Ethik (1): Ethische Dilemmata - johannes-gymnasium.de und... · 1. Das Wesen (die Natur) der...

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Ethik (1): Ethische Dilemmata 1. Fall : Herr K. will sein Auto, einen 6 Jahre alten Passat Kombi, verkaufen. Bei der letzten Inspektion (zwei Monate vorher) teilte ihm die Autowerkstatt mit, dass Reparaturen in der Höhe von 1500,- € bald notwendig sein werden. Nach der Gebrauchtwagenliste ist sein Auto noch 8500,- € wert. Er setzt sein Auto für - 9500,- € in die Zeitung. Daraufhin meldet sich ein Käufer, der nach einer Probefahrt Herrn K. 8200,- € bietet. Wie verhält sich nun Herr K.? Soll er die Information der Autowerkstatt verheimlichen? 2. Fall : Nadine F. (25) liegt mehrere Monate im Koma. Große Teile des Gehirns sind zerstört, und es besteht keine Aussicht auf Genesung. Nur ein Atmungsgerät und intravenöse Ernährung halten die Frau am Leben. Die Eltern besuchen sie täglich, und sie leiden offensichtlich unter der großen Nervenbelastung. Von all dem weiß die Ärztin, als sie eines Tages bemerkt, daß sich der Stöpsel des Atmungsgerätes gelöst hat. Wenn sie ihn nicht wieder einsetzt, wird Nadine sterben. Wie soll sich die Ärztin verhalten? Nach welchen Maßstäben soll sie sich richten? Aufgabe : Diskutiert die beiden dargestellten Fallbeispiele mit eurem Tischnachbarn und entwickelt (schriftlich!) eine begründete Position!

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Ethik (1): Ethische Dilemmata

1. Fall: Herr K. will sein Auto, einen 6 Jahre alten Passat Kombi, verkaufen. Bei der letzten

Inspektion (zwei Monate vorher) teilte ihm die Autowerkstatt mit, dass Reparaturen in der Höhe

von 1500,- € bald notwendig sein werden. Nach der Gebrauchtwagenliste ist sein Auto noch

8500,- € wert. Er setzt sein Auto für- 9500,- € in die Zeitung. Daraufhin meldet sich ein Käufer,

der nach einer Probefahrt Herrn K. 8200,- € bietet.

Wie verhält sich nun Herr K.? Soll er die Information der Autowerkstatt verheimlichen?

2. Fall: Nadine F. (25) liegt mehrere Monate im Koma. Große Teile des Gehirns sind zerstört, und

es besteht keine Aussicht auf Genesung. Nur ein Atmungsgerät und intravenöse Ernährung halten

die Frau am Leben. Die Eltern besuchen sie täglich, und sie leiden offensichtlich unter der großen

Nervenbelastung. Von all dem weiß die Ärztin, als sie eines Tages bemerkt, daß sich der Stöpsel

des Atmungsgerätes gelöst hat. Wenn sie ihn nicht wieder einsetzt, wird Nadine sterben. Wie soll

sich die Ärztin verhalten? Nach welchen Maßstäben soll sie sich richten?

Aufgabe: Diskutiert die beiden dargestellten Fallbeispiele mit eurem Tischnachbarn und entwickelt

(schriftlich!) eine begründete Position!

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Ethik (2): Ethische Argumentationsformen (1) - Hinführung

Fallbeispiel: Gerd und Gertrud sind Schüler einer 13. Klasse. Gertrud hat sich heftig in Gerd verliebt; er mag sie zwar, ist sich aber nicht sicher, wie sehr er sie mag. Schließlich ist da auch noch Gerlinde und .... Eines Abends bringt Gerd Gertrud nach einer Fete nach Hause. Ihre Eltern sind verreist,

und Gertrud gibt Gerd eindeutig zu verstehen, dass sie gerne die Nacht mir ihm verbringen möchte. (Anm.: Die Geschlechter-Rollen dieser Szene sind natürlich prinzipiell vertauschbar!)

(Mögliche) Position: Gerd kommt zum Schluss, dass es ethisch nicht vertretbar ist, auf das Angebot von Gertrud einzugehen.

Begründung:

1. Das Wesen (die Natur) der

Sexualität liegt einerseits in der

Fortpflanzung, andererseits ist

Sexualität Ausdruck personaler

Liebe. Sexualität ohne Liebe

widerspricht daher dem

göttlichen Schöpfungswillen.

2. Als Konsequenzen einer

„erfüllten Nacht“ könnten sich

für Gerd vielfältige Nachteile

ergeben, die den (zu

erwartenden) Lustgewinn

nivellieren (z.B. könnte Gertrud

schwanger werden, oder gar

AIDS-infiziert sein!). Die

Kosten wären also u.U. größer

als der (kurzfristige) Nutzen.

3. Gerd möchte sicherlich auch

nicht im umgekehrten Fall (also

wenn er verliebt wäre, Gertrud

hingegen nicht), dass Gertrud

dann mit ihm schläft.

Schließlich will er ja auch nicht

benutzt werden. Insofern sieht

er es als seine Pflicht an, seine

„Triebe“ in Schach zu halten.

Kriterien:

Kriterien: Kriterien:

Typ: Typ: Typ:

Aufgabe: Bestimme die entscheidenden Kriterien, nach denen sich Gerd bei den einzelnen Begründungsmöglichkeiten richtet! Überlegt, welcher Personentyp bei der jeweiligen Begründungsvariante vorstellbar ist!

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Ethik (3): Die klassische Naturrechtsethik - das Denkmodell (A. K. Ruf)

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Das Modell geht von der Vorstellung aus, dass das Eigentliche der Dinge (ihr Wesen = lat. essentia, ihre Idee) nicht ohne weiteres erkennbar ist. Es steckt vielmehr hinter der flüchtigen Erscheinungsweise der Einzeldinge und muss durch einen metaphysischen Erkenntnisweg gesucht werden. Der menschliche Verstand ist grundsätzlich dazu fähig, er kann durch die Fassade der augenscheinlichen Oberfläche zu diesem Wesen vorstoßen und die eigentliche Natur der Dinge kennen lernen. Diese wurde von einer Kraft in sie hineingelegt, die als der Urgrund der Dinge und als deren letztes Ziel angesehen werden kann (Gott). Da alle Dinge aus dem einen Urgrund hervorgegangen sind, lässt sich eine innere, sinnhafte Ordnung entdecken. Der Erkenntnisgrund dafür sind die Naturtendenzen (inclinationes naturales). Sie sind Chiffren, die den letzten - wesentlichen- Sinn der Dinge entdecken lassen; da das Sollen dem Sein zu folgen hat, muss jede Sollensordnung auf ihnen aufgebaut werden. Die Wesenserkenntnis führt zur Kenntnis der naturhaft innewohnenden Sinnziele der geschaffenen Dinge. Da sie vom Schöpfer in die Schöpfung hineingelegt worden sind, müssen sie als von Gott gewollt und deshalb für den Menschen nicht verfügbar angesehen werden. Aus den Seinsstrukturen folgen somit absolut verbindliche Sollenssätze. Der oberste Satz kann so formuliert werden: Das Handeln hat entsprechend den Sinnzielen zu erfolgen, die Gott in die geschaffenen Dinge hineingelegt hat. Unsittliches Handeln = unnatürliches Handeln = ein Handeln, das den Naturzielen widerspricht. Um über diesen allgemeinen - und für die Ethik wenig brauchbaren - Satz hinauszukommen und konkretere Sollenssätze zu finden, müssen die Naturtendenzen untersucht werden. Hier liegt nun die Gefahr nahe, diese vom jeweiligen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften zu interpretieren und daraus dann ethische Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein Beispiel: Die menschliche Sexualität ist von Natur aus auf Zeugung neuen Lebens hin angelegt, denn der Naturablauf zeigt, dass überall dort, wo er seiner inneren Tendenz nach ablaufen kann und nicht durch Eingriffe von außen gehindert wird, es zur Zeugung neuen Lebens kommt. Deshalb kann dann als oberster und absolut verbindlicher - weil in der Natur begründet - Satz der Sexualmoral gelten: Die Sexualität darf nur ihrem Naturziel entsprechend zur Zeugung verwendet werden.

