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Ethik im Handlungskontext
Markus Knoflacher
Übersicht
• Normative Ethik und Ethik im Handlungskontext• Einflussebenen des ethischen Handelns im
Kontext• Ergebnisse in Experimenten• Ethik im systemischen Kontext• Überlagerungen unterschiedlicher
Organisationsformen• Handlungsethik in Wissenschaft und Technik
Normative Ethik und Ethik im Handlungskontext
• Normative Ethik erhebt Anspruch auf generelle Gültigkeit, losgelöst von Rahmenbedingungen und den Eigenschaften der handelnden Individuen
• Ethik im Handlungskontext beschäftigt sich mit den Einflüssen unserer evolutionären/ individuellen Ausstattung und von Rahmenbedingungen auf ethisches Handeln
Quelle: Global conflict barometer 2013
Normative Ethik und Ethik im Handlungskontext - Beispiele
• Normative Ethik: Religiöse Gebote, Regeln der Umweltethik
• Ethik im Handlungskontext: Handlungen im Alltag, Handeln im Beruf, Handeln in Ausnahmesituationen
Einflussebenen ethischen Handelns
Evolutionäre ReaktionsmusterGenetische Einflüsse
Erfahrungshintergrund, Konditionierung
Gesellschaftliche / organisatorischeRahmenbedingungen
Situative Rahmenbedingungen
Einflüsse evolutionärer Reaktionsmuster –Beispiele 1
Umwelthandeln – evolutionär erfolgreiche Muster:
• Einsatz technologischer Lösungswege- Bekämpfung von Nahrungskonkurrenten- Tötung/Vertreibung potenziell gefährlicher Tiere
• Ausbeutung aktuell vorhandener Ressourcen inVerbindung mit Migration
• Entledigung von Ausscheidungen und Abfällen anOrt und Stelle
• Hohe Reproduktionsraten
Einflüsse evolutionärer Reaktionsmuster –Beispiele 2
Sozialverhalten – evolutionär erfolgreiche Muster:
• Einordnung in Gruppenstruktur (-hierarchie)• Anpassung an Gruppennormen• Wahrung der Reziprozität innerhalb von Gruppen• Verteidigung der Gruppe gegen Angriffe von außen• Täuschung, Lüge• Diebstahl, Raub
Einflüsse evolutionärer Reaktionsmuster –Beispiele 3
Konfliktverhalten – evolutionär erfolgreiche Muster:
• Flucht
• Gewalt
• Unterwerfung
Genetische Einflüsse – Beispiele
Die extrem große Zahl der Variationen erschwert eine Systematisierung der Einflüsse.
Einzelne Beispiele liefern aber überraschendeErgebnisse: Beispielsweise der Anteil von Männern,die unmittelbar auf Befehl und ohne psychischeFolgewirkungen zum direkten Töten von Menschen bereit sind?
~ 3%
Einflüsse von Erfahrung und Konditionierung
Erfahrung beruht auf der Summe der bisher erlebtenKonsequenzen für ethisches/ nicht ethisches Handeln.Wahrgenommene Vorteile wirken verstärkend – Nachteileabschwächend.
Konditionierung dient zur Vorbereitung auf bestimmteHandlungsmuster durch wiederholte Übungen, verbundenmit Belohnung/Bestrafung für Erfolg/Misserfolg.Beispiel US Infanterie: 15-20 % WW2, ~ 55 % Korea,90-95 % Vietnam (Marshal Methode) - mit psychischenKonsequenzen bei Veteranen.
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
• Kulturelle Orientierungswerte (empathisch/nicht empathisch)
• Egalität / Diskriminierungen (ökonomisch, sozial, ethnisch, geschlechtsspezifisch)
• Politische Bedingungen (absolutistisch, demokratisch)
• Aktuelle Stimmungen (Angst, Aggression)
Kulturelle Orientierungswerte
Gemeinschaftlich Individualistisch
Akzeptanz gemeinschaftlicher Regeln Missachtung
Rationalität Irrationalität
Mehrdimensional Eindimensional
Langfristige Werte Hedonismus
Egalität - Diskriminierung
Flüchtling
Asylwerber
Illegaler Ausländer
Verhandlungspartner
Gegner
Feind
Ungeziefer
Ergebnisse in Experimenten
Prozesse untersucht in drei bekannten Experimenten:Milgram – Experiment (1960 – 1963), dem StanfordExperiment (1971) und dem BBC Experiment (2001).
Milgram Experiment: Versuchsperson bestraft ungelehrigenSchüler unter Aufsicht mit „Elektroschocks“ bis 450 V
Stanford Experiment: Beobachtung des Verhaltens vonzufällig als Aufseher/Gefangene eingeteilten, freiwilligenVersuchspersonen (Studenten) unter Gefängnisbedingungen
BBC Experiment: Abgemilderte Wiederholung des StanfordExperiments.
