Esther Gad (ca. 1767 -1833) · PDF file54 55 Oberrabbiners Jonathan Eibenschütz. Zur Zeit...
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Esther Gad (ca. 1767 -1833)
,,Als eine zweite Wolstonecraft vertheidigt sie die Fähig• keiten und den Beruf ihres Geschlechts, auch zu höherer Geistesbildung, gegen Campe's Urtheile und Zurückwei• sungen."1
Esther Gad starmnte aus einer vermutlich wohlhabenden jüdischen Familie. Sie
wurde um 1767 als Tochter des ,Fix-Entristen' und späteren Generalprivilegierten
Raphael ben Gad in Breslau geboren;2 ihre Mutter war die Tochter des Hamburger
C.W.0.A. von Schindel: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. 3 Theile in
einem Band. Leipzig 1823 - 1825. Reprint: Hildesheim, New York 1978. l. Teil, S. 104; zit. n. Karin Rudert: Die Wiederentdeckung einer „deutschen Wollstonecraft": Esther Gad Bernard Domeier für Gleichberechtigung der Frauen und Juden, in: Quaderni. Dipartimen•
to de Lingue e Lettere Straniere. Universita di Lecce No. 10 (1988), S. 213. Die meisten der hier versammelten biographischen Informationen sind dem sorgfältig recherchierten . Artikel von Karin Rudert entnommen.
2 Vor der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, die 1812 erfolgte und nur halbherzig ver• wirklicht wurde, war seit 1750 in Preußen ein Generalreglement in Kraft, das, wie seine
Vorgänger, Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Juden erheblich einschränkte, u.a. durch hohe Schutzgelder, durch Leibzölle, Niederlassungs-, Wohn- und Heiratsbeschrän-
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Oberrabbiners Jonathan Eibenschütz. Zur Zeit der Abfassung ihrer unten abge•
druckten Streitschrift gegen Joachim Heinrich Campe, einen der führenden Köpfe
der späten Aufklärung, war sie Ende Zwanzig, strebte aus einer wahrscheinlich
durch die Eltern gestifteten Ehe heraus, hatte zwei Kinder. Ihres hohen Bildungs•
grads ungeachtet war sie berufs- und stellungslos, ganz wie es sich für bürgerliche
Frauen aus gutem Hause geziemte - und offenkundig alles andere als im Einklang
mit ihrer Lebenslage. Die Neudefinition des Verhältnisses von Privatem und Öffent•
lichem, die in vollem Gange war, schien auch bürgerlichen Frauen eine Neudefini•
tion ihrer gesellschaftlichen Rolle, die Anerkennung als Gebildete zu ermöglichen,
und besonders für gebildete Jüdinnen eröffneten sich jetzt erstmals soziale Räume,
die den Ausweg aus der Enge traditionaler, religiös bestimmter Lebenswelten wie•
sen: In Berlin hatten sich Henriette Herz und Rahe! Levin mit ihren Salons solche
neuen sozialen Räume selber geschaffen . Wenn auch in gänzlich veränderter
Gestalt, so rückte hier doch für jüdische Frauen das im traditionellen Judentum
hochgeschätzte Lernen, bis dahin im wesentlichen Männerdomaine, endlich in
greifbare Nähe .
Esther Gad hatte den für höhere Töchter ihrer Zeit bestimmten Privatunterricht
erhalten, unter anderem in Französisch und Italienisch; mit Hilfe ihres älteren Bru•
ders lernte sie außerdem Englisch, später auch Griechisch und Lateinisch. Antike
und moderne Klassiker waren ihr geläufig, und mit den europäischen Philosophen
beschäftigte sie sich eingehend. Die eingeschränkte Existenz der Juden - und ihrer
selbst - wurde zum Anlaß für ihr Debüt als Schriftstellerin; 1791 wandte sie sich
öffentlich gegen die Unterjochung ihrer Glaubensgenossen.
Aus ihrer ersten, 1796 geschiedenen Ehe mit Samuel Bernard entstammten ein 1
Sohn und eine Tochter ; ein weiteres Kind starb im Alter von zwei Jahren. Nach der .1 1
Scheidung lebte sie zunächst in Dresden und wiederum für kurze Zeit in Breslau.
1797 lernte sie Jean Paul kennen, „mit dem sie einen erst 1990 erschienenen, recht
einseitigen Briefwechsel führt: ,Wer einen Schriftsteller liebt, liebt irnrner ohne
Gegenliebe', schrieb sie ihm".3 Um der vorurteilsgeladenen Atmosphäre der
geschiedenen Jüdin gegenüber zu entgehen, siedelte Esther Gad 1799 nach Berlin
über. Seit 1800 kannte sie Henriette Herz und war Gast in ihrem Salon. In Berlin
lernte sie auch ihren zweiten, ,geliebten' Gatten Wilhelm Friedrich Domeier, Leib•
arzt des Herzogs von Sussex, kennen; die Heirat fand 1801 oder 1802 in London
oder in Lissabon statt. 1801, bevor sie Deutschland zusammen mit Domeier verließ,
trat sie der christlichen Kirche bei und nannte sich fortan Lucie. Ihre Werke wurden
weiterhin in Deutschland publiziert; sie selbst kam erst 1822 für einen kurzen
Besuch zurück . Seit 1801 lebte sie als Schriftstellerin in London , Lissabon, auf
kungen sowie strikte Begrenzungen der Kinderzahl. Gemäß dem Reglement von 1750 wurde außerdem zwischen ordentlichen und außerordentlichen Schutzjuden unterschieden. Nur _ wenige privilegierte Familien, - meist solche mit großem Vermögen, waren von den Bestimmungen des Reglements ausgenommen; sie wurden als Generalprivilegierte beze1chnet. -Die Tätigkeitsbezeichnung Fix-Entrist konnte nicht geklärt werden.
3 Barbara Hahn: „Geliebtester Schriftsteller''. Esther Gads Korrespondenz mit Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean-Pau!-GeseUschaft 25 (1990), S. 26.
Malta und schließlich wieder in London, verkehrte mit Walter Scott und Lord
Byron. Mit Rahel Levin Varnhagen, der anderen führenden Saloniere neben Hen•
riette Herz, korrespondierte sie über dreißig Jahre, von 1796 bis 1828. Zu ihren
Schriften gehören Reisebriefe über England und Portugal, eine Sammlung von
Geschichten, Essays und Gedichten.
Es ist anzunehmen, daß die Reisebriefe Mary Wollstonecrafts Esther Gad für ihr
eigenes schriftstellerisches Tun vorbildlich waren. Wollstonecraft gilt als exempla•
risch für jene Schriftstellerinnen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Brief•
form als eine Möglichkeit der Meinungsäußerung nutzten . Mehr als einmal reflek•
tierte Esther Gad in ihren Schriften die Schwierigkeiten weiblicher Autorschaft - so
auch in der Vorrede zu ihrer Kritik (1814) an Germaine de Stae!s „De l'Allema•
gne": ,,Auch ist es mir bei dieser kleinen Schrift gelungen, meinen Nahmen und
mein Geschlecht zu verhehlen. Mich dünkt, das Urtheil der Leser ist unbefangener,
und folglich unpartheiischer, wenn ihnen beide unbekannt sind. Man hat mir die
Ehre erzeigt, sie für das Werk eines Mannes zu halten".4
Der Analyse Ruderts zufolge entspricht Esther Gads in Briefform verfaßte Streit•
schrift gegen Campes „Väterlichen Rath für meine Tochter" in seiner ,,,äußeren'
Form dem gelehrten Brief der Aufklärer (Lessing, Mendelssohn), der auch bei
Esther noch die ,Spuren' der wissenschaftlichen Abhandlung ... a fweist ... Jedoch
weder die [Form] eines gelehrten Briefes noch eines popularphilosophischen Auf•
satzes offenbart die ,innere' Form. Tatsächlich bildet die Briefform lediglich den
Rahmen der Schrift, innerhalb deren das ,Sie' des Briefadressaten vollkornrnen ver•
schwindet und Gad eine scharfe, argumentative Auseinandersetzung mit Campes
Stellung zur weiblichen Gelehrsamkeit und Schriftstellerei führt, somit die Form
einer polemischen Streitschrift benutzt , die sich als revolutionäres Pamphlet ent•
larvt". Esther Gads Brief „dient der aus gesellschaftlicher Beziehung ausgegrenzten
Jüdin als ,Ersatz' des ,intellektuellen Gesprächs', eine ihr lebenswichtige Kommu•
nikationsform, verwandelt sich aber unter ihrer Feder in eine Flugschrift".5
Rudert macht deutlich, daß schon vor Amalia Holst eine ,deutsche Woll•
stonecraft' wirkte: Esther Gad, deren bisher kaum rezipierte, streitbare Auseinan•
dersetzung mit Campe, dem Klassiker des bürgerlichen Frauenbilds, hiermit der
pädagogischen Geschichtsschreibung und erziehungshistorischen Frauenforschung
zugänglich gemacht wird .
(Ingrid Lohmann)
Quellen und weiterführende Literatur:
Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. 1789. Reprint der Ausga•
be Braunschweig 1796. Paderborn 1988; Wollstonecraft, Mary: A Vindication of the
Rights of Women: with Structures on Political and Moral Subjects. London 1792 (Neu•
druck: Verteidigung der Rechte der Frauen. Rettung der Rechte des Weibes. 2 Bde. Mit
einem Vorwort von Berta Rahm. Zürich 1975, 1976)
4 Zit. nach ebd., S. 97.
5 Zit. nach Rudert, Die Wiederentdeckung einer „deutschen Wollstonecraft", S. 228ff.
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Battenberg, Friedrich: Das europäische Zeitalter der Juden . Zur Entwicklung einer
Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas (2 Bde .). Band Il: Von 1650 bis 1945. Darmstadt 1990; Becker-Cantarino, Barbara: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks - und
Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Gnüg,
Hiltrud/ Möhrmann, Renate (Hrsg .): Frauen - Literatur - Geschichte. Schreibende Frau• en .;;om Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 1985, S. 83-103; Blochmann, Elisabeth:
Das „Frauenzimmer" und die „Gelehrsamkeit" . Eine Studie über die Anfänge des Mädchenschulwesens in Deutschland. Heidelberg 1966; Hahn, Barbara: „Geliebtester
Schriftsteller". Esther Gads Korrespondenz mit Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean-Paul• Gesellschaft 25 (1990), S. 7-42; dies.: Domeier, Lucie, in: Dick, Jutta/ Sassenberg, Mari•
na (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek 1993, S. 96-97; Hertz, Deborah: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt am Main 1991; Rudert, Karin : Die Wiederent deckung einer „deutschen Wollstonecraft": Esther Gad Bernard Domeier für Gleichberechtigung der Frauen und Juden, in: Quader•
ni. Dipartimento de Lingue e Lettere Straniere. Universita di Lecce No. 10 (1988), S. 213-261; Schindel, C. WO.A. von: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhun• derts. 3 Theile in einem Band. Leipzig 1823 - 1825. Reprint : Hildesheim, New York
1978, l. Teil; Wilhelmy, Petra: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914). Ber• lin, New York 1989.
Esther Gad: Einige Aeußerungen über Hrn. Kampe'ns Behauptungen, die
weibliche Gelehrsamkeit betreffend .*
(In: Der Kosmopolit. Eine Monathsschrift zur Beförderung wahrer und allgemeiner Huma• nität. Hrsg. von Christian Daniel Voß . Bd. 3. Halle 1798, S. 577-590)
Werthester Freund!
Sie haben mir eine herzliche Freude gemacht durch Thren Vorschlag, Tunen
meine Ideen über meine Lektüren zuweilen mittheilen zu dürfen . Man verdeutlicht
sich selbst manche Gedanken, die uns ausserdem dunkel geblieben wären, wenn
man sich bemüht, sie Andern mitzutheilen. Dies ist ein Vortheil - sollten Sie meine
Irrthümer berichtigen wollen , so wäre es der kleinste. -
* Nachdem obiger Aufsaz längst abgefaßt war (c;r lag schon einige Jahre in meinem Pulte) erfuhr ich, daß Mrs. Wolstonecraft über denselben Gegenstand geschrieben, und diese Materie mit vieler Energie auseinandergesezt habe; daß sie aber solche erschöpft habe, daran zweifle ich, sonst hätte ich meinen Aufsaz nicht dmkken lassen. Wegen einer für mich psychologisch nicht zu erklärenden Idee habe ich noch bis diese Stunde ienes so berühmte Werk nicht gelesen. Vielleicht fürchtete ich meine Unbefangenheit zu verlieren, wenn ich meine Gründe dadurch unterstüzte, daß ich die Ideen eines andern Weibes in mich hineintrüge. Aus sich selbst muß man schöpfen, die Wahrheit muß man aus sich her•
aus tragen - wenn das Innere davon erfüllt ist. Uebrigens glaube ich mich nicht entschuldi• gen zu dürfen, daß ich über dieselbe Materie etwas dmkken lasse, worüber schon eine Andere geschrieben hat. Das Recht des halben Menschengeschlechts ist der höchste Gegenstand der Moral, der von allen Seiten betrachtet werden muß, um es endlich von der rechten zu werden, und dazu trägt nichts so zwekmäßig bei, als die mannigfaltige Darstel• lung desselben .durch verschiedene Individuen .
Ich habe vor einigen Jahren Campe's väterlichen Rath für seine Tochter gelesen,
manches mir auffallende bemerkt, und es damals, ganz ohne Absicht es iemand
lesen zu lassen, niedergeschrieben, und so will ich seine Meinung über weibliche
Gelehrsamkeit, und meine Bemerkungen darüber zum ersten Gegenstand unsres lit•
terarischen Briefwechsels machen. Glauben Sie aber keinesweges, daß ich aus
irgend einer Anmassung eben diesen Gegenstand wählte.
Wenn es nicht nach stolzer Demuth schmekte, und wenn nicht der'raffinirte Ego•
ismus so oft die Masque der Resignation annähme, daß man fast geneigt ist, iedes
wahre Gesicht auch für eine Masque, und iedes bescheidene Urtheil über sich
selbst, das sich auf eine richtige Selbstkenntniß gründet, für verstekte Pretension zu
halten, so würde ich sagen: alles was ich weiß, ist, daß ich nichts weiß. Und es ist .
nicht leicht, dies zu wissen; die Männer sollten die Weiber nicht davon abhalten, es
zu erlernen. - Der Weg zu dieser Kenntniß führt durch eine Menge Anderer; nur der
gebildete unt_errichtete Mensch fühlt den Abgang dessen, was er aicht weiß. Die
Ignoranz ist stolz, gnügsam mit sich selbst zufrieden - und wenn die meisten Wei•
ber so sind, so ist es die Schuld der Männer.
So entfernt ich also auch bin, den Bannstrahl wider das Weib zu schleudern, wel•
che, ohne höhere Berufspflichten auf zu opfern, ihr Genie möglichst ausbildete, und
im Fache der Gelehrsamkeit neben dem Manne da stehet: so wenig bilde ich mir
ein, diese ehrenvolle Stufe erklimmt zu haben, oder sie noch erreichen zu können.
Von meiner frühesten Jugend an kollidirten so viele widrige Verhältnisse mit mei-
11e.m .P.1:lrs --E. -- !? tf2i s_e.!J l!!li:l gl1.teLQ.t?, :. eJCdäß.iCh - i;;- L g-;; unterliegen, und größtentheils darauf resigniren mußte. Ich spreche also wahrlich
nicht für mich, sondern für mein Geschlecht.
Herr Campe empfiehlt seiner Tochter, auf das nachdrüklichste, (und hinterher
unserm ganzen Geschlechte,) doch ia keine Gelehrte, oder Schriftstellerin zu wer•
den. Und warum nicht? -
1) Weil eine Frau, wenn sie sich mit eigenen oder fremden Schriftstellerischen
Arbeiten abgiebt, unmöglich an ihren altäglichen Berufspflichten, als Gattin, Mut•
ter, und Hausfrau Geschmak finden kann. Ob uns Herr Campe hiervon einen
Beweis a posteriori geben könnte, ist wohl sehr zu bezweifeln . Denn wenn Kennt•
niffi>e und Gelehrsamkeit dieienige so despotisch beherrschten, die sich ihnen wid•
men, so müßte der Staat, wo oft Gelehrte das Ruder führen, eben so zerfallen als die
Haushaltung eines Privatmanns, dessen Frau sich mit Kenntnissen und Wissen•
schaften abgiebt. Unsere mehresten Gelehrten aber sind Staatsbeamte, als Prediger,
Rechtsgelehrte, u.d.gl.m.; wenn nun der Schritt vom Schreibe pult, in die Gerichts•
stube, auf die Kanzel und zum Krankenbette, täglich von Männern gethan wird;
warum sollte das Weib ihre gelehrten Beschäftigungen nicht eben so willig verlas•
sen, wenn ihre Gegenwart bei den Kindern, in der Küche, oder sonst wo im Haus•
wesen erfordert wird? Und welche Frau von Gefühl, wird nicht willig dem anzie•
hendsten Genusse, wenn es sein muß, entsagen, wenn sie ihren Kindern dadurch
eine angenehme Empfindung verschaffen, oder irgend eine unangenehme erleich•
tern kann? Der Frau wird hier oft in der Erfüllung ihres Berufes, Erhohlung und
Freude, während der Mann nicht selten, mit Chikane und Neid zu kämpfen hat,
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wenn er die unterdrükte Unschuld in ihre Rechte einsezzen, oder dem moralisch
oder phisisch Kranken, Heil und Gesundheit bringen will.
Mit mehrerem Grunde wäre also zu fürchten , daß ein Gelehrter und Schriftstel•
ler, welcher ein Amt hat, es schlecht verwalten müste; denn wenigen werden
unwillkührliche Brodgeschäfte nach freiwilligen Geistesüb ungen schrnekken. Jeder
aber, der sich mütterliche Gefühle nur einigermaßen vorstellen kann, wird mir
zugeben, daß in einem nicht ganz verdorbenen Mutterherzen, we n ihr Künste und
Wissenschaften auch noch so lieb sind, noch immer Raum für die Liebe zu ihren
Kindern übrig bleiben wird. Denn so wie es keine Liebe giebt, die größerer Resi•
gnation fähig, und die so völlig geläutert wäre, von allen_ Rüksichten auf das eigene
Selbst als die Mütterliche, wodurch sie sich zu der rernsten Tugend veredelt, so
giebt s auch keine, die so ihren Lohn mit sich führt als sie, ob si gleich, _wie
gesagt, dieses Motiv nicht einmal dunkel, vor Augen hat. "'."enn _ nu erne F:au 1h e
Kinder liebt und an richtiges Denken gewöhnt ist, so muß sie nut ernem Blikke die
Vortheile üb,ersehen, die ihren Lieblingen daraus erwachsen, wenn sie über ihre phi•
sische und moralische Vervollkommnung unmittelbar wacht, und ihre Gegenwart
auch der Küche und dem sonstigen Hauswesen nicht entzieht. Und willig als der
Mann, welcher durch seinen Beruf nicht so unmittelbar, wie dieFraÜ-;für das Wohl
der Kinder wirken kann, wird sie ihr Studium verlassen, u m ihren Kindern, wenn es
nöthig ist, oder vielmehr ihrem eigenen Herzen ein frohes Opfer zu bringen. So
wird so muß das rechtschaffene Weib, die gute Mutter handeln, sie mag gelehrt,
oder, ungelehrt sein. Ausnahmen, Auswürfe der Natur kommen hier nicht in
Anschlag; denn diese würden ia wohl auch, und wenn sie gar nichts von den neun
reizenden Schwestern des Helikons wüsten, die fadesten Vergnügungen, selbst zum
Fenster heraus zu gaffen, den süßen Mutterpflichten vorziehen. Ich will aber hof •
fen daß es in der wirklichen Welt nicht viele solcher Frauen giebt; nicht mehr, als
es Männer geben mag, die in der Bücherwelt so sehr herum irren, daß sie die wirk•
liche darüber vergessen, und die ihre geistige Bedürfnisse so unmässig befriedigen,
daß ihre armen Familien zuweilen, der dringendsten körperlichen, entbehren müs•
sen. So wenig man nun diese Ausnahmen zur Regel macht, und den ungerechten
Saz daraus abstrahirt: daß ein Gelehrter oder Künstler kein guter Hausvater oder
würdiger Staatsbeamter sein kann; eben so wenig sollte man Gelehrsamkeit und
Hausmütterliche Tugenden für heterogen ausschreien, und iene von diesen, oder
diese von ienen nothwendig ausschließen. Wenn ich mit Antithesen spielen wollte,
so würde ich zu behaupten wagen, daß hausmütterliche Tugenden vielmehr Wissen•
schaften und Künste, und Wissenschaften und Künste wiederum hausmütterliche
Tugenden in sich schliessen müssen; weil ein wahrhaft veredelter Verstand, das
Herz unfehlbar mit veredelt, ob gleich ein wahrhaft edles Herz, einen veredelten
Verstand zuweilen entbehrlich macht.
In dem engen Kreise meiner Bekannten, habe ich fast immer gefunden, daß die
kultivirtesten Frauen, das Interesse ihrer Männer ganz zu dem ihrigen machten, und
daß sie ihren Kindern nicht blos mit affenmäßigem Instinkt, sondern mit einer von
allen Schlakken gereinigten, ächt moralischen Liebe anhiengen. Und was Wunder
auch! Sie kennen ihre Pflichten nicht blos,_ sie erke.nn,eri sie ... Wen.n es mir erlaubt ··- ·· „. ..„. ......,_ ·- . ·
wäre, die häuslichen Tugenden einiger meiner vortreflichen Freundinnen bekannt
zu machen, die die Welt längst als sehr instruirte Frauen, und zum Theil, als Schrift•
stellerinnen kennt, so könnte es niemanden befremden, daß ich mich . von der
Unschädlichkeit weiblicher Gelehrsamkeit a posteriori überzeugt halte; ich sage
von der Unschädlichkeit weiblicher Gelehrsamkeit, in wiefern, oder, ob ich glaube,
daß sie auch nüzlich sein kann, werde ich weiter unten sagen. Unverantwortlich ist
es daher, wenn ein Mann von Herrn Campe's entschiedenen Verdiensten, Meinun•
gen a priori, öffentlich hinwirft, die durch die anerkannte Autorität eines solchen
Mannes, zu Gesezzen gestempelt werden.