Dieser Satz ist nicht aus der metaphysischen Betrachtung der Menschennatur abgeleitet, sondern aus einer zeitbedingten Kenntnis über die menschliche Sexualität. Eine neue Erkenntnis über den Sinn der Sexualität (dass sie z.B. „von Natur aus“ auch der Partnerbindung dient und diese anzielt) hat in einem System der Ethik nicht mehr Platz, das eine zeitbedingte Interpretation der Naturziele als endgültige und nicht mehr überholbare Wesenserkenntnis ansieht.

Aus: A. K. Ruf: Grundkurs Moraltheologie. 1975, S. 122f.

Aufgabe: Unterstreiche im Text die Schlüsselbegriffe (höchstens 12) und erstelle mit diesen Begriffen ein Schaubild zur

Naturrechtslehre!

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Ethik (3): Naturrechtsethik – konkret: Die inclinationes naturales Auf welche Ziele und Fähigkeiten ist der Mensch kraft seiner Natur hingeordnet? Kraft seiner Natur ist der Mensch darauf hingeordnet, dass er

1. sein Leben erhält und schützt, 2. menschliches Leben weiterzuleiten vermag, 3. als Einzel- und Gemeinschaftswesen sich geistig-sittlich bewährt und vervollkommnet.

(…)

I: Die Stufe der Selbsterhaltung

(…) Unter diese erste Stufe fallen als natürliche Rechte bzw. Pflichten: 1. der Schutz des Lebens, des eigenen wie des fremden (Recht der Notwehr); 2. das Verbot des Mordes in jeder Form und aus beliebigen Gründen (Selbstmord, beabsichtigte Tötung eines Unschuldigen, „gezielte" Abtreibung, Sterbehilfe); 3. Wahrung der körperlichen Unversehrtheit: Verbot der Selbstverstümmelung, der Unfruchtbarmachung, der Misshandlung, des Terrors, der Freiheitsberaubung, der unnützen Lebensgefährdung; 4. der Anspruch auf den notwendigen Lebensunterhalt: das Recht zu arbeiten, um leben zu können; Recht auf persönliches Eigentum zwecks Erwerb und Sicherheit des Lebensunterhaltes; 5. Wertung und Schutz der Arbeitskraft: die menschliche Arbeit als persönliche Leistung, keine käufliche Ware; Verbot der Ausnutzung, untragbarer Arbeitsbedingungen.

II. Die Stufe der Lebensmitteilung

(…) Unter diese zweite Stufe fallen als natürliche Rechte bzw. Pflichten:

1. Das Recht auf die Ehe (freie Gattenwahl) und die eheliche Fruchtbarkeit; 2. das Unrecht des vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehrs; 3. das Recht der Familie auf Unterhalt, freie Entwicklung und den Schutz der Gemeinschaft; das Recht auf Heimat und Bodenständigkeit; 4. die Sorge für die körperliche und geistig-sittliche Erziehung der Kinder; 5. das „Elternrecht“: die Befugnis der Eltern als der Ersterziehungsberechtigten, das Erziehungsideal ihrer Kinder zu bestimmen und dessen Durchführung zu fordern wie zu überwachen; 6. die Kindespflicht der Ehrfurcht und des Gehorsams, der Unterstützung der Eltern in Krankheit, Armut und Alter.

III: Die Stufe des Geistig-Sittlichen (…) Drei Bereiche sind bei dieser Stufe zu unterscheiden:

1. Recht und Pflicht der je persönlichen Vervollkommnung. 2. Recht und Pflicht Der Gotthingabe und Gottesverehrung. 3. Recht und Pflicht des sozialen Lebens. (…) Im einzelnen sind hier folgende Dinge zu nennen:

a) ein Verhalten, das Menschen im Verkehr untereinander geziemt: Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit in Wort und Tat („was nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem andern zu"); b) Teilnahme an den gemeinsam vollzogenen Entscheidungen (Wahlrecht, gemeinsame Beschlussfassung); c) Gehorsam gegen die rechtmäßige Autorität und deren gerechte Gesetze; d) Anwendung der Gesetze und Beteiligung an den Früchten wie Lasten, beides ohne „Ansehen der Person"; e) Vereinigungsfreiheit zu allen ehrenhaften Zwecken (wirtschaftliche, gesellige, kulturelle usw.), nur begrenzt durch echte Notwendigkeit des allgemeinen Wohles; f) Beschaffung, Verteilung und Gebrauch der Wirtschaftsgüter gemäss den Notwendigkeiten eines geordneten Gemeinschaftslebens; g) Freizügigkeit der Arbeit und des Berufslebens (Wahl von Arbeitsart und Arbeitsplatz).

Aus: Herders Sozialkatechismus. Bd. 1. 1952, S. 191-197

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Ethik (4): Anwendung - Die Präimplantationsdiagnostik (PID)

Aufgaben: 1) Beurteile die PID

a) aus naturrechtlicher Sicht, b) aus der Sicht eines Paares, das zu den genetischen „Risikogruppen“

gehört und einen Kinderwunsch hat. 2) Nimm abschließend selbst Stellung zur PID!

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Ethik (5): Würdigung und Kritik der Naturrechtsethik

1. ___________________________________________________________________________

Ein Grund dafür, daß der Naturrechtsgedanke in die christliche Theologie Eingang finden konnte, ist darin zu sehen, daß Natur und Übernatur innerhalb der christlichen Glaubensüberzeugung in einer engen Wechselbeziehung stehen. Die einseitige Begrenzung auf die faktische Natur als den Erkenntnisgrund für den Willen Gottes - dem Über-Natürlichen - führte allerdings zu einer Verzeichnung, die nur korrigiert werden kann, wenn die Bedeutung des Natürlichen nicht so überbetont wird, daß die übernatürlichen - in der Offenbarung enthaltenen - Aussagen über Sinn und Ziel des Menschen überflüssig werden.

2. ___________________________________________________________________________ Das Naturrechtssystem, wie es seit der Spätscholastik tradiert wird, hat zwei Wurzeln: die philosophische, abstrakte Aussage über das Wesen des Menschen und die, an den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Aussage über die wesenhafte Zielgerichtetheit. Der rein philosophische Kern enthält für die Ethik wenig. (...) Wenn sich die Ethik auf diesem Ansatz entfaltet, dann ist sie darauf angewiesen, sich bei der Suche nach den konkreten Verhaltensnormen auf die Ausdeutung der Sinnziele (inclinationes naturales) zu stützen. Damt bindet sie sich sehr an vorläufige Erkenntnisse aus dem Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.

3. ___________________________________________________________________________

Der Gedanke, dass etwas alle Menschen Verbindendes die Grundlage des menschlichen sittlichen Handelns sein muss, war der Ausgangspunkt für die Entfaltung des Naturrechtsgedankens. Er ist heute noch so aktuell wie früher. (...) Gerade das Selbstverständnis des Christentums als einer universalen, auf alle Menschen bezogenen Lehre verpflichtet die Ethik dazu, sich nicht mit Verhaltensforderungen zu begnügen, die nur in einem engen (kulturellen und zeitgeschichtlichen) Raum verständlich und nachvollziehbar sind.

4. __________________________________________________________________________

Eine Grundidee der Naturrechtsvorstellung kann darin gesehen werden, daß der Mensch sich, um richtig zu handeln, nicht daran orientieren soll, was alle tun, sondern an Maßstäben, die ihm voraus

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liegen und die in seiner Idee - in dem, was er sein soll - begründet sind. Diese Ideale können als Leitlinien für das ethisch richtige Verhaften angesehen werden.

5.____________________________________________________________________________

Das traditionelle Naturrechtsdenken führte dazu, das Wesen des Menschen und der Dinge aus dem heraus zu erklären, was man faktisch von ihnen in Erfahrung bringen konnte. Zur Deutung der inclinationes naturales wurde davon ausgegangen, was man von den Naturdingen jeweils wusste. Für die christliche Ethik muss aber nicht die aus dem Faktischen erkennbare Zielstrebigkeit, sondern die aus dem Willen Gottes erkennbare Zielausrichtung maßgebend sein; nur so entgeht sie der Gefahr, Gottes Willen mit dem gleich zu setzen, was an einem bestimmten Zeitpunkt der Erkenntnis als Sinnziel erkannt wird.

Die starre Haltung der Kirche in einzelnen Fragen neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis erklärt sich auch daraus, daß sie sich ein Naturrechtsdenken zu eigen gemacht hatte, das keinen Platz mehr für neuere Erkenntnisse aus diesem Bereich zuließ.

