden gelassen 1.

die ursprüngliche Gleichheit oder Ungleichheit - durch die Einwirkun• j

gen auf ihn der Idee des Guten möglichst ensprechend gebildet werde: so ' wird die Anwendung der Formel unbedingt abhängen von faktisch Ge•

gebenem . ...

(Hierzu Seite 372 f: Gibt es eine allgemeingültige Pädagogik? Ich ver•

neine; wie den Staat und die Philosophie. Sie wäre sonst die Kunst aller

Künste und statt aller anderen Künste und Wissenschaften, und alles

würde durch sie, da doch das Allgemeine von dem Einzelnen nicht mehr

abhängen kann als dieses von jenem. Zweitens. Ist die Pädagogik empi•

risch oder spekulativ? Viel .Herrliches aus der bloßen Beobachtung

[Levana], aber es entbehrt der Form. Das Spekulative gibt nur Fach•

werk, um die Tat oder die Beobachtung hineinzulegen. Sie oszilliert

nach beiden Seiten. Unsere muß mehr spekulativ sein.)

Die Erziehung - im engeren Sinne beendet, wenn der Zeitpunkt ein•

tritt, daß die Selbsttätigkeit der Einwirkung anderer übergeordnet wird

- soll den Menschen abliefern als ihr Werk an das Gesamtleben im

Staate, in der Kirche, im allgemeinen freien geselligen Verkehr und im

Erkennen oder Wissen. ...

Sagen wir, die Erziehung soll die heranwachsende Jugend so ausbilden,

daß sie tüchtig ist und geeignet für den Staat, wie er eben ist, so würde

dadurch nichts anderes geleistet werden als dieses, die Unvollkommen•

heit würde _ verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt

werden. Die ganze jüngere Generation würde mit ihrem ganzen Wesen

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und vollkommener Zustimmung in diese Unvollkommenheit eingehen, und wir wären wiederum in einem neuen Widerspruch. Unsere Theorie

erscheint dann als ein Ausfluß der Theorie, nach der die freie mensch•

liche Tätigkeit gehemmt wird; und es würde unserer Theorie diese For•

mel aufgeprägt sein: Damit die jüngere Generation zur Zufriedenheit

mit dem Bestehenden hingeleitet werde, soll sie nie den Wunsch empfin•

den, die Unvollkommenheit zu verlassen.

Wollen wir das Entgegengesetzte annehmen und ausgehend von dem Be•

wußtsein der Unvollkommenheit sagen, das Ziel der Pädagogik sei, daß

jede Generation nach vollendeter Erziehung den Trieb und das Geschick

in sich habe, die Unvollkommenheiten auf allen Punkten des gemeinsa•

men Lebens zu verbessern: dann kommen wir wieder in das Unbe•

stimmte hinein, von dem fern zu bleiben unsere Aufgabe ist. Können

wir die Erziehung auf das Bestehende richten und an dasselbige anknüp•

fen, so haben wir eine bestimmte Basis und Punkte zum Anknüpfen.

Dazu kommt noch dieses, daß diese Formel vielerlei Gefährliches in sich

schließt. Denn wenn man es darauf anlegt, die Jugend zu lauter Refor•

matoren zu erziehen: so steht das wieder in dem grellsten Widerspruche

damit, daß sie selbsttätig in das Bestehende mit hineingezogen werden

und vielleicht auf die gefährlichste Weise eingreifen würde.

Wir müssen also beides miteinander vereinigen; und nur auf diese Weise

können wir die richtige Auflösung finden. Das Erhalten und Verbessern

scheint allerdings gegeneinander zu streiten; aber dieses ist doch nur der

Fall, wenn man beim toten Buchstaben stehen bleibt. Sowie wir aber auf

das Leben sehen und diese Formel durch die Anschauung uns entwik•

keln, so sehen wir, daß beides immer zusammen besteht, wenn auch. frei•

lich unter entgegengesetzten Beziehungen. Es kommt zuweilen so zu ste•

hen, daß das Verbessern, insofern es zugleich zerstörend ist, das Hervor•

ragende, das Erhalten das Zurücktretende ist. Es ist das, was wir das

Revolutionäre nennen. Die entgegengesetzte Form ist die, wo das Erhal•

ten das Hervorragende ist und das Verbessern als Zerstören nur im ein

zelnen hervortritt. Halten wir uns an die Anschauung, wie das Leben sie

uns bietet, so müssen wir sagen, in der Natur ist ein beständiges Zerstö•

ren; je mehr sich das Verbessern daran anschließt, desto näher steht es

dem Erhalten, so daß die entgegengesetzte Form, wo das Zerstören über•

wiegend auftritt, das Revolutionäre, nicht nötig wird; je mehr sich das

Verbessern an das Erhalten anschließt, desto geringer ist seine

DiH l.' l'l!! von. dem Erh:ilten: So können wir s:igen, die eigentliche Auf• gabe sei, alles Unvollkommene so zu verbessern, daß die entgegenge•

setzte Form des Revolutionären gar nicht zum Vorschein komme. Wo es

dennoch geschieht, da hat dies immer seinen Grund in dem Unsittlichen,

1

was vorhergegangen ist. Wäre von Anfang an sittlich gehandelt worden, t so würde das Revolutionäre nicht hervorgetreten sein.

1

So wollen wir also die Formel stellen: Die Erziehung soll so eingerichtet

werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die

Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch

tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen ....

Wir gingen bis hierher davon aus, daß der Einzelne für einen bestimm•

ten Staat zu erziehen sei; nun aber müssen wir eigentlich eingestehen,

daß die Erziehung immer schon Volkstümlichkeit, also Zugehörigkeit

zu einem bestimmten Staate, bis auf einen gewissen Grad entwickelt,

oder doch die Anlage zu einer bestimmten Volkstümlichkeit vorfindet.

Wenn aber Staat und Volkstümlichkeit immer zusammengehören, und

jener das Geistige repräsentiert, so wie diese das Physische, so müssen

wir sagen, die Erziehung habe immer schon in dem Einzelnen eine Be•

stimmtheit sowohl für das Ethische als auch für das Physische, und eine

Neigung zum Leben im Staat vorauszusetzen. Was also früher als End•

punkt von uns bezeichnet worden ist, das wird hier in anderer Bezie•

hung als- Anfangspunkt gesetzt. Was aber wird von hier aus als End•

punkt der Erziehung aufgestellt werden können?

Wenn wir den Menschen in seiner persönlichen Vollkommenheit be•

trachten am Ende der Erziehung, so muß jeder Einzelne in dem Ganzen

durch eine eigentümliche Bestimmtheit sich von allen anderen, wenn

auch nur graduell, unterscheiden, so daß der Grad, in welchem er per•

sönlich eigentümlich ausgebildet ist, zugleich das Maß für die Vollkom•

menheit seiner Entwicklung überhaupt ist; so wie auch die größere oder

geringere seltener oder häufiger hervortretende Eigentümlichkeit der

Einzelnen in einem Volke den Maßstab für die Bildungsstufe des Volkes

gibt. Wenn die persönliche Eigentümlichkeit in einem Volke noch zu•

rücktritt, so steht dasselbe auch auf einer untergeordneten Stufe der Ent•

wicklung. Dies gilt auch von den einzelnen Abteilungen des Volkes.

Von dem hier aufgestellten Gesichtspunkt aus werden wir sagen müssen:

Das Ende der Erziehung ist die Darstellung einer persönlichen Eigen•

tümlichkeit des Einzelnen.

Wir haben aber nun dieses mit dem, was wir zuerst als Endpunkt der

Erziehung fanden, zu vereinigen. Vermöge des ersten s;gen wir: Die Er•

ziehung soll d.en Einzelnen ausbilden in der Ähnlichkeit mit dem größe•

ren moralischen Ganzen, dem er angehört. Der Staat empfängt aus den

Händen der Erzieher die Einzelnen als ihm analog gebildet, so daß sie in das Gesamtleben als in ihr eigenes eintreten können. Vermöge des ande•

ren sagen wir: Die Erziehung empfängt schon den Einzelnen in dieser

dem Staate homogenen Bildung, und soll in demselben ein eigentümli h

333

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ausgebildetes Einzelwesen darstellen. So gestellt wird niemand zwischen

beiden einen Widerspruch finden. Die Volkstümlichkeit ist zwar als An•

lage gegeben, die sich von selbst entwickelt, aber nicht so, daß die Ein•

wirkung durch Erziehung überflüssig wäre; die persönliche Eigentüm•

lichkeit aber kann keineswegs willkürlich auf gepfropft werden, son•

dern man kann nur den Indizien, welche allmählich sich manifestieren,

nachgehen. So teilt sich das Geschäft der Erziehung in die mehr univer•

selle und in die mehr individuelle Seite . ...

Von dem größten Einfluß auf die Organisation der Erziehung ist es, zu

bestimmen, wenn doch die Erziehung beides, die Entwicklung der Eigen•

tümlichkeit, soweit solche da ist, und die Tüchtigkeit für die großen sitt•

lichen Gemeinschaften beabsichtigt, wie beides sich gegeneinander ver•

halte; ob beides zusammenfalle und durch dieselbe Weise erreicht wer•

den könne. Wir werden aber darüber nicht auf fruchtbare Weise ent•

scheiden können, wenn wir nicht zuvor eine andere Frage beantwortet

haben... .

Wenn nämlich auch die Erziehung von ihrem Anfange bis zum Ende ein

Ganzes bildet, so zerfällt sie doch ihrem Charakter nach in zwei ver•

schiedene Perioden. Die physische Fürsorge, die mit dem Anfang des

Lebens beginnt und von der Natur in der Eltern Hände gelegt ist, geht

durch die erste Periode hindurch, vermindert sich nur allmählich. In der

ersten Periode gehört die Erziehung dem Hauswesen an. In der zweiten

Periode entsteht eine neue Aufgabe; es treten Bedürfnisse ein, wodurch

Hilfe postuliert wird. Die Eltern allein können die Aufgabe nicht lösen

und die Bedürfnisse nicht befriedigen. Es wÜ de auf diesem Punkt der

Anteil des Staates an der Erziehung angehen, und der Staat mit der er•

forderlichen Unterstützung hinzutreten; ihm liegt es dann ob, entweder

das Minimum, diejenigen zu .bezeichnen, die den Eltern die Aufgabe

lösen helfen; oder das Maximum, den Eltern die Erziehung in der zwei-

ten Periode ganz abzunehmen. ·

Unser Zustand der Dinge ist auf eine solche Ausgleichung basiert, frei•

lich unter verschiedenen Modifikationen. Eine bestimmte Grenze zwi•

schen beiden Perioden gibt es nicht; es ist ebensowenig ein bestimmtes

Verhältnis des Anteils der öffentlichen Einwirkung auf die häusliche

Erziehung in der allerersten Zeit, noch des Anteils der Eltern und deren

Einfluß auf die öffentliche Erziehung gegeben. Wollten wir hierüber

entscheiden, dann wäre die Aufgabe, das öffentliche Leben zti betrach•

.t ten und die Yerschiedenen formen des 5taats und des Hauswesens zu

prüfen, eine politische Betrachtung, zwar höchst notwendig und wichtig,

aber uns über unsere Grenze hinausführend. Ich sehe keinen anderen

Rat, als die Untersuchung hier abzubrechen und zu sagen, wir müssen an

die jetzt bestehende Form der Erziehung unsere Theorie anschließen; die

weitere Entwicklung der Theorie wird dann wohl auch in Rücksicht auf

diesen jetzt noch unklaren Punkt Aufschluß geben....