2) Führt Herr Campe an, daß unser Körperbau, zu angestrengtem Denken, und zu
einer sizzenden Lebensart, zu schwach sei. Wer weiß aber nicht, daß geistige und
körperliche Kräfte sehr oft im umgekehrten Verhältnisse stehen? Und daß die größ•
ten Denker oft schon von der Geburt an, die schwächsten Körper hatten? Zum Siz•
zen aber sind wir von Kindheit an· sogar mehr gewöhnt als die Männer, da unsere
mehrsten Beschäftigungen sizzend verrichtet werden, und mithin der nachtheilige
Einfluß durch die frühe Gewohnheit eher gemildert wird. Und sollte nicht eben die
unläugbar größere Schwäche unsrer Organisation, unsere intellektuelle Ausbildung
zu einer nothwendigern Bedingung machen? „Der Kranke, sagt einer der vorzüg•
lichsten philosophischen Schriftsteller*, ohne Vermögen und ohne Freunde, der ein
denkender, und ein mit guten Kenntnissen, und guten Prinzipien bereicherter Mann
ist, behält, so lange sein körperliches Uebel und seine äussem Unglüksfälle seinen
Verstand nicht schwächen, einen Trost, und eine Unterhaltung, welche andern Men•
schen verborgen ist. Kein Wunder, wenn er Einsamkeit und Trübsäle, die ienen
unerträglich scheinen, geduldig aushält, weil er eine Welt, die er betrachten kann, in
sich selbst trägt, hier Endzwekke findet, die er noch immer zu verfolgen, und Arbei•
ten, die er auszurichten vermag, nachdem alle seine übrigen Absichten gestöhrt, und
seine Geschäfte unterbrochen worden sind. '
Welcher mit guten Kenntnissen und guten festen Principien (und diese ohne iene 1können vielleicht gut, aber niemals fest sein:) bereicherte Mann, wird nicht in weni•
ger oder mehr trüben Epochen seines Lebens, von der Wahrheit dieser Säzze durch•
drungen, und durch den Trost derselben aufgerichtet worden sein? Und mit wel•
chem Rechte will man die Hälfte des Menschengeschlechts von dem bewährten
Troste in Leiden, ausschließen? Die Hälfte, die dieses Trostes am öftersten bedarf?
Denn wer ist mehreren Krankheiten ausgesezt, als das Weib;** wessen Vermögen
ist unsicherer als des Weibes, das die Verwaltung desselben fast . immer Andern
übertragen muß; wer ist durch phisische, moralische und politische Gesezze mehr
für die Einsamkeit bestimmt, als das Weib? Womit soll sie sich nun gegen die
unvermeidlichen Leiden waffnen, die ihr Natur und bürgerliche Verhältnisse unmit•
telbar und mittelbar auferlegen; was soll sie stark machen, häufige, und oft wüthen•
de körperliche Schmerzen geduldig selbst zu ertragen, und sie dem Manne und Kin-
* Herr Prof. Garve in seiner vortreflichen Abhandlung über die Geduld. S. 41.
** „Zwanzig Männer verbunden ertrügen nicht diese Beschwerde. Und sie sollen es nicht; doch sollen sie dankbar es einsehn." - Sagt einer der grösten Dichter Deutschlands. -
Göthe, in Herrmann und Dorothea S. 132.
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dem erträglich zu machen, wenn es nicht die Erwerbung guter, nüzlicher Kenntnis•
se ist, welche eine Welt in uns erschaffen, die keine Erschütterung umstürzen kann?
Ich finde eine außerordentliche Inkonsequenz darinne (weil ich nicht noch etwas
schlimmeres darin finden will) , daß man unsere größere Schwäche anerkennt, und
uns die besten Stärkungsmittel dagegen aus den Händen zu winden sucht.
Paul Richter [Jean Paul] , dieser lichte Genius, in dem Swifts Laune, und Steme's
delikate hinreissende Gefühle, wunderbar vereint sind, und den Teutschland nur
nach und nach kennen und würdigen lernt; Paul Richter läßt seine Klotilde aus dem
Wahrheiten: sie werden übersehen, und vergessen . Wenn nun das Weib, wie Herr
Ca pe es ausdrüklich_ fordert, von Musik, Zeichnen, Naturgeschichte, Weltge•
schichte u.a.m. Kenntmsse erworben, und sonst Lust hat, sich über ihre Schwestern
zu erheben, und den Neid derselben zu erregen, so kann , und wird sie's, ohne
Gelehrte oder Schriftstellerin zu sein. Und folglich hat Herr Campe durch seinen
Rath blos die Ursachen abgeändert, keinesweges aber die Wirkung vertilgt. Er for•
; dert zwar, daß sie alle die empfohlenen Kenntnisse nicht blikken lassen, daß sie
sich niemals unaufgefordert in ein wissenschaftliches Gespräch mengen soll - um 1
Herzen aller gefühlvollen und denkenden Weiber sagen: „0 so oft ich daran denke, 1 nicht Neid zu erregen . Höchstens soll sie, wenn iemand etwas irriges vorträgt , wel•
daß das männliche Geschlecht mit dem Stoffe zu den grösten göttlichen Wohlthaten
beglükt ist, daß es wie ein Gott Augen , Leben, Recht , Wissenschaften austheilen
kann, indes mein Geschlecht sein Herz das sich nach Wohlthun sehnt, auf kleinere
Verdienste, auf eine Thräne die es abtroknet, auf eine eigene die es verbirgt, auf
eine geheime Geduld mit Glüklichen und Unglüklichen einschränken muß: so
wünsch' ich, möchte doch dieses Geschlecht, das die höchsten Wohlthaten in Hän•
den hat, uns die größten vergönnen, es - nach zu ahmen, und Güter in die Hände zu
bekommen, die uns beglükten , wenn wir sie vertheilten! - Jezt kann ein Weib mit
nichts in ihrer Seele groß sein, als nur mit ihren Wünschen."*
Wann wird man sich endlich von der Gerechtigkeit dieser Klagen überzeugen;
wann wird man einsehen lernen: daß die Weiber achtungswürdiger sein würden,
wenn sie geachteter wären ? Man wirft uns mit Recht und Unrecht unzählige kleinli•
che Empfindungen vor, und doch erlaubt man uns nichts Großes - als höchstens
den Wunsch darnach. -Daß uns
3) der politische Grund von Schriftstellerei und Gelehrsamkeit abhalten sollte,
weil wir uns dadurch den Neid und Haß der Frauenzimmer, und zuweilen auch den
der Mannspersonen zuziehen , das leuchtet freilich am mehrsten ein, ob gleich, wie
mich dünkt, eher zu besorgen ist, daß die Weiber die Kenntnisse ihrer Mitschwe•
stern vielmehr lächerlich als beneidungswürdig finden werden. Denn wahrlich die
Meisten werden eher die beneiden , die es verstehet, einen Knoten an ihren Schlei•
fen mit Geschmak zu schürzen, als irgend einen Saz des Euklides mit Scharfsinn
auf zu lösen . Und ist es wohl ein Wunder, wenn sie sich ausschließend, und stark
auf Unkosten des Mannes, mit Ausschmück u ng der Sehaale beschäftigen, da man
sie fast zu überreden sucht, daß sie keinen Kern haben? - desezt aber die Besorgniß
wegen Erwekkung des Neides wäre völlig gegründet, so räumt ia Herr Campe
durch seine Rathschläge dies Uebel nicht aus dem Wege, indem Er selbst seiner
Tochter ein ganzes Verzeichniß von Kunstfertigkeiten und Wissenschaften macht ,
die er ihr zu lernen empfiehlt. Und es läßt sich hier auf Herrn Kampe anwenden,
was einer unserer größten Schriftsteller, einem Frau enzimmer von ihrem Geliebten
sagen läßt:** „er machte es wie alle Männer, spottete über gelehrte Weiber, und bil•
dete unaufuörlich an mir." - Diese Bemerkung ist so wahr als richtig, und ich habe
sie wohl hundertemale bestätiget gefunden, aber es geht ihr wie allen alltäglichen
ili Hl! pl!rn !!rnterTh. S.339. ** Die Bekenntni sse einer schönen Seele in Willielm Meisters Lehrjahren von Göthe.
i ches sie besser weiß, eine bescheidene Einwendung machen. (Gebe Gott, daß sie 1
nicht durch diese Bescheidenheit mehr Neid und Haß errege, als durch die Einwen•
dung selbst!) Wenn nun aber Herr Campe sich getrauet, dies von einem Frauenzim•
mer fordern zu können, welches von Vielem Etwas weiß, so begreife ich nicht,
warum er es nicht auch derienigen zutrauet, welche nur in Einern Fache gründliche
Kenntnisse hat. Denn, mich dünkt, ein Mensch, gleichviel von welchem
Geschlecht, die Seele hat kein Geschlecht, der von vielen Dingen oberflächliche
Kenntnisse hat, kann eher einer Gesellschaft lästig werden , wenn er unbescheiden
ist, als ein Mensch der nur Ein Fach, aber dieses desto gründlicher studirt hat. Des
Leztern Anmaßung, wenn er deren hat, kann man leichter begegnen, dadurch daß
man vermeidet , in seiner Gegenwart die Wissenschaft zu berühren, die er vorzüg•
lich inne hat. Eine Person hingegen, die von Vielem Etwas weiß, findet überall
Gelegenheit mit zu sprechen, und kann also um so eher Aufmerksamkeit, und so
nach leichter Neid und Haß erregen - wenn sich anders überall diese bösartigen
Gefühle, zu der Aufmerksamkeit, die man einer Frau erweißt, verhalten müssen, wie Wirkung zur Ursache.
1 Freilich, wenn sie, wie Herr Campe es wünscht, alles fein in sich schließt, so
wäre dem Uebel abgeholfen, aber ohne den möglichsten Grad von Blödigkeit,
(warum sollte ich es veredlen , und Bescheidenheit nennen?) dürfte wohl dieser
Wunsch des Herrn Campe unerfüllt bleiben. Gelehrsamkeit schließt ia aber diese
Blödigkeit nicht nothwendig aus, und so mit könnte sich ia wohl ein gelehrtes Frau•
enzimmer eben so negativ verhalten, als das, das wie Herr Campe will, von Vielem
Etwas weiß - damit sie dem Neid ihrer Schwestern entgienge.
Jedes Geschrei, welches man gegen eine ganze Gattung wegen einzelner Indivi•
duen erhebt, scheint mir höchst ungerecht. Ich will nicht sagen, daß es unfehlbar
gut wäre, wenn man, wie Condorcet, in einem Journale das vor einigen Jahren in
Paris heraus kam, verlangte, alle Mädchen ohne Unterschied in den Schulen an dem
Unterrichte der Knaben Theil nehmen ließe; denn wenn auch nicht zu läugnen ist,
daß wir durch die ersten Eindrükke am mehrsten auf die Bildung der Knaben, der
künftigen Männer, wirken: so ist eine solche Neuerung doch darum nicht zu wün•
schen, weil die etwannigen guten Folgen davon, noch ungewiß sind, die bisherige
Ordnung hingegen unbezweifeltes Gute hat. Das wahre Genie hat ohnehin weder
Schule noch Katheder nöthig; es verbreitet Nuzzen und Annehmlichkeit um sich,
wenn es auch nur aus sich selbst spinnt. Aber man lasse frei und ungehindert wir•
ken ; und wenn sich hier und da eine Frau über den ihr engscheinenden Horizont
,,,t,
;•
ihrer Berufspflichten hinausgezogen fühlt, so überlasse man sie ungestöhrt ihrer
Neigung. Ueberspannte, zu weit getriebene Aeußerungen über die weibliche
Gelehrsamkeit, haben Stoff zu u.nzähligen falschen Schlüssen gegeben, und neue
Fehler erzeugt, anstatt alte ausgerottet zu haben . Frauen, die ieden Fehler ihres
Geschlechts haben, nur den so sehr gerügten der Gelehrsamkeit nicht , brüsten sich
oft damit, und indem sie sagen: ich bin freilich keine Gelehrte, glauben sie ihren
weiblichen Werth, so wie den Unwerth ihrer gelehrten Schwester erwiesen zu
haben, und oft muß der Mann wegen dieser vermeinten negativen Eigenschaft, alle
positiven Untugenden geduldig ertragen .
Alle diese Aeußerungen scheinen mir um so zwekwidriger, da doch in keinem
Falle zu vermuthen ist, daß eine Frau durch ihr Beispiel ihr ganzes Geschlecht, zu
Gelehrten oder Schriftstellerinnen machen wird. Denn bringt sie schlechte, oder
auch mittelmäßige Produkte hervor , so wird sie schwerlich ihr Geschlecht zur
Nachahmung reizen , und ich fürchte, dies Geschlecht selbst, wird den ersten Stein
nach ihr werfen; denn wenn es auch in solchen Fällen nicht immer kompetent rich•
ten kann, so hat dafür das Publikum eine so hörbare Stimme, daß das allzuleicht
gläubige Geschlecht bald wissen wird, wie es mit dem neuen Geistesprodukte ste•
het. Schreibt hingegen ein Weib etwas Gutes, oder Vortrefliches, so dürfte die
Nachahmung nicht so leicht sein; reizt es aber dadurch zur Emulation und ihren
Folgen -wo stekt das Verbrechen?
Wenn es in der gelehrten Welt für entschieden angenommen wird, daß die Erwei•
terung der Kenntnisse auch die Ausbreitung der Wahrheit, und dadurch allgemeines
Glük befördern, so sehe ich nicht ein, warum dies nicht eine weibliche Feder auch
soll- wenn sie's kann . Daß dies aber durchaus keine weibliche Feder vermag, dürf•
te Herr Campe, so sehr er es auch zu wollen scheint, nicht behaupten, ohne in eine
unverzeihliche Inkonsequenz zu verfallen.
Denn Seite 104 sagt er selbst, nachdem er seiner Tochter einige Vorschriften in
Ansehung der Religion gegeben hat: „solltest du aber wider Vermuthen sie dennoch
in einem oder dem andern Falle nicht zureichend finden: so empfehle ich dir, als ein
gutes Mittel zur völligen Beruhigung in s.olchen Fällen, ein von einer Person deines
Geschlechts geschriebenes Buch, welches den Titel führt: Lettres sur la religion
essentielle a l'homme. A Londre 1765, dem ich selbst, in meinen Jünglingsjahren , die Besiznehmung des ersten, festen sichern Fleks im Gebiete der theologischen,
und religiösen Wahrheiten verdanke .
„Ich kann nicht begreifen, wie Herr Campe in einem Buche wider die weibliche
Schriftstellerei es über sich vermochte, das gelehrte Werk eines Weibes zu zitieren ,
dem er selbst so unendlich viel zu verdanken hat, und er müßte entweder diese
seine Besiznehmung religiöser und theologischer Wahrheiten für etwas unnüzzes
und gleichgültiges erklären, oder er kann nicht umhin, unserm Geschlechte, oder
vielmehr einzelnen Individuen desselben, die Fähigkeit einzuräumen , etwas wahr•
haft nüzliches, auch ausser unserer Haushaltung hervor bringen zu können . Ich
räume meinerseits gern ein, daß ein Frauenzimmer eine sehr achtungswerthe Gattin
\111<1 Mutter sein K"1Illl1 wonu OS l\\Wn Koine anoere BUcher als die Bibel und das
Hamburger Kochbuch gelesen hat. Aber Herr Campe verlangt selbst mehr - viel
62
sogar - nur gelehrt soll sie nicht sein, und ich glaube fast, Herr Campe hat einen so
monströsen Begriff von gelehrten Frauenzimmern, als Friedrich der Große von
deutschen Gele 1ten hatte, welcher auch niemals hierin eine andere Meinung
annahm. Nur wunschte ich, daß dieser irrige Begrif des sonst so helldenkenden
Campe nicht allgemeiner würde, und vielmehr so allgemein widerlegt wäre, als es
iene Meinung des großen Friedrichs ward; und daß man sich davon überzeugen
möchte, daß wenn weibliche Liebenswürdigkeit mit dem Mangel an Gelehrsamkeit
und Kunstfertigkeit bestehen kann, auch die Wissenschaften, wenn eine Frau deren
besizt, häusliche und also wichtigere Eigenschaften, durchaus nicht ausschließen
müssen . Wohl dem Manne, dessen Frau keine andern Abwege einschlägt, als diese.
Wenn ich mich, für Ihre Geduld, zu lange bei dem Gegenstande, den der erste Theil
enthält, aufgehalten habe, so kann ich Ihnen den Trost geben, werthester Freund ,
daß ich fast gar nichts über den zweiten sagen werde, weil erblos allgemeine Wahr•
nehmungen über die Menschen, und Lebensregeln , wie man sich gegen diese oder
iene Gattung zu benehmen habe, enthält. Für diese Art von Unterricht aber, habe
ich gar keinen Sinn; denn so lange man nicht die unendlichen Abstufungen und
Modifikationen in den menschlichen Karakteren bezeichnen kann, so lange bleiben
mir immer die Resultate solcher Wahrnehmungen zweifelhaft. Denn wenn auch
Herr Campe den Prahler oder Dumkopf versinnlicht beschreibt (wie er den leztem
auch wirklich S. 390 meisterhaft schildert:) nämlich, wie er ihm aufstieß, und
zugleich auch anzeigt, wie mit diesem am besten fortzukommen sei; so bleibt
immer die Frage, wie man sich gegen unzählige Andere zu benehmen habe, die eine
verschiedenartige Erziehung , und mancherlei individuelle Verhältnisse, anders, völ•
lig anders werden ließen .
So wenig nun die Anwendung der ersten medicinischen Resultate unfehlbar ist
ohnerachtet alle thierische Körper nach Einern unabänderlichen Gesezze der Natu;
gemodelt sind, und sich daher in ihrer ursprünglichen Konstitution eher gleichen
müssen, als die Karakterzüge, so wenig können im leztern Falle, allgemeine Regeln
untrüglich sein. Alle diese psychologischen Hypothesen scheinen mir um nichts
besser, als die phisionomischen.
Die angenehme Sensation, die uns zuweilen ein Buch macht, welches Regeln
über den Umgang mit Menschen enthält, besticht unsern Kopf; wir freuen uns über
die Stellen, wo der Autor eben die Bemerkungen macht, die wir gelegentlich selbst
gemacht haben, und unsere Eigenliebe, die sich geschmeichelt fühlt, ähnliche Ent•
dekkungen mit dem berühmten Autor gemacht zu haben, findet in dem zufälligen
Zusammentreffen unserer Ideen mit den seinigen, Beweise für die Richtigkeit der•
selben . Alles übrige, was wir nicht schon selbst bemerkt haben, läßt uns kalt. Er soll
stets, wie wir gesehen haben, wir wollen nicht wie er sehen - und wir können es
auch selten.
. Leben Sie wohl! Verzeihen Sie, daß ich über dem Freund , den Gelehrten vergaß;
1ener möge mich bei diesem entschuldigen, daß ich ihm durch meinen so großen
Brief, so viel von seiner kostbaren Zeit geraubt habe. C.B** geb. G*
63
5C
1
1
Caroline Rudolphi ( 1754-1811),Amalia Holst (1758-1829)
und Betty Gleim (1781 - 1827)
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich ein intensiver pädagogischer
Diskurs über Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts. Neben den
führenden zeitgenössischen Pädagogen meldeten sich auch Frauen zu Wort: Caroli•
ne Rudolphi, Amalia Holst und Betty Gleim. Wie ihre männlichen Kollegen kamen
auch sie aus der „Praxis". Sie gründeten, leiteten und unterrichteten in Mädchen•
schulen, vertraten aber unterschiedliche pädagogische Konzepte.
Zu ihren Lebzeiten war Caroline Rudolphi eine bekannte Erzieherin und gefeier•
te Dichterin, deren Gedichte u.a. vom preußischen Hofkapellmeister Reichardt ver•
tont wurden. Als Erzieherin gebührt ihr noch heute ein Platz in der deutschen
Mädchenbildungsgeschichte, als Dichterin ist sie wohl zu Recht vergessen.
Die Schulen der Rudolphi, von 1787-1803 wirkte sie in Hamm, einem Vorort
von Hamburg, danach in Heidelberg, werden häufig als das weibliche Pendant zu
den pädagogischen Einrichtungen Campes betrachtet. Die Rudolphi ließ sich
zunächst in der Nähe des bekannten Pädagogen nieder. Sie·mag den persönlichen
Kontakt mit Campe gesucht haben, letztendlich hat aber die enge Bezieh ng zu
ihrem älteren Bruder Ludwig, der bei Campe als Hauslehrer arbeitete, den Aus•
schlag für die Wahl des Wohnorts gegeben. Das ausgesprochen liebevolle Verhält•
nis zwischen den Geschwistern läßt sich vielleicht durch den vorzeitigen Tod des
Vaters erklären, der „zuletzt eine Stellung als Lehrer am Mägdehaus des Militärwai•
senhauses in Potsdam inne hatte."1 Die Familie geriet durch seinen Tod in wirt•
schaftliche Not. Ludwig Rudolphi kam ins Franckesche Waisenhaus nach Halle,
während Caroline die Elementarschule besuchte und sich ansonsten autodidaktisch
weiterbildete. An eine Heirat sei unter diesen Umständen nicht zu denken gewesen,
lautet das einhellige Urteil ihrer Biographen. Die fehlende Mitgift sei nicht das ein•
zige Ehehindernis gewesen, ihre äußere Erscheinung - sie war bucklig - habe auf
den ersten Blick wenig anziehend gewirkt. Die unglückliche, nicht erwiderte Liebe
zu einem Offizier habe ihren bereits gefaßten Entschluß verstärkt, Erzieherin zu
werden. Diese idealtypische Konstruktion der häßlichen, sitzengebliebenen alten
Jungfer, die notgedrungen Erzieherin wird, ist bereits in der posthum erschienen
Autobiographie der Rudolphi angelegt. Lebenslauf und Bildungsweg werden von
ihr ausschließlich fremdbestimmt und derart klischeehaft dargestellt, daß die Gren•
ze zwischen autobiographischem Zeugnis und romanhafter Verdichtung nicht
immer scharf gezogen werden kann.