6. ___________________________________________________________________________ Die Begründung eines Naturrechts aus den Wesensstrukturen der Dinge führt zur Ausprägung eines Systems allgemeinverbindlicher Reichtsätze, die - im Hinblick auf ihre praktische Verwertbarkeit - soweit ausgedehnt werden, daß sie alle nur denkbaren Entscheidungssituationen umfassen (Kasuistik). Die jeweilige Entscheidung wird dann als ein Fall des Allgemeinen betrachtet, der im Prinzip schon beantwortet ist. Die scheinbare Eindeutigkeit der Normforderungen beruht auf einer Methode, die im Ansatz der Naturrechtslehre begründet ist: Diese abstrahiert vom Konkreten zum Allgemeinen, und es scheint logisch zu sein, dieses - als allgemein und deshalb dem konkreten Einzelnen Vorausliegend - nun wieder, durch Deduktion, auf die Einzelsituation anzuwenden. Dabei wird dann meist übersehen, dass konkrete Entscheidungssituationen nicht in einem philosophischen Sinn als Einzelfälle betrachtet werden dürfen, die alle in einem Gemeinsamen übereinkommen. aus: A. K. Ruf Grundkurs Moraltheologie. 1975, S. 129f.

Aufgabe: Formuliere Überschriften für die einzelnen positiven bzw. negativen Kritikpunkte!

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Ethik (6): Naturrecht und Rechtspositivismus

Urteilsbegründung im ersten „Mauerschützenprozeß" (1992, Auszug)

1. Die Schußwaffenregelung im Grenzgesetz der ehem. DDR war nicht, weil sie nicht dem rechtsstaatlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprach. 2. Die Durchsetzung des Ausreiseverbots mittels Schußwaffengebrauchs verletzt den Kernbereich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in den nach allg. Rechtsüberzeugung kein Gesetz und keine andere obrigkeitliche Maßnahme eingreifen darf.

3. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum bei den Grenzsoldaten scheidet regelmäßig aus, da die tödlichen Schüsse an der Grenze in eklatantem Widerspruch zu den allg. anerkannten Grundsätzen von Recht und Gerechtigkeit standen, so daß dies trotz Indoktrination bei entsprechender Gewissensanspannung auch für die Soldaten erkennbar gewesen wäre.

LG Berlin, Urteil v. 20. 1.' 1992 -- (523) 2 Js 4£3;9Q (9/J1).

Noch Fragen? Zeicnnung'. A?c~e75

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Ethik (7): Naturrecht und Rechtspositivismus – ein Überblick

Naturrechtslehre Rechtspositivismus

Es gibt ein übergeordnetes, immer geltendes Naturrecht, das den positivierten Normen vorgelagert ist.

Das Recht ergibt sich aus den positivierten Normen, unabhängig von deren Inhalt.

Die klassische Naturrechtslehre setzt den Rechtsinhalt absolut.

Der klassische Rechtspositivismus setzt die Rechtsform absolut.

"Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Setzung, so dass ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiss sind sie im einzelnen von manchen Zweifeln umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestandteil herausgearbeitet und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit weitreichender Übereinstimmung gesammelt"

[Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 1950]

Über die Inhalte des Rechts befindet die Politik.

"Wir müssen auch das niederträchtigste Gesetzesrecht, sofern es nur formell korrekt erzeugt ist, als verbindlich anerkennen."

[Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892]

"Es gilt unumstößlich die Wahrheit, dass die Rechtsmacht jeden beliebigen Rechtsinhalt setzen kann."

[Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1927]

Der Richter hat die Befugnis, seinem vernünftigen Ermessen den Vorrang vor dem geschriebenen Gesetz zu geben.

Der Richter ist streng an die vom Staat erlassenen Gesetze gebunden.

Gefahr: Rechtsunsicherheit, Willkür Gefahr: "Ungerechte" Gesetze eines Diktators werden buchstabengetreu angewendet.

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Ethik (8): Naturrecht – Rechtspositivismus (Schaubild)

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Ethik (9): Die Pflichtethik Immanuel Kants (1724-1804)

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung

für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. (…) Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt,

oder ausrichtet, (…) sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut.“

(I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Frankfurt 1974, 18f.)

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Ethik (9): Kants Pflichtethik : Der kategorische Imperativ

KANT wendet sich in seiner grundlegenden ethischen Schrift, der "Kritik der praktischen Vernunft" (1788, kurz: KpV) gegen eine der bestimmenden philosophischen Strömungen seiner Zeit, den Empirismus. Die empiristische Ethik geht davon aus, dass der Mensch ausschließlich als sinnlich-empirisches Wesen zu fassen ist. Menschliche Praxis ist darum vollständig durch die sinnliche Lust-Unlust-Motivation (hedonistisch) bestimmt. KANT geht es nun darum, aufzuzeigen, dass es eine von der Lust-Unlust-Motivation prinzipiell verschiedene Motivation aus reiner Vernunft geben kann. Das ist die Ausgangsfrage der KpV: "Hier ist also die erste Frage: ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne." (KpV A 30) Wie ist nun eine derartige Vernunftmotivation zu denken?

1. Sie darf nichts Empirisches in Aussicht stellen, keinen Lustgewinn verheißen und nicht durch

persönlichen Vorteil motivieren. Als reine Verpflichtung muß sie den Charakter eines unbedingten,

also kategorischen Imperativs haben:

"Alle Imperative nun gebieten entweder hypothetisch )1 , oder kategorisch. Jene stellen die

praktische Notwendigkeit einr möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will

(oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen, vor. Der kategorische Imperativ würde der

sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als

objektiv-notwendig vorstellte." (GMS BA 39)

2. Da dieser kategorische Imperativ keine material-empirischen Inhalte enthalten darf, muss er

formal motivieren. Nicht der subjektive Vorteil, sondern die objektive Notwendigkeit und

Allgemeingültigkeit charakterisiert die Motivation aus reiner Vernunft. Gegenstand dieser

Motivation ist das Universelle. Aus diesen Voraussetzungen folgen Gehalt und Form des einzig

möglichen kategorischen Imperativs, der in der Ethik KANTS als "Moralprinzip" und

"Sittengesetz" fungiert:

"Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen

Gesetzgebung gelten könne." (KpV A 54)

Der eigentliche Kern der moralischen Motivation ist offensichtlich die Vernunftform der

Universalisierbarkeit. Damit. ist die formale Bewandtnis des kategorischen Pflichtcharakters des

Moralischen erklärt. KANT nennt das Bewußtsein des Kategorischen Imperativs als Moralprinzip

ein "Faktum der Vernunft, weil es sich für sich selbst uns aufdringt" (KpV A 56).

aus: R. Loch: Ethik. Materialsammlung für die Oberstufe. Koblenz 1996

1) Hypothetische Imperative sind "Wenn-dann-Sätze", wie z.B. "wenn ich Vater und Mutter ehre, dann erbe ich später

ihr Vermögen".

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Ethik (9.1): AB zur Herleitung des kategorischen Imperativs Aufgabe: Ordnet die im Text genannten, gegensätzlichen Begriffe („Antithesen der Motivation“) den beiden Positionen (Empirismus, Pflichtethik) zu!

ANTITHESEN DER MOTIVATION

Empirismus Pflichtethik

Kern der moralischen Motivation:

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Man muss wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt. Einige der Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde. [...] Ein anderer sieht sich durch Not gedrungen, Geld zu borgen. Er weiß wohl, daß er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, daß ihm nichts geliehen werden wird, wenn er nicht festiglich verspricht, es zu einer bestimmten Zeit zu bezahlen. [...] Da sehe ich nun sogleich, daß sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit des Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen [...]. Ein dritter sieht in sich ein Talent, welches unvermittelst einiger Kultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen, und zieht vor, lieber dem Vergnügen nachzuhängen [...]. Da sieht er nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetz immer noch bestehen könne [...]; allein er kann unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde [...]. Quelle: I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ;1785j, Frankfurt 1974, S3-5S

Aufgaben:

1) Kant unterscheidet hier zwei Formen der Maximenüberprüfung, eine schwache und eine starke Form. Erarbeite aus dem Text diese beiden Formen der Maximenüberprüfung!

2) Wende diese beiden Formen der Maximenüberprüfung auf folgende ethischen Fragestellungen an:

2.1) Darf man in öffentlichen Einrichtungen (z.B. Kneipen, Cafes) rauchen? 2.2) Darf man mit dem Flugzeug eine Urlaubsreise machen? 2.3) Darf man bei Komapatienten aktive Sterbehilfe leisten?

Ethik (10): Kant - Die zwei Formen der Maximenüberprüfung

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Ethik (10): Anwendung der Kantischen Ethik

Ist es moralisch vertretbar in Urlaub zu fliegen?