Wir haben demnach diese Formel aufzustellen: Das ganze Geschäft der

Erziehung ist so zu teilen, daß am ;Ende eines jeden Abschnittes und

beim Übergang in einen neuen die Entwicklung der Ungleichheit und die

immer mehr sich selbst bestimmende Aussicht auf die Region, die jeder

einnehmen wird, deutlich erkannt werde als von dem Einzelnen selbst,

seinen Anlagen und seiner freien Selbsttätigkeit ausgehend, nicht als ihm

von der Erziehung gewaltsam aufgedrungen, oder vorenthalten. Und

zwar bezieht sich dies auf die ganze Erziehung als Eines angesehen, also

ohne Unterschied auf das, was von der Familie und vom Staate aus•

geht....

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3. Wie Gertrud ihre Kinder lehrt I.

Schon lange, ach, seit meinen Jünglingsjahren wallte mein Herz wie

ein mächtiger Strom einzig und einzig nach dem Ziel, die Quelle des

Elends zu stopfen, in die ich das Volk um mich her versunken sah.

Es ist schon über dreißig Jahre, daß ich Hand an das Werk legte, wel•

ches ich jetzt treibe. Iselins Ephemeriden bescheinigen, daß ich jetzt den

Traum meiner Wünsche nicht umfassender denke, als ich ihn · damals

schon auszuführen suchte.

Aber ich war jung, kannte weder die Bedürfnisse meines Traums, weder

die Sorgfalt, die ihre Anbahnung, noch die Kräfte, die ihre Ausführung

ansprach und voraussetzte. Das Ideal meines Traumes umfaßte Feldbau

Fabrik und Handlung. Ich hatte in allen drei Fächern eine Art vo

hohen, mir sicher scheinenden Takts für das Wesentliche meines Plans·

und es ist wahr, in diesem Wesentlichen bin ich auch heute nach all

meinen Lebenserfahrungen nur wenig von meinen damaligen Ansichten

über die Fundamente meines Plans zurückgekommen. Dennoch war

mein Zutrauen auf die Wahrheit dieser Fundamente und auf die mir an•

scheinende Sicherheit meines Takts mein Unglück. Die Wahrheiten mei•

ner Ansichten waren Wahrheiten in den Lüften, und die Zuversicht auf

den Takt in den Fundamenten meiner Zwecke war die Zuversicht eines

Schlafenden auf die Wahrheit eines Traums. Ich war in allen drei

Fächern, von denen meine Versuche ausgehen sollten, ein unerfahrnes

Kind. Es mangelte mir allenthalben an den Fertigkeiten des Details, aus

deren sorgfäldgen, ausharrenden und gewandten Behandlung die segens•

vollen Resultate, denen ich eO:tgegenstrebte, allein hervorzugehen ver•

mögen. Die Folgen dieser positiven Unfähigkeit für meine Zwecke

waren schnell. Die ökonomischen Mittel zu meinem Ziel gingen schnell

in Rauch auf, und das um so mehr, da ich im Anfang versäumte, mich

mit einem genugtuenden Hilfspersonal für meine Zwecke zu versehen,

und da ich das Bedürfnis einer solchen Mithilfe von Personen, die da:s,

was mir mangelte, gehörig ausfüllen konnten, lebhaft zu fühlen anfing,

hatte ich schon die ökonomischen Kräfte und das ökonomische Zutrauen

verloren, welches mir die Anstellung dieses Personals . hätte möglich

machen können. Es trat auch schnell eine solche Verwirrung in meine

Lage ein, die das Scheitern meiner Zwecke unausweichlich machte.

Mein Unglück war entschieden, und der Kampf gegen mein Schicksal

war jetzt nur der Kampf der schon unterliegenden Ohnmacht gegen

einen immer stärker werdenden Feind. Das Entgegenstreben gegen mein

Unglück führte jetzt zu nichts mehr. Indessen hatte ich in der unermeß•

lichen Anstrengung meiner Versuche unermeßliche Wahrheit gelernt und

unermeßliche Erfahrungen gemacht, und meine Oberzeugung von der

Wichtigkeit der Fundamente meiner Ansichten und meiner Bestrebungen

war nie größer als in dem Zeitpunkt, in dem sie äußerlich ganz scheiter•

ten. Auch wallte mein Herz immer unerschütterlich nach dem nämlichen

Ziel, und ich fand mich jetzt im Elend in einer Lage, in der ich einerseits

die wesentlichen Bedürfnisse meiner Zwecke, anderseits die Art und

Weise, wie die mich umgebende Welt über den Gegenstand meiner Be•

strebungen in allen Ständen und Verhältnissen wirklich denkt und han•

delt, erkennen und mit Händen greifen lernte, wie es mir bei einem an•

scheinend glücklichen Erfolg meiner voreilenden Versuche nicht gelun•

gen wäre, die Wahrheit dieser Ansichten also zu erkennen und mit Hän•

den zu greifen. Ich sage es jetzt mit innerer Erhebung und mit Dank ge•

gen die ob mir waltende Vorsehung, selber im Elend lernte ich das Elend

des Volks und seine Quellen immer tiefer und so kennen wie sie kein

Glücklicher kennt. Ich litt, was das Volk litt, und das V lk zeigte sich

mir, wie es war und wie es sich niemand zeigte. Ich saß eine lange Reihe

von Jahren unter ihm wie die Eule unter den Vögeln. Aber mitten im

·· Hohngelächter der mich wegwerfenden Menschen, mitten in ihrem lau•

ten Zuruf: »Du Armseliger! Du bist weniger als der schlechteste Taglöh•

ner imstande, dir selber zu helfen, und bildest dir ein, daß du dem Volke

helfen könntest?« - mitten in diesem hohnlachenden Zuruf, den ich auf

allen Lippen las, hörte der mächtige Strom meines Herzens nicht auf,

einzig und einzig nach dem Ziele zu streben, die Quellen des Elends zu

stopfen, in das ich das Volk um mich her versunken sah, und von einer

Seite stärkte sich meine Kraft immer mehr. Mein Unglück lehrte mich im•

mer mehr Wahrheit für meinen Zweck. Was niemand täuschte, das täuschte

mich immer; aber was alle täuschte, das täuschte mich nicht mehr....

358 359

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Bei diesem im Dunkeln gehenden und irrige Maßregeln mit den heiter•

sten Ansichten meiner Zwecke vermischenden Gang dieser Anfangsver•

suche entwickelten sich dennoch allmählich bestimmtere Grundsätze

über mein Tun in mir selber, und indem mir mit jedem Tag klarer

wurde, daß man in den jüngern Jahren mit den Kindern gar nicht räso•

nieren, sondern sich in den Entwicklungsmitteln ihres Geistes dahin be•

schränken müsse:

1. den Kreis ihrer Anschauung immer mehr zu erweitern;

2. die ihnen zum Bewußtsein gebrachten Anschauungen ihnen bestimmt,

sicher und unverwirrt einzuprägen;

3. ihnen für alles, was Natur und Kunst ihnen zum Bewußtsein gebracht

hat und zum Teil zum Be ußtsein bringen soll, umfassende Sprach•

kenntnis zu geben; indem mir, sage ich, diese drei Gesichtspunkte mit

jedem Tage bestimmter wurden, entwickelte sich in mir ebenso allmäh•

lich eine feste Überzeugung

1) von dem Bedürfnis der Anschauungsbücher für die erste Kindheit;_

2) von der Notwendigkeit einer festen und bestimmten Erklärungsweise

dieser Bücher;

3) von dem Bedürfnis einer auf diese Bücher und ihre Erklärungsweise

gegründeten Führung zu Namen und Wortkenntnissen, die den Kindern

geläufig gemacht werden müssen, selbst ehe noch der Zeitpunkt des

Buchstabierens mit ihnen eintritt.

Der Vorteil des frühen und geläufigen Bewußtseins einer großen

Nomenklatur ist für die Kinder unschätzbar. Der feste Eindruck der

Namen macht ihnen die Sache unvergeßlich, sobald sie zu ihrem Be•

wußtsein gebracht sind, und das auf Wahrheit und Richtigkeit gegrün•

dete Zusammenreihen der Namen entwickelt und erhält in ihnen das Be•

wußtsein vom wirklichen Zusammengehören der Sachen. Die Vorteile

dieser Sache sind progressiv. Man muß nur nie denken, weil das Kind

von etwas nicht alles versteht, so dient ihm gar nichts davon. Gewiß ist

es, wenn es mit und von dem ABC-Lernen den Schall und Laut eines

großen Teils selber einer wissenschaftlichen Nomenklatur sich eigen ge•

macht hat, so genießt es dadurch wenigstens den Vorzug, den ein Kind,

das in einem großen Geschäftshause von der Wiege auf täglich mit den

Namen von zahllosen Gegenständen bekannt wird, in seiner Wohnstube

genießt ....

IV.

. . . Ich war, seitdem ich von Stans wegging, so verscheucht und ermüdet,

daß sogar die Ideen meiner alten Volkserziehungspläne in mir selbst an•

fingen zusammenzuschrumpfen und ich meine jetzigen Zwecke auf bloß

isolierte, einzelne Verbesserungen der bestehenden Schulerbärmlichkeiten

beschränken wollte. Es ist auch bloß die Not und der Umstand, daß ich

nicht einmal dieses vermochte, was mich wieder in das einzige Geleis zu•

rückzwang, in welchem das Wesen meiner alten Zwecke erreichbar ist.

Indessen arbeitete ich viele Monate in den Schranken, in die mich diese

Einschrumpfung meiner selbst hineinlockte. Es war eine eigene Lage; ich

mit meiner Unwissenheit und Ungeübtheit, aber dann auch mit meiner

Umfassungskraft und mit meiner Einfachheit unterster Winkelschulmei•

ster, und hinwieder der nämliche Mensch im nämlichen Augenblick mit

allem diesem - Unterrichtsverbesserer, und zwar in einem Zeitalter, in

dem seit Rousseaus und Basedows Epoche eine halbe Welt für diesen

Zweck in Bewegung gesetzt war. Ich wußte freilich von dem, was diese

alle taten und wollten, auch keine Silbe - nur soviel sah ich, daß die

höhern Punke des Unterrichts oder vielmehr der höhere Unterricht sel•

ber hie und da zu einer Vollkommenheit gebracht ist, dessen Glanz

meine Unwissenheit wie das Sonnenlicht eine Fledermaus blendete. Ich

fand selber die mittlern Stufen des Unterrichts weit über die Sphäre

meiner Kenntnisse erhaben und sah sogar seine untersten Punkte hin und

wieder mit einem Ameisenfleiß und mit einer Ameisentreue bearbeitet,

dessen Verdienst und Erfolg ich auf keine Weise mißkennen konnte .

Wenn ich denn aber das Ganze des Unterrichtswesens oder vielmehr das

Unterrichtswesen als ein Ganzes und in Verbindung des wirklichen,

wahren Zustands der Masse der Individuen, die unterrichtet werden

sollten, ins Auge faßte, so schien mir selber das Wenige, das ich bei

aller meiner Unwisse heit dennoch leisten konnte, noch unendlich mehr

als das, was ich sah, daß das Volk hierin wirklich genießt; und je mehr

ich dieses letzte (das Volk) ins Auge faßte, je mehr fand ich, das, was in

den Büchern für dasselbe wie ein mächtiger Strom zu fließen scheint,

löse sich, wenn man es im Dorf und in der Schulstube betrachtet, in

einen Nebel auf, dessen feuchtes Dunkel das Volk weder naß macht

noch trocken läßt und ihm hinwieder weder die Vorteile des Tages noch

diejenigen der Nacht gewähret. Ich konnte mir nicht verbergen, der

Schulunterricht, wie ich ihn wirklich ausgeübt sah, tauge für das große

Allgemeine und für die unterste Volksklasse, wenigstens so wie ich ihn

ausgeübt sah, soviel als gar nichts.