Rudolphis „Erziehungsinstitut für junge Demoiselles" in Hamm war eine Erzie• .!
hungsanstalt im Sinne einer erweiteren Familie. Konzipiert war es zunächst nur für
vier Schülerinnen. Caroline Rudolphi war zuvor bei den Eltern der Mädchen, Herrn
und Frau von Roepert, auf dem Rittergut Trollenhagen bei Neu-Brandenburg als
Gouvernante angestellt gewesen. Da sich das häusliche Milieu ungünstig auf die
Entwicklung der Mädchen auswirkte, wurde Caroline Rudolphi nach ihrer Kündi-
Maria von Bredow : Karotine Rudolphi. Eine Pädagogin des 18. Jahrhunderts, in: Frauen• bildung 3 (1904), S. 203.
gung gebeten, die Mädchen mit sich zu nehmen. Nach einiger Zeit mußte das Insti•
tut erweitert werden, da die Familie von Roepert ihre finanziellen Zusagen nicht
einhielt. Zum Schluß bestand die Einrichtung aus 24 Schülerinnen, wobei alle
Altersjahrgänge von sechs bis 21 Jahren vertreten waren. Die über 15jährigen
beschäftigten sich hauptsächlich mit der Haushaltsführung, halfen beim Unterrich•
ten der jüngeren Schülerinnen und durchliefen damit die damals übliche Form der
Gouvernantenausbildung. Caroline Rudolphi unterrichtete die Mädchen im Lesen
und Schreiben und gab Stunden in Französisch und Handarbeiten. Der Unterricht in
Englisch, Zeichnen, Klavierspielen und Tanzen wurde von freiberuflich tätigen
Fachlehrern übernommen. Der wissenschaftliche Unterricht lag in den Händen
eines festangestellten akademisch gebildeten Hauslehrers. Die Aufteilung der ein•
zelnen Fächer auf die verschiedenen Lehrkräfte war im Institut nicht zufällig
geschlechtsspezifisch verteilt. Diese Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung
wurde von C. Rudolphi sowohl in ihrer Autobiographie als auch in ihrem entwick•
lungspsychologischen Hauptwerk „Gemälde weiblicher Erziehung" vertreten. Das
„Gemälde" ist in Form eines fiktiven Briefwechsels zwischen der ehemaligen
Erzieherin Selma und ihrem früheren Zögling Emma angelegt. „Tante Selma" berät
die junge Mutter in allen Fragen der Säuglingspflege und Kindererziehung und
übernimmt, als Emma ihrem Mann, einem Diplomaten nach Rußland folgen muß,
selbst die Erziehung der Kinder, d.h. die der Töchter Ida und Mathilde. Ratschläge
für die Erziehung des Sohnes zu geben, diesem Ansinnen hatte sich „Tante Selma"
schon früh verweigert. ,,Dies Gebiet ist der weiblichen Feder verboten", schrieb sie
„und mit Recht. Zwar schreiben und lehren die Männer viel über weibliche Erzie•
hung; aber das berechtigt uns nicht, über.die Gränze zu gehen! Ihr Gebiet ist größer,
ist nicht so eng abgesteckt, als das unserige." 2 Der neunjährige Woldemar erhält
einen Mentor, mit dem er zur Abrundung seiner Erziehung auf Reisen geht. An die•
ser Stelle setzt der nachfolgend abgedruckte Textauszug an.
Im Vergleich zu Amalia Holst und Betty Gleim waren Rudolphis Erziehungsin •
tentionen stark von den Ideen Rousseaus und seinem Bildungsideal im Hinblick auf
das weibliche Geschlecht geprägt. Vor allem Betty Gleim, die dem Neuhumanismus
näher stand, setzte sich mit der Bildungsauffassung Rudolphis kritisch auseinander.
Bei ihrem Besuch des Rudolphischen Instituts in Heidelberg kritisierte sie in ihrem
Reisetagebuch die Oberflächlichkeit und Unsystematik des Unterrichts, in dem
keine „ernste Geistesarbeit" von den Schülerinnen verlangt werde. „Viel Schein
und Spiel statt gediegenen, stillen Wesens und Arbeitens" urteilte sie vor dem Hin•
tergrund ihrer eigenen Bildungsvorstellungen über das besuchte Philanthropin .3
Von den pädagogischen Koryphäen ihrer Zeit wurde Rudolphis Briefroman zu•
stimmend aufgenommen. Bis 1857 erlebte das Buch insgesamt vier Auflagen. 1807
wurde es ins Holländische und 1813 ins Schwedische übersetzt. Die Fülle kluger
Einsichten in die frühkindliche Entwicklung kann an dieser Stelle nicht rekapitu•
liert werden; was der modernen Leserin aufstößt, ist das Verhaftetbleiben der Auto•
rin in den engen Standes- und Geschlechtsgrenzen der Spätaufklärung.
2 Caroline Rudolphi: Gemälde weiblicher Erziehung. Erster Teil. Heidelberg 1807, S. 90. 3 Zit. nach A. Kippenberg: Betty Gleirn: Ein Lebens- und Charakterbild. Bremen 1882, S. 28.
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Amalia Holst war die aus zweiter Ehe stammende Tochter des bekannten Karwrali•
sten Johann Heinrich Gottlob v. Justi, der 1765 zum königlich preußischen Berg•
hauptmann und Oberaufseher der Glas- und St ahlfabriken ernannt und 1768, ver•
mutlich zu Unrecht, beschuldigt wurde, staatliche Gelder veruntreut zu haben . Er
starb 1771 als Staatsgefangener in Küstrin noch vor Ende des Gerichtsverfahrens.
Wo seine gerade dreizehnjährigen Tochter blieb, ist ungewiß. 1791 kam sie nach
Hamburg und heiratete ein Jahr später den promovierten Juristen Johann Ludolf
Holst, der sich als Vorsteher einer Lehransta lt in der Hamburger Vorstadt St. Georg
niedergelassen hatte. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Amalia Holst hatte
bereits vor ihrer Ehe als Erzieherin gearbeitet, un d sie blieb in diesem Beruf tätig.
Sie leitete zunächst im Institut ihres Mannes die Vorsch u le - eine durchaus übliche
Form der Arbeitsteilung zwischen einem Lehrerehepaar -, bevor sie 1802 ein
Mädchenpensionat in St. Georg eröffnet haben soll. Zwischen 1802 und 1807 muß
sie Hamburg verlassen haben. Weitere ungesicher te Stationen ihres Lebens waren
Wittenburg und Parchim. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie bei
ihrem Sohn, der auf das Rittergut Groß-Timkenberg bei Boizenburg geheiratet
hatte. Aus der Tatsache, daß ihr Mann bis zu seinem Tod 1825 in Hamburg blieb,
kann man den Schluß ziehen, daß das Ehepaar sich getrennt hatte.
Das theoretische Werk Amalia Holsts war lange Zeit in Vergessenheit geraten
und wurde erst in den achtziger Jahren dieses Jahrhunder ts wiederentdeckt. Bei
ihrer ersten Schrift „Bemerkungen über die Fehler unserer modernen Erziehung"
(1791) handelt es sich um die erste von einer Frau verfaßten Kritik an den Philan•
thropen und deren Rousseau-Rezeption. „Die Fehler unserer modernen Erziehung"
hatte Amalia Holst noch auf Jugend allgemein bezogen, da für sie eine besondere
Form der Mädchenerziehung und -bildung nicht existierte: Mädchenerziehung war
für sie in erster Linie allgemeine Menschenerziehung. Ihre zweite Schrift, die
„Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung" (Berlin 1802), aus der der
folgende Textauszug stammt, widmete sie nur deshalb Fragen der Mädchen- und
Frauenbildung, weil einflußreiche zeitgenössische Pädagogen die Bildung von
Frauen auf ihre „natürliche Bestimmung" als „Hau sfrau, Gattin und Mutter" be•
schränkt wissen wollten und den Frauen das Recht auf allgemeine Bildung bestrit•
ten. Im Verlauf ihrer Schrift nahm sie die Argumente männlicher Pädagogen gegen
die Vereinbarkeit von höherer Bildung mit dem dreifachen Beruf der Frau kritisch
unter die Lupe. Sie gelangte zu dem Schluß, daß die Logik der Männer sich vor
allem am Eigeninteresse orientierte, wenn es gelte, Frauen vom Erwerb höherer
Bildung auszuschließen. Mit einer Form der Beweisführung, di wesentliche Argu•
mente der späteren bürgerlichen Frauenbewegung vorwegnahm, versuchte sie eine
Begründung für das von ihr angenommene Grundrech t der Frau auf Bildung zu lie•
fern. Letztlich könnten, so argumentierte sie, mit der Einlösung ihrer Forderung die
Männer nur gewinnen, da die Frauen nur dann ihrer dreifachen Bestimmung sinn•
'!Gll nichkammen könnten, wenn sie eine umfassende Bildung erfahren hätten . Amalia Holsts Schrift ist geprägt vom Umbruch zwischen Aufklärungsdenken
und neuhumanistischer Reflexion über die Bildung des Menschen. Ihre Argumenta•
tion ging von einem grundlegenden Recht auf Bildun g aus, das -entsprechend sei-
nem .universalistischen Charakter - auch das Recht nach geistiger Selbstentfaltung
der Frau und Befreiung ihrer Geistesbildung aus männlicher Bevormundung ein•
schloß. Der daraus abgeleitete Bildungsanspruch für das weibliche Geschlecht
unterlag jedoch klaren Standesgrenzen. So bezog sich ihre Forderung nach uneinge•
schränktem Bildungszugang nur auf Frauen der oberen sozialen Stände und Schich•
ten; die unteren Bevölkerungsgruppen, die sie dem Verstande nach Kindern gleich•
setzte, grenzte sie davon aus.
Amalia .Hclst btl.. ®I.l!.IJg.§1..JJ.jffiL.:;::, wie sie selbst ausdrücklich
betonte -_21,El e ,:_ &J.!Ug"\ies.h.estehendet.1,-Geschlechte.tY.erhältnisJ>es "„MiL4 m
Ansp1:1.S.1!.J .IJ.f höl:, !_ 1, !?,.!9. .11_1;t - !- ,, .;?.,1,. _il;! !_c, .12„auf f:rw .r.?. ?.cl1=
te. }_lsiupg,"l22. , . ,:';.%. - ß, .1?,m1.l n. ,!:' ts,§R. i, . its. ! -s I :.!\?.,!,?, ..
K,2 t L -' raditio!1::1J, !!.J „ - .! -„ E,,:Pf.li.Sht\f-IJ,,,t;\ r pµ g rUs;.b n J r;;!Jl ,,.
Denn nicht in der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse - schrieb sie -,
sondern in der Zufriedenheit mit dem eigenen Zustande liege die erste Bedingung
zur Glückseligkeit.
Stärker noch als Amalia Holsts Schrift ist "'„Erziehung und
Unterricht des weiblichen Geschlechts" von 1810 vom bildungsphilosophischen
Diskurs des 19. Jahrhunderts bestimmt. Sie gehörte zu den wenigen Pädagoginnen,
deren Arbeit auch in der männlichen Fachwelt Anerkennung fand.
Betty Gleim entstammte einer angesehenen Bremer Kaufmannsfamilie. Ihr Vater
war Weinhändler und Neffe des berühmten Dichters Johann Wilhelm Ludwig
Gleim. Über ihre Mutter war die Familie mit den ersten Patriziergeschlechtern Bre•
mens verwandtschaftlich verbunden . Die damals übliche Schulbildung für Mädchen
trug vermutlich wenig zur geistigen Entwicklung Betty Gleims bei, ihre breite Bil•
dung läßt sich wohl eher auf das geistig anregende familiäre Milieu und das rege
geistige Leben Bremens - besonders um den späteren Bürgermeister Johann Smidt
- zurückführen. Vor allem die um 1800 in Bremen diskutierte Reform des Unter•
richtswesens im Sinne Pestalozzis dürfte Betty Gleims Beschäftigung mit bildungs •
theoretischen und -praktischen Fragen beeinflußt haben .
Die Sorge um die eigene Existenzsicherung -ausgelöst durch Krankheit und Tod
des Vaters - führte 1806 zur Gründung einer Lehranstalt für höhere Töchter in Bre•
men. Trotz anfänglichen Erfolges - 1812 besuchten bei einem beachtlichen Schul•
geld von 80 bis 160 Mark jährlich 80 Schülerinnen die Anstalt - zwangen finanziel•
le Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten zwischen Eltern und Lehrerinnenschaft
1815 zur Aufgabe der Schule. Nach Reisen und einem Aufenthalt in England grün•
dete Betty Gleim 1816 eine Mädchenschule in Elberfeld, die allerdings nicht lange
bestand. Auch ihr fortschrittlich gesinntes Bemühen, über das lithographische
Gewerbe neue Erwerbsmöglichkeiten für Frauen zu eröffnen, hatte wenig Erfolg.
Für die 1819 in Bremen gegründete „Lithographische Anstalt für Frauen" fand sich
kaum Nachfrage. Noch im selben Jahr gründete sie daher unter Mithilfe von Freun•
den und Verwandten erneut eine höhere Mädchenschule in Bremen, die sie zusam•
men mit einer Lehrerin bis zu ihrem Tode leitete.
Betty Gleims schriftstellerische Arbeiten umfassen ein breites Spektrum. Auf die
nachschulische Lebensphase bezog sich ihre 1814 veröffentlichte Schrift „Ueber
74
1
die Bildung der Frauen und die Behauptung ihrer Würde in den wichtigsten Ver•
hältnissen ihres Lebens". Daneben verfaßte sie noch mehrere Schriften zur deut•
schen Sprache und Grammatik, 1808 auch ein Kochbuch, das 1892 in der dreizehn•
ten Auflage erschien.
Ihr Hauptwerk ist jedoch „Erziehung und Unterricht des weiblichen
Geschlechts", eine systematische und auf der damaligen bildungsphilosophischen
Diskussion basierende pädagogische Konzeption zur Mädchenbildung, die auch die
Grundlage ihrer praktischen Schularbeit bildete . Wie Amalia Holst ging auch Betty
Gleim von der Bildung des Menschen aus und begründete daraus - unter dem Ein•
fluß der Pädagogik Pestalozzis - eine allgemeine, also von Geschlecht, Beruf und
Stand unabhängige Menschenbildung . Diesem allgemeinen Bildungsansatz, bei
dem sie zwischen intellektueller, ästhetischer und moralisch-religiöser Bildung
unterschied, war die Geschlechts- bzw. Berufsbildung untergeordnet. Die Erzie•
hung und Bildung der Frau sollte sich dem Gleimschen Konzept zufolge zuerst auf
ihre menschliche, erst dann auf ihre weibliche und gesellschaftliche Bestimmung
richten.
Ein weiteres wesentliches Moment ihres Ansatzes ist der Versuch, Bildung und
Erziehung des weiblichen Geschlechts nicht allein auf Heirat und Ehe zu beschrän•
ken, sondern - wie zuvor schon Elisabeth Eleonore Bernhardi (1798) - auch Ehelo•
sigkeit und die Situation der unverheirateten }<rau in das Blickfeld des Bildungsge•
schehens zu rücken. Im Hinblick auf eine ökonomische Unabhängigkeit der Frau
forderte sie, Mädchen genauso wie Jungen eine Erwerbsbildung zu erteilen. Die
Erwerbsmöglichkeiten für Frauen lagen für sie jedoch primär im traditionellen, d.h.
insbesondere im erzieherischen und hauswirtschaftlichen Bereich.
(Elke Kleinau/ Christine Mayer)
Quellen und weiterführende Literatur:
[Bernhardi, Elisabeth, Eleonore:] Ein Wort zu seiner Zeit. Für verständige Mütter und
erwachsene Töchter. In Briefen einer Mutter. Hrsg. von Karl Gottlob Sonntag . Freyberg
1798; [Justi, Amalia von:] Bemerkungen über die Fehler unserer modernen Erziehung .
Von einer praktischen Erzieherinn. Hrsg. vom Verfasser des Siegfried von Lindenberg .
Leipzig 1791; Gleim, Betty: Ueber die Bildung der Frauen und die Behauptung ihrer
Würde in den wichtigsten Verhältnissen ihren Lebens . Ein Buch für Jungfrauen, Gattin•
nen und Mütter. Bremen, Leipzig 1814; Recke, Elisa von der: Mein Journal . Elisas neu
aufgefundene Tagebücher aus den Jahren 1791 und 1793/95. Hrsg. und eingeleitet von
Johannes Werner. Leipzig 1927; Schriftlicher Nachlaß von Caroline Rudolphi mit dem
Portrait der Verfasserin . Zum Besten der in Heidelberg errichteten Kleinkinderanstalt.
Heidelberg 1835
Blochmann, Elisabeth: Das „Frauenzimmer" und die „Gelehrsamkeit" . Eine Studie über die Anfänge des Mädchenschulwesens in Deutschland. Heidelberg 1966; Bredow,
Maria von : Karoline Rudolphi. Eine Pädagogin des 18. Jahrhunderts, in: Frauenbildung
3 (1904), S• 201-210; Jacoby, Karl: Amalia Holst, geb. von Justi- Hamburgs erste Frau•
enrechtlerin, in: Beiträge zur deutschen Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts . Ham•
burg 1911; Framke, Gisela: Amalia Holst. Bemerkungen zur Pädagogik der Aufklärung,
in: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde. Hrsg. von Jöm Bracker. Museum
für Hamburgische Geschichte 23 (1984), S. 31-46; Kippenberg, August:: Betty Gleim.
Ein Lebens- und Charakterbild. Als Beitrag zur Geschichte der deutschen Frauenbildung und Mädchenerziehung, zugleich erwachsenen Töcl;ttern eine Mitgabe für . das Leben.
Bremen 1882; Käthner, Martina/ Kleinau, Elke : Höhere Töchterschulen um 1800, in:
Kleinau, Elke/ Opitz, Claudia: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Bd. 1.
Frankfurt a. M./ New York 1996, S. 393-408; Kleinau, Elke: Amalia Holst, in: Demokra•
tische Wege . Deutsche Lebensläufe aus vier Jahrhunderten . Ein Lexikon. Hrsg. von
Asendorf, Manfred/ von Bockei, Rolf/ Reemtsma, Jan Philipp ... Stuttgart 1996; Plum,
Maria: Theorie der Mädchenerziehung ·bei den hervorragenden Pädagogen des 19.Jahr•
hunderts . Köln 1921; Rüdiger, Otto: Caroline Rudolphi. Eine deutsche Dichterin und
Erzieherin, Klopstocks Freundin . Hamburg, Leipzig 1903; Schmid, Pia: Bürgerliche
Theorien zur weiblichen Bildung. Klassiker und Gegenstimmen um 1800, in:Hansmann,
Otto/ Marotzki, Winfried (Hrsg.): Diskurs Bildungstheorie II. Problemgeschichtliche Ori•
entierungen . Weinheim 1989, S. 537-559; Zimmermann, Josefine: Betty Gleim (1781 -
1827) und ihre Bedeutung für die Geschichte der Mädchenbildung . Diss. Köln 1926
Betty Gleim: Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts
(Ein Buch für Eltern und Erzieher. Leipzig 1810 (Neudruck: Paderborn 1989, mit einer Ein• leitung von Ruth Bleckwenn) S. 51-57)
Von der Erziehung und Bildung
überhaupt;
ihrem Begriff und Zweck; ihren Hauptrichtungen,
und ihrer Nothwendigkeit für jedes Menschenindividuum.
Von der Erziehung und Bildung
der Frauen insbesondere;
in Hinsicht auf ihre menschliche, weibliche und
bürgerliche Bestimmung .
(...)
Das Wesen der ächten Geistescultur besteht nach Allem, was bisher gesagt ist, in
dem richtigen Verhältniß der intellectuellen, ästhetischen und moralisch-religiösen
Bildung.
Auf eine solche ächte Bildung haben nun alle Menschen Anspruch; das Weib so
gut wie der Mann, der Arme so gut wie der Reiche ; der beschränkte Mensch so gut
wie der geniale*. Die Bildung ist nicht das Privilegium einiger besonders Begün-
* Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich bei dieser Stelle Manchem die bekannte Einwendung
gegen die Verbreitung einer allgemeinen Bildung aufdtingen wird: „Aber wenn nun alles cultivirt ist, wer wird dann das Land bauen, die Schuhe machen, flicken und putzen, die Schornsteine fegen u.s.w.?" Auf diese Frage diene Folgendes zur Beherzigung. Erstlich: Selbst bei den besten Bildungsanstalten wird doch immer noch Stumpfsinn und natürliche Beschränktheit, so wie Unfleiß und Trägheit j ene glückselige Idee einer allgemeinen geisti• gen Veredlung nicht in jedem Individuum zur Verwirklichung kommen lassen. Zweitens: Wenn auch Jedermann cultivirt ist, so wird doch deswegen, nach wie vor, die Verschieden• heit der Individualität bleiben, und mit derselben eine unendliche Mannichfaltigkeit der Neigungen, die eine zu diesem die andere zu j enem Geschäft. Erinnere man sich nur, daß auch schon jetzt Mancher, der einen sehr gründlichen wissenschaftlichen Unterricht genoß, doch immer eine bestimmte Vorliebe für mechanische Arbeiten behielt. Drittens: Ist es gewiß, daß wenn die Meisten solche Berufsarten wählen, die vorzüglich die Geisteskräfte in Anspruch nehmen, dadurch die mechanischen Beschäftigungen in Ansehung des Erwerbs die einträglichsten und vorteilhaftesten werden müssen . Die Aussicht auf ein unabhängiges und angenehmes Dasein wird daher nun Manchen bestimmen, sich densel• ben zu widmen.
Aber gesetzt , dies Alles wäre auch nicht, sagt, sollen die unteqi Stände ohne Aufhören in der Unwissenheit und Geistesfinstemiß trauriger Nacht seufzen? Soll nie der Einsicht und Erkenntnis beglückende Klarheit sie umfangen? ... soll das Alles nie sein? bloß deswegen,
damit die höhern Stände nicht genöthigt werden, vielleicht hier und da ihre gewohnte
Bequemlichkeit einzuschränken, oder einige ihrer erkünstelten Bedürfnisse aufzugeben ,
stigten, sondern sie ist ein Gemeingut der Menschheit. Alle sollen zur Erkenntniß
der Wahrheit, zum Gefühl und zur Anschauung des Schönen, zur Sittlichkeit und
Religion gelangen*. Gott will, daß allen Menschen geholfen werde. Wer daran
zweifelt, wer dies läugnet, wer dies zu verhindern sucht, spricht der Menschheit
Hohn, und schändet sich selbst.