Milgram Experiment - Basisanordnung
Qu.: Milgram
Milgram Experiment - Einschätzungen
15 V 450 V
Milgram Experiment - Ergebnisse
15 V 450 V
Stanford Experiment - Szene
Qu.:Zimbardo
Ergebnisse des Stanford Experiments
• Rasche Identifizierung mit den jeweils zugeteilten Rollenund Entwicklung rollenspezifischer Verhaltensmuster
• Abbruch nach einer Woche wegen zunehmender Gewaltder „Aufseher“ und psychischer Zusammenbrüche beieinzelnen „Gefangenen“
Qu.: Zimbardo
Systemische Wirkungen von Organisationen
• Explizite strukturelle Differenzierung der Positionen (z.B. CEO –Departmentleiter ….; Minister – Sektionschef …; Religiöse Organisationen)
• Definition lokaler, funktionell differenzierter Rahmenbedingungen und Aufgabenstellungen für die einzelnen Positionen innerhalb der Strukturen
• Entwicklung und Kontrolle interner Regeln
Spezifische Merkmale von organisatorischen Rahmenbedingungen
Merkmale von Organisationen
Externe Legitimation der Organisation
Intern: Zweck und Ziele,Strukturen und Regeln
Außen-wahrnehmung
Außenwirkungen der Organisation
Bedeutung und Wirkungen der Merkmale
• Externe Legitimation: Begründung der Organisation nach außen (z.B. eines Staates: Freiheit seiner Bürger; eines Unternehmens: Produktion wichtiger Güter, Schaffung von Arbeitsplätzen)
• Interner Zweck: Langfristige interne Leitbild(er) der Organisation (z.B. Erhaltung einer Demokratie; Maximierung der Gewinne)
• Interne Ziele: Kurzfristige interne Orientierungsgrößen (z.B. Erhaltung der Macht; Gewinn von Wahlen; Steigerung der Gewinne um x %)
• Interne Strukturen und Regeln dienen der Verfolgung des Zwecks und der Ziele.
1) Externe Legitimation ≠ Außenwirkungen
2) Externe Legitimation ≠ Interner Zweck und Ziele
3) Interner Zweck und Ziele Aufgabenstellungen und Zielsetzungen an den einzelnen Positionen der Organisation
Beziehungen zwischen den Merkmalen
Beispiele
ad 1) Christliche Religion – InquisitionTerrorbekämpfung – BürgerrechteAutomobilproduktion – Umwelteffekte
ad 2) Monotheistische Religionen – Sicherung der Macht (Berufung auf Gott) Terrorbekämpfung – Sicherung der weltlichen MachtAutomobilproduktion – Sicherung von Gewinnen
ad 3) Sicherung des Macht – Aufgaben des Inquisitors, der Geistlichen Sicherung der Macht – Aufgaben des Geheimdienstes/ der PolizeiSicherung von Gewinnen – Aufgaben des Ingenieurs, des
Verkäufers
Gesellschaftliche Ordnungszustände
• Starre, streng hierarchisch organisierte Strukturen (z.B. autoritäre Staaten, Militär, Unternehmen, autoritäre Religionen) – erfordert von den Mitgliedern funktionelle Einordnung in die jeweilige Position und Aufgabenstellung.
• Flexible, selbst-organisierende Strukturen (z.B. Demokratien, NGO‘s in Entwicklungsphasen) – erfordert aktive Beteiligung der Mitglieder an der Gestaltung des Strukturen und an Entscheidungen.
• Chaotische Zustände (z.B. bei Revolutionen, Zusammenbrüchen von Unternehmen) – individuelle Entscheidungen unabhängig von Position und Aufgabenstellung.
Situative Rahmenbedingungen
Symmetrie Asymmetrie
a) der Einkommensverteilung
b) der Handlungsmöglichkeiten
c) der Informationen
Beispiele• Einkommensverteilung: Verteilung der Vermögenswerte in der
Gesellschaft; Finanzierung und Nutzung der Vorteile von Infrastruktureinrichtungen
Quelle: UNICEF 2011
Beispiele• Handlungsmöglichkeiten: Gesetze – Verteilung von Rechten und
Pflichten; Zugang zum Rechtssystem; Zugang zum Bildungssystem; Medizinische Versorgung
Verluste struktureller Wirkungen durch systematische Missachtung von Regeln – z.B. Korruption
Quelle: Transparency International 2012
Ungleichheit und Ungerechtigkeit liefern den Nährboden für Terrorismus („asymmetrische Konflikte“)
Quelle: u.a. Braniff 2015„2
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Bürgerkrieg Sri Lanka
Afghanistankonflikte
Spezifische Motivation und Selbstmordattentate
Globale Selbstmordattentate 1981-2003 nach Gruppen
Quelle: Gambetta 2005
Gesamtzahl 487
Beispiele
• Information: Vom Schutz der Privatsphäre und Wahrung von Bürgerrechten zur zentralen Überwachung – sowohl für den „Kampf gegen den Terror“, als auch freiwillige Preisgabe in elektronischen „sozialen Netzwerken“.
Reale Wirksamkeit der Überwachung?