Soweit als ich ihn kannte, kam er mir wie ein großes Haus vor, dessen

oberstes Stockwerk zwar in hoher, vollendeter Kunst strahlt, aber nur

von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittlern wohnen denn schon

mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine

menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten, und wenn etwa

einige Gelüste zeigen, in ihrem Notzustand etwas tierisch in dieses obere

Stockwerk hinaufzuklettern, so schlägt man ihnen, wo man das sieht,

360 361

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ziemlich allgemein auf die Finger und hie und da wohl gar einen Arm

oder ein Bein, das sie bei diesem Hinaufklettern anstrengten, entzwei;

im dritten unten wohnt denn endlich eine zahllose Menschenherde, die

für Sonnenschein und gesunde Luft vollends mit den obern das gleiche

Recht haben; aber sie wird nicht nur im ekelhaften Dunkel fensterloser

Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihnen durch Binden

und Blendwerke die Augen sogar zum Hinauf gucken in dieses obere

Stockwerk untauglich.

Freund! Diese Ansicht der Dinge führte mich natürlich zur Überzeu•

gung, daß es wesentlich und dringend sei, die Schulübel, die Europas

größere Menschenmasse entmannen, nicht bloß zu überkleistern, sondern

sie in ihrer Wurzel zu heilen, daß folglich halbe Maßregeln hierin gar

leicht zur zweiten Portion Gift werden dürften, mit der man die Wfr•

kungen der ersten n icht nur nicht stillstellen könnte, sondern sicher ver•

doppeln müßte. Das wollte ich denn freilich nicht; indessen fing sich

mit jedem Tage mehr in mir das Gefühl zu entwickeln an, daß es

wesentlich unmöglich sei, den Schulübeln im großen und dauerhaft ab•

zuhelfen, wenn man nicht dahin gelangen könne, die mechanische Form

alles Unterrichts den ewigen Gesetzen zu unterwerfen, nach welchen der

menschliche Geist sich von sinnlichen Anschauungen zu deutlichen Be•

griffen erhebt....

V. Ich habe dir sie hingeworfen, diese einzelnen Sätze, aus denen, wie ich

glaube, der Faden einer allgemeinen und psychologischen Unterrichtsme•

thode sich herausspinnen läßt.

Sie befriedigen mich nicht; ich fühle es, ich bin nicht imstande, das

Wesen der Naturgesetze, auf denen diese Sätze ruhen, mir in ihrer gan•

zen Einfachheit und in ihrer ganzen Umfassung aufzustellen. Soviel sehe

ich, sie haben sämtlich eine dreifache Quelle.

Die erste dieser Quellen ist die Natur selber, vermöge welcher sich unser

Geist von dunkeln Anschauungen zu deutlichen Begriffen empor•

schwingt.

Aus dieser Quelle fließen folgende Grundsätze, die als Fundamente der

Gesetze, deren Natur ich nachspüre, anerkannt werden müssen.

1. Alle Dinge, die meine Sinne berühren, sind für mich nur insoweit

Mittel, zu richtigen Einsichten zu gelangen, als ihre Erscheinungen mir

ihr unwandelbares , unveränderliches Wesen vorzüglich vor ihrem wan•

delb<>.t"en Wechselzust:rnd oder ihrer Beschaffenheit in die Sinne fallen

machen - sie sind umgekehrt für mich insoweit Quellen des Irrtums

und der Täuschung, als ihre Erscheinungen mir ihre zufälligen Beschaf•

fenheiten vorzüglich vor ihrem Wesen in die Sinne fallen machen.

362

2. An eine jede dem menschlichen Geist zur Vollendung ihres Ein•

drucks eingeprägte und unauslöschlich gemachte Anschauung reihen sich

mit großer Leichtigkeit und soviel als unwillkürlich ein ganzes Gefolge

[von] dieser Anschauung mehr oder weniger verwandten Nebenbegriffen .

3. So wie nun das Wesen einer Sache mit unverhältnismäßig stärkerer

Kraft in deinem Geiste eingeprägt ist _als ihre Beschaffenheit, so führt

dich de_ r Organismus deiner Natur durch sich selber in Rücksicht auf

diesen Gegenstand täglich von Wahrheit zu Wahrheit; so wie hingegen

die wandelbare Beschaffenheit einer Sache unverhältnismäßig stärker als

ihr Wesen in deinem Geiste eingeprägt ist, führt dich der Organismus

deiner Natur über diesen Gegenstand täglich von Irrtum zu Irrtum .

4. Durch das Zusammenstellen von Gegenständen, deren Wesen das

nämliche ist, wird deine Einsicht über die innere Wahrheit derselben

wesentlich und allgemein erweitert, geschärft und gesichert, der einsei•

tige, _ überwiegende Eindruck von Beschaffenheiten einzelner Gegen•

stände zum Vorteil des Eindrucks, den ihr Wesen auf dich machen soll

geschwächt, das Verschlingen deines Geistes durch die isolierte Kraf;

einzelner - Beschaffenheitseindrücke verhütet und du vor der Gefahr be•

wahret, in eine gedankenlose Vermischung der Außenseite der Gegen•

stände mit ihrem Wesen und dadurch in eine übertriebene Anhänglich•

keit und Vorliebe für irgendeine Sache, die dir eine bessere Einsicht als

Nebensache unterordnet, und in die phantastische Kopffüllung mit sol•

chen Nebensachen zu fallen.

Es kann nicht anders sein, je mehr sich der Mensch wesentliche, umfas•

sende und allgemeine Ansichten der Dinge eigen gemacht hat, je weniger

können beschränkte, einseitige Ansichten ihn über das Wesen seines Ge•

genstandes irrführen; je weniger er hingegen in einer umfassenden An•

schauung der Natur geübt ist, je leichter können einzelne Ansichten von

einem wandelbaren Zustand einer Sache die wesentliche Ansicht eines

Gegenstandes in ihm verwirren und sogar auslöschen.

5. Auch die verwickelteste Anschauung besteht aus einfachen Grund•

teilen. Wenn du dich über diese zu einer bestimmten Klarheit gebracht

hast, so wird dir das Verwickelteste einfach.

6. Durch je mehrere Sinne du das Wesen oder die Erscheinungen einer

Sache erforschest, je richtiger wird deine Erkenntnis über dieselbe.

Das scheinen mir die Grundsätze des physischen Mechanismus, die sich

aus der Natur unsers Geistes selber herleiten. An sich schließen sich die

allgemeinen Gesetze dieses Mechanismus selber, davon ich jetzt nur noch

dieses berühre: Vollendung ist das größte Gesetz der Natur; alles Un•

vollendete ist nicht wahr.

Die zweite Quelle dieser physisch-mechanischen Gesetze ist die mit die-

363

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1

sem Anschauungsvermögen allgemein verwoberie Sinnlichkeit meiner

Natur. Diese schwankt in allem ihrem Tun zwischen der Neigung, alles zu ken•

nen und alles zu wissen, und derjenigen, alles zu genießen, die den

Drang des Wissens und der Erkenntnis stille. stellt, einher. Als bloße

physische Kraft wird die Trägheit meines Gsechlechts durch seine

Nasenweisheit belebt und seine Nasenweisheit hinwieder durch seine

Trägheit stille gestellt. Aber weder das Beleben des einen noch das Still•

stehen des andern hat an sich selbst mehr als physischen Wert; hingegen

als sinnliches Fundament meiner Forschungskraft hat das erste, und als

sinnliches Fundament der Kaltblütigkeit im Urteilen hat das zweite

einen höhern Wert. Wir gelangen durch den unermeßlichen Reiz, den

der Baum der Erkenntnis für unsere sinnliche Natur hat, zu allem un•

serm Wissen, und durch das Trägheitsprinzipium, das unserm leichten,

oberflächlichen Herumfliegen von Anschauung zu Anschauung ein Ziel

setzt, reifet der Mensch vielseitig zur Wahrheit, ehe er sie ausspricht.

Aber unsere Wahrheitsamphibien wissen nichts von diesem Reifen; sie

quaken die Wahrheit, ehe sie sie ahnen, geschweige ehe sie sie kennen; sie

können nichts anderes; es fehlt ihnen sowohl an der Kraft der Vierfüßi•

gen, auf festem Boden zu stehen, als an den Flossen der Fische, über Ab•

gründe zu schwimmen, und an den Flügeln der Vögel, sich gegen die

Wolken zu erheben. Sie kennen das willenlose Anschauen der Gegen•

stände so wenig als Eva und haben daher bei ihrem unreifen Wahrheits•

verschlingen mit ihr das nämliche Schicksal.

Die dritte Quelle dieser physisch-mechanischen Gesetze liegt in dem

Verhältnis meiner äußern Lage mit meinem Erkenntnisvermögen.

Der Mensch ist an sein Nest gebunden, und wenn er es an hundert Fäden

hängt und mit hundert Kreisen umschreibt, was tut er mehr als die

Spinne, die ihr Nest auch an hundert Fäden hängt und mit hundert

Kreisen umschreibt? Und was ist der Unterschied von einer etwas größe•

ren und einer etwas kleineren Spinne? Das Wesen von ihrem Tun ist: sie

sitzen alle im Mittelpunkt des Kreises, den sie umschreiben; aber der

Mensch wählt den Mittelpunkt, in dem er wallet und wehet, nicht ein•

mal selbst, und er erkennt als bloßes physisches Wesen alle Wahrheit der

Welt gänzlich nur nach dem Maße, als die Gegenstände der Welt, die

ihm zur Anschauung kommen, sich dem Mittelpunkte nähern, in dem

er wallet und wehet, und meistens ohne sein Zutun wallen und weben

muß.

VI. ...Die Welt, sagte ich in diesen träumenden Selbstgesprächen zu mir sel• ber, liegt uns als ein ineinanderfließendes Meer verwirrter Anschauungen

vor Augen; die Sache des Unterrichts und der Kunst ist es, wenn durch sie

unsere an der Hand der bloßen Natur für uns nicht rasch genug fortriik•

kende Ausbildung wahrhaft und ohne Nachteil für uns vergeschwindert

werden soll, daß sie die Verwirrung, die in dieser Anschauung liegt, auf•

hebe, die Gegenstände unter sich sondere, die ähnlichen und zusammen•

gehörigen in ihrer Vorstellung wieder vereinige, sie alle uns dadurch

klarmache und nach vollendeter Klarheit derselben in uns zu deutlichen

Begriffen erhebe. Und dieses tut sie, indem sie uns die ineinanderfließen•

den, verwirrten Anschauungen einzeln vergegenwärtigt, dann uns diese

vereinzelten Anschauungen in verschiedenen wandelbaren Zuständen

vor Augen stellt und endlich dieselben mit dem ganzen Kreis unseres

übrigen Wissens in Verbindung bringt.

Also geht unsere Erkenntnis von Verwirrung zur Bestimmtheit, von Be•

stimmtheit zur Klarheit und von Klarheit zur Deutlichkeit hinüber ....