Beispiel: Anne und Marius, beide 21 Jahre alt und Studenten, wollen in den Semesterferien für 10 Tage nach Mallorca fliegen. Sie haben eine Pauschalreise gebucht, ein echtes Schnäppchen! Für das Pärchen ist es der zweite Urlaub in diesem Jahr.

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Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist). Dies sind also nicht bloß subjektive Zwecke, deren Existenz als Wirkung unserer Handlung für uns einen Wert hat: sondern objektive Zwecke, d.i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist, und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie bloß als Mittel zu Diensten stehen sollten, weil ohne dieses überall gar nichts von absolutem Werte würde angetroffen werden; wenn aber aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden. Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor, sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines Jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. Aus: I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademieausgabe IV. 1968, S. 428f.

Aufgabe: Erarbeite mit Hilfe des Schaubildes die Kantische Herleitung der „Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs“!

Ethik (11): Die Herleitung der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs

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Ethik (11): Arbeitsblatt zur Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs

vernunftlos

von absolutem Wert

oberstes praktisches Prinzip

allgemeingültig

und zugleich

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Ethik (12): Pflicht und Neigung

Friedrich Schiller

„Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es

leider mit Neigung. Und so wurmt es mir oft, dass ich

nicht tugendhaft bin. Da hilft kein anderer Rat, du musst

suchen, sie zu verachten, und mit Unmut dann tun, was die

Pflicht dir gebietet.“

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Ethik (12): Kant – Neigung und Pflicht

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Wohltätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem gibt es manche so teilnehmend gestimmte Seelen, dass sie, auch ohne einen anderen Beweggrund der Eitelkeit, oder des Eigennutzes, ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit anderer, so fern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, dass in solchem Fall dergleichen Handlungen, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Wert habe, sondern mit anderen Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z.E. der Neigung nach Ehre, die, wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der Tat gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwert ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient; denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun. Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus, und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert. Noch mehr: wenn die Natur diesem oder jenem überhupt wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er (übrigens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht, weil er, selbst gegen seine eigene mit der besonderen Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke versehen, dergleichen bei jedem anderen auch voraussetzt, oder gar fordert; wenn die Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht ihr schlechtestes Produkt sein würde) nicht eigentlich zum Menschenfreund gebildet hätte, würde er denn nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit höhern Wert zu geben, als der eines gutartigen Temperaments? Allerdings! Gerade da hebt der Wert des Charakters an, der moralisch und ohne Vergleichung der höchste ist, nämlich dass er wohltue, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht... Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. (...) Eine Handlung aus Pflicht (soll) den Einfluss der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objektiv, das Gesetz, und, subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz. Aus: Immanuel Kant: Der kategorische Imperativ. In: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. von Theodor Valentiner. Stuttgart 1988. S. 40ff.

Aufgaben: a) Welche beiden Formen von Handlungen unterscheidet Kant? Erläutere Sie! b) Welchen Wert weist Kant diesen beiden Handlungsvarianten zu?

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Ethik (12): Anwendung der Kantischen Ethik

Anna K., 19 Jahre alt, leidet an einem

schweren Nierenleiden. Da sie mit

dieser Krankheit jedoch nicht alleine

ist und ein Mangel an

Spenderorganen besteht, steht sie auf

der Warteliste für Organe erst an

Platz 2038. Ihr Vater ist verzweifelt und setzt eine Anzeige in die

Zeitung:

Beurteile den Fall aus der Sicht der Pflichtethik Kants!

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Das Prinzip der Nützlichkeit ist die Grundlage des vorliegenden Werkes; es wird daher zweckmäßig sein, mit einer ausdrücklichen und bestimmten Erklärung dessen zu beginnen, was mit ihm gemeint ist. Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist jenes Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede Handlung in dem Maß billigt oder missbilligt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interessen in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern, oder – das gleiche mit anderen Worten gesagt – dieses Glück zu befördern oder zu verhindern. Ich sagte: schlechthin jede Handlung, also nicht nur jede Handlung einer Privatperson, sondern auch jede Maßnahme der Regierung.[...] Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit oder – der Kürze halber – der Nützlichkeit (das heißt in bezug auf die Gemeinschaft insgesamt), wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren, größer ist als irgendeine andere ihr innewohnende Tendenz, es zu vermindern. [...] Wenn man also die allgemeine Tendenz einer Handlung, durch die die Interessen einer Gemeinschaft betroffen sind, genau bestimmen will, verfahre man folgendermaßen. Man beginne mit einer der Personen, deren Interessen am unmittelbarsten durch eine derartige Handlung betroffen zu sein scheint, und bestimme:

a) den Wert jeder erkennbaren Freude, die von der Handlung in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint

b) den Wert jeden Leids, das von ihr in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint c) den Wert jeder Freude, die von ihr in zweiter Linie hervorgebracht zu sein scheint.

Dies begründet die Folgenträchtigkeit der ersten Freude und die Unreinheit des ersten Leids

d) den Wert jeden Leids, das von ihr in zweiter Linie anscheinend hervorgebracht wird. Dies begründet die Folgenträchtigkeit des ersten Leids und die Unreinheit der ersten Freude.

e) Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen und die aller Leiden auf der anderen Seite. Wenn die Seite der Freude überwiegt, ist die Tendenz der Handlung im Hinblick auf die Interessen dieser einzelnen Person insgesamt gut, überwiegt die Seite des Leids, ist ihre Tendenz insgesamt schlecht.

Man bestimme die Anzahl der Personen, deren Interessen anscheinend betroffen sind, und wiederhole das oben genannte Verfahren im Hinblick auf jede von ihnen. Man addiere die Zahlen, die den Grad der guten Tendenzen ausdrücken, die die Handlung hat – und zwar in Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt gut ist; das gleiche tue man in Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist. Man ziehe die Bilanz, befindet sich das Übergewicht auf der Seite der Freude, so ergibt sich daraus für die betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von Individuen eine allgemein gute Tendenz der Handlung; befindet es sich auf der Seite des Leids, ergibt sich daraus für die gleiche Gemeinschaft eine allgemein schlechte Tendenz.

Bentham, Jeremy: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung. Original: Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London 1789. Übersetzt von Annemarie Pieper nach dem Text der kritischen Ausgabe von H. L. A. Hart. London 1970. Zitiert nach: Höffe, O. Hrsg.: Einführung in die utilitaristische Ethik. Tübingen 1992. S. 55-57; S. 80-81. Aufgabe (in PA): 1. Welche Faktoren spielen bei der moralischen Bewertung einer Handlung eine Rolle? 2. Wann kann man eine Handlung als gut bewerten? Formuliere einen passenden Imperativ: Handle so, dass deine Handlung ...3. Wendet das utilitaristische Kalkül auf den Problemfall der Organversteigerung an!

Ethik (13): J. Bentham – Das utilitaristische Kalkül

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Ethik (14): Die 4 Prinzipien des Utilitarismus nach O. Höffe

Nach O. Höffe stellt sich die utilitaristische Grundposition als die Kombination von vier Prinzipien

dar. Diese Prinzipienkombination soll die Möglichkeit bieten, Handlungen und Normen auf

empirisch-rationaler Basis moralisch zu beurteilen.

(I) Konsequenzprinzip. Die moralische Beurteilung von Handlungen erfolgt ausschließlich auf

Grund der zu erwartenden Handlungsfolgen, Konsequenzen oder Auswirkungen. Es gibt also keine

Handlungen die in sich, also auf Grund gewisser ihnen immanenter Eigenschaften und unabhängig

von ihren Folgen moralisch richtig oder falsch sind, sondern das moralische Urteil über Handlungen

bezieht sich genau auf das, was die Handlungen bewirkt. Man nennt dieses Prinzip auch

Teleologieprinzip (von gr. telos = Zweck-, Ziel) und unterscheidet teleologische Positionen von

deontologischen (von gr. dei = man soll, man muss)'.

(2) Utilitätsprinzip. Nach welchen Kriterien sind die Handlungsfolgen zu beurteilen? Der Utilitarist

antwortet: Kriterium ist der Nutzen, die Utilität der Handlungskonsequenzen für die

Verwirklichung des in sich Guten.

(3) Hedonismusprinzip. Als empiristische Position kann der Utilitarismus das in sich Gute nur

hedonistisch bestimmen. Es besteht in der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und

Interessen, also in der Lust, der Freude, dem (hedonistisch verstandenen) Glück. Dabei bestimmt

jeder in seinem Lebensplans seine Präferenzen und damit das Profil seines hedonistischen Kalküls

für sich selbst.