Menschheit, in der sich ein göttliches Sein wiederspiegelt, ist höchste und letzte
Bestimmung für Jeden, der ein menschliches Angesicht trägt.
Da aber der Mensch in der Erscheinung nicht als reiner Mensch auftritt, sondern
in der Individualität eines Mannes oder Weibes, und unter bestimmten Standes- und
Berufsverhältnissen, so geht hieraus die Notbwendigkeit hervor, außer der allge•
meinen Menschenbildung auch noch auf eine besondere Geschlechts- und Berufs•
bildung Rücksicht zu nehmen.
Dem gemeinen Menschen ist der Zweck und die Summe aller Erziehung, Vollen•
dung des Geschlechtscharakters und der Berufsbildung; er vergißt, daß, ohne
Nachtbeil für das Individuelle des Geschlechts, der allgemeine Charakter der Gat•
tung dargestellt werden soll; daß die Geschlechts - und Berufsbildung sich allein auf
diese Erde, auf das Leben bezieht, das sechzig, siebenzig, wenn's hoch kommt,
achtzig Jahre währt, daß aber der Mensch als Mensch ewig sein und leben wird .
Der höhere Sinn faßt auch einen höheren Gesichtspunct. Ihm ist vollendete Huma•
nität das Ziel aller Cultur, und jene Geschlechtsindividualität nichts als Form und
Hülle, in der die Psyche ihrem schöneren Leben entgegen reift.
Die Geschlechts - und Berufsbildung soll daher der Menschenbildung unterge•
ordnet, untergeordnet ! aber ja nicht versäumt oder übersprungen werden.
Wenn aber reine Menschheit die letzte höchste Bestimmung des Menschen ist,
könnte man ihn dann nicht geraden Weges dazu führen, ihn bloß für seine ewige
Bestimmung bilden? Diese Frage muß gänzlich verneint werden, denn nur durch
die irdischen und zeitlichen Arbeiten und Verhältn isse kann der Mensch für sein
eigentliches Leben vorgebildet und tüchtig gemacht werden .. Sie sind das Organ
od r 'doch wenigstens theurer zu bezahlen? Wahrlich, aus solch einem Grunde das allge• meme Menschenwohl hindern, ist um nichts besser, als den verabscheuungswürdigen Scla• venhandel deshalb nicht abgeschafft wissen wollen, weil man den Kaffee und Zucker nicht missen mag. - Hinweg also mit dergleichen egoistischen Bedenklichkeiten! Sie verrathen wahrlich keinen großen Fond von Liebe und Werthschätzung der Menschheit.
* Die gewöhnliche Ansicht der Bildung ist die, daß zwar alle Menschen moralisch und reli• giös, aber daß nur die Vornehmem und Reichem, was man gewöhnlich ausdrückt, die höhem Stände, intellectuell und ästhetisch gebildet werden müßten. Allein man bedenkt nicht, daß das Erkenntnißvermögen für jede Art der Bildung vielleicht die wichtigste Grundkraft im Menschen ist, durch deren Entwicklung und Richtung meist die de.s Gefühls- und Begehrungsvermögens bedingt wird. Es waltet ein Irrthum da, wo man glaubt, daß das Verderben des Menschen einzig von seinem Willen ausgehe. Nein , es ist auch und in nicht geringem Maße in seinem Verstande gegründet; in intellectueller Schief• heit'. Unklarheit und in Mangel an Tiefe, in Verurtheilen und unrichtigen oder einseitigen Ansichten, und vorzüglich in dem nicht genug aufgeregten und gestärkten Wahrheitssinne. Auch ist es gar nicht einmal denkbar, daß der Wille für das Gute gewonnen werden könne, ohne vorhergegangene oder gleichzeitige Bildung zur Vernünftigkeit . Denn das unbedingte Thun des Guten ist ja höchste Vernünftigkeit.( ...) '
82 83
und die Bedingung, unter der allein sich das Ewige in ihm entwickeln kann, sie sind
das Uebungs- und Bildungsmaterial, an dem seine höhere Natur erstarken, durch
d_as der Geist frei werden soll für seine höhere Freiheit. - Welcher Platz uns daher
auch von der Vorsehung möge angewiesen sein, er ist für unsere Erziehung _ und Ausbildung der paßlichste . Auf keinem andern könnten wir das werden, was wir auf
diesem, der für unsere Kräfte genau berechnet ist, auf dem wir die meiste Gelegen•
heit haben, sie zu üben, zu werden vermögen. Wir sollen uns, in dem uns hier ange•
wiesenen kleinen Wirkungskreise, zu einem größern vorbereiten; und wohl uns,
- wenn wir dies thun! Wer das geringfügigste Geschäft gewissenhaft und
pflicht• mäßig vollbringt, wird dadurch zu dem wichtigsten, zu dem
bedeutendsten, fähig und würdig.
Es wird also in der Erreichung der irdischen Bestimmung das sicherste Funda•
ment zu der ewigen gelegt.
Jeder Mensch ist nun entweder Mensch, Mann und Erdenbürger; oder Mensch,
Weib und Erdenbürger. In diese zwei Hauptsätze theilt sich das - Menschenge•
schlecht; bleiben wir bei dem zweiten stehen.
Jedes Kind, das ein Mädchen ist, soll also werden, erstlich: Mensch; zweitens :
Weib; drittens: Erdenbürger.
Jean Paul: Levana
§ 26 .
. . . Jeder von uns hat seinen idealen Preismenschen in sich, den er heim•
lich von Jugend auf frei oder ruhig zu machen strebt. Am hellesten
schauet jeder diesen heiligen Seelen-Geist an in der Blütezeit aller
Kräfte, im Jüngling-Alter. Wenn nur jeder sich es recht klar bewußt
wäre, was er damals hatte werden wollen und zu welchen andern und
höhern Wegen und Zielen das eben aufgeblühte Auge hinaufgesehen als
später das einwelkende! Denn sobald wir an irgendein gleichzeitiges In•
und Umeinander-Wachsen des leiblichen und des geistigen Menschen ·
glauben: so müssen wir auch die Blütezeiten beider zusammenfallen las•
sen. Folglich wird dem Menschen sein individueller Idealmensch am
hellsten (wenn auch nur hinter Wünschen und Träumen) gerade in der
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Vollblüte des Jugendalters erscheinen. Und zeigt sich dies nicht in der
gemeinsten Seele, welche z. B. während dieses Durchgangs, _vorher und
nachher in sinnliche und habsüchtige Liebe gesunken, einmal in edler
kulminierte und mitten am Himmel stand? - Später verwelkt bei der
Menge der Idealmensch von Tage zu Tage - und der Mensch wird, fal•
lend und überwältigt, lauter Gegenwart, Geburt der Not und Nachbar•
schaft. Aber die Klage eines jeden: "Was hätt' ich nicht werden kön•
nen!" bekennt das Dasein oder Dagewesensein eines ältesten paradiesi•
schen Adams neben und vor dem alten Adam.
Aber in einem Anthropolithen (versteinerten Menschen) kommt der Ideal•
mensch auf der Erde an; ihm nun von so vielen Gliedern die Stein•
rinde wegzubrechen, daß sich die übrigen selber befreien können, dies ist
oder sei Erziehung .... Folglich hat die Erziehung im zweiten Kapitel
die Individualität des 1dealmenschen
§ 27.
auszuforschen und hochzuachten....
§ 28.
Auch gibt dies jeder Erzieher zu, sogar der matteste, und flößet diese
Achtung für Eigentümlichkeit , z. B. für seine eigene, den Zöglingen ein;
nur arbeitet er in derselben Stunde wieder stark darauf hin, daß jeder
nichts als sein Stief- und Kebs-Ich werde . .Sich selber läßt er so viel In•
dividualität hingehen, als er braucht, um fremde auszutilgen und seine
einzupflanzen. Wenn überhaupt jeder Mensch heimlich seine eigne
Kopiermaschine ist, die er an andere ansetzt, und wenn er gern alles in
seine geistliche und geistige Verwandtschaft als Seelen-Vettern hinein•
zieht, z.B. Homer gern die Weltteile irr Homeriden und Homeristen
verwandelt, oder Luther in Lutheraner: so wird der Erzieher noch mehr
streben, in den wehr- und gestaltlosen weichen Kindergeistern sich ab•
und nachzudrucken, und der Vater des Kindes trachten, auch der
Vater des Geistes zu werden. Gott gebe, daß es selten gelinge! Und zum
Glücke glückt es auch nicht! Bloß die Mittelmäßigkeit verdrängt fremde
durch eigne, d. h. eine unmerkliche Individualität durch eine unmerk•
liche; daher die Menge Nachahmer der Nachahmer . ..
§ 45.
. . . Einen traurigen Mann erduld' ich, aber kein trauriges Kind; denn
jener kann, in welchen Sumpf er auch ei1.1:sinke, die Augen entweder in
das Reich der Vernunft, oder in das der Hoffnung erheben; das kleine
Kind aber wird von einem schwarzen Gifttropfen der Gegenwart ganz
umzogen und erdrückt. Denkt euch ein Kind, das zum Blutgerüst gefüh•
ret würde - denkt euch Amor in einem deutschen Särglein -oder seht
einen Schmetterling nach dem Ausreißen seiner Vierflügel kriechen als
Raupe: so fühlt ihr, was ich meine . ...
Der erste Schreck ist desto gefährlicher, je 1unger er fällt; später er•
schrickt der Mensch immer weniger; der kleine Wiegen- und Betthimmel
des Kindes wird leichter ganz verfinstert als der Sternenhimmel des
Mannes.
§ 47.
... Freudigkeit - dieses Gefühl des ganzen freigemachten Wesens und
Lebens, dieser Selbstgenuß der innern Welt, nicht eines äußern Weltteil•
chens - öffnet das Kind dem eindringenden All, sie empfängt die
Natur nicht lieb-, nicht wehrlos, sondern gerüstet und liebend und lässet
alle jungen Kräfte wie Morgenstrahlen aufgehen und der Welt und sich
entgegenspielen, und sie . gibt Stärke, wie die Trübseligkeit sie nimmt.
Die frühem Freudenblumen sind nicht Kornblumen zwischen der Saat,
sondern jüngere kleinere Ähren. Es ist eine liebliche Sage, daß die Jung•
frau Maria 14 und der Dichter Tasso als Kinder nie geweinet ....
§ 48.
Was heiter und selig macht und erhält, ist bloß Tätigkeit. Die gewöhn•
lichen Spiele der Kinder sind - ungleich den unsrigen - nichts als die
Äußerungen ernster Tätigkeit, aber in leichtesten Flügelkleidern; wie•
wohl auch die Kinder ein Spiel haben, das ihnen eines ist, z. B. das
Scherzen, sinnloses Sprechen, um sich selber etwas vorzusprechen etc.
Schriebe nun ein Deutscher ein Werkchen über die Kinderspiele -wel•
ches wenigstens nützlicher und später wäre als eines über die Karten•
spiele -, so würde er sie sehr scharf und mit Recht - dünkt mich -
nur in zwei Klassen teilen: 1) in Spiele oder Anstrengungen der emp•
fangenden, auffassenden, lernenden Kraft; 2) in Spiele der handelnden,
gestaltenden Kraft. Die eine Klasse würde die Tätigkeit von außen hin•
ein begreifen, gleich·den Sinn-Nerven; die andere die von innen hinaus,
gleich der Beweg-Nerven. Folglich würde der Verfasser, wenn er sonst
tief ginge, in die erste Klasse, die er die theoretische nennt - die zweite
hingegen die praktische -, die meisten Spiele bringen, die eigentlich nur
eine kindliche Experimental-Physik, -Optik, -Mechanik sind. Die Kinder
haben z.B. große 'Freude, etwas zu drehen, zu heben - Schlüssel in
Schlösser oder sonst eine Sache in die andere zu stecken - Türen auf•
und zuzumachen, wozu aber noch die dramatische Phantasie, den Raum
bald eng, bald weit, sich bald einsam, bald gesellig zu sehen, eingreift -
einem elterlichen Geschäfte zuzuschauen, ist ihnen ein solches Spiel -
desgleichen Sprechen-Hören. -
14 Originalanm.: Pertschens Kirchenhistorie.
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In die zweite oder praktische Abteilung würde der gedachte Verfasser
alle Spiele setzen müssen, worin sich das Kind seines geistigen Überflus•
ses durch dramatisches Phantasieren, und seines körperlichen durch Be•
wegungen zu entladen sucht. Die Beispiele werden in den nächsten Para•
graphen kommen.
Doch müßte, glaub' ich, ein so wissenschaftlicher Mann noch eine dritte,
schon angedeutete Spielklasse errichten, die nämlich, worin das Kind das
Spiel nur spielt, nicht treibt, noch fühlt, nämlich die, wo es behaglich
Gestalt und Ton nimmt und gibt - z. B. aus dem Fenster schauet, auf
dem Grase liegt, die Amme und andere Kinder hart. -
§ 49.
Das Spielen ist anfangs der verarbeitete Überschuß der geistigen und der
körperlichen Kräfte iugleich; . später, wenn der Schulzepter die geistigen
alles Feuers bis zum Regnen entladen hat, leiten nur noch die Glieder
durch Laufen, Werfen, Tragen die Lebenfülle ab. Das Spiel ist die erste
Poesie des Menschen (Essen und Trinken ist seine J>rose und das Streben
danach sein erstes solides Brotstudium und Geschäftleben); folglich bil•
det das Spiel alle Kräfte, ohne einer eine siegende Richtung anzuwei•
sen ...
§ 51.
Zuerst spielt der Kindgeist mit Sachen, folglich mit sich. Eine Puppe ist
mit ihm ein Volk oder eine Schauspielergesellschaft; und er ist der Thea•
terdichter und Regisseur. Jedes Stückchen Holz ist ein lackierter Blu•
menstab, an welchen die Phantasie hundertblätterige Rosen aufstengeln
kann. Denn nicht bloß für Erwachsene ist ah und für sich, sobald bloßes
Einbildglück entscheidet, das Spielzeug glei hgültig, ob mit Kaiser- oder
mit Lorbeerkronen, mit Schäfer- oder Marschallstäben, Streit- oder
Dreschflegeln; sondern sogar für Kinder. Vor der wunderkräftigen
Phantasie treibt jeder Aaronsstecken Blüten. Wenn die elysäischen Fel•
der der Alten ohnweit Neapel (nach Marcard) auf nichts hinauslaufen
als auf einen Busch in einer Höhle, so ist ja für Kinder ein Busch ein
Wald; und sie haben jenen Himmel, den Luther in seinen Tischreden den
Seligen verspricht, wo die Wanzen wohlriechend, die Schlangen spie•
lend, die Hunde goldhäutig sind und Luther ein Lamm; ich meine, im
kindlichen Himmel ist der Vater Gott der Vater, die Mutter die Mutter
Gottes, die Amme eine Titanide, der alte Diener ein Engel der Ge•
meine, der Puterhahn ein Edencherub 1 und Eden wiederholt. Wißt ihr
denn nicht, daß es eine Zeit gibt, wo die Phantasie noch stärker als im
Jünglingalter schafft, nämlich in der Kindheit, worin auch Völker ihre
Götter schaffen und nur durch Dichtkunst reden? - ·
296
Vergeßt es doch nie, daß Spiele der Kinder mit toten Spielsachen darum
so wichtig sind, weil es für sie nur lebendige gibt und einem Kinde eine
Puppe so sehr ein Menschen ist als einem Weibe eine erwachsene, und
weil ihm jedes Wort ein Ernst ist. Im Tiere spielt nur der Körper, im
Kinde die Sede. Diesem begegnet .nur Leben - keines begreift über•
haupt einen Tod oder etwas Totes -; und daher umringt sich das frohe
Wesen belebend nur mit Leben und sagt z.B.: „die Lichter haben sich
zugedeckt und sind zu Bette gegangen - der Frühling hat sich angezo•
gen - das Wasser kriecht am Glase herab - da wohnt sein Haus -der
Wind tanzt" 15 - oder von einer leeren räderlosen Uhr: „sie ist nicht
lebendig" ....
„. -···--------·--
60
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Schleiermacher
1. Wesen und Aufgabe der Erziehung
Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf
die jüngere, und sie ist um so unvollkommener, je weniger gewußt wird,
was man tut und warum man es tut. Es muß also eine Theorie geben, die
von dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend
sich die Frage stellt: Was will denn eigentlich die ältere Generation mit
der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der
Tätigkeit entsprechen? Auf diese Grundlage des Verhältnisses der älte•
ren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung auf die andere
obliegt, bauen wir alles, was in das Gebiet dieser Theorie fällt ....
Die Pädagogik ist eine rein mit der Ethik zusammenhängende, aus ihr
abgeleitete angewandte Wissenschaft, der Politik koordiniert . ...
Wenn es nämlich so steht um die anthropologischen Voraussetzungen,
und auch das ethische Ziel infolge der versch iedenen ethischen Systeme
nicht ein durchaus entschiedenes ist: welchen Grad von Allgemeingültig•
keit kann wohl unsere Theorie haben? Wird es möglich sein, eine allge•
meingültige Pädagogik aufzustellen, d. h. für alle Zeiten und Räume?
Diese Frage müssen wir verneinen. Sie hängt aber freilich mit der ande•
ren zusammen: was soll unsere Theorie für eine Gestalt haben? Soll sie
rein empirisch sein, so daß alle Maximen nichts sind als Resultate der
Erfahrung; oder spekulativ, so daß alle Regeln aus dem Begriff der
menschlichen Natur abgeleitet werden?
Wenn wir letzteres bejahen können, dann ist auch die erste Frage ent•
schieden. Die menschliche Natur ist an und für sich immer dieselbe; und
sind alle Erziehungsregeln aus dieser abgeleitet, so müssen sie auch für
alle Menschen ohne Unterschied von Zeit und Raum gelten und gleich
sein. Ist aber das erste wahr, daß alle Maximen nur Resultate der Er•
fahrung sind, so wäre die Pädagogik etwas absolut Spezielles und müßte
bei jedem anderen Gegebenen verschieden sein und fortwährend sich
ändern.
Wenn wir die eme rrage leugneten, so wollen wir dadurch die zweite nicht bejahen in bezug auf ihren ersten Teil. Denn wäre die Pädagogik
etwas absolut Spezielles, dann könnte gar nichts dieser Theorie auf einen
wissenschaftlichen Charakter Anspruch geben. Bloße Empirie kann nicht
wissenschaftlich sein, wenngleich eine Menge von geistreichen und
scharfsichtigen Beobachtungen aufgestellt werden können. Es muß im
Gegenteil der Pädagogik das Spekulative zum Grunde liegen, da die
Frage, wie der Mensch erzogen werden soll, nicht anders als aus der Idee
des Guten beantwortet werden kann. Aber darüber werden wir wohl
leicht uns einigen, daß, was aus dieser Idee unmittelbar ausgeht, eigent•
lich nur die allgemeine Formel enthalten kann, die den Zusammenhang
der Erziehungstheorie mit der Ethik und Wissenschaft angibt. So wie
aber in die Theorie Spezielles hineinkommen soll, so werden wir auch
faktische Voraussetzungen annehmen, ohne welche die Theorie nicht be•
stehen kann. Denn die Theorie der Erziehung ist nur die Anwendung des
spekulativen Prinzips der Erziehung auf gewisse gegebene faktische
Grundlagen. Diese faktischen Voraussetzungen werden aber einerseits · i sich beziehen auf den Zustand, in welchem die Pädagogik den zu Erzie• :j henden findet, andererseits auch den Zustand, für welchen er zu erzie• 1
hen ist. Stellen wir nun die allgemeine aus der Ethik hergeleitete Formel 1
für die Erziehung des Menschen auf und sagen: Die Erziehung soll be• i 1
wirken, daß der Mensch, so wie sie ihn findet - unentschieden gelassen 1.
die ursprüngliche Gleichheit oder Ungleichheit - durch die Einwirkun• j
gen auf ihn der Idee des Guten möglichst ensprechend gebildet werde: so ' wird die Anwendung der Formel unbedingt abhängen von faktisch Ge•
gebenem . ...
(Hierzu Seite 372 f: Gibt es eine allgemeingültige Pädagogik? Ich ver•
neine; wie den Staat und die Philosophie. Sie wäre sonst die Kunst aller
Künste und statt aller anderen Künste und Wissenschaften, und alles
würde durch sie, da doch das Allgemeine von dem Einzelnen nicht mehr
abhängen kann als dieses von jenem. Zweitens. Ist die Pädagogik empi•
risch oder spekulativ? Viel .Herrliches aus der bloßen Beobachtung
[Levana], aber es entbehrt der Form. Das Spekulative gibt nur Fach•
werk, um die Tat oder die Beobachtung hineinzulegen. Sie oszilliert
nach beiden Seiten. Unsere muß mehr spekulativ sein.)
Die Erziehung - im engeren Sinne beendet, wenn der Zeitpunkt ein•
tritt, daß die Selbsttätigkeit der Einwirkung anderer übergeordnet wird
- soll den Menschen abliefern als ihr Werk an das Gesamtleben im
Staate, in der Kirche, im allgemeinen freien geselligen Verkehr und im
Erkennen oder Wissen. ...
Sagen wir, die Erziehung soll die heranwachsende Jugend so ausbilden,
daß sie tüchtig ist und geeignet für den Staat, wie er eben ist, so würde
dadurch nichts anderes geleistet werden als dieses, die Unvollkommen•
heit würde _ verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt
werden. Die ganze jüngere Generation würde mit ihrem ganzen Wesen
und vollkommener Zustimmung in diese Unvollkommenheit eingehen, und wir wären wiederum in einem neuen Widerspruch. Unsere Theorie
erscheint dann als ein Ausfluß der Theorie, nach der die freie mensch•
liche Tätigkeit gehemmt wird; und es würde unserer Theorie diese For•
mel aufgeprägt sein: Damit die jüngere Generation zur Zufriedenheit
mit dem Bestehenden hingeleitet werde, soll sie nie den Wunsch empfin•
den, die Unvollkommenheit zu verlassen.