Tendenzielle Wirkungen von Orientierungswerten und Rahmenbedingungen
Demokratie
ChaosDiktatur
Symmetrie
Asymmetrie
Situative Rahmenbedingungen
Überlagerungen von unter-schiedlichen Organisationsformen
a)Nichtstaatliche Organ.
Teilelemente vonStaaten
b)Nichtstaatliche Organ.
verflochten mitStaaten
c)Staaten Teilelementevon nichtstaatlichen
Organisationen
Beispiele:KMU‘s, Bürgerinitiativen
Beispiele:Staatsreligionen,
Einparteiensysteme
Beispiele:Multinationale
KonzerneInvestoren
Systemische Effekte der Überlagerungen
Fall a) Staatliche Einrichtungen bestimmen die Rahmenbedingungen durch Regeln und die Kontrolle ihrer Einhaltung.
Fall b) Nichtstaatliche Einrichtungen bestimmen die Regeln, staatliche Einrichtungen die Kontrolle ihrer Einhaltung.
Fall c) Nichtstaatliche Einrichtungen bestimmen die Regeln und beeinflussen die Kontrolle ihrer Einhaltung.
Verstärkung der individuellen Einflüsse durch Trennung von Gewinn und Risiko
Vom Unternehmer zum Verwalter (Manager)
Aktienbesitzer (Shareholder)
Zusätzliche Verstärkung der Einflüsse durch Kapitalmärkte
Optionen für Strategien von Organisationen Beispiel Monatslöhne für Näherinnen
Quelle: Löffler
Labels – Tarnnetze der Globalisierung
AuswirkungenderGlobalisierung
für Beschäftigte
Quelle: Schulze Buschoff 2015
„Sichere Investitionen“ – Land Grabbing
Quelle: Grain 2011
Folgewirkungen der Beeinflussung politischer Entscheidungen durch wirtschaftliche Interessen
EU Energieeffizienzrichtlinie„Glühlampenverordnung“
Handlungsethik in Wissenschaft und Technik
Generelle Rahmenbedingungen• Zentrale Ziele:
- Verbesserung des Verständnisses sowie
- der Vorhersagbarkeit/Planbarkeit von Phänomenen( Grenzen bei komplexen Phänomenen, z.B. Gesundheit,Gesellschaft, Umwelt, Klima)
• Dokumentation der Zielerreichung durch - Publikationen (allgemeine Nutzungsrechte) oder- Patente (spezifische Nutzungsrechte)
• Langfristige Folgewirkungen der Arbeiten nur in Grenzen abschätzbar
Handlungsethik in Wissenschaft und Technik
Spezifische Rahmenbedingungen• Zusätzliches Ziel: ökonomische Verwertbarkeit der Ergebnisse in Abhängigkeit der jeweiligen organisat. Rahmenbedingungen(Universitäten – au. Forschungseinrichtungen – Unternehmen)
• Bewertung der individuellen Leistungen immer in Abhängigkeitvon den spezifischen Rahmenbedingungen
Individuelle Erfolgskriterien• Neugierde, Erkenntnisgewinn• Anerkennung• Einkommen• Gestaltungs-/ Meinungsmacht
Verschwimmende ethische Grenzen in Wissenschaft und Technik
„Rauchschäden“
AusbreitungsmodelleIsotopenanalysen
„Waldsterben“
??
Internationale VerhandlungenMaßnahmen
.. befreien nicht von individueller ethischer Verantwortung
Beispiele
• Gezielte Verunsicherung der Gesellschaft durch wissenschaftlich verbrämte Gegenargumente zur Wahrung von wirtschaftlichen Interessen oder von ideologischen Haltungen – z.B. Tabakrauch, Ferntransporte von Schadstoffen, „Ozonloch“, Klimaänderungen [S.F. Singer, F. Seitz …]
• Aktionen gegen Entwicklungen mit erkannten Risiken –z.B. SDI [C. Sagan], Agent Orange [A.W. Galston <> Boehringer, R.v.Weizsäcker]
Zusammenfassung
• Normative Appelle an ethisches Handeln bleiben ohne Berücksichtigung kontextualer Rahmenbedingungen weitgehend wirkungslos.
• Die Kluft zwischen normativer und Handlungsethik kann nur durch frühzeitige Erziehung zu verantwortungsbewusstem Handeln und Entwicklung unterstützender Rahmenbedingungen verkleinert werden.
Zusammenfassung
• Ethische Ansätze können nur unter Beachtung der evolutionär entwickelten und genetisch determinierten Verhaltensmuster sinnvoll umgesetzt werden.
• Unüberwindbare Grenzen für ethisches Handeln bilden unsere eigenen und systembedingten Beschränkungen bei der Abschätzung aller Folgewirkungen.
Anstelle eines Protokolls – drei Aufgabenstellungen
• Wie ist aus ethischer Sicht die ständige Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse (z.B. Leiharbeit, Scheinselbständigkeit) zu werten?
• Welche Bedingungen gefährden den Bestand von Demokratien?
• Wann ist es gerechtfertigt, sich auf Gott zu berufen um seine Interessen durchzusetzen?