(4) Sozialprinzip. Im Anschluss an die Positionen von HUME und SMITH lehnt der Utilitarismus

den egoistischen Hedonismus ab. Im moralischen Kalkül geht es nicht bloß um das Glück des

Handelnden selbst, sondern um das Glück aller von der Handlung Betroffenen, um das

"größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl" (BENTHAM) und letztlich um den sozialen

Nutzen aller Menschen überhaupt. (...) Es geht im Konsequenzenkalkül um die größtmögliche

soziale Nutzensumme bzw. um den größtmöglichen Durchschnittsnutzen.

aus: A. Anzenbacher: Einführung in die Ethik. 1992, S. 32f.

' Deontologische Positionen nehmen an, dass Handlungen in sich selbst, also auf Grund ihrer

immanenten Beschaffenheit und unabhängig von ihren Folgen moralisch oder unmoralisch sein können. So etwa

könnte ein Deontologe behaupten, ein Mord oder eine Vergewaltigung seinen auf jeden Fall und in sich

unmoralisch.

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Aufgabe: Fülle die folgende Tabelle aus:

Frage Kriterium Prinzip Wie werden Handlungen beurteilt?

Nutzen

Sozialprinzip

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Ethik (15): Der Präferenzutilitarismus von Peter Singer (geb. 1946)

„Das Leben eines Menschen ist nicht mehr wert

als das eines nichtmenschlichen Lebewesens

auf einem ähnlichen Stand der Rationalität, des

Selbstbewusstseins etc., d.h. dass das Leben

eines Neugeborenen (oder eines geistig

Schwerstbehinderten, R.L.) weniger Wert hat als

das eines Schweines, eines Hundes oder eines

Schimpansen.“

P. Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 168f.

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Ethik (15): Der Präferenzutilitarismus von Peter Singer

SINGER führt in seinen Utilitarismus ein "Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen" ein, das

als Gleichheits- bzw. als Gerechtigkeitsprinzip fungiert:

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Das Wesentliche am Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen besteht darin, dass

wir unseren moralischen Überlegungen gleiches Gewicht geben hinsichtlich der

ähnlichen Interessen derer, die von unseren Handlungen betroffen sind. Dies bedeutet:

Wenn X und Y von einer möglichen Handlung betroffen wären und X dabei mehr zu

verlieren als Y zu gewinnen hätte, ist es besser, die Handlung nicht zu tun. Akzeptieren

wir das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen, so können wir nicht sagen, es sei

besser, die Handlung zu tun, weil uns, trotz der beschriebenen Fakten, Y mehr angehe

als X. Worauf das Prinzip in Wirklichkeit hinausläuft, ist folgendes: Interesse ist

Interesse, wessen Interesse es auch immer sein mag. (...) Diese andere Version des

Utilitarismus beurteilt Handlungen nicht nach ihrer Tendenz zur Maximierung von Lust

und Minimierung von Leid, sondern nach dem Grad, in dem sie mit den Präferenzen der

von der Handlung oder ihren Konsequenzen betroffenen Wesen übereinstimmt. (...)

Nach dem Präferenzutilitarismus ist eine Handlung, die der Präferenz irgendeines

Wesens entgegensteht, ohne dass diese Präferenz durch entgegen gesetzte Präferenzen

ausgeglichen wird, falsch.

aus: P. Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 32f, 112 Frage: Welches der vier Prinzipien des Utilitarismus (nach HÖFFE) modifiziert SINGER?

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Ethik (16): Singers aktualistischer Personbegriff

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Menschliches Leben

Hier ist die Frage angebracht, was wir mit Begriffen wie "menschliches Leben" und

"menschliches Wesen" meinen. (…) Der Ausdruck "menschliches Wesen" kann eine

genaue Bedeutung haben und zum Beispiel als Äquivalent zu "Mitglied der Spezies

Homo sapiens" verwendet werden. (…) Eine andere Verwendung des Begriffs

"menschlich" wurde von Joseph Fletcher vorgeschlagen, einem protestantischen

Theologen, der viel über moralische Probleme publiziert hat. Fletcher hat eine Liste

mit "Indikatoren des Menschseins" aufgestellt, die folgendes umfaßt:

Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die

Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern,

Kommunikation und Neugier. (...) Für die erste, biologische Bedeutung, werde ich

den schwerfälligen, aber präzisen Begriff "Mitglied der Gattung Homo sapiens"

verwenden, für die zweite Bedeutung den Begriff "Person". (... ) John Locke definiert

eine Person als "ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion

besitzt und sich als sich selbst denken kann, als das selbe denkende Seiende in

verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten".

Nach der durch unser terminologisches Zwischenspiel erfolgten Klärung und der

akzeptierten Erörterung des vorhergehenden Kapitels können wir uns in diesem

Abschnitt sehr kuurz fassen. Daß es falsch ist, einem Wesen Schmerz zuzufiigen,

kann nicht von seiner Gattungszugehörigkeit abhängen, ebensowenig, daß es falsch

ist, es zu töten. Die biologischen Fakten, an die unsere Gattung gebunden ist, haben

keine moralische Bedeutung. Einem Leben bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil

das Lebewesen unserer Gattung angehört; würde uns in dieselbe Position bringen wie

die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören. {...) Für

Präferenz-Utilitaristen ist das Töten einer Person in der Regel schlimmer als das

Töten eines anderen Wesens, weil ein Wesen, das sich nicht als eine Wesenheit mit

einer Zukunft sehen kann, keine Präferenz hinsichtlich seiner eigenen zukünftigen

Existenz haben kann.

Bewusstes Leben

Es gibt viele Wesen, die bewußt und fähig sind, Lust und Schmerz zu erfahren, aber

nicht selbstbewußt und vernunftbegabt und somit keine Personen sind. Viele

nichtmenschliche Lebewesen gehören nahezu mit Sicherheit zu dieser Kategorie; das

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gilt auch für Neugeborene und einige Geisteskranke. (…) Der offensichtlichste

Grund dafür das Leben eines Wesens, das Lust und Schmerz empfinden kann, als

einen Wert zu achten, ist die Lust, die es empfinden kann. Achten wir unsere eigenen

Lustgefühle als einen Wert - beim Essen, beim Sex, beim schnellen Laufen oder beim

Schwimmen an einem heißen Tag - , dann verlangt der universale Aspekt des

moralischen Urteils von uns, die positive Bewertung unserer eigenen Empfindungen

von Lust auf ähnliche Empfindungen all derer auszudehnen, die solche haben

können. (...) Je höher entwickelt das bewußte Leben eines Wesens, je größer der Grad

von Selbstbewusstsein und Rationalität, umso mehr würde man dieses Lebewesen

vorziehen, wenn man zwischen ihm und einem Wesen auf einer niedrigeren

Bewusstseinsstufe zu wählen hätte.

Nicht-bewußtes Leben

Die Ansicht, dass alles Leben an sich einen Wert habe, wird zumeist mit dem Namen

Albert Schweitzer in Verbindung gebracht. (...) Die Vorstellung einer Werthierarchie

läßt die Möglichkeit offen, dass jedes Unkraut, dessen Leben ich beim Jäten meines

Gemüsegartens zerstöre, einen gewissen Wert hat, einen Wert allerdings, über den

sich meine Bedürfnisse hinwegsetzen; aber hat das Leben eines Unkrauts überhaupt

einen Wert an sich? Angenommen, wir wenden den Test mit dem imaginären Leben

auf das Leben des Unkrauts an, das ich in meinem Garten jäten will. Ich muß mir

darin einbilden, ein Leben zu leben, das überhaupt keine bewußten Erlebnisse hat.

Ein solches Leben ist völlig leer; ich würde es nicht im mindesten bedauern, diese

subjektiv unfruchtbare Form von Existenz zu vernichten. Dieser Test legt daher den

Gedanken nahe, dass das Leben eines Wesens, das keine bewußten Erlebnisse hat,

über keinen Wert an sich verfügt.

Aus: P. Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 101-128

Aufgabe: Fülle die Lücken in der folgenden Tabelle!