Freund! So wirbelten sich die lebendigen, aber dunkeln Ideen von den

Elementen des Unterrichts lange in meiner Seele, und so schilderte ich

sie in meinem Berichte, ohne daß ich auch damals noch einen lückenlo•

sen Zusammenhang zwischen ihnen und den Gesetzen des physischen

Mechanismus entdecken konnte, und ohne daß ich imstande war, die

Anfangspunkte mit Sicherheit zu bestimmen, von denen die Reihenfol•

gen unserer Kunstansichten oder vielmehr die Form ausgehen sollte, in

welcher es möglich wäre, die Ausbildung der Menschheit durch das

Wesen ihrer Natur selber zu bestimmen, bis endlich, und das noch vor ·

kurzem, wie ein Deus ex machina der Gedanke: die Mittel der Verdeut•

lichung aller unserer Anschauungserkenntnisse gehen von Zahl, Form

und Sprache aus - mir plötzlich über das, was ich suchte, ein neues

Licht zu geben schien,

Ich warf einmal im langen Streben nach meinem Ziele oder vielmehr im

schweifenden Herum träumen über diesen Gegenstand mein Augenmerk

ganz einfach auf die Art und Weise, wie sich ein gebildeter Mensch in

jedem einzelnen Falle benimmt und benehmen muß, wenn er irgendeinen

Gegenstand, der ihm verwirrt und dunkel vor Augen gebracht wird,

gehörig auseinandersetzen und sich allmählich klarmachen will.

Er wird in diesem Fall allemal sein Augenmerk auf folgende drei Ge•

sichtspunkte werfen und werfen müssen:

1. Wieviel und wievielerlei Gegenstände vor seinen Augen schweben;

2. wie sie aussehen; was ihre Form und ihr Umriß sei;

3. wie sie heißen; wie er sich einen jeden durch einen Laut, durch ein

Wort vergegenwärtigen könne.

Der Erfolg dieses Tuns aber setzt bei einem solchen Mann offenbar fol•

gende gebildete Kräfte voraus:

364 365 1o·

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1. Die Kraft, ungleiche Gegenstände der Form nach ins Aug zu fassen

und sich ihren Inhalt zu vergegenwärtigen.

2. Diejenige, diese Gegenstände der Zahl nach zu sondern und sich als

Einheit oder als Vielheit bestimmt zu vergegenwärtigen.

3. Diejenige, um sich die Vergegenwärtigung eines Gegenstandes nach

Zahl und Form durch die Sprache zu verdoppeln und unvergeßlich zu

machen.

Ich urteilte also: Zahl, Form und Sprache sind gemeinsam die Elemen•

tarmittel des Unterrichts, indem sich die ganze Summe aller äußern

Eigenschaften eines Gegenstandes im Kreise seines Umrisses und im Ver•

hältnis seiner Zahl vereinigen und durch Sprache meinem Bewußtsein

eigen gemacht werden. Die Kunst muß es also zum unwandelbaren Ge•

setz ihrer Bildung machen, von diesem dreifachen Fundamente auszuge•

hen und dahin zu wirken:

1. Die Kinder zu lehren, jeden Gegenstand, der ihnen zum Bewußtsein

gebracht ist, als Einheit, d. i. von denen gesondert, mit denen er verbun•

den scheint, ins Auge zu fassen.

2. Sie die Form eines jeden Gegenstandes, d. i. sein Maß und sein Ver•

hältnis kennen zu lehren.

3. Sie so früh als möglich mit dem ganzen Umfang der Worte und

Namen aller von ihnen erkannten Gegenstände bekannt zu machen.

Und so wie der Kinderunterricht von diesen drei Elementarpunkten aus•

gehen soll, so ist hinwieder offenbar, daß die ersten Bemühungen der

Kunst dahin gerichtet sein müssen, die Grundkräfte des Zählens, Mes•

sens und Redens, deren gute Beschaffenheit der richtigen Erkenntnis

aller Anschauungsgegenstände zum Grunde liegen, mit der höchsten psy•

chologischen Kunst zu bilden, zu stärken und kraftvoll zu machen und

folglich die Mittel der Entfaltung und Bildung dieser drei Kräfte zur

höchsten Einfachheit, zur höchsten Konsequenz und zur höchsten Über•

einstimmung unter sich selbst zu bringen.

Die einzige Schwierigkeit, die mir bei der Anerkennung dieser drei Ele•

mentarpunkte noch auffiel, war die Frage: warum sind alle Beschaffen•

heiten der Dinge, welche uns durch die fünf Sinne bekannt werden,

nicht ebenso Elementarpunkte unserer Erkenntnis wie Zahl, Form und

Namen? Aber ich fand bald: alle mögliche Gegenstände haben unb

dingt Zahl, Form und Namen, die übrigen Eigenschaften aber, die durch

die fünf Sinne erkannt werden, besitzt kein Gegenstand so mit allen an•

dern gemein, sondern nur mit dem einen diese, mit dem andern jene. Ich

fand also zwischen Zahl, Form und Namen aller Dinge und ihren übri•

gen Beschaffenheiten einen wesentlichen und bestimmt den Unterschied,

daß ich keine anderen Beschaffenheiten der Dinge als Elementarpunkte

366

der menschlichen Erkenntnis ansehen konnte; hingegen fand ich ebenso

bald bestimmt, daß alle übrigen Beschaffenheiten der Dinge, die durch

unsere fünf Sinne erkannt werden, sich unmittelbar an diese Elementar•

punkte der menschlichen Erkenntnisse anschließen lassen; daß folglich

beim Unterrichte der Kinder die Kenntnis aller übrigen Qualitäten der

Gegenstände an die Vorkenntnis von Form, Zahl und Namen unmittel•

bar angekettet werden müsse. Ich sah jetzt, durch das Bewußtsein von

der Einheit, Form und Namen eines Gegenstandes wird meine Erkennt•

nis von ihm eine bestimmte Erkenntnis; durch allmähliche Erkenntnis

aller seiner übrigen Eigenschaften wird sie in mir eine klare Erkenntnis;

durch das Bewußtsein des Zusammenhangs aller seiner Kennzeichen

wird sie eine deutliche Erkenntnis.

Und nun ging ich weiter und fand, daß unsere ganze Erkenntnis aus drei

Elementarkräften entquillt.

1. Aus der Schallkraft, aus der die Sprachfähigkeit entspringt;

2. aus der unbestimmten, bloß sinnlichen Vorstellungskraft, aus welcher

das Bewußtsein aller Formen entspringt;

3. aus der bestimmten, nicht mehr bloß sinnlichen Vorstellungskraft, aus

welcher das Bewußtsein der Einheit und mit ihr die Zählungs- und

Rechnungs{ higkeit hergeleitet werden muß.

Ich urteilte 'also, die Kunstbildung unseres Geschlechts müsse an die er•

sten und einfachsten Resultate dieser drei Grundkräfte, an Schall, Form

und Zahl angekettet weiden, und der Unterricht über einzelne Teile

könne und werde niemals zu einem unsere Natur in ihrem ganzen Um•

fange · befriedigenden Erfolge hinlenken, wenn diese drei einfachen

Resultate unserer Grundkräfte nicht als die gemeinsamen, von der Natur

selbst anerkannten Anfangspunkte alles Unterrichts anerkannt und im

Gefolg dieser Anerkennung in Formen eingelenkt werden, die allgemein

und harmonisch von den ersten Resultaten dieser drei Elementarkräfte

unserer Natur ausgehen und wesentlich und sicher dahin' wirken, den

Fortschritt des Unterrichts bis zu seiner Vollendung in die Schranken

einer lückenlosen, diese Elementarkräfte gemeinsam und im Gleichge•

wichte beschäftigenden Progression zu lenken, als wodurch es wesentlich

und ·allein möglich gemacht wird, uns in allen diesen drei Fächern

gleichförmig von dunkeln Anschauungen zu bestimmten, von bestimm•

ten Anschauungen zu klaren Vorstellungen und von klaren Vorstell.un•

gen zu deutlichen Begriffen zu führen.

Dadurch finde ich denn endlich die Kunst mit der Natur oder vielmehr

mit der Urform, womit uns diese die Gegenstände der Welt allgemein

verdeutlicht, wesentlich und innigst vereinigt, und hiemit das Problem:

einen allgemeinen Ursprung aller Kunstmittel des Unterrichtes und mit

367 1

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ihm die Form aufzufinden, in welcher die Ausbildung unsers Geschlechts

durch das Wesen unserer Natur selber bestimmt werden könnte, aufge•

löst und die Schwierigkeiten ---g' ehoben, die mechanischen Gesetze, die ich

für die Fundamente des menschlichen Unterrichts anerkenne, auf die

Unterrichtsform, welche die Erfahrung von Jahrtausenden dem Men•

schengeschlechte zur Entwicklung seiner selbst an die Hand gegeben, auf

Schreiben, Rechnen, Lesen usw. anzuwenden.

VII.

Das erste Elementarmittel des Unterrichts ist also:

der Schall.

Aus ihm leiten sich folgende spezielle Unterrichtsmittel:

1. Tonlehre, oder die Mittel, die Sprachorgane zu bilden;

2. Wortlehre, oder die Mittel, einzelne Gegenstände kennenzulehren;

3. Sprachlehre, oder die Mittel, durch welche wir dahin geführt werden

müssen, uns über die uns bekannt gewordenen Gegenstände und über

alles, was wir an ihnen zu erkennen vermögen, bestimmt ausdrücken zu

können ....

IX.

Freund! Wenn ich jetzt zurücksehe und mich frage: Was habe ich denn

eigentlich für das Wesen des menschlichen Unterrichts geleistet? - so

finde ich: ich habe den höchsten, obersten Grundsatz des Unterrichts in

der Anerkennung der Anschauung als dem absoluten Fundament aller

Erkenntnis festgesetzt und mit Beseitigung aller einzelnen Leh•

ren das Wesen der Lehre selbst und die Urform aufzufinden gesucht,

durch welche die Ausbildung unseres Geschlechts durch die Natur selber

bestimmt werden muß. Ich finde, daß ich das Ganze alles Unterrichts

auf drei Elementarmittel zurückgeführt und die speziellen Mittel ausge•

forscht habe, durch die es möglich gemacht werden konnte, die Resultate

alles Unterrichts in diesen drei Fächern zur bestimmtesten Notwendig•

keit zu erheben.

Ich finde endlich, daß ich diese drei Elementarmittel unter sich selbst in

Harmonie gebracht und den Unterricht dadurch nicht nur vielseitiger

und in allen drei Fächern mit sich selbst, sondern auch mit der mensch•

lichen Natur übereinstimmend gemacht und dem Gange der Natur in

der Entwicklung des Menschengeschlechtes an sich selbst näher ge•

bracht.

Indem ich aber dieses tat, habe ich, ich konnte nicht anders, zugleich ge•

funden, daß das Unterrichtswesen unsers Weltteils, wie es jetzt öffent•

lich, allgemein für das Volk betrieben wird, die Anschauung ganz und

gar nicht als den obersten Grundsatz des Unterrichts anerkennt, daß

dasselbe von der Urform, inner welcher die Ausbildung unsers Ge•

schlechts durch das Wesen unsrer Natur selber bestimmt wird, durchaus

nicht die nötige Kunde nimmt; daß es vielmehr das Wesen aller Lehre

dem Wirrwarr isolierter, einzelner Lehren aufopfert und mit Aufti•

schung aller Arten von Brockenwahrheiten den Geist der Wahrheit sel•

ber tötet und die Kraft der Selbständigkeit, die auf ihr ruhet, im Men•

schengeschlecht auslöscht. Ich habe gefunden, und es lag mir offen am

Tage, daß dieses Unterrichtswesen seine einzelnen Mittel weder auf Ele•

mentargrundsätze noch auf Elementarformen zurückführt, daß es viel•

mehr durch Vernachlässigung der Anschauung als des absoluten Funda•

ments aller Erkenntnis sich selber außerstand setzt, durch irgendeines

seiner Brockenmittel weder den Zweck des Unterrichts, deutliche Be•

griffe zu erzielen, noch auch die beschränkteren Resultate, die .es selber

bezweckt, zur unbedingten Notwendigkeit zu erheben ....