Wollen wir das Entgegengesetzte annehmen und ausgehend von dem Be•
wußtsein der Unvollkommenheit sagen, das Ziel der Pädagogik sei, daß
jede Generation nach vollendeter Erziehung den Trieb und das Geschick
in sich habe, die Unvollkommenheiten auf allen Punkten des gemeinsa•
men Lebens zu verbessern: dann kommen wir wieder in das Unbe•
stimmte hinein, von dem fern zu bleiben unsere Aufgabe ist. Können
wir die Erziehung auf das Bestehende richten und an dasselbige anknüp•
fen, so haben wir eine bestimmte Basis und Punkte zum Anknüpfen.
Dazu kommt noch dieses, daß diese Formel vielerlei Gefährliches in sich
schließt. Denn wenn man es darauf anlegt, die Jugend zu lauter Refor•
matoren zu erziehen: so steht das wieder in dem grellsten Widerspruche
damit, daß sie selbsttätig in das Bestehende mit hineingezogen werden
und vielleicht auf die gefährlichste Weise eingreifen würde.
Wir müssen also beides miteinander vereinigen; und nur auf diese Weise
können wir die richtige Auflösung finden. Das Erhalten und Verbessern
scheint allerdings gegeneinander zu streiten; aber dieses ist doch nur der
Fall, wenn man beim toten Buchstaben stehen bleibt. Sowie wir aber auf
das Leben sehen und diese Formel durch die Anschauung uns entwik•
keln, so sehen wir, daß beides immer zusammen besteht, wenn auch. frei•
lich unter entgegengesetzten Beziehungen. Es kommt zuweilen so zu ste•
hen, daß das Verbessern, insofern es zugleich zerstörend ist, das Hervor•
ragende, das Erhalten das Zurücktretende ist. Es ist das, was wir das
Revolutionäre nennen. Die entgegengesetzte Form ist die, wo das Erhal•
ten das Hervorragende ist und das Verbessern als Zerstören nur im ein
zelnen hervortritt. Halten wir uns an die Anschauung, wie das Leben sie
uns bietet, so müssen wir sagen, in der Natur ist ein beständiges Zerstö•
ren; je mehr sich das Verbessern daran anschließt, desto näher steht es
dem Erhalten, so daß die entgegengesetzte Form, wo das Zerstören über•
wiegend auftritt, das Revolutionäre, nicht nötig wird; je mehr sich das
Verbessern an das Erhalten anschließt, desto geringer ist seine
DiH l.' l'l!! von. dem Erh:ilten: So können wir s:igen, die eigentliche Auf• gabe sei, alles Unvollkommene so zu verbessern, daß die entgegenge•
setzte Form des Revolutionären gar nicht zum Vorschein komme. Wo es
dennoch geschieht, da hat dies immer seinen Grund in dem Unsittlichen,
1
was vorhergegangen ist. Wäre von Anfang an sittlich gehandelt worden, t so würde das Revolutionäre nicht hervorgetreten sein.
1
So wollen wir also die Formel stellen: Die Erziehung soll so eingerichtet
werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die
Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch
tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen ....
Wir gingen bis hierher davon aus, daß der Einzelne für einen bestimm•
ten Staat zu erziehen sei; nun aber müssen wir eigentlich eingestehen,
daß die Erziehung immer schon Volkstümlichkeit, also Zugehörigkeit
zu einem bestimmten Staate, bis auf einen gewissen Grad entwickelt,
oder doch die Anlage zu einer bestimmten Volkstümlichkeit vorfindet.
Wenn aber Staat und Volkstümlichkeit immer zusammengehören, und
jener das Geistige repräsentiert, so wie diese das Physische, so müssen
wir sagen, die Erziehung habe immer schon in dem Einzelnen eine Be•
stimmtheit sowohl für das Ethische als auch für das Physische, und eine
Neigung zum Leben im Staat vorauszusetzen. Was also früher als End•
punkt von uns bezeichnet worden ist, das wird hier in anderer Bezie•
hung als- Anfangspunkt gesetzt. Was aber wird von hier aus als End•
punkt der Erziehung aufgestellt werden können?
Wenn wir den Menschen in seiner persönlichen Vollkommenheit be•
trachten am Ende der Erziehung, so muß jeder Einzelne in dem Ganzen
durch eine eigentümliche Bestimmtheit sich von allen anderen, wenn
auch nur graduell, unterscheiden, so daß der Grad, in welchem er per•
sönlich eigentümlich ausgebildet ist, zugleich das Maß für die Vollkom•
menheit seiner Entwicklung überhaupt ist; so wie auch die größere oder
geringere seltener oder häufiger hervortretende Eigentümlichkeit der
Einzelnen in einem Volke den Maßstab für die Bildungsstufe des Volkes
gibt. Wenn die persönliche Eigentümlichkeit in einem Volke noch zu•
rücktritt, so steht dasselbe auch auf einer untergeordneten Stufe der Ent•
wicklung. Dies gilt auch von den einzelnen Abteilungen des Volkes.
Von dem hier aufgestellten Gesichtspunkt aus werden wir sagen müssen:
Das Ende der Erziehung ist die Darstellung einer persönlichen Eigen•
tümlichkeit des Einzelnen.
Wir haben aber nun dieses mit dem, was wir zuerst als Endpunkt der
Erziehung fanden, zu vereinigen. Vermöge des ersten s;gen wir: Die Er•
ziehung soll d.en Einzelnen ausbilden in der Ähnlichkeit mit dem größe•
ren moralischen Ganzen, dem er angehört. Der Staat empfängt aus den
Händen der Erzieher die Einzelnen als ihm analog gebildet, so daß sie in das Gesamtleben als in ihr eigenes eintreten können. Vermöge des ande•
ren sagen wir: Die Erziehung empfängt schon den Einzelnen in dieser
dem Staate homogenen Bildung, und soll in demselben ein eigentümli h
333
ausgebildetes Einzelwesen darstellen. So gestellt wird niemand zwischen
beiden einen Widerspruch finden. Die Volkstümlichkeit ist zwar als An•
lage gegeben, die sich von selbst entwickelt, aber nicht so, daß die Ein•
wirkung durch Erziehung überflüssig wäre; die persönliche Eigentüm•
lichkeit aber kann keineswegs willkürlich auf gepfropft werden, son•
dern man kann nur den Indizien, welche allmählich sich manifestieren,
nachgehen. So teilt sich das Geschäft der Erziehung in die mehr univer•
selle und in die mehr individuelle Seite . ...
Von dem größten Einfluß auf die Organisation der Erziehung ist es, zu
bestimmen, wenn doch die Erziehung beides, die Entwicklung der Eigen•
tümlichkeit, soweit solche da ist, und die Tüchtigkeit für die großen sitt•
lichen Gemeinschaften beabsichtigt, wie beides sich gegeneinander ver•
halte; ob beides zusammenfalle und durch dieselbe Weise erreicht wer•
den könne. Wir werden aber darüber nicht auf fruchtbare Weise ent•
scheiden können, wenn wir nicht zuvor eine andere Frage beantwortet
haben... .
Wenn nämlich auch die Erziehung von ihrem Anfange bis zum Ende ein
Ganzes bildet, so zerfällt sie doch ihrem Charakter nach in zwei ver•
schiedene Perioden. Die physische Fürsorge, die mit dem Anfang des
Lebens beginnt und von der Natur in der Eltern Hände gelegt ist, geht
durch die erste Periode hindurch, vermindert sich nur allmählich. In der
ersten Periode gehört die Erziehung dem Hauswesen an. In der zweiten
Periode entsteht eine neue Aufgabe; es treten Bedürfnisse ein, wodurch
Hilfe postuliert wird. Die Eltern allein können die Aufgabe nicht lösen
und die Bedürfnisse nicht befriedigen. Es wÜ de auf diesem Punkt der
Anteil des Staates an der Erziehung angehen, und der Staat mit der er•
forderlichen Unterstützung hinzutreten; ihm liegt es dann ob, entweder
das Minimum, diejenigen zu .bezeichnen, die den Eltern die Aufgabe
lösen helfen; oder das Maximum, den Eltern die Erziehung in der zwei-
ten Periode ganz abzunehmen. ·
Unser Zustand der Dinge ist auf eine solche Ausgleichung basiert, frei•
lich unter verschiedenen Modifikationen. Eine bestimmte Grenze zwi•
schen beiden Perioden gibt es nicht; es ist ebensowenig ein bestimmtes
Verhältnis des Anteils der öffentlichen Einwirkung auf die häusliche
Erziehung in der allerersten Zeit, noch des Anteils der Eltern und deren
Einfluß auf die öffentliche Erziehung gegeben. Wollten wir hierüber
entscheiden, dann wäre die Aufgabe, das öffentliche Leben zti betrach•
.t ten und die Yerschiedenen formen des 5taats und des Hauswesens zu
prüfen, eine politische Betrachtung, zwar höchst notwendig und wichtig,
aber uns über unsere Grenze hinausführend. Ich sehe keinen anderen
Rat, als die Untersuchung hier abzubrechen und zu sagen, wir müssen an
die jetzt bestehende Form der Erziehung unsere Theorie anschließen; die
weitere Entwicklung der Theorie wird dann wohl auch in Rücksicht auf
diesen jetzt noch unklaren Punkt Aufschluß geben....
Wir haben demnach diese Formel aufzustellen: Das ganze Geschäft der
Erziehung ist so zu teilen, daß am ;Ende eines jeden Abschnittes und
beim Übergang in einen neuen die Entwicklung der Ungleichheit und die
immer mehr sich selbst bestimmende Aussicht auf die Region, die jeder
einnehmen wird, deutlich erkannt werde als von dem Einzelnen selbst,
seinen Anlagen und seiner freien Selbsttätigkeit ausgehend, nicht als ihm
von der Erziehung gewaltsam aufgedrungen, oder vorenthalten. Und
zwar bezieht sich dies auf die ganze Erziehung als Eines angesehen, also
ohne Unterschied auf das, was von der Familie und vom Staate aus•
geht....
G4
3. Wie Gertrud ihre Kinder lehrt I.
Schon lange, ach, seit meinen Jünglingsjahren wallte mein Herz wie
ein mächtiger Strom einzig und einzig nach dem Ziel, die Quelle des
Elends zu stopfen, in die ich das Volk um mich her versunken sah.
Es ist schon über dreißig Jahre, daß ich Hand an das Werk legte, wel•
ches ich jetzt treibe. Iselins Ephemeriden bescheinigen, daß ich jetzt den
Traum meiner Wünsche nicht umfassender denke, als ich ihn · damals
schon auszuführen suchte.
Aber ich war jung, kannte weder die Bedürfnisse meines Traums, weder
die Sorgfalt, die ihre Anbahnung, noch die Kräfte, die ihre Ausführung
ansprach und voraussetzte. Das Ideal meines Traumes umfaßte Feldbau
Fabrik und Handlung. Ich hatte in allen drei Fächern eine Art vo
hohen, mir sicher scheinenden Takts für das Wesentliche meines Plans·
und es ist wahr, in diesem Wesentlichen bin ich auch heute nach all
meinen Lebenserfahrungen nur wenig von meinen damaligen Ansichten
über die Fundamente meines Plans zurückgekommen. Dennoch war
mein Zutrauen auf die Wahrheit dieser Fundamente und auf die mir an•
scheinende Sicherheit meines Takts mein Unglück. Die Wahrheiten mei•
ner Ansichten waren Wahrheiten in den Lüften, und die Zuversicht auf
den Takt in den Fundamenten meiner Zwecke war die Zuversicht eines
Schlafenden auf die Wahrheit eines Traums. Ich war in allen drei
Fächern, von denen meine Versuche ausgehen sollten, ein unerfahrnes
Kind. Es mangelte mir allenthalben an den Fertigkeiten des Details, aus
deren sorgfäldgen, ausharrenden und gewandten Behandlung die segens•
vollen Resultate, denen ich eO:tgegenstrebte, allein hervorzugehen ver•
mögen. Die Folgen dieser positiven Unfähigkeit für meine Zwecke
waren schnell. Die ökonomischen Mittel zu meinem Ziel gingen schnell
in Rauch auf, und das um so mehr, da ich im Anfang versäumte, mich
mit einem genugtuenden Hilfspersonal für meine Zwecke zu versehen,
und da ich das Bedürfnis einer solchen Mithilfe von Personen, die da:s,
was mir mangelte, gehörig ausfüllen konnten, lebhaft zu fühlen anfing,
hatte ich schon die ökonomischen Kräfte und das ökonomische Zutrauen
verloren, welches mir die Anstellung dieses Personals . hätte möglich
machen können. Es trat auch schnell eine solche Verwirrung in meine
Lage ein, die das Scheitern meiner Zwecke unausweichlich machte.
Mein Unglück war entschieden, und der Kampf gegen mein Schicksal
war jetzt nur der Kampf der schon unterliegenden Ohnmacht gegen
einen immer stärker werdenden Feind. Das Entgegenstreben gegen mein
Unglück führte jetzt zu nichts mehr. Indessen hatte ich in der unermeß•
lichen Anstrengung meiner Versuche unermeßliche Wahrheit gelernt und
unermeßliche Erfahrungen gemacht, und meine Oberzeugung von der
Wichtigkeit der Fundamente meiner Ansichten und meiner Bestrebungen
war nie größer als in dem Zeitpunkt, in dem sie äußerlich ganz scheiter•
ten. Auch wallte mein Herz immer unerschütterlich nach dem nämlichen
Ziel, und ich fand mich jetzt im Elend in einer Lage, in der ich einerseits
die wesentlichen Bedürfnisse meiner Zwecke, anderseits die Art und
Weise, wie die mich umgebende Welt über den Gegenstand meiner Be•
strebungen in allen Ständen und Verhältnissen wirklich denkt und han•
delt, erkennen und mit Händen greifen lernte, wie es mir bei einem an•
scheinend glücklichen Erfolg meiner voreilenden Versuche nicht gelun•
gen wäre, die Wahrheit dieser Ansichten also zu erkennen und mit Hän•
den zu greifen. Ich sage es jetzt mit innerer Erhebung und mit Dank ge•
gen die ob mir waltende Vorsehung, selber im Elend lernte ich das Elend
des Volks und seine Quellen immer tiefer und so kennen wie sie kein
Glücklicher kennt. Ich litt, was das Volk litt, und das V lk zeigte sich
mir, wie es war und wie es sich niemand zeigte. Ich saß eine lange Reihe
von Jahren unter ihm wie die Eule unter den Vögeln. Aber mitten im
·· Hohngelächter der mich wegwerfenden Menschen, mitten in ihrem lau•
ten Zuruf: »Du Armseliger! Du bist weniger als der schlechteste Taglöh•
ner imstande, dir selber zu helfen, und bildest dir ein, daß du dem Volke
helfen könntest?« - mitten in diesem hohnlachenden Zuruf, den ich auf
allen Lippen las, hörte der mächtige Strom meines Herzens nicht auf,
einzig und einzig nach dem Ziele zu streben, die Quellen des Elends zu
stopfen, in das ich das Volk um mich her versunken sah, und von einer
Seite stärkte sich meine Kraft immer mehr. Mein Unglück lehrte mich im•
mer mehr Wahrheit für meinen Zweck. Was niemand täuschte, das täuschte
mich immer; aber was alle täuschte, das täuschte mich nicht mehr....
358 359
Bei diesem im Dunkeln gehenden und irrige Maßregeln mit den heiter•
sten Ansichten meiner Zwecke vermischenden Gang dieser Anfangsver•
suche entwickelten sich dennoch allmählich bestimmtere Grundsätze
über mein Tun in mir selber, und indem mir mit jedem Tag klarer
wurde, daß man in den jüngern Jahren mit den Kindern gar nicht räso•
nieren, sondern sich in den Entwicklungsmitteln ihres Geistes dahin be•
schränken müsse:
1. den Kreis ihrer Anschauung immer mehr zu erweitern;
2. die ihnen zum Bewußtsein gebrachten Anschauungen ihnen bestimmt,
sicher und unverwirrt einzuprägen;
3. ihnen für alles, was Natur und Kunst ihnen zum Bewußtsein gebracht
hat und zum Teil zum Be ußtsein bringen soll, umfassende Sprach•
kenntnis zu geben; indem mir, sage ich, diese drei Gesichtspunkte mit
jedem Tage bestimmter wurden, entwickelte sich in mir ebenso allmäh•
lich eine feste Überzeugung
1) von dem Bedürfnis der Anschauungsbücher für die erste Kindheit;_
2) von der Notwendigkeit einer festen und bestimmten Erklärungsweise
dieser Bücher;
3) von dem Bedürfnis einer auf diese Bücher und ihre Erklärungsweise
gegründeten Führung zu Namen und Wortkenntnissen, die den Kindern
geläufig gemacht werden müssen, selbst ehe noch der Zeitpunkt des
Buchstabierens mit ihnen eintritt.
Der Vorteil des frühen und geläufigen Bewußtseins einer großen
Nomenklatur ist für die Kinder unschätzbar. Der feste Eindruck der
Namen macht ihnen die Sache unvergeßlich, sobald sie zu ihrem Be•
wußtsein gebracht sind, und das auf Wahrheit und Richtigkeit gegrün•
dete Zusammenreihen der Namen entwickelt und erhält in ihnen das Be•
wußtsein vom wirklichen Zusammengehören der Sachen. Die Vorteile
dieser Sache sind progressiv. Man muß nur nie denken, weil das Kind
von etwas nicht alles versteht, so dient ihm gar nichts davon. Gewiß ist
es, wenn es mit und von dem ABC-Lernen den Schall und Laut eines
großen Teils selber einer wissenschaftlichen Nomenklatur sich eigen ge•
macht hat, so genießt es dadurch wenigstens den Vorzug, den ein Kind,
das in einem großen Geschäftshause von der Wiege auf täglich mit den
Namen von zahllosen Gegenständen bekannt wird, in seiner Wohnstube
genießt ....
IV.
. . . Ich war, seitdem ich von Stans wegging, so verscheucht und ermüdet,
daß sogar die Ideen meiner alten Volkserziehungspläne in mir selbst an•
fingen zusammenzuschrumpfen und ich meine jetzigen Zwecke auf bloß
isolierte, einzelne Verbesserungen der bestehenden Schulerbärmlichkeiten
beschränken wollte. Es ist auch bloß die Not und der Umstand, daß ich
nicht einmal dieses vermochte, was mich wieder in das einzige Geleis zu•
rückzwang, in welchem das Wesen meiner alten Zwecke erreichbar ist.
Indessen arbeitete ich viele Monate in den Schranken, in die mich diese
Einschrumpfung meiner selbst hineinlockte. Es war eine eigene Lage; ich
mit meiner Unwissenheit und Ungeübtheit, aber dann auch mit meiner
Umfassungskraft und mit meiner Einfachheit unterster Winkelschulmei•
ster, und hinwieder der nämliche Mensch im nämlichen Augenblick mit
allem diesem - Unterrichtsverbesserer, und zwar in einem Zeitalter, in
dem seit Rousseaus und Basedows Epoche eine halbe Welt für diesen
Zweck in Bewegung gesetzt war. Ich wußte freilich von dem, was diese
alle taten und wollten, auch keine Silbe - nur soviel sah ich, daß die
höhern Punke des Unterrichts oder vielmehr der höhere Unterricht sel•
ber hie und da zu einer Vollkommenheit gebracht ist, dessen Glanz
meine Unwissenheit wie das Sonnenlicht eine Fledermaus blendete. Ich
fand selber die mittlern Stufen des Unterrichts weit über die Sphäre
meiner Kenntnisse erhaben und sah sogar seine untersten Punkte hin und
wieder mit einem Ameisenfleiß und mit einer Ameisentreue bearbeitet,
dessen Verdienst und Erfolg ich auf keine Weise mißkennen konnte .
Wenn ich denn aber das Ganze des Unterrichtswesens oder vielmehr das
Unterrichtswesen als ein Ganzes und in Verbindung des wirklichen,
wahren Zustands der Masse der Individuen, die unterrichtet werden
sollten, ins Auge faßte, so schien mir selber das Wenige, das ich bei
aller meiner Unwisse heit dennoch leisten konnte, noch unendlich mehr
als das, was ich sah, daß das Volk hierin wirklich genießt; und je mehr
ich dieses letzte (das Volk) ins Auge faßte, je mehr fand ich, das, was in
den Büchern für dasselbe wie ein mächtiger Strom zu fließen scheint,
löse sich, wenn man es im Dorf und in der Schulstube betrachtet, in
einen Nebel auf, dessen feuchtes Dunkel das Volk weder naß macht
noch trocken läßt und ihm hinwieder weder die Vorteile des Tages noch
diejenigen der Nacht gewähret. Ich konnte mir nicht verbergen, der
Schulunterricht, wie ich ihn wirklich ausgeübt sah, tauge für das große
Allgemeine und für die unterste Volksklasse, wenigstens so wie ich ihn
ausgeübt sah, soviel als gar nichts.
Soweit als ich ihn kannte, kam er mir wie ein großes Haus vor, dessen
oberstes Stockwerk zwar in hoher, vollendeter Kunst strahlt, aber nur
von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittlern wohnen denn schon
mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine
menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten, und wenn etwa
einige Gelüste zeigen, in ihrem Notzustand etwas tierisch in dieses obere
Stockwerk hinaufzuklettern, so schlägt man ihnen, wo man das sieht,
360 361
ziemlich allgemein auf die Finger und hie und da wohl gar einen Arm
oder ein Bein, das sie bei diesem Hinaufklettern anstrengten, entzwei;
im dritten unten wohnt denn endlich eine zahllose Menschenherde, die
für Sonnenschein und gesunde Luft vollends mit den obern das gleiche
Recht haben; aber sie wird nicht nur im ekelhaften Dunkel fensterloser
Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihnen durch Binden
und Blendwerke die Augen sogar zum Hinauf gucken in dieses obere
Stockwerk untauglich.