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Ethik (16): AB zum Personbegriff Singers

Wesen Kriterien/Indizien Wert Moralische

Verpflichtung

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Ethik (17): Singer konkret - Spätabtreibungen

Im Dezember 1997 berichtete FOCUS über einen kleinen Jungen, der seine eigene Abtreibung überlebt hatte. Die Mutter, die zu diesem Zeitpunkt bereits in der 25. Schwangerschaftswoche war, hatte die Abtreibung in Oldenburg vornehmen lassen, weil der Junge einen genetischen Defekt (Down-Syndrom) hatte. Laut FOCUS sei das Kind, das lebend zur Welt kam, 10 Stunden lang unversorgt "liegengelassen" worden. Erst als der Junge partout nicht sterben wollte, hätten die Ärzte der Städtischen Kliniken Oldenburg eine intensive medizinische Versorgung eingeleitet. Richtig bekannt wurde der Fall allerdings erst, nachdem die Eltern des Jungen die Städtischen Kliniken verklagten. Ihr Vorwurf: Sie seien nicht über das "Risiko" aufgeklärt worden, dass ihr Kind überleben könnte. Auch der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe, CDU erstattete Strafanzeige. Tim, so heißt das "Oldenburger Baby", lebt seit März 1998 in einer Pflegefamilie im Landkreis Cloppenburg. Seit seiner Abtreibung wurde er Presseberichten zufolge, mindestens siebenmal operiert. Tim ist kein Einzelfall:

Laut Dr. Christian Albring (Fortbildungsleiter zum Schwangerschaftsabbruch der Ärztekammer Niedersachsen) kommen 30% aller spätabgetriebenen Kinder lebend zur Welt. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Prof. Dr. Dietrich Berg, spricht von 100 Kindern jährlich (!), die eine Abtreibung überleben. In den RUHRNACHRICHTEN berichtet Horst-Eberhard Hütt von zwei weiteren Kindern, die ihre Abtreibung überlebt haben. Der eine "Fall" hat sich Köln-Holweide, der andere in Hannover ereignet.

Der rechtliche Hintergrund: Mit der letzten Neuregelung des § 218, am 29. Juni 1995, wurde die "embryophatische" Indikation abgeschafft. Diese Indikation stellte eine Abtreibung aus eugenischen Gründen, das heißt wegen einer vermuteten Behinderung des Kindes, bis zur 22. Woche p.c. straffrei. Damit sollte, so die offizielle Wortregelung, der Forderung von Behindertenverbänden und Kirchen nachgekommen werden, behinderte Menschen nicht zu diskriminieren. In

Wirklichkeit ist die embryophatische Indikation in der erweiterten medizinischen Indikation "aufgegangen." Schon in der Debatte vor der Novellierung des neuen Gesetzes stellte Heinz Lanfermann (FDP) fest: "Jede Spekulation, daß sich in der Praxis für die betroffenen Frauen, für die betroffenen Eltern etwas ändern würde, scheint meiner Ansicht nach falsch zu sein." Dem stimmte CDU Verhandlungsführer Reinhard Göhner mit dem Zwischenruf "Richtig!" zu. (Plenarprotokoll 13/47 S. 3761 D)

Die "erweiterte" medizinische Indikation: In der neuen Fassung des § 218 a Absatz 2 StGB heißt es jetzt: „Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die Gefahr nicht auf andere, für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann." Was hat sich geändert?

• Die Beratungspflicht, die sonst bei Abtreibungen gilt, fällt weg.

• Gleiches gilt für den zeitlichen Abstand zwischen Beratung und Abtreibung (sonst 3 Tage).

• Es gibt keine zeitliche Befristung für den Abbruch mehr: Eine Abtreibung kann bis zur Geburt durchgeführt werden.

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Ethik 19: Schwachpunkte der Ethik Singers

1. Das Potentialitätsargument 5 10 15

a) Gegen das Argument, das ich im vorhergehenden Abschnitt angeboten habe, ließe sich einwenden, dass es nur die tatsächlichen Eigenschaften des Fötus berücksichtige, nicht jedoch seine potentiellen. Manche Gegner der Abtreibung werden zugeben, dass der Fötus im Vergleich mit vielen Tieren hinsichtlich seiner vorhandenen Eigenschaften schlecht abschneidet; seine Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens wird dann wichtig, wenn wir ihn als potentielles reifes menschliches Wesen betrachten, und dann freilich übertriff der Fötus jedes Huhn, Schwein oder Kalb bei weitem. Es trifft natürlich zu, dass die potentielle Rationalität, das potentielle Selbstbewusstsein usw. eines fötalen Homo sapiens weit über das hinausgeht, was eine Kuh oder ein Schwein aufzuweisen haben; aber daraus folgt nicht, dass der Fötus einen größeren Anspruch auf Leben hat. Im allgemeinen hat ein potentielles X nicht auch sämtliche Rechte von X. Prinz Charles ist der potentielle König von England, aber er hat nicht die Rechte eines Königs. Weshalb sollte eine potentielle Person die Rechte einer Person haben? (165)

b) Zugegeben, das ist alles spekulativ. Es ist offensichtlich schwierig festzustellen, wann ein anderes Wesen selbstbewusst ist. Aber gesetzt, es ist falsch, eine Person zu töten, wenn wir es vermeiden können, und es besteht ein echter Zweifel, ob ein Wesen; das man zu töten gedenkt, eine Person ist, so sollten wir den Zweifel zugunsten dieses Lebewesens sprechen lassen. Es gilt hier dieselbe Regel wie unter Jägern, welche besagt: Wenn man im Gebüsch etwas sich bewegen sieht und nicht sicher ist, ob es ein Stück Wild oder ein Jäger ist, soll man nicht schießen! Aus diesen Gründen muss das Töten von nichtmenschlichen Wesen zu einem großen Teil verurteilt werden. (136)

a), b) aus: P. Singer: Praktische Ethik. 1984

Aufgabe: a) Versuche durch Vervollständigung des Schemas Singers Argumentation in a) zu entkräften! Person �-----------------------------------� König v. England �-----------------------------------� Prinz Charles �----------------------------------� Bürger v. England b) Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem in b) von Singer genannten Prinzip „in dubio pro reo“?

2. Die Schläfer-Aporie a) Erläutere, warum ein schlafender, erwachsener Mensch keine Person im Singerschen Sinne

ist! b) Wie kann nun Singer den schlafenden, erwachsenen Mensch personalisieren (2

Möglichkeiten)?

mehr Rechte weniger Rechte

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3. Das „Argument der schiefen Bahn“

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Die schiefe Bahn: von der Euthanasie zum Völkermord? Bevor wir dieses Thema verlassen, müssen wir einen Einwand in Erwägung ziehen, der m der Anti-Euthanasie-Literatur so gewichtig ist, dass er einen Abschnitt für sich beanspruchen darf. (...) Wäre die Euthanasie der erste Schritt, der uns auf eine schiefe Bahn bringt. Die Erfahrung des Nazismus wird oft als Illustration dessen verwendet, was aus der Freigabe der Euthanasie folgen könnte. (...) Erörtert man die Lehren, die aus dem Nazismus zu ziehen sind, ist es vor allem wichtig, einen offensichtlichen Trugschluss zu vermeiden. Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, dass alles, was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebenso wenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen können. (...) Vielleicht könnte jemand, der sieht, dass gewisse Arten von menschlichen Wesen unter bestimmten Umständen getötet werden, zu der Schlussfolgerung gelangen, dass es nicht falsch ist, andere zu töten, die von der ersten Art nicht sehr verschieden sind. Wird so die Grenze für akzeptables Töten allmählich zurück verschoben? (...) Wenn Akte der Euthanasie nur von einem Mitglied der ärztlichen Zunft und unter Mitwirkung eines zweiten Arztes durchgeführt werden dürften, ist es unwahrscheinlich, dass sich die Neigung zum Töten in der Allgemeinheit unkontrolliert verbreiten würde. (...) Es gibt jedenfalls kaum historische Anhaltspunkte dafür, dass eine Einstellung, die das Töten einer Kategorie menschlicher Wesen erlaubt, zu einem Zusammenbruch der Beschränkungen gegen das Töten anderer Menschen führt. Aus: P.Singer: Praktische Ethik. 1984, S. 209-213

Aufgabe: Erläutere, wie Singer das Problem der „schiefen Bahn“ in den Griff bekommen will und bewerte die Singersche Einschätzung!