XII.

... Die Fertigkeiten, von deren Besitz das Können und Tun alles dessen,

was der gebildete Geist und das veredelte Herz von einem jeden Menschen

fordert, abhängt, geben sich indessen so wenig von sich selbst als die

Einsichten und Kenntnisse, deren der Mensch hierzu bedarf; und wie die

Ausbildung der Kräfte des Geistes und der Kunst einen der Menschen•

natur angemessenen, psychologisch geordneten Stufengang der Mittel zu

dieser Ausbildung voraussetzt, also ruht auch die Bildung der Kräfte,

die diese Fertigkeiten voraussetzen, auf dem tiefgreifenden Mechanismus

eines ABCs der Kunst, d. i. auf allgemeinen Kunstregeln, durch deren

Befolgung die Kinder in einer Reihenfolge von Übungen gebildet wer•

den können, die von den höchst einfachen zu den höchst verwickelten

Fertigkeiten allmählich fortschreitend mit physischer Sicherheit dahin

wirken müßten, ihnen eine täglich steigende Leichtigkeit in allen Fenig•

keiten zu gewähren, deren Ausbildung sie notwendig bedürfen. Aber

auch dieses ABC ist nichts weniger als erfunden. Es ist aber auch ganz

natürlich, daß selten etwas erfunden wird, das niemand sucht; aber

wenn man es suchen würde und etwa gar mit einem Ernst, mit welchem

man auch nur ganz kleine Vorteile in der Plusmacherkunst zu suchen ge•

wohnt ist, so wäre es ganz leicht zu finden, und wenn es gefunden wäre,

so wäre es ganz gewiß ein großes Geschenk für die Menschheit. Es

mußte von den einfachsten Außerungen der physischen Kräfte, welche

die Grundlagen auch der kompliziertesten menschlichen Fertigkeiten

enthalten, ausgehen. Schlagen, Tragen, Werfen, Stoßen, Ziehen, Drehen,

Ringen, Schwingen usw. sind die vorzüglichsten einfachen Außerungen

unserer physischen Kräfte. Unter sich selbst wesentlich verschieden, ent•

halten sie alle gemeinsam und jedes für sich die Grundlage aller mög-

368 369

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liehen, auch der kompliziertesten Fertigkeiten, auf denen die mensch•

lichen Berufe beruhen. Daher ist es offenbar, daß das ABC der Fertig• keiten von früher, aber psychologisch gereiheten Übungen in diesen Fer•

tigkeiten überhaupt und in jeder einzelnen besonders ausgehen muß.

Dieses ABC der Gliederübungen müßte denn natürlich mit dem ABC

der Sinnenübungen und allen mechanischen Vorübungen des Denkens

mit den Übungen der Zahl- und der Formlehre vereinigt und mit ihr in

Übereinstimmung gebracht werden ....

Der Mechanismus der Fertigkeiten geht vollends mit dem der Erkennt•

nis den nämlichen Gang, und seine Fundamente sind in Rücksicht auf

deine Selbstbildung vielleicht noch weitführender als die Fundamente,

von denen deine Erkenntnis ausgeht. Um zu können, mußt du in jedem

Fall tun, um zu wissen, darfst du dich in vielen Fällen nur leidend ver•

halten, du darfst in vielen Fällen nur sehen und hören. Hingegen bist du

in bezug auf deine Fertigkeiten nicht bloß der Mittelpunkt ihrer Ausbil•

dung, du bestimmst in vielen Fällen zugleich noch das .Kußere ihrer

Anwendung, aber doch immer inner den Schranken, die die Gesetze des

physischen Mechanismus für dich festgesetzt haben. Wie im unermeß•

lichen Meere der toten Natur Lage, Bedürfnis und Verhältnis das Spezi•

fische jeder Individualansicht bestimmen, also bestimmt im unermeß•

lichen Meere der lebendigen Natur, die deine Kraftentwicklung erzeugt,

Lage, Bedürfnis und Verhältnisse das Spezifische dieser Fertigkeiten,

welche du vorzüglich und einzeln bedarfst ....

XIII. Freund! Es hätte mich, wie gesagt, für jetzt zu weit geführt, in das Um•

ständliche der Grundsätze und Maßregeln einzutreten, auf denen die

Bildung zu den wesentlichsten Fertigkeiten des Lebens beruhet; hingegen

will ich meine Briefe doch nicht enden, ohne den Schlußstein meines

ganzen Systems, ich meine nämlich, die Frage zu berühren: Wie hängt

das Wesen der Gottesverehrung mit den Grundsätzen zusammen, die ich

in Rücksicht auf die Entwicklung des Menschengeschlechtes im allgemei•

nen für wahr angenommen habe? -

Ich suche auch hier den Aufschluß meiner Aufgabe in mir selbst und

frage mich: Wie entkeimt der Begriff von Gott in meiner Seele? Wie

kommt es, daß ich an einen Gott glaube, daß ich mich in seine Arme

werfe und mich selig fühle, wenn ich ihn liebe, wenn ich ihm vertraue,

wenn ich ihm danke, wenn ich ihm folge? -

Das sehe ich bald, die Gefühle der Liebe, des Vertrauens, des Dankes

und die Fertigkeiten des Gehorsams müssen in mir entwickelt sein, ehe

ich sie auf Gott anwenden kann. Ich muß Menschen lieben, ich muß

Menschen trauen, ich muß Menschen danken, ich muß Menschen gehor-

370

samen, ehe ich mich dahin erheben kann, Gott zu lieben, Gott zu dan•

ken, Gott zu vertrauen und Gott zu gehorsamen: „denn wer seinen Bru•

der nicht liebt, den er sieht, wie will der seinen Vater im Himmel lieben,

den er nicht sieht?"

Ich frage mich also: Wie komme ich dahin, Menschen zu lieben, Men•

schen zu trauen, Menschen zu danken, Menschen zu gehorsamen? - Wie

kommen die Gefühle, auf denen Menschenliebe, Menschendank und

Menschenvertrauen wesentlich ruhen, und die Fertigkeiten, durch wel•

che sich der menschliche Gehorsam bildet, in meine Natur? - und ich

finde, daß sie hauptsächlich von dem Verhältnis ausgehen, das zwischen

dem unmündigen Kinde und seiner Mutter statthat. -

Die Mutter muß, sie kann nicht anders, sie wird von der Kraft eines

ganz sinnlichen Instinktes dazu genötiget - das Kind pflegen, nähren,

es sicherstellen und es erfreuen. Sie tut es, sie befriediget seine Bedürf•

nisse, sie entfernt von ihm, was ihm unangenehm ist, sie kommt seiner

Unbehilflichkeit zu Hilfe - das Kind ist versorgt, es ist erfreut, der

Keim der Liebe ist in ihm entfaltet.

Jetzt steht ein Gegenstand, den es noch nie sah, vor seinen Augen, es

staunt, es fürchtet, es weint; die Mutter drückt es fester an ihre Brust, sie

tändelt mit ihm, sie zerstreut es, sein Weinen nimmt ab, aber seine

Augen bleiben gleichwohl noch lange naß; der Gegenstand erscheint wie•

der - die Mutter nimmt es wieder in den schützenden Arm und lachet

ihm wieder - jetzt weint es nicht mehr, es erwidert das Lächeln der

Mutter mit heiterm, unumwölcktem Auge - der Keim des Vertrauens

ist in ihm entfaltet.

Die Mutter eilt bei jedem Bedürfnis zu seiner Wiege; sie ist in der Stunde

des Hungers da, sie hat es in der Stunde des Durstes getränkt; wenn es

ihren Fußtritt hörte, so schwieg es; wenn es sie sieht, so streckt es die

Hand aus, sein Auge strahlt an ihrer Brust, es ist gesättigt, Mutter und

Sattwerden ist ihm ein und eben derselbe Gedanke -es dankt.

Die Keime der Liebe, des Vertrauens, des Dankes erweitern sich bald.

Das Kind kennt den Fußtritt der Mutter, es lächelt ihrem Schatten; wer

ihr gleichsieht, den liebt es; ein Geschöpf, das der Mutter gleichsieht, ist

ihm ein gutes Geschöpf. Es lächelt der Gestalt seiner Mutter, es lächelt

der Menschengestalt; wer der Mutter lieb ist, der ist ihm auch lieb; wer

der Mutter in die Arme fällt, dem fällt es auch in die Arme; wen die

Mutter küßt, den küßt es auch . Der Keim der Menschenliebe, der Keim

der Bruderliebe ist in ihm entfaltet.

Der Gehorsam ist in seinem Ursprunge eine Fertigkeit, deren Triebräder

den ersten Neigungen der sinnlichen Natur entgegenstehen. Seine Bil•

dung ruht auf Kunst. Er ist nicht eine einfache Folge des reinen In-

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stinkts, aber er hangt mit ihm innig zusammen. Seine erste Ausbildung

ist bestimmt instinktartig. So wie die Liebe Bedürfnis, dem Dank

Gewährung, dem Vertrauen Besorgnis vorhergeht, so geht auch dem

Gehorsam eine stürmische Begierde vorher. Das Kind schreit, ehe es

wartet, es ist ungeduldig, ehe es gehorcht; die Geduld entfaltet sich vor

dem Gehorsam, es wird eigentlich nur durch die Geduld gehorsam; die

ersten Fertigkeiten dieser Tugend sind bloß leidend, sie entspringen

hauptsächlich durch das Gefühl der harten Notwendigkeit. Aber auch

dieses entwickelt sich zuerst auf dem Schoße der Mutter - das Kind

muß warten, bis sie ihm die Brust öffnet, es muß warten, bis sie es auf•

nimmt. Viel später entwickelt sich in ihm der tätige Gehorsam, und noch

viel später das wirkliche Bewußtsein, daß es ihm gut sei, der Mutter zu

gehorchen.

Die Entwicklung des Menschengeschlechts gehet von einer starken, ge•

waltsamen Begierde nach Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse aus. Die

Mutterbrust stellet den ersten Sturm sinnlicher Begierden und erzeugt

Liebe, bald darauf entfaltet sich Furcht; der Mutterarm stillet die

Furcht; diese Handlungsweise erzeuget die Vereinigung der Gefühle der

Liebe und des Vertrauens und entfaltet die ersten Keime des Dankes.

Die Natur zeigt sich unbiegsam gegen das stürmende Kind - es schlägt

auf Holz und Steine, die Natur bleibt unbiegsam, und das Kind schlägt

nicht mehr auf Holz und Steine. Jetzt ist die Mutter unbiegsam gegen

die Unordnungen seiner Begierden; es tobet und schreit - sie ist forthin

unbiegsam - es schreit nicht mehr, es gewöhnt sich, seinen Willen dem

ihrigen zu unterwerfen - die ersten Keime der Geduld, die ersten

Keime des Gehorsams sind entfaltet.

Gehorsam und Liebe, Dank und Vertrauen vereiniget, entfalten den er•

sten Keim des Gewissens, den ersten leichten Schatten des Gefühls, daß

es nicht recht sei, gegen die liebende Mutter zu toben - den ersten

leichten Schatten des Gefühls, daß die Mutter nicht allein um seinetwil•

len in der Welt sei; den ersten Schatten des Gefühls, daß nicht alles um

seinetwillen in der Welt sei; und mit ihm entkeimt noch das zweite Ge•

fühl, daß auch es selbst nicht um seinetwillen allein in der Welt sei -

der erste Schatten der Pf licht und des Rechts ist an seinem Entkeimen.