Freund! Diese Ansicht der Dinge führte mich natürlich zur Überzeu•
gung, daß es wesentlich und dringend sei, die Schulübel, die Europas
größere Menschenmasse entmannen, nicht bloß zu überkleistern, sondern
sie in ihrer Wurzel zu heilen, daß folglich halbe Maßregeln hierin gar
leicht zur zweiten Portion Gift werden dürften, mit der man die Wfr•
kungen der ersten n icht nur nicht stillstellen könnte, sondern sicher ver•
doppeln müßte. Das wollte ich denn freilich nicht; indessen fing sich
mit jedem Tage mehr in mir das Gefühl zu entwickeln an, daß es
wesentlich unmöglich sei, den Schulübeln im großen und dauerhaft ab•
zuhelfen, wenn man nicht dahin gelangen könne, die mechanische Form
alles Unterrichts den ewigen Gesetzen zu unterwerfen, nach welchen der
menschliche Geist sich von sinnlichen Anschauungen zu deutlichen Be•
griffen erhebt....
V. Ich habe dir sie hingeworfen, diese einzelnen Sätze, aus denen, wie ich
glaube, der Faden einer allgemeinen und psychologischen Unterrichtsme•
thode sich herausspinnen läßt.
Sie befriedigen mich nicht; ich fühle es, ich bin nicht imstande, das
Wesen der Naturgesetze, auf denen diese Sätze ruhen, mir in ihrer gan•
zen Einfachheit und in ihrer ganzen Umfassung aufzustellen. Soviel sehe
ich, sie haben sämtlich eine dreifache Quelle.
Die erste dieser Quellen ist die Natur selber, vermöge welcher sich unser
Geist von dunkeln Anschauungen zu deutlichen Begriffen empor•
schwingt.
Aus dieser Quelle fließen folgende Grundsätze, die als Fundamente der
Gesetze, deren Natur ich nachspüre, anerkannt werden müssen.
1. Alle Dinge, die meine Sinne berühren, sind für mich nur insoweit
Mittel, zu richtigen Einsichten zu gelangen, als ihre Erscheinungen mir
ihr unwandelbares , unveränderliches Wesen vorzüglich vor ihrem wan•
delb<>.t"en Wechselzust:rnd oder ihrer Beschaffenheit in die Sinne fallen
machen - sie sind umgekehrt für mich insoweit Quellen des Irrtums
und der Täuschung, als ihre Erscheinungen mir ihre zufälligen Beschaf•
fenheiten vorzüglich vor ihrem Wesen in die Sinne fallen machen.
362
2. An eine jede dem menschlichen Geist zur Vollendung ihres Ein•
drucks eingeprägte und unauslöschlich gemachte Anschauung reihen sich
mit großer Leichtigkeit und soviel als unwillkürlich ein ganzes Gefolge
[von] dieser Anschauung mehr oder weniger verwandten Nebenbegriffen .
3. So wie nun das Wesen einer Sache mit unverhältnismäßig stärkerer
Kraft in deinem Geiste eingeprägt ist _als ihre Beschaffenheit, so führt
dich de_ r Organismus deiner Natur durch sich selber in Rücksicht auf
diesen Gegenstand täglich von Wahrheit zu Wahrheit; so wie hingegen
die wandelbare Beschaffenheit einer Sache unverhältnismäßig stärker als
ihr Wesen in deinem Geiste eingeprägt ist, führt dich der Organismus
deiner Natur über diesen Gegenstand täglich von Irrtum zu Irrtum .
4. Durch das Zusammenstellen von Gegenständen, deren Wesen das
nämliche ist, wird deine Einsicht über die innere Wahrheit derselben
wesentlich und allgemein erweitert, geschärft und gesichert, der einsei•
tige, _ überwiegende Eindruck von Beschaffenheiten einzelner Gegen•
stände zum Vorteil des Eindrucks, den ihr Wesen auf dich machen soll
geschwächt, das Verschlingen deines Geistes durch die isolierte Kraf;
einzelner - Beschaffenheitseindrücke verhütet und du vor der Gefahr be•
wahret, in eine gedankenlose Vermischung der Außenseite der Gegen•
stände mit ihrem Wesen und dadurch in eine übertriebene Anhänglich•
keit und Vorliebe für irgendeine Sache, die dir eine bessere Einsicht als
Nebensache unterordnet, und in die phantastische Kopffüllung mit sol•
chen Nebensachen zu fallen.
Es kann nicht anders sein, je mehr sich der Mensch wesentliche, umfas•
sende und allgemeine Ansichten der Dinge eigen gemacht hat, je weniger
können beschränkte, einseitige Ansichten ihn über das Wesen seines Ge•
genstandes irrführen; je weniger er hingegen in einer umfassenden An•
schauung der Natur geübt ist, je leichter können einzelne Ansichten von
einem wandelbaren Zustand einer Sache die wesentliche Ansicht eines
Gegenstandes in ihm verwirren und sogar auslöschen.
5. Auch die verwickelteste Anschauung besteht aus einfachen Grund•
teilen. Wenn du dich über diese zu einer bestimmten Klarheit gebracht
hast, so wird dir das Verwickelteste einfach.
6. Durch je mehrere Sinne du das Wesen oder die Erscheinungen einer
Sache erforschest, je richtiger wird deine Erkenntnis über dieselbe.
Das scheinen mir die Grundsätze des physischen Mechanismus, die sich
aus der Natur unsers Geistes selber herleiten. An sich schließen sich die
allgemeinen Gesetze dieses Mechanismus selber, davon ich jetzt nur noch
dieses berühre: Vollendung ist das größte Gesetz der Natur; alles Un•
vollendete ist nicht wahr.
Die zweite Quelle dieser physisch-mechanischen Gesetze ist die mit die-
363
1
sem Anschauungsvermögen allgemein verwoberie Sinnlichkeit meiner
Natur. Diese schwankt in allem ihrem Tun zwischen der Neigung, alles zu ken•
nen und alles zu wissen, und derjenigen, alles zu genießen, die den
Drang des Wissens und der Erkenntnis stille. stellt, einher. Als bloße
physische Kraft wird die Trägheit meines Gsechlechts durch seine
Nasenweisheit belebt und seine Nasenweisheit hinwieder durch seine
Trägheit stille gestellt. Aber weder das Beleben des einen noch das Still•
stehen des andern hat an sich selbst mehr als physischen Wert; hingegen
als sinnliches Fundament meiner Forschungskraft hat das erste, und als
sinnliches Fundament der Kaltblütigkeit im Urteilen hat das zweite
einen höhern Wert. Wir gelangen durch den unermeßlichen Reiz, den
der Baum der Erkenntnis für unsere sinnliche Natur hat, zu allem un•
serm Wissen, und durch das Trägheitsprinzipium, das unserm leichten,
oberflächlichen Herumfliegen von Anschauung zu Anschauung ein Ziel
setzt, reifet der Mensch vielseitig zur Wahrheit, ehe er sie ausspricht.
Aber unsere Wahrheitsamphibien wissen nichts von diesem Reifen; sie
quaken die Wahrheit, ehe sie sie ahnen, geschweige ehe sie sie kennen; sie
können nichts anderes; es fehlt ihnen sowohl an der Kraft der Vierfüßi•
gen, auf festem Boden zu stehen, als an den Flossen der Fische, über Ab•
gründe zu schwimmen, und an den Flügeln der Vögel, sich gegen die
Wolken zu erheben. Sie kennen das willenlose Anschauen der Gegen•
stände so wenig als Eva und haben daher bei ihrem unreifen Wahrheits•
verschlingen mit ihr das nämliche Schicksal.
Die dritte Quelle dieser physisch-mechanischen Gesetze liegt in dem
Verhältnis meiner äußern Lage mit meinem Erkenntnisvermögen.
Der Mensch ist an sein Nest gebunden, und wenn er es an hundert Fäden
hängt und mit hundert Kreisen umschreibt, was tut er mehr als die
Spinne, die ihr Nest auch an hundert Fäden hängt und mit hundert
Kreisen umschreibt? Und was ist der Unterschied von einer etwas größe•
ren und einer etwas kleineren Spinne? Das Wesen von ihrem Tun ist: sie
sitzen alle im Mittelpunkt des Kreises, den sie umschreiben; aber der
Mensch wählt den Mittelpunkt, in dem er wallet und wehet, nicht ein•
mal selbst, und er erkennt als bloßes physisches Wesen alle Wahrheit der
Welt gänzlich nur nach dem Maße, als die Gegenstände der Welt, die
ihm zur Anschauung kommen, sich dem Mittelpunkte nähern, in dem
er wallet und wehet, und meistens ohne sein Zutun wallen und weben
muß.
VI. ...Die Welt, sagte ich in diesen träumenden Selbstgesprächen zu mir sel• ber, liegt uns als ein ineinanderfließendes Meer verwirrter Anschauungen
vor Augen; die Sache des Unterrichts und der Kunst ist es, wenn durch sie
unsere an der Hand der bloßen Natur für uns nicht rasch genug fortriik•
kende Ausbildung wahrhaft und ohne Nachteil für uns vergeschwindert
werden soll, daß sie die Verwirrung, die in dieser Anschauung liegt, auf•
hebe, die Gegenstände unter sich sondere, die ähnlichen und zusammen•
gehörigen in ihrer Vorstellung wieder vereinige, sie alle uns dadurch
klarmache und nach vollendeter Klarheit derselben in uns zu deutlichen
Begriffen erhebe. Und dieses tut sie, indem sie uns die ineinanderfließen•
den, verwirrten Anschauungen einzeln vergegenwärtigt, dann uns diese
vereinzelten Anschauungen in verschiedenen wandelbaren Zuständen
vor Augen stellt und endlich dieselben mit dem ganzen Kreis unseres
übrigen Wissens in Verbindung bringt.
Also geht unsere Erkenntnis von Verwirrung zur Bestimmtheit, von Be•
stimmtheit zur Klarheit und von Klarheit zur Deutlichkeit hinüber ....
Freund! So wirbelten sich die lebendigen, aber dunkeln Ideen von den
Elementen des Unterrichts lange in meiner Seele, und so schilderte ich
sie in meinem Berichte, ohne daß ich auch damals noch einen lückenlo•
sen Zusammenhang zwischen ihnen und den Gesetzen des physischen
Mechanismus entdecken konnte, und ohne daß ich imstande war, die
Anfangspunkte mit Sicherheit zu bestimmen, von denen die Reihenfol•
gen unserer Kunstansichten oder vielmehr die Form ausgehen sollte, in
welcher es möglich wäre, die Ausbildung der Menschheit durch das
Wesen ihrer Natur selber zu bestimmen, bis endlich, und das noch vor ·
kurzem, wie ein Deus ex machina der Gedanke: die Mittel der Verdeut•
lichung aller unserer Anschauungserkenntnisse gehen von Zahl, Form
und Sprache aus - mir plötzlich über das, was ich suchte, ein neues
Licht zu geben schien,
Ich warf einmal im langen Streben nach meinem Ziele oder vielmehr im
schweifenden Herum träumen über diesen Gegenstand mein Augenmerk
ganz einfach auf die Art und Weise, wie sich ein gebildeter Mensch in
jedem einzelnen Falle benimmt und benehmen muß, wenn er irgendeinen
Gegenstand, der ihm verwirrt und dunkel vor Augen gebracht wird,
gehörig auseinandersetzen und sich allmählich klarmachen will.
Er wird in diesem Fall allemal sein Augenmerk auf folgende drei Ge•
sichtspunkte werfen und werfen müssen:
1. Wieviel und wievielerlei Gegenstände vor seinen Augen schweben;
2. wie sie aussehen; was ihre Form und ihr Umriß sei;
3. wie sie heißen; wie er sich einen jeden durch einen Laut, durch ein
Wort vergegenwärtigen könne.
Der Erfolg dieses Tuns aber setzt bei einem solchen Mann offenbar fol•
gende gebildete Kräfte voraus:
364 365 1o·
1. Die Kraft, ungleiche Gegenstände der Form nach ins Aug zu fassen
und sich ihren Inhalt zu vergegenwärtigen.
2. Diejenige, diese Gegenstände der Zahl nach zu sondern und sich als
Einheit oder als Vielheit bestimmt zu vergegenwärtigen.
3. Diejenige, um sich die Vergegenwärtigung eines Gegenstandes nach
Zahl und Form durch die Sprache zu verdoppeln und unvergeßlich zu
machen.
Ich urteilte also: Zahl, Form und Sprache sind gemeinsam die Elemen•
tarmittel des Unterrichts, indem sich die ganze Summe aller äußern
Eigenschaften eines Gegenstandes im Kreise seines Umrisses und im Ver•
hältnis seiner Zahl vereinigen und durch Sprache meinem Bewußtsein
eigen gemacht werden. Die Kunst muß es also zum unwandelbaren Ge•
setz ihrer Bildung machen, von diesem dreifachen Fundamente auszuge•
hen und dahin zu wirken:
1. Die Kinder zu lehren, jeden Gegenstand, der ihnen zum Bewußtsein
gebracht ist, als Einheit, d. i. von denen gesondert, mit denen er verbun•
den scheint, ins Auge zu fassen.
2. Sie die Form eines jeden Gegenstandes, d. i. sein Maß und sein Ver•
hältnis kennen zu lehren.
3. Sie so früh als möglich mit dem ganzen Umfang der Worte und
Namen aller von ihnen erkannten Gegenstände bekannt zu machen.
Und so wie der Kinderunterricht von diesen drei Elementarpunkten aus•
gehen soll, so ist hinwieder offenbar, daß die ersten Bemühungen der
Kunst dahin gerichtet sein müssen, die Grundkräfte des Zählens, Mes•
sens und Redens, deren gute Beschaffenheit der richtigen Erkenntnis
aller Anschauungsgegenstände zum Grunde liegen, mit der höchsten psy•
chologischen Kunst zu bilden, zu stärken und kraftvoll zu machen und
folglich die Mittel der Entfaltung und Bildung dieser drei Kräfte zur
höchsten Einfachheit, zur höchsten Konsequenz und zur höchsten Über•
einstimmung unter sich selbst zu bringen.
Die einzige Schwierigkeit, die mir bei der Anerkennung dieser drei Ele•
mentarpunkte noch auffiel, war die Frage: warum sind alle Beschaffen•
heiten der Dinge, welche uns durch die fünf Sinne bekannt werden,
nicht ebenso Elementarpunkte unserer Erkenntnis wie Zahl, Form und
Namen? Aber ich fand bald: alle mögliche Gegenstände haben unb
dingt Zahl, Form und Namen, die übrigen Eigenschaften aber, die durch
die fünf Sinne erkannt werden, besitzt kein Gegenstand so mit allen an•
dern gemein, sondern nur mit dem einen diese, mit dem andern jene. Ich
fand also zwischen Zahl, Form und Namen aller Dinge und ihren übri•
gen Beschaffenheiten einen wesentlichen und bestimmt den Unterschied,
daß ich keine anderen Beschaffenheiten der Dinge als Elementarpunkte
366
der menschlichen Erkenntnis ansehen konnte; hingegen fand ich ebenso
bald bestimmt, daß alle übrigen Beschaffenheiten der Dinge, die durch
unsere fünf Sinne erkannt werden, sich unmittelbar an diese Elementar•
punkte der menschlichen Erkenntnisse anschließen lassen; daß folglich
beim Unterrichte der Kinder die Kenntnis aller übrigen Qualitäten der
Gegenstände an die Vorkenntnis von Form, Zahl und Namen unmittel•
bar angekettet werden müsse. Ich sah jetzt, durch das Bewußtsein von
der Einheit, Form und Namen eines Gegenstandes wird meine Erkennt•
nis von ihm eine bestimmte Erkenntnis; durch allmähliche Erkenntnis
aller seiner übrigen Eigenschaften wird sie in mir eine klare Erkenntnis;
durch das Bewußtsein des Zusammenhangs aller seiner Kennzeichen
wird sie eine deutliche Erkenntnis.
Und nun ging ich weiter und fand, daß unsere ganze Erkenntnis aus drei
Elementarkräften entquillt.
1. Aus der Schallkraft, aus der die Sprachfähigkeit entspringt;
2. aus der unbestimmten, bloß sinnlichen Vorstellungskraft, aus welcher
das Bewußtsein aller Formen entspringt;
3. aus der bestimmten, nicht mehr bloß sinnlichen Vorstellungskraft, aus
welcher das Bewußtsein der Einheit und mit ihr die Zählungs- und
Rechnungs{ higkeit hergeleitet werden muß.
Ich urteilte 'also, die Kunstbildung unseres Geschlechts müsse an die er•
sten und einfachsten Resultate dieser drei Grundkräfte, an Schall, Form
und Zahl angekettet weiden, und der Unterricht über einzelne Teile
könne und werde niemals zu einem unsere Natur in ihrem ganzen Um•
fange · befriedigenden Erfolge hinlenken, wenn diese drei einfachen
Resultate unserer Grundkräfte nicht als die gemeinsamen, von der Natur
selbst anerkannten Anfangspunkte alles Unterrichts anerkannt und im
Gefolg dieser Anerkennung in Formen eingelenkt werden, die allgemein
und harmonisch von den ersten Resultaten dieser drei Elementarkräfte
unserer Natur ausgehen und wesentlich und sicher dahin' wirken, den
Fortschritt des Unterrichts bis zu seiner Vollendung in die Schranken
einer lückenlosen, diese Elementarkräfte gemeinsam und im Gleichge•
wichte beschäftigenden Progression zu lenken, als wodurch es wesentlich
und ·allein möglich gemacht wird, uns in allen diesen drei Fächern
gleichförmig von dunkeln Anschauungen zu bestimmten, von bestimm•
ten Anschauungen zu klaren Vorstellungen und von klaren Vorstell.un•
gen zu deutlichen Begriffen zu führen.
Dadurch finde ich denn endlich die Kunst mit der Natur oder vielmehr
mit der Urform, womit uns diese die Gegenstände der Welt allgemein
verdeutlicht, wesentlich und innigst vereinigt, und hiemit das Problem:
einen allgemeinen Ursprung aller Kunstmittel des Unterrichtes und mit
367 1
ihm die Form aufzufinden, in welcher die Ausbildung unsers Geschlechts
durch das Wesen unserer Natur selber bestimmt werden könnte, aufge•
löst und die Schwierigkeiten ---g' ehoben, die mechanischen Gesetze, die ich
für die Fundamente des menschlichen Unterrichts anerkenne, auf die
Unterrichtsform, welche die Erfahrung von Jahrtausenden dem Men•
schengeschlechte zur Entwicklung seiner selbst an die Hand gegeben, auf
Schreiben, Rechnen, Lesen usw. anzuwenden.
VII.
Das erste Elementarmittel des Unterrichts ist also:
der Schall.
Aus ihm leiten sich folgende spezielle Unterrichtsmittel:
1. Tonlehre, oder die Mittel, die Sprachorgane zu bilden;
2. Wortlehre, oder die Mittel, einzelne Gegenstände kennenzulehren;
3. Sprachlehre, oder die Mittel, durch welche wir dahin geführt werden
müssen, uns über die uns bekannt gewordenen Gegenstände und über
alles, was wir an ihnen zu erkennen vermögen, bestimmt ausdrücken zu
können ....
IX.
Freund! Wenn ich jetzt zurücksehe und mich frage: Was habe ich denn
eigentlich für das Wesen des menschlichen Unterrichts geleistet? - so
finde ich: ich habe den höchsten, obersten Grundsatz des Unterrichts in
der Anerkennung der Anschauung als dem absoluten Fundament aller
Erkenntnis festgesetzt und mit Beseitigung aller einzelnen Leh•
ren das Wesen der Lehre selbst und die Urform aufzufinden gesucht,
durch welche die Ausbildung unseres Geschlechts durch die Natur selber
bestimmt werden muß. Ich finde, daß ich das Ganze alles Unterrichts
auf drei Elementarmittel zurückgeführt und die speziellen Mittel ausge•
forscht habe, durch die es möglich gemacht werden konnte, die Resultate
alles Unterrichts in diesen drei Fächern zur bestimmtesten Notwendig•
keit zu erheben.
Ich finde endlich, daß ich diese drei Elementarmittel unter sich selbst in
Harmonie gebracht und den Unterricht dadurch nicht nur vielseitiger
und in allen drei Fächern mit sich selbst, sondern auch mit der mensch•
lichen Natur übereinstimmend gemacht und dem Gange der Natur in
der Entwicklung des Menschengeschlechtes an sich selbst näher ge•
bracht.
Indem ich aber dieses tat, habe ich, ich konnte nicht anders, zugleich ge•
funden, daß das Unterrichtswesen unsers Weltteils, wie es jetzt öffent•
lich, allgemein für das Volk betrieben wird, die Anschauung ganz und
gar nicht als den obersten Grundsatz des Unterrichts anerkennt, daß
dasselbe von der Urform, inner welcher die Ausbildung unsers Ge•
schlechts durch das Wesen unsrer Natur selber bestimmt wird, durchaus
nicht die nötige Kunde nimmt; daß es vielmehr das Wesen aller Lehre
dem Wirrwarr isolierter, einzelner Lehren aufopfert und mit Aufti•
schung aller Arten von Brockenwahrheiten den Geist der Wahrheit sel•
ber tötet und die Kraft der Selbständigkeit, die auf ihr ruhet, im Men•
schengeschlecht auslöscht. Ich habe gefunden, und es lag mir offen am
Tage, daß dieses Unterrichtswesen seine einzelnen Mittel weder auf Ele•
mentargrundsätze noch auf Elementarformen zurückführt, daß es viel•
mehr durch Vernachlässigung der Anschauung als des absoluten Funda•
ments aller Erkenntnis sich selber außerstand setzt, durch irgendeines
seiner Brockenmittel weder den Zweck des Unterrichts, deutliche Be•
griffe zu erzielen, noch auch die beschränkteren Resultate, die .es selber
bezweckt, zur unbedingten Notwendigkeit zu erheben ....
XII.