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Ethik (20): Skizze eines alternativen Personbegriffs

l. Theologisch: Ps 139,15f; Gen 1,27 2. Philosophisch-naturrechtlich: 5 10 15 20 25 30

Im Begriff der "Person" sind drei Gesichtspunkte wesentlich: 1. Der erste Gesichtspunkt ist der der Subjektivität, des logos, der in der Tradition als Geist oder Vernunft oder als selbstbewußtes Ich angesprochen wurde. (...) 2. Der zweite ist der der lebendigen Substanz, also des menschlichen bios, sofern Menschen wesentlich Animalien sind. Im physisch-organischen Lebensprozeß erstrebt die lebendige Substanz als Lebewesen in artspezifischer Weise ihren Naturzweck. ( ...) 3. Der dritte und für unser Thema entscheidende Gesichtspunkt betrifft das Verhältnis von Logos und Bios von Personprinzip und Naturprinzip, von Subjekt und Substanz, sofern eben menschliche Personen wesentlich beides sind: Vernunftwesen und Naturwesen. Die Verschränkung beider bringt es mit sich, daß (wie die philosophische Anthropologie zu zeigen suchte) der Mensch schon biologisch kein Tier ist bzw. (nach einem Wort Herders) schon als Tier Sprache hat. (...) Für die Bestimmung des Verhältnisses von Logos und Bias sind primär zwei Dinge zu beachten: a) Einerseits ist der Logas als vernünftig-freie Subjektivität nur wirklich, sofern er leibhaftig da ist. Der artspezifisch-substantiale Bios ist die notwendige Bedingung für die Wirklichkeit des menschlichen Geistes. Anders formuliert: Menschlicher Logos ist wesentlich im menschlichen Bios inkarnierter Logos. b) Andererseits gilt aber auch das Umgekehrte: Der menschliche Bios ist nur wirklich vom Logos her und auf ihn hin. Das artspezifisch bestimmte, animalische Naturwesen Mensch wäre als Spezies überhaupt nicht lebensfähig ohne diesen ihn beseeelenden Logos. Die Evolution hätte dieses völlig unspezialisierte Mängelwesen Mensch niemals hervorbringen können, wenn sie nicht zugleich diese Iogosartige; vernünftig-freie, kultur- und technikfähige Bestimmung hervorgebracht hätte, durch die diese biologische Mängelbewandtnis die Bedeutung menschlicher Weltoffenheit (M. Scheler) gewinnt. In diesem Sinne gibt es den Logos nicht ohne den Bios und den Bios nicht ohne den Logos. Personprinzip und Naturprinzip bedingen sich gegenseitig. Der Begriff des Menschen besagt diese wesentliche Einheit von Bios und Logos, etwa im Sinne der Aussage, die menschliche Natürlichkeit sei immer zugleich künstlich. Aus dieser Einheitsbewandtnis aber scheint zu folgen, dass die leibhaftige Präsenz des menschlichen Bios immer und wesentlich den menschlichen Logos und damit Personalität verkörpert, ganz unabhängig davon, wie es sich mit den faktisch-aktuellen Vollzugsmöglichkeiten dieses Logos verhalten mag, etwa inwieweit aktuell Präferenzen, Interessen oder Wünsche erlebt werden können. aus: A. Anzenbacher: Kritische Auseinandersetzung mit dem Personbegriff von Peter Singer. Unveröffentlichtes Manuskript eines Studientages des Erbacher Hofes. Mainz 1994

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Ethik 21: Das Gewissen bei Thomas v. Aquin 5 10 15 20 25 30 35 40

THOMAS definiert conscientia ausgehend von der Etymologie des Wortes (lat. Con-scire = mit-wissen, zugleich wissen, davon conscientia = Mitwissen, Bewußtsein) als Applikation (Anwendung) eines Wissens aufeinen bestimmten Akt (applicatio scientiae ad aliquem actum particularem). Für die Präzisierung des Gewissensbegriffs ist es entscheidend, wie THOMAS dieses Wissen bestimmt, diese scientia in der conscientia. Welches Wissen wird in der moralischen Applikation des Gewissens auf den Akt appliziert? Nach THOMAS umfaßt dieses Wissen drei Ebenen, die er mit den Namen synderesis, sapientia und scientia (im engeren Sinn) bezeichnet.

(1) Synderesis (16,1). Sie ist das Wissen um die allgemeinsten moralisch praktischen Prinzipien. Dieses Wissen kommt der praktischen Vernunft (ratio practica) natürlicherweise zu, hat also (ähnlich wie das Sittengesetz bei KANT) apriorischen Charakter. THOMAS spricht von einem natürlichen Habitus1. Insofern ist die Synderesis allgemeinmenschlich, unveränderlich und unverlierbar. In seiner Applikation auf Akte fungiert dieses Wissen wesentlich normativ: Es gebietet das Gute bzw. drängt dazu (inclinare ad bonum) und verbietet das Böse bzw. "murrt" dagegen (remurmurare malo). Welches diese allgemeinsten moralisch-praktischen Prinzipien sind, deren natürlicher Habitus die Synderesis ist, listet THOMAS nicht auf. Offenbar denkt er dabei an zwei Dinge: einerseits an das allgemeine moralische Wissen, daß das Gute Pflicht und das Böse verboten ist, und andererseits an gewisse allgemeinste Gebote (z.B. "Nicht morden!", "Nicht lügen!", „Mitmenschen in Not helfen!“) (2) sapientia (= lat. Weisheit). Sie ist der erworbene Habitus jenes menschlichen Wissens , das sich auf die höchsten und letzten Gründe des Wirklichen bezieht. In diesem Kontext meint THOMAS offenbar das, was wir heute die weltanschauliche Grundeinstellung eines Menschen nennen können, die Einstellung also, die seine pratkisch-relevanten Grundüberzeugungen und Grundwerteoptionen betrifft. Es geht also im Fall der sapientia darum, wie ein Mensch Stellung bezieht zu den zentralen Fragen der Existenzerhellung, der Weltorientierung und der Transzendenzproblematik. Hierher gehören vor allem die religiösen und philosophischen Überzeugungen des Menschen. (3) scientia (= lat. Wissen, Wissenschaft). Gemeint ist hier der erworbene Habitus jenes empirischen Wissens, jener Kenntnis von Tatsachen, auf Grund dessen ein Mensch befähigt ist, Praxisfelder, Handlungszusammenhänge und Situationen (mehr oder weniger differenziert) zu kennen und zu beurteilen. THOMAS verwendet hier scientia im engeren Sinne als eine der drei Ebenen, in welche sich die scientia in der conscientia ausdifferenziert. In diesem engeren Sinne meint scientia keineswegs notwendig wissenschaftliches Wissen, sondern einfach das je-gegebene Tatsachenwissen, den faktischen Kenntnisstand, der einem Menschen zur Verfügung steht, wenn er sich in einer konkreten Situation überlegt, was er tun bzw. wie er sich entscheiden solle. Das Gewissen appliziert also das apriorische sittliche Bewußtsein, d.h. den natürlichen Habitus der Synderesis, differenziert durch die gegebenen weltanschaulichen Überzeugungen

1 Habitus meint eine zuständliche Eigenschaft im Sinne einer dauerhaften Fähigkeit oder

Disposition auf Tätigsein hin. So etwa hat der Violinist den Habitus desGeigenspietens. Ein Habitus kann natürlich sein und kommt dann dem, der ihn besitzt, immer und wesentlich ("angeboren") zu. Er kann aber auch erworben sein und hat dann den Charakter einer bestimmten (erlernten) Fertigkeit. Bei THOMAS hat die synderesis den Charakter eines natürlichen, die Tugend aber den eines erworbenen Habitus.

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(sapientia) und konkretisiert durch die vorhandenen empirischen Kenntnisse (scientia) auf die bestimmte Handlung (actus) in einer gebenen Situation. aus: A. Anzenbacher: Einführung in die Ethik. 1992, S. 83f. Aufgaben: a) Fülle die folgende Tabelle aus:

Ebene des Gewissens Bedeutung Art des Habitus

b) Erläutere an einem selbstgewählten Beispiel einer Gewissensentscheidung die drei Ebenen des Gewissens nach Thomas v. Aquin!

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Ethik (20): Gewissen (4) - die Autonomie des Gewissens (Th.v. Aquin)

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Fünfter Artikel: Ist der von der irrigen Vernunft abweichende Wille bös?

Abhandlung: Scheinbar ist der von der irrigen Vernunft abweichende Wille nicht bös. Die

Vernunft ist nämlich die Richtschnur des menschlichen Willens, insoweit sie vom ewigen

Gesetz herfließt, wie gesagt worden ist. Nun aber leitet sich die irrige Vernunft nicht vom

ewigen Gesetze ab. Also ist die irrige Vernunft nicht die Richtschnur des menschlichen

Willens. Es ist also nicht der Wille bös, wenn er von der irrigen Vernunft abweicht.