Dieses sind die ersten Grundzüge der sittlichen Selbstentwicklung, wel•

che das Naturverhältnis zwischen dem Säugling und seiner Mutter ent•

faltet. In ihnen liegt aber auch ganz und in seinem ganzen Umfange das

Wesen des sinnlichen Keims von derjenigen Gemütsstimmung, welche

der menschlichen Anhänglichkeit an den Urheber unsrer Natur eigen ist;

das heißt, der Keim aller Gefühle der Anhänglichkeit an Gott durch den

Glauben ist in seinem Wesen der nämliche Keim, welcher die Anhäng-

l chke t des Unmündigen an seine Mutter erzeugte. Auch ist die Art, wie

sich diese Gefühle entfalten, auf beiden Wegen eine und ebendieselbe.

Auf beiden Wegen hört das unmündige Kind - glaubt und folget, aber

es weiß in diesem Zeitpunkt in beiden Rücksichten nicht, was es glaubt

und was es tut. Indessen fangen die ersten Gründe seines Glaubens und

seines Tuns in diesem Zeitpunkt bald an zu schwinden. Die entkeimende

Selbstkraft macht jetzt das Kind die Hand der Mutter verlassen, es

fängt an, sich selbst zu fühlen, und es entfaltet sich in seiner Brust ein

stilles Ahnen: ich bedarf der Mutter nicht mehr. Diese lieset den kei•

menden Gedanken in seinen Augen, sie drückt ihr Geliebtes fester als je

an ihr Herz und sagt ihm mit einer Stimme, die es noch nie hörte: Kind!

Es ist ein Gott, dessen du bedarfst, wenn du meiner nicht mehr bedarfst

es ist ein Gott, der dich in seine Arme nimmt, wenn ich dich nicht meh;

zu schützen vermag; es ist ein Gott, der dir Glück und Freuden bereitet,

wenn ich dir nicht mehr Glück und Freuden zu bereiten vermag - dann

wallet im Busen des Kindes ein unaussprechliches Etwas, es wallet im

Busen des Kindes ein heiliges Wesen, es wallet im Busen des Kindes eine

Glaubensneigung, die es über sich selbst erhebt; es freut sich des Namens

seines Gottes, sobald die Mutter ihn spricht. Die Gefühle der

Liebe, des Dankes, des Vertrauens, die sich an ihrer Brust entfaltet hat•

ten, erweitern sich und umfassen von nun an Gott wie den Vater, Gott

wie die Mutter. Die Fertigkeiten des Gehorsams erhalten einen weitern

Spielraum; - das Kind, das von nun an das Auge Gottes glaubt wie an

das Auge der Mutter, tut jetzt um Gottes Willen recht, wie es bisher um

der Mutter willen recht tat.

Hier bei diesem ersten Versuche der Mutterunschuld und des Mutter•

herzens, das erste Fühlen der Selbstkraft durch die Neigung des Glaubens

an Gott mit den eben entwickelten Gefühlen der Sittlichkeit zu vereini•

gen, öffnen sich die Fundamentalgesichtspunkte, auf welche Unterricht

und Erziehung wesentlich ihr Auge hinwerfen müssen, wenn sie unsre

Veredlung mit Sicherheit erzielen wollen.

Gleichwie das erste Entkeimen der Liebe, des Dankes, des Vertrauens

und des Gehorsams eine bloße Folge des Zusammentreffens instinktarti•

ger Gefühle zwischen Mutter und Kind war, so ist jetzt das weitere Ent•

falten dieser entkeimten Gefühle eine hohe menschliche Kunst, aber eine

Kunst, deren Faden sich sogleich unter deinen Händen verliert, wenn du

die Anfangspunkte, von denen ihr feines Gewebe ausgeht, auch nur

einen Augenblick aus den Augen verlierst; die Gefahr dieses Verliere:ns

ist für dein Kind groß und kommt frühe; es lallet den Mutternamen, es

liebet, es danket, es trauet, es folgt. Es lallet den Namen Gottes, es lie•

bet, es danket, es trauet, es folget. Aber die Beweggründe des Dankes,

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der Liebe, des Vertrauens schwinden beim ersten Entkeimen - es bedarf

der Mutter nicht mehr; die Welt, die dasselbe jetzt umgibt, ruft ihm mit

dem ganzen Sinnenreiz ihrer neuen Erscheinung zu: du bist jetzt mein.

Das Kind häret die Stimme der neuen Erscheinung, es muß. Der Instinkt

des Unmündigen ist in ihm erloschen, der Instinkt der wachsenden

Kräfte nimmt seinen Platz ein, und der Keim der Sittlichkeit, insofern

er von Gefühlen, die der Unmündigkeit eigen sind, ausgeht, verödet sich

plötzlich, und er muß sich veröden, wenn in diesem Augenblicke nie•

mand das erste Schlagen der höhern Gefühle seiner sittlichen Natur wie

den Faden des Lebens an die goldne Spindel der Schöpfung ankettet.

Mutter, Mutter! Die Welt beginnt jetzt dein Kind von deinem Herzen

zu trennen, und wenn in diesem Augenblicke niemand die Gefühle seiner

edlern Natur ihm an die neue Erscheinung der Sinnenwelt ankettet, so

ist es geschehen, Mutter! Mutter! Dein Kind ist deinem Herzen entris•

sen; die neue Welt wird ihm Mutter, die neue Welt wird ihm Gott. Sin•

nengenuß w.ird ihm Gott. Eigengewalt wird ihm Gott.

Mutter! Mutter! Es hat dich, es hat Gott, es hat sich selbst verloren, der

Docht der Liebe ist in ihm erloschen; der Keim der Selbstachtung ist in

ihm erstorben; es geht dem Verderben eines unbedingten Strebens nach

Sinnengenuß entgegen.

Menschheit! Menschheit! Hier beim Übergang der hinschwindenden Un•

mündigkeitsgefühle zum ersten Fühlen der von der Mutter unabhangen•

den Reize der Welt; - hier, wo der Boden, dem die edleren Gefühle

unserer Natur entkeimen; das erstemal unter den Füßen des Kindes zu

weichen anfängt; hier, wo die Mutter beginnt, ihrem Kinde das nicht

mehr zu sein, was sie ihm vorher war, und dann im Gegenteil der Keim

des Vertrauens auf die neu belebte Erscheinung der Welt sich in ihm ent•

faltet und der Reiz dieser neuen Erscheinung das Vert auen auf die

Mutter, die ihm nicht mehr ist, was sie ihm vorher war, und mit ihm das

Vertrauen auf den ungesehenen und ungekannten Gott zu ersticken und

zu verschlingen beginnt, wie das wilde Gewebe harter, sich tief ineinan•

derschlingender Wurzeln des Unkrauts das feinere Wurzelgewebe der

edelsten Pflanzen erstickt und verschlingt - Menschheit! Menschheit!

Hier in dem Zeitpunkt des Voneinanderscheidem der Gefühle des Ver•

trauens auf Mutter und auf Gott und derjenigen des Vertrauens auf die

neue Erscheinung der Welt und alles, was darinnen ist: hier an diesem

Scheidewege solltest du deine ganze Kunst und deine ganze Kraft an•

wenden, die Gefühle des Dankes, der Liebe, des Vertrauens und des Ge•

horsams in deinem K nde re n zu erhalten.

Gott ist in diesen Gefühlen, und die ganze Kraft deines sittlichen

Lebens hanget innig mit der Erhaltung derselben zusammen.

374

Menschheit! Deine Kunst sollte alles tun, beim Stillstehen der physischen

Ursachen, aus welchen diese Gefühle bei dem unmündigen Kinde ent•

keimt sind, neue Belebungsmittel derselben zur Hand zu bringen und die

Reize der neuen Erscheinung der Welt deinem wachsenden Kinde nicht

anders als in Verbindung mit diesen Gefühlen vor die Sinne kom en zu

lassen.

Es ist hier, wo du es das erstemal nicht der Natur anvertrauen sondern

alles tun mußt, die Leitung desselben ihrer Blindheit aus der Hand zu

reißen und in die Hand von Maßregeln und Kräften zu legen, die die

Erfahrung von Jahrtausenden angegeben hat. Die Welt, die dem Kinde

jetzt vor seinen Augen erscheint, ist nicht Gottes erste Schöpfung; es ist

eine Welt, die beides, für die Unschuld seines Sinnesgenusses und für die

Gefühle seiner innern Natur, gleich verdorben ist, eine Welt voll Krieg

für die Mittel der Selbstsucht, voll Widersinnigkeit, voll Gewalt, voll

Anmaßung, Lug und Trug.

Nicht Gottes erste Schöpfung, sondern diese Welt locket dein Kind zum

Wellentanz des wirbelnden Schlundes, in dessen Abgründe Lieblosigkeit

und sittli her Tod hausen. - Nicht Gottes Schöpfung, sondern der

Zwang und die Kunst ihres eigenen Verderbens ist das, was diese Welt

deinem Kinde vor Augen stellt. -

Armes Kind! Dein Wohnzimmer ist deine Welt, aber dein Vater ist an

seine Werkstatt gebunden, deine Mutter hat heute Verdruß, morgen Be•

such, übermorgen ihre Launen; du hast Langeweile; du frägst, -deine

Magd antwortet dir nicht; du willst auf die Straße, du darfst nicht; jetzt

reißest du dich mit deiner Schwester um Spielzeug - armes Kind, welch

ein elendes, herzloses und herzverderbendes Ding ist deine Welt; aber ist

sie dir etwa mehr, wenn du im goldgezierten Wagen unter Schattenbäu•

men umherfährst; deine Führerin betrügt deine Mutter, du leidest weni•

ger, aber du wirst schlechter als die Leidenden alle. Was hast du gewon•

nen? Deine Welt ist dir noch mehr zur Last als den Leidenden allen.

Diese Welt ist in das Verderben ihrer unnatürlichen Kunst und ihres un•

natürlichen Zwanges so eingewiegt, daß sie für die Mittel, Reinheit des

Herzens in der Brust des Menschen zu erhalten, keinen Sinn mehr hat

und im Gegenteil die Unschuld unsers Geschlechtes in dem mißlichsten

Augenblicke wie das herzloseste Nachweib ihr Stiefkind einer Sorglosig•

keit preisgibt, die in hundert Fällen gegen einen über das Scheitern der

letzten Zwecke der menschlichen Veredlung entscheidet und entscheiden

muß, weil die neue Erscheinung der Welt dem Kinde in diesem Zeit

punkte ganz ohne ein Gegengewicht für das Einseitige und das Einseitig•

reizende ihrer sinnlichen Eindrücke vor die Augen gestellt wird und also

ihre Vorstellung, beides durch ihre Einseitigkeit und durch ihre Lebhaf-

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tigkeit, bei demselben ein entscheidendes Übergewicht über den Ein•

druck der Erfahrungen und Gefühle, welche der geistigen und sittlichen

Ausbildung unseres Geschlechtes · zugrunde liegen, erhaltet; wodurch

denn auch die Bahn seiner Selbstsucht und seiner Entwürdigung von nun

an einen unermeßlichen und unermeßlichen belebten Spielraum erhält;

hingegen die Gemütsstimmung, auf deren sinnlicher Anbahnung die vor•

züglichsten Kräfte seiner Sittlichkeit und seiner Erleuchtung beruhen,

sich ebenso verlieren, die an sich enge Pforte seiner Sittlichkeit gleichsam

verrammelt werden und die ganze Sinnlichkeit seiner Natur eine Rich•

tung nehmen muß, die die Bahn der Vernunf t von derjenigen der Liebe,

die Ausbildung des Geistes von der Glaubensneigung an Gott trennt,

eine m hr oder weniger feine Selbstsucht zum einzigen Treibrad seiner

Kraftanwendung macht und dadurch über die Folgen seiner Ausbildung

zu seinem eigenen Verderben entscheidet .