... Die Fertigkeiten, von deren Besitz das Können und Tun alles dessen,
was der gebildete Geist und das veredelte Herz von einem jeden Menschen
fordert, abhängt, geben sich indessen so wenig von sich selbst als die
Einsichten und Kenntnisse, deren der Mensch hierzu bedarf; und wie die
Ausbildung der Kräfte des Geistes und der Kunst einen der Menschen•
natur angemessenen, psychologisch geordneten Stufengang der Mittel zu
dieser Ausbildung voraussetzt, also ruht auch die Bildung der Kräfte,
die diese Fertigkeiten voraussetzen, auf dem tiefgreifenden Mechanismus
eines ABCs der Kunst, d. i. auf allgemeinen Kunstregeln, durch deren
Befolgung die Kinder in einer Reihenfolge von Übungen gebildet wer•
den können, die von den höchst einfachen zu den höchst verwickelten
Fertigkeiten allmählich fortschreitend mit physischer Sicherheit dahin
wirken müßten, ihnen eine täglich steigende Leichtigkeit in allen Fenig•
keiten zu gewähren, deren Ausbildung sie notwendig bedürfen. Aber
auch dieses ABC ist nichts weniger als erfunden. Es ist aber auch ganz
natürlich, daß selten etwas erfunden wird, das niemand sucht; aber
wenn man es suchen würde und etwa gar mit einem Ernst, mit welchem
man auch nur ganz kleine Vorteile in der Plusmacherkunst zu suchen ge•
wohnt ist, so wäre es ganz leicht zu finden, und wenn es gefunden wäre,
so wäre es ganz gewiß ein großes Geschenk für die Menschheit. Es
mußte von den einfachsten Außerungen der physischen Kräfte, welche
die Grundlagen auch der kompliziertesten menschlichen Fertigkeiten
enthalten, ausgehen. Schlagen, Tragen, Werfen, Stoßen, Ziehen, Drehen,
Ringen, Schwingen usw. sind die vorzüglichsten einfachen Außerungen
unserer physischen Kräfte. Unter sich selbst wesentlich verschieden, ent•
halten sie alle gemeinsam und jedes für sich die Grundlage aller mög-
368 369
liehen, auch der kompliziertesten Fertigkeiten, auf denen die mensch•
lichen Berufe beruhen. Daher ist es offenbar, daß das ABC der Fertig• keiten von früher, aber psychologisch gereiheten Übungen in diesen Fer•
tigkeiten überhaupt und in jeder einzelnen besonders ausgehen muß.
Dieses ABC der Gliederübungen müßte denn natürlich mit dem ABC
der Sinnenübungen und allen mechanischen Vorübungen des Denkens
mit den Übungen der Zahl- und der Formlehre vereinigt und mit ihr in
Übereinstimmung gebracht werden ....
Der Mechanismus der Fertigkeiten geht vollends mit dem der Erkennt•
nis den nämlichen Gang, und seine Fundamente sind in Rücksicht auf
deine Selbstbildung vielleicht noch weitführender als die Fundamente,
von denen deine Erkenntnis ausgeht. Um zu können, mußt du in jedem
Fall tun, um zu wissen, darfst du dich in vielen Fällen nur leidend ver•
halten, du darfst in vielen Fällen nur sehen und hören. Hingegen bist du
in bezug auf deine Fertigkeiten nicht bloß der Mittelpunkt ihrer Ausbil•
dung, du bestimmst in vielen Fällen zugleich noch das .Kußere ihrer
Anwendung, aber doch immer inner den Schranken, die die Gesetze des
physischen Mechanismus für dich festgesetzt haben. Wie im unermeß•
lichen Meere der toten Natur Lage, Bedürfnis und Verhältnis das Spezi•
fische jeder Individualansicht bestimmen, also bestimmt im unermeß•
lichen Meere der lebendigen Natur, die deine Kraftentwicklung erzeugt,
Lage, Bedürfnis und Verhältnisse das Spezifische dieser Fertigkeiten,
welche du vorzüglich und einzeln bedarfst ....
XIII. Freund! Es hätte mich, wie gesagt, für jetzt zu weit geführt, in das Um•
ständliche der Grundsätze und Maßregeln einzutreten, auf denen die
Bildung zu den wesentlichsten Fertigkeiten des Lebens beruhet; hingegen
will ich meine Briefe doch nicht enden, ohne den Schlußstein meines
ganzen Systems, ich meine nämlich, die Frage zu berühren: Wie hängt
das Wesen der Gottesverehrung mit den Grundsätzen zusammen, die ich
in Rücksicht auf die Entwicklung des Menschengeschlechtes im allgemei•
nen für wahr angenommen habe? -
Ich suche auch hier den Aufschluß meiner Aufgabe in mir selbst und
frage mich: Wie entkeimt der Begriff von Gott in meiner Seele? Wie
kommt es, daß ich an einen Gott glaube, daß ich mich in seine Arme
werfe und mich selig fühle, wenn ich ihn liebe, wenn ich ihm vertraue,
wenn ich ihm danke, wenn ich ihm folge? -
Das sehe ich bald, die Gefühle der Liebe, des Vertrauens, des Dankes
und die Fertigkeiten des Gehorsams müssen in mir entwickelt sein, ehe
ich sie auf Gott anwenden kann. Ich muß Menschen lieben, ich muß
Menschen trauen, ich muß Menschen danken, ich muß Menschen gehor-
370
samen, ehe ich mich dahin erheben kann, Gott zu lieben, Gott zu dan•
ken, Gott zu vertrauen und Gott zu gehorsamen: „denn wer seinen Bru•
der nicht liebt, den er sieht, wie will der seinen Vater im Himmel lieben,
den er nicht sieht?"
Ich frage mich also: Wie komme ich dahin, Menschen zu lieben, Men•
schen zu trauen, Menschen zu danken, Menschen zu gehorsamen? - Wie
kommen die Gefühle, auf denen Menschenliebe, Menschendank und
Menschenvertrauen wesentlich ruhen, und die Fertigkeiten, durch wel•
che sich der menschliche Gehorsam bildet, in meine Natur? - und ich
finde, daß sie hauptsächlich von dem Verhältnis ausgehen, das zwischen
dem unmündigen Kinde und seiner Mutter statthat. -
Die Mutter muß, sie kann nicht anders, sie wird von der Kraft eines
ganz sinnlichen Instinktes dazu genötiget - das Kind pflegen, nähren,
es sicherstellen und es erfreuen. Sie tut es, sie befriediget seine Bedürf•
nisse, sie entfernt von ihm, was ihm unangenehm ist, sie kommt seiner
Unbehilflichkeit zu Hilfe - das Kind ist versorgt, es ist erfreut, der
Keim der Liebe ist in ihm entfaltet.
Jetzt steht ein Gegenstand, den es noch nie sah, vor seinen Augen, es
staunt, es fürchtet, es weint; die Mutter drückt es fester an ihre Brust, sie
tändelt mit ihm, sie zerstreut es, sein Weinen nimmt ab, aber seine
Augen bleiben gleichwohl noch lange naß; der Gegenstand erscheint wie•
der - die Mutter nimmt es wieder in den schützenden Arm und lachet
ihm wieder - jetzt weint es nicht mehr, es erwidert das Lächeln der
Mutter mit heiterm, unumwölcktem Auge - der Keim des Vertrauens
ist in ihm entfaltet.
Die Mutter eilt bei jedem Bedürfnis zu seiner Wiege; sie ist in der Stunde
des Hungers da, sie hat es in der Stunde des Durstes getränkt; wenn es
ihren Fußtritt hörte, so schwieg es; wenn es sie sieht, so streckt es die
Hand aus, sein Auge strahlt an ihrer Brust, es ist gesättigt, Mutter und
Sattwerden ist ihm ein und eben derselbe Gedanke -es dankt.
Die Keime der Liebe, des Vertrauens, des Dankes erweitern sich bald.
Das Kind kennt den Fußtritt der Mutter, es lächelt ihrem Schatten; wer
ihr gleichsieht, den liebt es; ein Geschöpf, das der Mutter gleichsieht, ist
ihm ein gutes Geschöpf. Es lächelt der Gestalt seiner Mutter, es lächelt
der Menschengestalt; wer der Mutter lieb ist, der ist ihm auch lieb; wer
der Mutter in die Arme fällt, dem fällt es auch in die Arme; wen die
Mutter küßt, den küßt es auch . Der Keim der Menschenliebe, der Keim
der Bruderliebe ist in ihm entfaltet.
Der Gehorsam ist in seinem Ursprunge eine Fertigkeit, deren Triebräder
den ersten Neigungen der sinnlichen Natur entgegenstehen. Seine Bil•
dung ruht auf Kunst. Er ist nicht eine einfache Folge des reinen In-
371
stinkts, aber er hangt mit ihm innig zusammen. Seine erste Ausbildung
ist bestimmt instinktartig. So wie die Liebe Bedürfnis, dem Dank
Gewährung, dem Vertrauen Besorgnis vorhergeht, so geht auch dem
Gehorsam eine stürmische Begierde vorher. Das Kind schreit, ehe es
wartet, es ist ungeduldig, ehe es gehorcht; die Geduld entfaltet sich vor
dem Gehorsam, es wird eigentlich nur durch die Geduld gehorsam; die
ersten Fertigkeiten dieser Tugend sind bloß leidend, sie entspringen
hauptsächlich durch das Gefühl der harten Notwendigkeit. Aber auch
dieses entwickelt sich zuerst auf dem Schoße der Mutter - das Kind
muß warten, bis sie ihm die Brust öffnet, es muß warten, bis sie es auf•
nimmt. Viel später entwickelt sich in ihm der tätige Gehorsam, und noch
viel später das wirkliche Bewußtsein, daß es ihm gut sei, der Mutter zu
gehorchen.
Die Entwicklung des Menschengeschlechts gehet von einer starken, ge•
waltsamen Begierde nach Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse aus. Die
Mutterbrust stellet den ersten Sturm sinnlicher Begierden und erzeugt
Liebe, bald darauf entfaltet sich Furcht; der Mutterarm stillet die
Furcht; diese Handlungsweise erzeuget die Vereinigung der Gefühle der
Liebe und des Vertrauens und entfaltet die ersten Keime des Dankes.
Die Natur zeigt sich unbiegsam gegen das stürmende Kind - es schlägt
auf Holz und Steine, die Natur bleibt unbiegsam, und das Kind schlägt
nicht mehr auf Holz und Steine. Jetzt ist die Mutter unbiegsam gegen
die Unordnungen seiner Begierden; es tobet und schreit - sie ist forthin
unbiegsam - es schreit nicht mehr, es gewöhnt sich, seinen Willen dem
ihrigen zu unterwerfen - die ersten Keime der Geduld, die ersten
Keime des Gehorsams sind entfaltet.
Gehorsam und Liebe, Dank und Vertrauen vereiniget, entfalten den er•
sten Keim des Gewissens, den ersten leichten Schatten des Gefühls, daß
es nicht recht sei, gegen die liebende Mutter zu toben - den ersten
leichten Schatten des Gefühls, daß die Mutter nicht allein um seinetwil•
len in der Welt sei; den ersten Schatten des Gefühls, daß nicht alles um
seinetwillen in der Welt sei; und mit ihm entkeimt noch das zweite Ge•
fühl, daß auch es selbst nicht um seinetwillen allein in der Welt sei -
der erste Schatten der Pf licht und des Rechts ist an seinem Entkeimen.
Dieses sind die ersten Grundzüge der sittlichen Selbstentwicklung, wel•
che das Naturverhältnis zwischen dem Säugling und seiner Mutter ent•
faltet. In ihnen liegt aber auch ganz und in seinem ganzen Umfange das
Wesen des sinnlichen Keims von derjenigen Gemütsstimmung, welche
der menschlichen Anhänglichkeit an den Urheber unsrer Natur eigen ist;
das heißt, der Keim aller Gefühle der Anhänglichkeit an Gott durch den
Glauben ist in seinem Wesen der nämliche Keim, welcher die Anhäng-
l chke t des Unmündigen an seine Mutter erzeugte. Auch ist die Art, wie
sich diese Gefühle entfalten, auf beiden Wegen eine und ebendieselbe.
Auf beiden Wegen hört das unmündige Kind - glaubt und folget, aber
es weiß in diesem Zeitpunkt in beiden Rücksichten nicht, was es glaubt
und was es tut. Indessen fangen die ersten Gründe seines Glaubens und
seines Tuns in diesem Zeitpunkt bald an zu schwinden. Die entkeimende
Selbstkraft macht jetzt das Kind die Hand der Mutter verlassen, es
fängt an, sich selbst zu fühlen, und es entfaltet sich in seiner Brust ein
stilles Ahnen: ich bedarf der Mutter nicht mehr. Diese lieset den kei•
menden Gedanken in seinen Augen, sie drückt ihr Geliebtes fester als je
an ihr Herz und sagt ihm mit einer Stimme, die es noch nie hörte: Kind!
Es ist ein Gott, dessen du bedarfst, wenn du meiner nicht mehr bedarfst
es ist ein Gott, der dich in seine Arme nimmt, wenn ich dich nicht meh;
zu schützen vermag; es ist ein Gott, der dir Glück und Freuden bereitet,
wenn ich dir nicht mehr Glück und Freuden zu bereiten vermag - dann
wallet im Busen des Kindes ein unaussprechliches Etwas, es wallet im
Busen des Kindes ein heiliges Wesen, es wallet im Busen des Kindes eine
Glaubensneigung, die es über sich selbst erhebt; es freut sich des Namens
seines Gottes, sobald die Mutter ihn spricht. Die Gefühle der
Liebe, des Dankes, des Vertrauens, die sich an ihrer Brust entfaltet hat•
ten, erweitern sich und umfassen von nun an Gott wie den Vater, Gott
wie die Mutter. Die Fertigkeiten des Gehorsams erhalten einen weitern
Spielraum; - das Kind, das von nun an das Auge Gottes glaubt wie an
das Auge der Mutter, tut jetzt um Gottes Willen recht, wie es bisher um
der Mutter willen recht tat.
Hier bei diesem ersten Versuche der Mutterunschuld und des Mutter•
herzens, das erste Fühlen der Selbstkraft durch die Neigung des Glaubens
an Gott mit den eben entwickelten Gefühlen der Sittlichkeit zu vereini•
gen, öffnen sich die Fundamentalgesichtspunkte, auf welche Unterricht
und Erziehung wesentlich ihr Auge hinwerfen müssen, wenn sie unsre
Veredlung mit Sicherheit erzielen wollen.
Gleichwie das erste Entkeimen der Liebe, des Dankes, des Vertrauens
und des Gehorsams eine bloße Folge des Zusammentreffens instinktarti•
ger Gefühle zwischen Mutter und Kind war, so ist jetzt das weitere Ent•
falten dieser entkeimten Gefühle eine hohe menschliche Kunst, aber eine
Kunst, deren Faden sich sogleich unter deinen Händen verliert, wenn du
die Anfangspunkte, von denen ihr feines Gewebe ausgeht, auch nur
einen Augenblick aus den Augen verlierst; die Gefahr dieses Verliere:ns
ist für dein Kind groß und kommt frühe; es lallet den Mutternamen, es
liebet, es danket, es trauet, es folgt. Es lallet den Namen Gottes, es lie•
bet, es danket, es trauet, es folget. Aber die Beweggründe des Dankes,
372 373
der Liebe, des Vertrauens schwinden beim ersten Entkeimen - es bedarf
der Mutter nicht mehr; die Welt, die dasselbe jetzt umgibt, ruft ihm mit
dem ganzen Sinnenreiz ihrer neuen Erscheinung zu: du bist jetzt mein.
Das Kind häret die Stimme der neuen Erscheinung, es muß. Der Instinkt
des Unmündigen ist in ihm erloschen, der Instinkt der wachsenden
Kräfte nimmt seinen Platz ein, und der Keim der Sittlichkeit, insofern
er von Gefühlen, die der Unmündigkeit eigen sind, ausgeht, verödet sich
plötzlich, und er muß sich veröden, wenn in diesem Augenblicke nie•
mand das erste Schlagen der höhern Gefühle seiner sittlichen Natur wie
den Faden des Lebens an die goldne Spindel der Schöpfung ankettet.
Mutter, Mutter! Die Welt beginnt jetzt dein Kind von deinem Herzen
zu trennen, und wenn in diesem Augenblicke niemand die Gefühle seiner
edlern Natur ihm an die neue Erscheinung der Sinnenwelt ankettet, so
ist es geschehen, Mutter! Mutter! Dein Kind ist deinem Herzen entris•
sen; die neue Welt wird ihm Mutter, die neue Welt wird ihm Gott. Sin•
nengenuß w.ird ihm Gott. Eigengewalt wird ihm Gott.
Mutter! Mutter! Es hat dich, es hat Gott, es hat sich selbst verloren, der
Docht der Liebe ist in ihm erloschen; der Keim der Selbstachtung ist in
ihm erstorben; es geht dem Verderben eines unbedingten Strebens nach
Sinnengenuß entgegen.
Menschheit! Menschheit! Hier beim Übergang der hinschwindenden Un•
mündigkeitsgefühle zum ersten Fühlen der von der Mutter unabhangen•
den Reize der Welt; - hier, wo der Boden, dem die edleren Gefühle
unserer Natur entkeimen; das erstemal unter den Füßen des Kindes zu
weichen anfängt; hier, wo die Mutter beginnt, ihrem Kinde das nicht
mehr zu sein, was sie ihm vorher war, und dann im Gegenteil der Keim
des Vertrauens auf die neu belebte Erscheinung der Welt sich in ihm ent•
faltet und der Reiz dieser neuen Erscheinung das Vert auen auf die
Mutter, die ihm nicht mehr ist, was sie ihm vorher war, und mit ihm das
Vertrauen auf den ungesehenen und ungekannten Gott zu ersticken und
zu verschlingen beginnt, wie das wilde Gewebe harter, sich tief ineinan•
derschlingender Wurzeln des Unkrauts das feinere Wurzelgewebe der
edelsten Pflanzen erstickt und verschlingt - Menschheit! Menschheit!
Hier in dem Zeitpunkt des Voneinanderscheidem der Gefühle des Ver•
trauens auf Mutter und auf Gott und derjenigen des Vertrauens auf die
neue Erscheinung der Welt und alles, was darinnen ist: hier an diesem
Scheidewege solltest du deine ganze Kunst und deine ganze Kraft an•
wenden, die Gefühle des Dankes, der Liebe, des Vertrauens und des Ge•
horsams in deinem K nde re n zu erhalten.
Gott ist in diesen Gefühlen, und die ganze Kraft deines sittlichen
Lebens hanget innig mit der Erhaltung derselben zusammen.
374
Menschheit! Deine Kunst sollte alles tun, beim Stillstehen der physischen
Ursachen, aus welchen diese Gefühle bei dem unmündigen Kinde ent•
keimt sind, neue Belebungsmittel derselben zur Hand zu bringen und die
Reize der neuen Erscheinung der Welt deinem wachsenden Kinde nicht
anders als in Verbindung mit diesen Gefühlen vor die Sinne kom en zu
lassen.
Es ist hier, wo du es das erstemal nicht der Natur anvertrauen sondern
alles tun mußt, die Leitung desselben ihrer Blindheit aus der Hand zu
reißen und in die Hand von Maßregeln und Kräften zu legen, die die
Erfahrung von Jahrtausenden angegeben hat. Die Welt, die dem Kinde
jetzt vor seinen Augen erscheint, ist nicht Gottes erste Schöpfung; es ist
eine Welt, die beides, für die Unschuld seines Sinnesgenusses und für die
Gefühle seiner innern Natur, gleich verdorben ist, eine Welt voll Krieg
für die Mittel der Selbstsucht, voll Widersinnigkeit, voll Gewalt, voll
Anmaßung, Lug und Trug.
Nicht Gottes erste Schöpfung, sondern diese Welt locket dein Kind zum
Wellentanz des wirbelnden Schlundes, in dessen Abgründe Lieblosigkeit
und sittli her Tod hausen. - Nicht Gottes Schöpfung, sondern der
Zwang und die Kunst ihres eigenen Verderbens ist das, was diese Welt
deinem Kinde vor Augen stellt. -
Armes Kind! Dein Wohnzimmer ist deine Welt, aber dein Vater ist an
seine Werkstatt gebunden, deine Mutter hat heute Verdruß, morgen Be•
such, übermorgen ihre Launen; du hast Langeweile; du frägst, -deine
Magd antwortet dir nicht; du willst auf die Straße, du darfst nicht; jetzt
reißest du dich mit deiner Schwester um Spielzeug - armes Kind, welch
ein elendes, herzloses und herzverderbendes Ding ist deine Welt; aber ist
sie dir etwa mehr, wenn du im goldgezierten Wagen unter Schattenbäu•
men umherfährst; deine Führerin betrügt deine Mutter, du leidest weni•
ger, aber du wirst schlechter als die Leidenden alle. Was hast du gewon•
nen? Deine Welt ist dir noch mehr zur Last als den Leidenden allen.
Diese Welt ist in das Verderben ihrer unnatürlichen Kunst und ihres un•
natürlichen Zwanges so eingewiegt, daß sie für die Mittel, Reinheit des
Herzens in der Brust des Menschen zu erhalten, keinen Sinn mehr hat
und im Gegenteil die Unschuld unsers Geschlechtes in dem mißlichsten
Augenblicke wie das herzloseste Nachweib ihr Stiefkind einer Sorglosig•
keit preisgibt, die in hundert Fällen gegen einen über das Scheitern der
letzten Zwecke der menschlichen Veredlung entscheidet und entscheiden
muß, weil die neue Erscheinung der Welt dem Kinde in diesem Zeit
punkte ganz ohne ein Gegengewicht für das Einseitige und das Einseitig•
reizende ihrer sinnlichen Eindrücke vor die Augen gestellt wird und also
ihre Vorstellung, beides durch ihre Einseitigkeit und durch ihre Lebhaf-
tigkeit, bei demselben ein entscheidendes Übergewicht über den Ein•
druck der Erfahrungen und Gefühle, welche der geistigen und sittlichen
Ausbildung unseres Geschlechtes · zugrunde liegen, erhaltet; wodurch
denn auch die Bahn seiner Selbstsucht und seiner Entwürdigung von nun
an einen unermeßlichen und unermeßlichen belebten Spielraum erhält;
hingegen die Gemütsstimmung, auf deren sinnlicher Anbahnung die vor•
züglichsten Kräfte seiner Sittlichkeit und seiner Erleuchtung beruhen,
sich ebenso verlieren, die an sich enge Pforte seiner Sittlichkeit gleichsam
verrammelt werden und die ganze Sinnlichkeit seiner Natur eine Rich•
tung nehmen muß, die die Bahn der Vernunf t von derjenigen der Liebe,
die Ausbildung des Geistes von der Glaubensneigung an Gott trennt,
eine m hr oder weniger feine Selbstsucht zum einzigen Treibrad seiner
Kraftanwendung macht und dadurch über die Folgen seiner Ausbildung
zu seinem eigenen Verderben entscheidet .