Ich antworte: Da das Gewissen in gewisser Weise der Befehl der Vernunft ist, so kommt es

aufs nämliche hinaus zu fragen, ob der von der irrigen Vernunft abweichende Wille bös ist,

und zu fragen, ob das irrige Gewissen verpflichte. (...) Falls Vernunft oder Gewissen einem

Menschen sagt, er sei gehalten, was schlecht sich selber nach ist, laut einem Gebot zu tun,

oder, was sich selber nach gut ist, sei verboten, so sei die Vernunft oder das Gewissen irrig.

So kann auch das, was gut ist, das Berede von Bös, und was bös ist, das Berede von Gut

annehmen, wegen der Auffassung der Vernunft. Der Unzucht sich enthalten, ist z.B. ein

gewisses Gut: dennoch wird der Wille nur demnach in dies Gut hingetragen, als die Vernunft

es vorlegt.Wird es also als bös von einer irrigen Vernunft vorgelegt, so wird der Wille unter

dem berede von Bös hineingetragen: deswegen wird der Wille bös sein, weil er das Böse

will; freilich nicht das, was an sich bös ist, sondern was beischaftlicherweise bös ist, wegen

der Auffassung der Vernunft. Deshalb sagt der Philosoph (gemeint ist hier Aristoteles, R.L.)

7.Ethic. (9n): "Spricht man im "An-sich", so ist unenthaltsam, wer nicht der richtigen

Vernunft folgt: "in der Beischaft" aber, wer nicht auch der falschen Vernunft folgt ."

Deswegen ist schlechthin zu sagen: jeder von der Vernunft abweichende Wille, sei es der

richtigen, sei es der irrigen, ist immer bös.

aus: Thomas von Aquin: STh I.II. 19,5

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Ethik (23): Das Gewissen aus kirchlicher Sicht

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Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst

gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und

zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den

Ohren des Herzens tönt: Tu dieses, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das

von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist

und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte

und das Heiligtum des Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem

seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes

Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat. Durch die

Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im

Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen

moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen

Zusammenleben entstehen. Je mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto

mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen sich

nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten. Nicht selten jedoch geschieht

es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch

seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zu wenig

darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch

Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird.

aus: 2. Vatikanisches Konzil (1962-65): GS 16 Aufgaben (in Partnerarbeit):

1) Markiere wichtige Begriffe (höchstens 12) im Text!

2) Fülle mit Hilfe dieser Begriffe die Lücken im folgenden Schaubild!

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AB zu Ethik (23): Das Gewissen aus kirchl. Sicht

Gewissen =

Rechte Gewissen

beinhaltet

Stimme

Soll sich durchsetzen

Richtet sich nach

Mensch verliert seine Würde

Mensch verliert nicht seine Würde

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Ethik (24): Theologische Ethik und autonome Moral (A. Auer) 5 10 15 20 25 30 35 40 45

Im Alten Testament enthält der Dekalog – es geht hier nur um den weltethischen Gehalt, also um die Gebote der „Zweiten Tafel“ – nicht ein dem Bundesvolk spezifisches Ethos, vielmehr steht die „Zweite Tafel“ ausgesprochen autonom entwickeltes Ethos dar. Dieses reicht in seinen Ursprüngen in vorisraelitische sittliche und rechtliche Traditionen zurück., in uraltes weltlich entstandenes Sippenethos. Schon in diesen Anfängen hat sich die Rationalität der Wirklichkeit auf legitime Weise artikuliert, ebenso in den späteren Weiterbildungen und im allmählichen Zusammenwachsen ursprünglich zerstreuter Traditionen in der israelitischen Frühzeit. Die Gebote der „Zweiten Tafel“ wurden also nicht vom Bundesvolk selbst aufgrund seines Heilsglaubens schöpferisch hervorgebracht und auch nicht unmittelbar von Gott geoffenbart. Vielmehr hat das Bundesvolk diese Gebote in seiner Geschichte vorgefunden und dann in den Bundesgedanken integriert: Durch die Erfüllung dessen, was sich in einer langen geschichtlichen Tradition als unabdingbare Voraussetzung einer geordneten und fruchtbaren Existenz erwiesen hatte, sollte das Volk seine Treue zum Bundesgott bekunden. (...) Aus dem Neuen Testament schienen lange Zeit wenigstens die hochethischen Forderungen spezifisch jesuanisch und damit spezifisch christlich zu sein: die positive Formulierung der „Goldenen Regel“, die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe im einen Hauptgebot und die Feindesliebe, um nur die wichtigsten zu nennen. Inzwischen wissen wir, dass alle diese Forderungen sich im einzelnen bis mindestens auf das 8. Jahrhundert v.Chr. zurück aufweisen lassen, teilweise bei jüdischen, teilweise bei heidnischen Schriftstellern. Jesus greift also auf die ethischen Einsichten früherer Zeiten zurück. Freilich hat er diese Einsichten durch die Radikalität der Theozentrik, der Konzentration, der Intensität, der Verinnerlichung und der Universalität weit hinter sich gelassen. Doch ist das Proprium2 seiner Botschaft eben nicht in der Aufstellung neuer sittlicher Weisungen, sondern im Aufweis eines neuen Sinnhorizontes zu sehen: „Gottes Herrschaft“, „Heil“, „Gemeinschaft mit dem Vater“. Aus dem neuen Sinnhorizont ergibt sich dann auch eine neue Motivation: Christliches Ethos ist Ethos der Nachfolge, ist Aufbruch zu dem Reich, das in Jesus angebrochen ist.

- Auch Paulus hat, wo er um weltethische Weisungen angegangen wurde. Recht unbefangen das Angebot vor allem der gängigen popularphilosophischen Ethik aufgegriffen. (...)

Nach allem, was gesagt wurde, kann es nicht Aufgabe von Kirchen und Theologien sein, aus dem christlichen Glaubenswissen heraus eine spezifisch christliche materiale3 Weltethik zu entwerfen. Kirchen und Theologien sind Repräsentanten der Transzendenz. Die Entwicklung ethischer Konzeptionen und einzelner ethischer Weisungen fällt in die originäre Kompetenz der menschlichen Vernunft. Kirchen und Theologien haben vernünftige, pragmatisch hinlänglich bewährte und auch weiterhin als praktikabel erscheinende sittliche Vorstellungen zu akzeptieren, in den christlichen Sinnhorizont hinein zu integrieren und die christlichen Motivationen in jeweils angemessener Weise zu interpretieren und zu urgieren. (...) Es hat sich noch nicht klar herausgestellt, von welchen Instanzen heute sittliche Bildung verantwortlich durchgeführt werden kann. Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir seit längerer Zeit in einen Verstehenshorizont hineingewachsen sind, in dem die Authentizität kirchlich-theologischer Kompetenz im Sinne des bisherigen Verständnisses nicht mehr zu erweisen ist. Doch bleiben Kirchen und Theologien gegenüber autonom entwickelten Ethiken drei unverzichtbare und unvertretbare authentische Funktionen.

2 Proprium: das Eigentliche 3 materiale: auf konkrete Inhalte bezogen

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Die integrierende Funktion: Kirchen und Theologien müssen den transzendenten Sinnhorizont der Welt und ihrer Geschichte in Erinnerung halten und die Integrierung autonomer Sittlichkeit in diesen Sinnhorizont unentwegt zu vermitteln suchen. (...) Die stimulierende Funktion: Kirchen und Theologien müssen den dynamisierenden Effekt der Botschaft Jesu in die Entwicklung des sittlichen Bewusstseins einbringen. Die christlichen Grundvorstellungen von der Würde und der Gleichheit aller Menschen vor Gott haben in der Geschichte der Sklavenfrage, der Aufwertung der Frau, der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Partnerschaft und der menschlichen Grundrechte im allgemeinen ihre vorwärtsdrängende Kraft bewiesen. (...) Die kritisierende Funktion: Kirchen und Theologien müssen autonome ethische Entwürfe mit dem Wort Gottes konfrontieren. Auch nach einer angemessenen Entmythologisierung sind die Aussagen der Offenbarung über Sinn und Ziel menschlichen Lebens deutlich genug, um als kritischer Maßstab an rein innerweltlich entwickelte ethische Konzeptionen angelegt zu werden. Aus: A. Auer: Moralerziehung im Religionsunterricht. 1975, S. 50ff.