Es ist unbegreiflich, daß die Menschheit diese allgemeine Quelle ihres

Verderbens nicht kennt; unbegreiflich, daß es nicht die allgemeine Ange•

legenheit ihrer Kunst ist, dieselbe zu stopfen und die Erziehung unseres

Geschlechtes Grundsätzen zu unterwerfen , die das Werk Gottes, das die

Gefühle der Liebe, des Dankes und des Vertrauens schon im Unmündi•

gen entfaltet, nicht zerstören, sondern dahin wirken mußten, die von

Gott selbst in unsere Natur gelegten Vereinigungsmittel unsrer geistigen

und sittlichen Veredlung in diesem, beide gefährdenden Zeitpunkte vor•

züglich zu pflegen und Unterricht und Erziehung allgemein einerseits

mit den Gesetzen des physischen Mechanismus, nach welchen sich unser

Geist von dunkeln Anschauungen zu deutlichen Begriffen erhebt, ander•

seits mit den Gefühlen meiner innern Natur , durch deren allmähliche

Entfaltung mein Geist sich zu Anerkennung und Verehrung des sitt•

lichen Gesetzes emporhebt, in Übereinstimmung zu bringen. Es ist unbe•

greiflich, daß die Menschheit sich nicht dahin erhebt, eine lückenlose

Stufenfolge aller Entwicklungsmittel meines Geistes und meiner Gefühle

zu eröffnen, deren wesentlicher Zweck dieser sein müßte, die Vorteile

des Unterrichtes und seines Mechanismus auf die Erhaltung der sitt•

lichen Vollkommenheit zu bauen, die Selbstsucht der Vernunft durch die

Erhaltung der Reinheit des Herzens vor den Verirrungen ihres einseiti•

gen Verderbens zu bewahren und überall die sinnlichen Eindrücke mei•

ner Überzeugung, meine Begierlichkeit meinem Wohlwollen und mein

Wohlwollen meinem berichtigten Willen unterzuordnen. Di e Urs cbe.tt „ J;.e J..i e,ge U.nt ero.t"d.n u.ng e.r1.ejschen:o J;egen. f:;ef ;n me ner

Ni.tur. So wie meine innlichen Kräfte sich ausbilden, so muß ihr Obergewicht vermöge der wesentlichen Bedürfnisse meiner Veredlung

wieder verschwinden, das heißt ihre Unterordnung unter ein höheres Ge-

setz muß eintreten. Aber ebenso muß auch jede Stufe meiner Entwick•

lung vollendet sein, ehe der Fall ihrer Unterordnung unter höhere

Zwecke eintreten kann, und diese Unterordnung des Vollendeten und

das zu Vollendende fordert ebenso vor allem auch reine Festhaltung der

Anfangspunkte aller Erkenntnisse und die bestimmteste Lückenlosigkeit

im allmählichen Fortschritt von diesen·Anfangspunkten zum letzten zu

vollendenden Zweck. Das erste Gesetz dieser Lückenlosigkeit aber ist

dieses: der erste Unterricht des Kindes sei nie die Sache des Kopfes, er

sei nie die Sache der Vernunft - er sei ewig die Sache der Sinne, er sei

ewig die Sache des Herzens, die Sache der Mutter. ...

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Herbart

1. Pädagogik als Wissenschaft

a. Was man wolle, indem man erzieht und Erziehung fordert, das rich-

tet sich nach dem Gesichtskreise, den man zur Sache mitbringt.

Die meisten, welche erziehen, haben vorher ganz unterlassen, sich für

dies Geschäft einen eignen Gesichtskreis zu bilden. Er entsteht ihnen

während der Arbeit allmählich; er setzt sich ihnen zusammen aus ihrer

Eigentümlichkeit und aus der Individualität und den Umgeb ngen es

2ögl ngs. Haben sie Erfindungskraft, so nutzen sie alles, was sie vorfm•

Ö n um dll.rll.us Aufregungen ·und Beschäftigungen für den Gegenstand ihre Sorgfalt zu bereiten; und haben sie Vorsicht, so sondern sie das ab,

was der Gesundheit, der Gutmütigkeit und den Manieren schaden

392

könnte. So wächst ein Knabe heran, der sich versucht hat in allem, was

nicht gefährlich ist, der gewandt ist im Bedenken und Behandeln des

Alltäglichen, der alle Gefühle hat, die ihm der enge Kreis, in dem er lebt,

einflößen konnte. - Ist er nur wirklich so herangewachsen, so darf man

Glück dazu wünschen. Aber die Erzieher hören nicht auf zu klagen,

wieviel ihnen die Umstände verderben, die Bedienten, Verwandten, Ge•

spielen, der Geschlechtstrieb und die Univ.ersität! Natürlich genug, wenn

da, wo mehr der Zufall als menschliche Kunst die geistige Diät be•

stimmte, bei der oft so magern Kost nicht immer eine robuste Gesund•

heit hervorblüht, die allenfalls dem schlimmen Wetter trotzen könnte ....

Freilich, was hierin wahr sei oder nicht, darüber spricht jeder nach sei•

ner Erfahrung. Ich spreche nach meiner, andre nach ihrer. Wollten wir

nur sämtlich bedenken, dass jeder nur erfährt, was er versucht! Ein

neunzigjähriger Dorfschulmeister hat die Erfahrung seines neunzigjähri•

gen Schlendrians; er hat das Gefühl seiner langen Mühe, aber hat er

auch die Kritik seiner Leistungen und seiner Methode? - Unsern neuem

Pädagogen ist vieles Neue gelungen; sie haben erfahren, daß ihnen der

Dank der Menschheit entgegenkam, und sie dürfen dessen innig froh

sein. Ob sie aber aus ihrer Erfahrung bestimmen dürfen, was alles durch

Erziehung möglich sei, was alles mit Kindern gelingen könne?

Möchten diejenigen, welche die Erziehung so gern bloß auf Erfahrung

bauen wollen, d ch einmal aufmerksam hinüberblicken auf andre Erfah•

rungswissenschaften; möchten sie bei der Physik, bei der Chemie sich zu

erkundigen würdigen, was alles dazu gehört, um nur einen einzigen

1 . Lehrsatz im Felde der Empirie soweit festzustellen, wie es in diesem

i Felde möglich ist! Erfahren würden sie da, daß man aus einer Erfahrung nichts lernt und aus zerstreuten Beobachtungen ebensowenig; daß man

vielmehr denselben Versuch mit zwanzig Abstufungen zwanzigmal wie•

derholen muß, ehe er ein Resultat gibt, das nun noch die entgegengesetz•

ten Theorien jede nach ihrer Art auslegen. Erfahren würden sie da, daß

man nicht eher von Erfahrung reden darf, bis der Versuch geendigt ist,

bis man vor allen Dingen die Rückstände genau geprüft, genau gewogen

hat. Der Rückstand der pädagogischen Experimente sind die Fehler des

Zöglings im Mannesalter. Der Zeitraum für ein einziges dieser Experi•

mente ist also aufs wenigste ein halbes Menschenleben! Wann denn wohl

ist man ein erfahrener Erzieher? Und aus wievielen Erfahrungen mit

wievielen Abänderungen besteht die Erfahru,ng eines jeden? Wie unend•

lich mehr erfährt der empirische Arzt, und seit wieviel Jahrhunderten

sind für ihn die Erfahrungen von großen Männern aufgezeichnet! Den•

noch ist die Medizin so schwach, daß sie gerade der lockere Boden

wurde, in welchem die neuesten Philosopheme jetzt üppig wuchern.

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Soll es etwa der Pädagogik bald ebenso gehen? Soll auch sie der Spiel•

ball der Sekten werden, die, selbst ein Spiel der Zeit, in ihrem Schwunge

längst alles Hohe mit sich fortrissen und fast nur die scheinbar niedrige

Welt der Kinder bisher wenig berührten? Schon ist es dahin gekommen,

daß den besten Köpfen unter den jüngern Erziehern, die sich um Philo•

sophie bekümmert haben und die wohl merken, man dürfe beim Erzie•

hen das Denken nicht einstellen, nichts natürlicher sein kann, als die

ganze Anwendbarkeit oder Biegsamkeit einer in der Tat sehr geschmei•

digen Weisheit an der Erziehung zu erproben, um ihre Anvertrauten a

priori zu konstruieren, sthenisch zu bessern, mystisch zu lehren und,

wenn die Geduld reißt, als unfähig der Zubereitung zur Initiation abzu•

weisen. Die Abgewiesenen werden dann freilich nicht mehr als dieselben

frischen Naturen in andre - und in welche! - Hände kommen.

Es dürfte wohl besser sein, wenn die Pädagogik sich so genau als mög•

lich auf ihre einheimischen Begriffe besinnen und ein selbständiges Den•

ken mehr kultivieren möchte, wodurch sie zum Mittelpunkte eines For•

schungskreises würde und nicht mehr Gefahr liefe, als entfernte eroberte

Provinz von einem Fremden aus regiert zu werden. Nur wenn sich jede

Wissenschaft auf ihre Weise zu orientieren sucht, und zwar mit gleicher

Kraft wie ihre Nachbarinnen, kann ein wohltätiger Verkehr unter allen

entstehen. Der Philosophie selbst muß es lieb sein, wenn ihr die andern

• denkend entgegenkommen, und - zwar nicht die Philosophie - aber

das heutige philosophische Publikum scheint es sehr zu bedürfen, daß

ihm mehrere und verschiedne Standpunkte dargeboten werden, von de•

nen aus es sich nach allen Seiten umsehen könne.

Vom Erzieher habe ich Wissenschaft und Denkkraft gefordert. Mag

Wissenschaft andern eine Brille sein, mir ist sie ein Auge, und zwar das

beste Auge, was Menschen haben, um ihre Angelegenheiten zu betrach•

ten. Sind nicht alle Wissenschaften fehlerfrei in ihren Lehren, so sind sie

ebendarum auch nicht mit sich einig; das Unrichtige verrät sich, oder

man lernt wenigstens Vorsicht in den streitigen Punkten. Hingegen wer

sich ohne Wissenschaft für gescheut hält, hegt gleich große und größere

Fehler in seinen Ansichten, ohne es zu fühlen und vielleicht ohne es füh•

len zu lassen; denn die Berührungsstellen mit der Welt sind abgeschlif•

fen. Ja die Fehler der Wissenschaften sind ursprünglich Fehler der Men•

schen, nur der vorzüglichem Köpfe.

Die erste, wiewohl bei weitem nicht die vollständige Wissenschaft des Erziehers würde eine Psycholo 0ie sein, in welcher die gesamte Möglich•

keit menschlicher Regungen a priori verzeichnet wäre. Ich glaube die Möglichkeit und die Schwierigkeit einer solchen Wissenschaft zu ken•

nen: es wird lange währen, ehe wir sie besitzen, viel länger, ehe wir sie

von den Erziehern fordern können. Niemals aber würde sie die Beob•

achtung des Zöglings vertreten können; das Individuum kann nur ge•

funden, nicht deduziert werden. Konstruktion des Zöglings a priori ist

daher an sich ein schiefer Ausdruck und für jetzt ein leerer Begriff, den

die Pädagogik noch lange nicht einlassen darf.