Es ist unbegreiflich, daß die Menschheit diese allgemeine Quelle ihres
Verderbens nicht kennt; unbegreiflich, daß es nicht die allgemeine Ange•
legenheit ihrer Kunst ist, dieselbe zu stopfen und die Erziehung unseres
Geschlechtes Grundsätzen zu unterwerfen , die das Werk Gottes, das die
Gefühle der Liebe, des Dankes und des Vertrauens schon im Unmündi•
gen entfaltet, nicht zerstören, sondern dahin wirken mußten, die von
Gott selbst in unsere Natur gelegten Vereinigungsmittel unsrer geistigen
und sittlichen Veredlung in diesem, beide gefährdenden Zeitpunkte vor•
züglich zu pflegen und Unterricht und Erziehung allgemein einerseits
mit den Gesetzen des physischen Mechanismus, nach welchen sich unser
Geist von dunkeln Anschauungen zu deutlichen Begriffen erhebt, ander•
seits mit den Gefühlen meiner innern Natur , durch deren allmähliche
Entfaltung mein Geist sich zu Anerkennung und Verehrung des sitt•
lichen Gesetzes emporhebt, in Übereinstimmung zu bringen. Es ist unbe•
greiflich, daß die Menschheit sich nicht dahin erhebt, eine lückenlose
Stufenfolge aller Entwicklungsmittel meines Geistes und meiner Gefühle
zu eröffnen, deren wesentlicher Zweck dieser sein müßte, die Vorteile
des Unterrichtes und seines Mechanismus auf die Erhaltung der sitt•
lichen Vollkommenheit zu bauen, die Selbstsucht der Vernunft durch die
Erhaltung der Reinheit des Herzens vor den Verirrungen ihres einseiti•
gen Verderbens zu bewahren und überall die sinnlichen Eindrücke mei•
ner Überzeugung, meine Begierlichkeit meinem Wohlwollen und mein
Wohlwollen meinem berichtigten Willen unterzuordnen. Di e Urs cbe.tt „ J;.e J..i e,ge U.nt ero.t"d.n u.ng e.r1.ejschen:o J;egen. f:;ef ;n me ner
Ni.tur. So wie meine innlichen Kräfte sich ausbilden, so muß ihr Obergewicht vermöge der wesentlichen Bedürfnisse meiner Veredlung
wieder verschwinden, das heißt ihre Unterordnung unter ein höheres Ge-
setz muß eintreten. Aber ebenso muß auch jede Stufe meiner Entwick•
lung vollendet sein, ehe der Fall ihrer Unterordnung unter höhere
Zwecke eintreten kann, und diese Unterordnung des Vollendeten und
das zu Vollendende fordert ebenso vor allem auch reine Festhaltung der
Anfangspunkte aller Erkenntnisse und die bestimmteste Lückenlosigkeit
im allmählichen Fortschritt von diesen·Anfangspunkten zum letzten zu
vollendenden Zweck. Das erste Gesetz dieser Lückenlosigkeit aber ist
dieses: der erste Unterricht des Kindes sei nie die Sache des Kopfes, er
sei nie die Sache der Vernunft - er sei ewig die Sache der Sinne, er sei
ewig die Sache des Herzens, die Sache der Mutter. ...
376
Herbart
1. Pädagogik als Wissenschaft
a. Was man wolle, indem man erzieht und Erziehung fordert, das rich-
tet sich nach dem Gesichtskreise, den man zur Sache mitbringt.
Die meisten, welche erziehen, haben vorher ganz unterlassen, sich für
dies Geschäft einen eignen Gesichtskreis zu bilden. Er entsteht ihnen
während der Arbeit allmählich; er setzt sich ihnen zusammen aus ihrer
Eigentümlichkeit und aus der Individualität und den Umgeb ngen es
2ögl ngs. Haben sie Erfindungskraft, so nutzen sie alles, was sie vorfm•
Ö n um dll.rll.us Aufregungen ·und Beschäftigungen für den Gegenstand ihre Sorgfalt zu bereiten; und haben sie Vorsicht, so sondern sie das ab,
was der Gesundheit, der Gutmütigkeit und den Manieren schaden
392
könnte. So wächst ein Knabe heran, der sich versucht hat in allem, was
nicht gefährlich ist, der gewandt ist im Bedenken und Behandeln des
Alltäglichen, der alle Gefühle hat, die ihm der enge Kreis, in dem er lebt,
einflößen konnte. - Ist er nur wirklich so herangewachsen, so darf man
Glück dazu wünschen. Aber die Erzieher hören nicht auf zu klagen,
wieviel ihnen die Umstände verderben, die Bedienten, Verwandten, Ge•
spielen, der Geschlechtstrieb und die Univ.ersität! Natürlich genug, wenn
da, wo mehr der Zufall als menschliche Kunst die geistige Diät be•
stimmte, bei der oft so magern Kost nicht immer eine robuste Gesund•
heit hervorblüht, die allenfalls dem schlimmen Wetter trotzen könnte ....
Freilich, was hierin wahr sei oder nicht, darüber spricht jeder nach sei•
ner Erfahrung. Ich spreche nach meiner, andre nach ihrer. Wollten wir
nur sämtlich bedenken, dass jeder nur erfährt, was er versucht! Ein
neunzigjähriger Dorfschulmeister hat die Erfahrung seines neunzigjähri•
gen Schlendrians; er hat das Gefühl seiner langen Mühe, aber hat er
auch die Kritik seiner Leistungen und seiner Methode? - Unsern neuem
Pädagogen ist vieles Neue gelungen; sie haben erfahren, daß ihnen der
Dank der Menschheit entgegenkam, und sie dürfen dessen innig froh
sein. Ob sie aber aus ihrer Erfahrung bestimmen dürfen, was alles durch
Erziehung möglich sei, was alles mit Kindern gelingen könne?
Möchten diejenigen, welche die Erziehung so gern bloß auf Erfahrung
bauen wollen, d ch einmal aufmerksam hinüberblicken auf andre Erfah•
rungswissenschaften; möchten sie bei der Physik, bei der Chemie sich zu
erkundigen würdigen, was alles dazu gehört, um nur einen einzigen
1 . Lehrsatz im Felde der Empirie soweit festzustellen, wie es in diesem
i Felde möglich ist! Erfahren würden sie da, daß man aus einer Erfahrung nichts lernt und aus zerstreuten Beobachtungen ebensowenig; daß man
vielmehr denselben Versuch mit zwanzig Abstufungen zwanzigmal wie•
derholen muß, ehe er ein Resultat gibt, das nun noch die entgegengesetz•
ten Theorien jede nach ihrer Art auslegen. Erfahren würden sie da, daß
man nicht eher von Erfahrung reden darf, bis der Versuch geendigt ist,
bis man vor allen Dingen die Rückstände genau geprüft, genau gewogen
hat. Der Rückstand der pädagogischen Experimente sind die Fehler des
Zöglings im Mannesalter. Der Zeitraum für ein einziges dieser Experi•
mente ist also aufs wenigste ein halbes Menschenleben! Wann denn wohl
ist man ein erfahrener Erzieher? Und aus wievielen Erfahrungen mit
wievielen Abänderungen besteht die Erfahru,ng eines jeden? Wie unend•
lich mehr erfährt der empirische Arzt, und seit wieviel Jahrhunderten
sind für ihn die Erfahrungen von großen Männern aufgezeichnet! Den•
noch ist die Medizin so schwach, daß sie gerade der lockere Boden
wurde, in welchem die neuesten Philosopheme jetzt üppig wuchern.
393
Soll es etwa der Pädagogik bald ebenso gehen? Soll auch sie der Spiel•
ball der Sekten werden, die, selbst ein Spiel der Zeit, in ihrem Schwunge
längst alles Hohe mit sich fortrissen und fast nur die scheinbar niedrige
Welt der Kinder bisher wenig berührten? Schon ist es dahin gekommen,
daß den besten Köpfen unter den jüngern Erziehern, die sich um Philo•
sophie bekümmert haben und die wohl merken, man dürfe beim Erzie•
hen das Denken nicht einstellen, nichts natürlicher sein kann, als die
ganze Anwendbarkeit oder Biegsamkeit einer in der Tat sehr geschmei•
digen Weisheit an der Erziehung zu erproben, um ihre Anvertrauten a
priori zu konstruieren, sthenisch zu bessern, mystisch zu lehren und,
wenn die Geduld reißt, als unfähig der Zubereitung zur Initiation abzu•
weisen. Die Abgewiesenen werden dann freilich nicht mehr als dieselben
frischen Naturen in andre - und in welche! - Hände kommen.
Es dürfte wohl besser sein, wenn die Pädagogik sich so genau als mög•
lich auf ihre einheimischen Begriffe besinnen und ein selbständiges Den•
ken mehr kultivieren möchte, wodurch sie zum Mittelpunkte eines For•
schungskreises würde und nicht mehr Gefahr liefe, als entfernte eroberte
Provinz von einem Fremden aus regiert zu werden. Nur wenn sich jede
Wissenschaft auf ihre Weise zu orientieren sucht, und zwar mit gleicher
Kraft wie ihre Nachbarinnen, kann ein wohltätiger Verkehr unter allen
entstehen. Der Philosophie selbst muß es lieb sein, wenn ihr die andern
• denkend entgegenkommen, und - zwar nicht die Philosophie - aber
das heutige philosophische Publikum scheint es sehr zu bedürfen, daß
ihm mehrere und verschiedne Standpunkte dargeboten werden, von de•
nen aus es sich nach allen Seiten umsehen könne.
Vom Erzieher habe ich Wissenschaft und Denkkraft gefordert. Mag
Wissenschaft andern eine Brille sein, mir ist sie ein Auge, und zwar das
beste Auge, was Menschen haben, um ihre Angelegenheiten zu betrach•
ten. Sind nicht alle Wissenschaften fehlerfrei in ihren Lehren, so sind sie
ebendarum auch nicht mit sich einig; das Unrichtige verrät sich, oder
man lernt wenigstens Vorsicht in den streitigen Punkten. Hingegen wer
sich ohne Wissenschaft für gescheut hält, hegt gleich große und größere
Fehler in seinen Ansichten, ohne es zu fühlen und vielleicht ohne es füh•
len zu lassen; denn die Berührungsstellen mit der Welt sind abgeschlif•
fen. Ja die Fehler der Wissenschaften sind ursprünglich Fehler der Men•
schen, nur der vorzüglichem Köpfe.
Die erste, wiewohl bei weitem nicht die vollständige Wissenschaft des Erziehers würde eine Psycholo 0ie sein, in welcher die gesamte Möglich•
keit menschlicher Regungen a priori verzeichnet wäre. Ich glaube die Möglichkeit und die Schwierigkeit einer solchen Wissenschaft zu ken•
nen: es wird lange währen, ehe wir sie besitzen, viel länger, ehe wir sie
von den Erziehern fordern können. Niemals aber würde sie die Beob•
achtung des Zöglings vertreten können; das Individuum kann nur ge•
funden, nicht deduziert werden. Konstruktion des Zöglings a priori ist
daher an sich ein schiefer Ausdruck und für jetzt ein leerer Begriff, den
die Pädagogik noch lange nicht einlassen darf.
Desto notwendiger ist das, wovon ich ausging, zu wissen nämlich, was
man will, indem man die Erziehung anfängt! Man sieht, was man sucht:
Psychologischen Blick hat jeder gute Kopf, insofern als ihm daran gele•
gen ist, menschliche Gemüter zu durchschauen. Woran dem Erzieher ge•
legen sein soll, das muß ihm wie eine Landkarte vorliegen oder womög•
lich wie der Grundriß einer wohlgebauten Stadt, wo die ähnlichen Rich•
tungen einander gleichförmig durchschneiden und wo das Auge sich
auch ohne Vorübungen von selbst orientiert. Eine solche Landkarte biete
ich hier dar für die Unerfahrnen, die zu wissen wünschen, welcherlei Er•
fahrungen sie aufsuchen und bereiten sollen. Mit welcher Absicht der
Erzieher sein . Werk angreifen soll, diese praktische Überlegung, allen•
falls vorläufig detailliert bis zu den Maßregeln, die wir nach unsern bis•
herigen Einsichten zu erwählen haben, ist mir die erste Hälfte der Päd•
agogik. Gegenüber sollte eine zweite stehen, in welcher die Möglichkeit
der Erziehung theoretisch erklärt und als nach der Wandelbarkeit der
Umstände begrenzt dargestellt würde. Aber eine solche zweite Hälfte ist
bis jetzt ein frommer Wunsch sowohl wie die Psychologie, worauf sie
fußen müßte. Die erste Hälfte gilt allgemein für das Ganze, und ich
muß mir wohl gefallen lassen, diesem Sprachgebrauche zu folgen.
Pädagogik ist die Wissenschaft, deren der Erzieher für sich bedarf. Aber
er soll auch Wissenschaft besitzen zum Mitteilen. Und ich gestehe gleich
hier, keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unterricht, sowie ich
rückwärts, in dieser Schrift wenigstens, keinen Unterricht anerkenne,
der nicht erzieht. Welche Künste und Geschicklichkeiten ein junger
Mensch um des bloßen Vorteils willen von irgendeinem Lehrmeister ler•
nen möge, ist dem Erzieher an sich ebenso gleichgültig, als welche Farbe
er zum Kleide wähle. Aber wie sein Gedankenkreis sich bestimme, das
ist dem Erzieher alles; denn aus Gedanken werden Empfindungen und
daraus Grundsätze und Handlungsweisen. Mit dieser Verkettung alles
und jedes in Beziehung zu denken, was man dem Zögling darreichen,
was man in sein Gemüt niederlegen könnte, zu untersuchen, wie man es
aneinanderfügen, also wie man es aufeinanderfolgen lassen müsse und
wie es wieder zur Stütze werden könne für das künftig Folgende: dies gibt eine unendliche Zahl von Aufgaben der Behandlung einzelner Ge• genstände und dem Erzieher unermeßlichen Stoff zum unaufhörlichen
überdenken und Durchmustern aller ihm zugänglichen Kenntnisse und
394 395
Schriften sowie aller anhaltend fortzusetzenden Beschäftigungen und
Übungen. Wir bedürften in dieser Rücksicht eine Menge pädagogischer
Monographien (Anleitungen zum Gebrauch irgendeines einzelnen Bil•
dungsmittels), die aber sämtlich aufs strengste nach einem Plane verfaßt
sein müßten. Ein Beispiel einer solchen Monographie suchte ich durch
mein "ABC der Anschauung" zu geben, das auf jeden Fall bis jetzt den
Fehler hat, allein zu stehen, sich an nichts anlehnen und nichts Neues
stützen zu können . Der größeren Gegenstände für ähnliche Schriften
gibt es genug; man würde das Studium der Botanik, das des Tacitus, die
Lektüre von Shakespeare und so vieles andre als pädagogische Kraft zu
betrachten haben ...
b. § 1. Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zög•
lings.
§ 2. Pädagogik als Wissenschaft hängt ab von der praktischen Philo•
sophie und Psychologie. Jene zeigt das Ziel der Bildung, diese den Weg,
die Mittel und die Hindernisse.
.1
scheut. ·Das bedeutet, sich von dem Kinde ebenso ganz und einfältig er•
greifen zu lassen, wie dieses selbst vom Dasein ergriffen wird; das Kind
wirklich wie seinesgleichen zu behandeln, d. h. dieselbe Zurückhaltung,
dasselbe Feingefühl und Vertrauen zu zeigen, das man einem Erwach•
senen zeigt. Das bedeutet, das Kind nicht dadurch zu beeinflussen, daß
man das fordert, was man selbst möchte, daß das Kind es sei, sondern es
durch den Eindruck dessen zu beeinflussen, was man selbst ist. Das be•
deutet, dem Kinde nicht mit List oder Gewalt zu begegnen, sondern mit
seinem eigenen Ernst und seiner eigenen Ehrlichkeit.
Rousseau sagt irgendwo: „Alle Erziehung scheitert daran, daß die Natur
weder Eltern zu Erziehern erschafft, noch Kinder, um erzogen zu wer•
den ..." Wie wäre es, wenn man endlich anfinge, dieser Anweisung der Natur zu folgen und einzusehen, daß das größte Geheimnis der Erzie•
i
1. Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes
...Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen,
daß die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das
ist Erziehung ....
Das eigene Wesen des Kindes zu unterdrücken und es mit dem anderer
zu überfüllen, ist noch immer das pädagogische Verbrechen, das auch die
auszeichnet, die laut verkünden: daß die Erziehung nur die eigene indi•
viduelle Natur des Kindes ausbilden solle! ...
Erst wenn man die Erziehung des Kindes auf die Gewißheit gründet,
daß Fehler nicht versöhnt oder ausgelöscht werden können, sondern
immer ihre Folge haben müssen, aber gleichzeitig auf die Gewißheit, daß
sie in einer fortgesetzten Evolution umgewandelt werden können, durch
langsame Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, erst dann wird
die Erziehung anfangen Wissenschaft, Kunst zu werden. Man wird dann
alle Wunderglauben in Bezug auf die Wirkung plötzlicher E,ingriffe
aufgeben. Man wird nach dem Prinzip der Unzerstörbarkeit der Materie
auch auf psychologischem Gebiet handeln und ·niemals glauben, daß eine
Seelenanlage ausgerottet, sondern nur eines von beiden: herabgedrückt
oder zu einem höheren Wert erhoben werden kann....
Es liegt eine tiefe Einsicht in Mme. Stads Worten, daß bloß der, welcher
ttiit: Kinde„n pielen lrn.nn . !2uch imstande ist, sie etwas zu lehren. Selbst
wie da Kind LU werdm1 ist die emc Voraussetzung, um Kinder zu er• ziehen. Aber das schließt keine gespielte Kindlichkeit, kein herablassen •
des Plappern in sich, das das Kind sogleich durchschaut und tief verab-
hung gerade darin verborgen liegt -nicht zu erziehen?!
Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte Verbrechen der
gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind. Dahingegen wird, eine im
äußeren, sowie im inneren Sinne schöne Welt zu schaffen, in der das
Kind w.achsen kann; es sich darin frei bewegen zu fassen, bis es an die ·
unerschütterliche Grenze des Rechts anderer stößt, - das Ziel der zu•
künftigen Erziehung sein. Erst dann werden die Erwachsenen wirklich
einen tiefen Einblick in die Kinderseele, dieses noch fast immer ver•
schlossene Reich, erlangen können. Denn es ist ein natürlicher Selbst•
erhaltungsinstinkt, der das Kind veranlaßt, sein Inneres vor dem Erzieher
zu verschließen, der unzarte Fragen stellt, z. B. woran das Kind denke,
eine Frage, die es fast immer mit einer schwarzen oder einer weißen Un•
wahrheit beantwortet; vor einem Erzieher, der seine Gedanken und Nei•
-gungen zurechtweist oder betastet, der rücksichtslos die feinsten Gefühle
des Kindes verrät oder lächerlich macht, der vor Fremden seine Fehler
verweist oder seine Eigenschaften belobt, ja, das in einer offenen Stunde
gemachte vertrauliche Geständnis eines Kindes in einer anderen zu
Vorwürfen ausnützt! ...
Das Kind hat seine eigene unendliche Welt, um sich darin zurechtzufin•
den, sie zu erobern, sich hineinzuträumen - aber was erfährt es? Hin•
dernisse, Eindringen, Zurechtweisungen den lieben langen Tag. Das
Kind soll immer irgend etwas bleiben lassen, oder etwas anderes tun,
etwas anderes finden, etwas anderes wollen, als was es tut oder findet
oder will; immer wird es nach einer anderen Richtung geschleift, als
nach der sein Sinn weist. Und all dies oft aus purer Zärtlichkeit, aus
Wachsamkeit, aus dem Eifer zu richten, zu raten, zu helfen, das kleine
Menschenmaterial zu einem vollkommenen Exemplar in der Modellserie,
Musterkinder zuzuhauen und zu polieren! ...
Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen
unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes.
Der Kenntnisdrang, die Selbsttätigkeit und die Beobachtungs• gabe, die die
Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluß der Schulzeit in der Regel
verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen um• gesetzt zu haben.
Das ist das Resultat, wenn die Kinder ungefähr vom sechsten bis zum
achtzehnten Jahre ihr Leben auf Schulbänken damit
. zugebracht haben, Stunde für Stunde, Monat für Monat, Semester für
Semester Kenntnisse zuerst in Teelöffel-, dann in Dessertlöffel- und schließlich in
Eßlöffelportionen einzunehmen, Mixturen, die der Lehrer oft aus Darstellungen
aus vierter oder fünfter Hand zusammengebraut hat.
Und nach der Schule kommt oft eine weitere Studienzeit, in der der ein•
zige Unterschied in der „Methode" darin besteht, daß die Mixtur jetzt mit dem
Schöpflöffel zugemessen wird.
Wenn die Jugend diesem Regime entrinnt, ist die geistige Eßlust und
Verdauungsfähigkeit bei einigen so zerstört worden, daß ihnen für immer die
Fähigkeit fehlt, wirkliche Nahrung aufzunehmen; andere wieder retten sich von
all diesen Unwirklichkeiten auf das Gebiet der Wirklichkeit, indem sie die Bücher
in die Ecke werfen und sich irgend einer Aufgabe des praktischen Lebens
widmen; in beiden Fällen sind die Studienjahre so ziemlich vergeudet. Bei
denen, die weitergehen, sind die Kenntnisse gewöhnlich auf Kosten des
Persönlichen erworben: der An• eignung, des Vermögens der Reflexion, der
Beobachtung, der Phantasie. Und ist es jemandem gelungen, all dies zu
bewahren, so ist es gewöhn• lich auf Kosten der Gründlichkeit der Kenntnisse
geschehen. Eine gerin• gere Intelligenz oder eine geringere Arbeitskraft, oder ein
geringeres An• eignungsvermögen als die Natur ihnen zugedacht, das ist
gewöhnlich das Resultat der zehn, zwölf Schuljahre; und es liegt eine tiefe
Weisheit in dem französischen Witz: Sie sagen, daß Sie nie in die Schule
gegangen sind -und sind doch so stockdumm? ...
Bevor nicht das Phantom der „allgemeinen Bildung" aus den Schulplä• nen und
den Elternköpfen vertrieben ist und die Bildung des Individu• ums die
Wirklichkeit wird, die an ihre Stelle tritt, wird man vergebens Reformpläne
entwerfen.
512
I