Desto notwendiger ist das, wovon ich ausging, zu wissen nämlich, was

man will, indem man die Erziehung anfängt! Man sieht, was man sucht:

Psychologischen Blick hat jeder gute Kopf, insofern als ihm daran gele•

gen ist, menschliche Gemüter zu durchschauen. Woran dem Erzieher ge•

legen sein soll, das muß ihm wie eine Landkarte vorliegen oder womög•

lich wie der Grundriß einer wohlgebauten Stadt, wo die ähnlichen Rich•

tungen einander gleichförmig durchschneiden und wo das Auge sich

auch ohne Vorübungen von selbst orientiert. Eine solche Landkarte biete

ich hier dar für die Unerfahrnen, die zu wissen wünschen, welcherlei Er•

fahrungen sie aufsuchen und bereiten sollen. Mit welcher Absicht der

Erzieher sein . Werk angreifen soll, diese praktische Überlegung, allen•

falls vorläufig detailliert bis zu den Maßregeln, die wir nach unsern bis•

herigen Einsichten zu erwählen haben, ist mir die erste Hälfte der Päd•

agogik. Gegenüber sollte eine zweite stehen, in welcher die Möglichkeit

der Erziehung theoretisch erklärt und als nach der Wandelbarkeit der

Umstände begrenzt dargestellt würde. Aber eine solche zweite Hälfte ist

bis jetzt ein frommer Wunsch sowohl wie die Psychologie, worauf sie

fußen müßte. Die erste Hälfte gilt allgemein für das Ganze, und ich

muß mir wohl gefallen lassen, diesem Sprachgebrauche zu folgen.

Pädagogik ist die Wissenschaft, deren der Erzieher für sich bedarf. Aber

er soll auch Wissenschaft besitzen zum Mitteilen. Und ich gestehe gleich

hier, keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unterricht, sowie ich

rückwärts, in dieser Schrift wenigstens, keinen Unterricht anerkenne,

der nicht erzieht. Welche Künste und Geschicklichkeiten ein junger

Mensch um des bloßen Vorteils willen von irgendeinem Lehrmeister ler•

nen möge, ist dem Erzieher an sich ebenso gleichgültig, als welche Farbe

er zum Kleide wähle. Aber wie sein Gedankenkreis sich bestimme, das

ist dem Erzieher alles; denn aus Gedanken werden Empfindungen und

daraus Grundsätze und Handlungsweisen. Mit dieser Verkettung alles

und jedes in Beziehung zu denken, was man dem Zögling darreichen,

was man in sein Gemüt niederlegen könnte, zu untersuchen, wie man es

aneinanderfügen, also wie man es aufeinanderfolgen lassen müsse und

wie es wieder zur Stütze werden könne für das künftig Folgende: dies gibt eine unendliche Zahl von Aufgaben der Behandlung einzelner Ge• genstände und dem Erzieher unermeßlichen Stoff zum unaufhörlichen

überdenken und Durchmustern aller ihm zugänglichen Kenntnisse und

394 395

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Schriften sowie aller anhaltend fortzusetzenden Beschäftigungen und

Übungen. Wir bedürften in dieser Rücksicht eine Menge pädagogischer

Monographien (Anleitungen zum Gebrauch irgendeines einzelnen Bil•

dungsmittels), die aber sämtlich aufs strengste nach einem Plane verfaßt

sein müßten. Ein Beispiel einer solchen Monographie suchte ich durch

mein "ABC der Anschauung" zu geben, das auf jeden Fall bis jetzt den

Fehler hat, allein zu stehen, sich an nichts anlehnen und nichts Neues

stützen zu können . Der größeren Gegenstände für ähnliche Schriften

gibt es genug; man würde das Studium der Botanik, das des Tacitus, die

Lektüre von Shakespeare und so vieles andre als pädagogische Kraft zu

betrachten haben ...

b. § 1. Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zög•

lings.

§ 2. Pädagogik als Wissenschaft hängt ab von der praktischen Philo•

sophie und Psychologie. Jene zeigt das Ziel der Bildung, diese den Weg,

die Mittel und die Hindernisse.

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.1

scheut. ·Das bedeutet, sich von dem Kinde ebenso ganz und einfältig er•

greifen zu lassen, wie dieses selbst vom Dasein ergriffen wird; das Kind

wirklich wie seinesgleichen zu behandeln, d. h. dieselbe Zurückhaltung,

dasselbe Feingefühl und Vertrauen zu zeigen, das man einem Erwach•

senen zeigt. Das bedeutet, das Kind nicht dadurch zu beeinflussen, daß

man das fordert, was man selbst möchte, daß das Kind es sei, sondern es

durch den Eindruck dessen zu beeinflussen, was man selbst ist. Das be•

deutet, dem Kinde nicht mit List oder Gewalt zu begegnen, sondern mit

seinem eigenen Ernst und seiner eigenen Ehrlichkeit.

Rousseau sagt irgendwo: „Alle Erziehung scheitert daran, daß die Natur

weder Eltern zu Erziehern erschafft, noch Kinder, um erzogen zu wer•

den ..." Wie wäre es, wenn man endlich anfinge, dieser Anweisung der Natur zu folgen und einzusehen, daß das größte Geheimnis der Erzie•

i

1. Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes

...Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen,

daß die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das

ist Erziehung ....

Das eigene Wesen des Kindes zu unterdrücken und es mit dem anderer

zu überfüllen, ist noch immer das pädagogische Verbrechen, das auch die

auszeichnet, die laut verkünden: daß die Erziehung nur die eigene indi•

viduelle Natur des Kindes ausbilden solle! ...

Erst wenn man die Erziehung des Kindes auf die Gewißheit gründet,

daß Fehler nicht versöhnt oder ausgelöscht werden können, sondern

immer ihre Folge haben müssen, aber gleichzeitig auf die Gewißheit, daß

sie in einer fortgesetzten Evolution umgewandelt werden können, durch

langsame Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, erst dann wird

die Erziehung anfangen Wissenschaft, Kunst zu werden. Man wird dann

alle Wunderglauben in Bezug auf die Wirkung plötzlicher E,ingriffe

aufgeben. Man wird nach dem Prinzip der Unzerstörbarkeit der Materie

auch auf psychologischem Gebiet handeln und ·niemals glauben, daß eine

Seelenanlage ausgerottet, sondern nur eines von beiden: herabgedrückt

oder zu einem höheren Wert erhoben werden kann....

Es liegt eine tiefe Einsicht in Mme. Stads Worten, daß bloß der, welcher

ttiit: Kinde„n pielen lrn.nn . !2uch imstande ist, sie etwas zu lehren. Selbst

wie da Kind LU werdm1 ist die emc Voraussetzung, um Kinder zu er• ziehen. Aber das schließt keine gespielte Kindlichkeit, kein herablassen •

des Plappern in sich, das das Kind sogleich durchschaut und tief verab-

hung gerade darin verborgen liegt -nicht zu erziehen?!

Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte Verbrechen der

gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind. Dahingegen wird, eine im

äußeren, sowie im inneren Sinne schöne Welt zu schaffen, in der das

Kind w.achsen kann; es sich darin frei bewegen zu fassen, bis es an die ·

unerschütterliche Grenze des Rechts anderer stößt, - das Ziel der zu•

künftigen Erziehung sein. Erst dann werden die Erwachsenen wirklich

einen tiefen Einblick in die Kinderseele, dieses noch fast immer ver•

schlossene Reich, erlangen können. Denn es ist ein natürlicher Selbst•

erhaltungsinstinkt, der das Kind veranlaßt, sein Inneres vor dem Erzieher

zu verschließen, der unzarte Fragen stellt, z. B. woran das Kind denke,

eine Frage, die es fast immer mit einer schwarzen oder einer weißen Un•

wahrheit beantwortet; vor einem Erzieher, der seine Gedanken und Nei•

-gungen zurechtweist oder betastet, der rücksichtslos die feinsten Gefühle

des Kindes verrät oder lächerlich macht, der vor Fremden seine Fehler

verweist oder seine Eigenschaften belobt, ja, das in einer offenen Stunde

gemachte vertrauliche Geständnis eines Kindes in einer anderen zu

Vorwürfen ausnützt! ...

Das Kind hat seine eigene unendliche Welt, um sich darin zurechtzufin•

den, sie zu erobern, sich hineinzuträumen - aber was erfährt es? Hin•

dernisse, Eindringen, Zurechtweisungen den lieben langen Tag. Das

Kind soll immer irgend etwas bleiben lassen, oder etwas anderes tun,

etwas anderes finden, etwas anderes wollen, als was es tut oder findet

oder will; immer wird es nach einer anderen Richtung geschleift, als

nach der sein Sinn weist. Und all dies oft aus purer Zärtlichkeit, aus

Wachsamkeit, aus dem Eifer zu richten, zu raten, zu helfen, das kleine

Menschenmaterial zu einem vollkommenen Exemplar in der Modellserie,

Musterkinder zuzuhauen und zu polieren! ...

Page 32: Esther Gad (ca. 1767 -1833) · PDF file54 55 Oberrabbiners Jonathan Eibenschütz. Zur Zeit d er Abfassung ihrer unten abge• druckten Streitschri ft gegen Joachim

Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen

unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes.

Der Kenntnisdrang, die Selbsttätigkeit und die Beobachtungs• gabe, die die

Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluß der Schulzeit in der Regel

verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen um• gesetzt zu haben.

Das ist das Resultat, wenn die Kinder ungefähr vom sechsten bis zum

achtzehnten Jahre ihr Leben auf Schulbänken damit

. zugebracht haben, Stunde für Stunde, Monat für Monat, Semester für

Semester Kenntnisse zuerst in Teelöffel-, dann in Dessertlöffel- und schließlich in

Eßlöffelportionen einzunehmen, Mixturen, die der Lehrer oft aus Darstellungen

aus vierter oder fünfter Hand zusammengebraut hat.

Und nach der Schule kommt oft eine weitere Studienzeit, in der der ein•

zige Unterschied in der „Methode" darin besteht, daß die Mixtur jetzt mit dem

Schöpflöffel zugemessen wird.

Wenn die Jugend diesem Regime entrinnt, ist die geistige Eßlust und

Verdauungsfähigkeit bei einigen so zerstört worden, daß ihnen für immer die

Fähigkeit fehlt, wirkliche Nahrung aufzunehmen; andere wieder retten sich von

all diesen Unwirklichkeiten auf das Gebiet der Wirklichkeit, indem sie die Bücher

in die Ecke werfen und sich irgend einer Aufgabe des praktischen Lebens

widmen; in beiden Fällen sind die Studienjahre so ziemlich vergeudet. Bei

denen, die weitergehen, sind die Kenntnisse gewöhnlich auf Kosten des

Persönlichen erworben: der An• eignung, des Vermögens der Reflexion, der

Beobachtung, der Phantasie. Und ist es jemandem gelungen, all dies zu

bewahren, so ist es gewöhn• lich auf Kosten der Gründlichkeit der Kenntnisse

geschehen. Eine gerin• gere Intelligenz oder eine geringere Arbeitskraft, oder ein

geringeres An• eignungsvermögen als die Natur ihnen zugedacht, das ist

gewöhnlich das Resultat der zehn, zwölf Schuljahre; und es liegt eine tiefe

Weisheit in dem französischen Witz: Sie sagen, daß Sie nie in die Schule

gegangen sind -und sind doch so stockdumm? ...

Bevor nicht das Phantom der „allgemeinen Bildung" aus den Schulplä• nen und

den Elternköpfen vertrieben ist und die Bildung des Individu• ums die

Wirklichkeit wird, die an ihre Stelle tritt, wird man vergebens Reformpläne

entwerfen.

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