Eugen Drewermann - Lesejury · 2018. 9. 12. · III. Der Teufel und seine Geschichte 67 1....

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Eugen Drewermann Gestalten des Bösen Der Teufel – ein theologisches Relikt Im Gespräch mit Jörg-Dieter Kogel

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  • Eugen Drewermann

    Gestalten des BösenDer Teufel – ein theologisches Relikt

    Im Gespräch mit Jörg-Dieter Kogel

    38402_drewermann_gestalten_5.qxp_38402 11.09.18 10:23 Seite 3

  • © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018Alle Rechte vorbehalten

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    Umschlaggestaltung: wunderlichundweigandUmschlagmotiv: Pacher, Michael: Sankt Augustinus und der Teufel,

    1471/75, Öl auf Holz, Bayerische Staatsgemäldesammlung,Alte Pinakothek, München

    Satz: de·te·pe, AalenHerstellung: CPI books GmbH, Leck

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    ISBN Print 978-3-451-38402-8ISBN E-Book 978-3-451-81557-7

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    DIE BIBEL

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  • Inhalt

    Vorwort 9

    I. Gewalt, Leid und »das Böse« 10

    1. Geschichte und Gewalt – Annäherungen an das Böse 10

    2. Die Ambivalenz der Natur und die verunendlichte Angst 14

    3. Leid, das Leiden schafft 204. Der Begriff des Bösen 22

    II. Woher kommt der Teufel? 25

    1. Die Gestalt des Teufels als negative Seite der Natur 25

    2. Der persische Dualismus: Ahriman und Ahura Mazda 34

    3. Vom Wahn, das Böse auszurotten 394. Der Teufel in der Bibel und sein mythischer

    Hintergrund 41Das Buch Job 44

    5. Die Götter von einst als die Teufel von heute 476. Der Teufel als Teil unserer Triebwelt 48

    Rausch und Orgasmus: Dionysos, Aphrodite, Ares und Pan 48Hochmut und Stolz in Babylon und Griechenland:Kingu und Prometheus 51

    7. Der Mensch als Umgestalter der Natur –am Anfang war das Feuer 54

    8. Der Teufel im Koran 569. Die Welt als Gottes unwürdig zerstören 59

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  • 10. Gott und die Übel der Welt – die Frage der Theodizee 60

    11. Gesetzlichkeit und Strafe gegen Verstehenund Vergeben 65

    III. Der Teufel und seine Geschichte 67

    1. Psychoanalytische Erklärungsversuche 67Unterdrückung und Abspaltung natürlicherTriebbedürfnisse 67Heilung durch Zuwendung 71

    2. Ein Beispiel kirchlich bedingter Teufelei: Der Spuk im Kloster von Loudun 74

    3. Vom Ursprung der Kultur 764. Der Teufel und die Triebangst –

    der Hexenhammer 825. Der Pakt mit dem Teufel 896. Das kirchliche Dogma und seine Wirkung 907. Denunziation und Folter –

    die Hexenjagd in Salem 948. Eine Selbstkorrektur: Friedrich von Spee 989. Besessenheit und Exorzismus 103

    10. Das Unheimliche in der Dichtung 10511. Gefangen in der Angst 107

    Zwangsneurotische Prozesse 109Schizoid-paranoische Prozesse 112Depressive Prozesse 115

    12. Dostojewskis »Großinquisitor« und Schuld und Sühne 117Teuflische Gedanken: Die Versuchung Jesu 119Eine Kindheitserinnerung 126Vom Ringstrom der Psyche 128

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  • IV. Die Botschaft der Befreiung 130

    1. Von einem christlichen Umgang mit dem »Teufel«: das Böse überlieben 130

    2. Das Buch Tobit: Von Dämonie und Heilung in der Liebe und von der Zwie spältigkeit desMoralisch-Gesetzlichen 132

    3. Das Böse als ein Rest der Aggression in derEvolution 138Selektion und Artenvielfalt 141Gruppenbildung und Aggression: Opferbereitschaft und Krieg 146

    4. Das Böse als Verwaltungsakt 1515. Jesus – der Skandal der Güte jenseits

    des Gesetzes 1556. Militärische Umerziehung in die Parallel welt

    von Zerstörung und Gehorsam 1587. Die fatale Spaltung in Gut und Böse –

    das Gefängnisexperiment 1628. Versöhnung statt Feindbilder – Russland

    zum Beispiel 1649. Die jahwistische Urgeschichte: der biblische

    Mythos von der Herkunft des Bösen 167Die Sündenfallerzählung – ein Wesensbild,kein historischer Bericht 168Die Erkenntnis von Gut und Böse als Existenz -bestimmung vor Gott 171 · Das einzige Verbot,das Gott erlassen musste 173 · Die Schlange – einSymbol des Nichtseins 174 · Wie Gott seinwollen – die Tragödie der Gottesferne 177 ·Die List der Versuchung und die Dynamikder Angst 179 · Die Entdeckung der Nacktheit183 · Das Missverständnis der »Erbsünde« 185 ·Zwei dogmatische Fehler: die Schlange als Teufelund Maria als Erlöserin 187 · Sünde ist nichtStolz und Ungehorsam 188

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  • Die Erzählung von Kain und Abel 190Die Zweideutigkeit des Opfers 190 · Recht -fertigung der Existenz durch die Vorleistung unddie tödliche Konkurrenz 191 · Der verderblicheZuspruch der Moral: Beherrsche dich 194 ·Erlösung für den Mörder Kain 197

    Der Turmbau zu Babel und die Verwirrungder Sprache 197

    10. Das Grundproblem: die Kontingenz der Existenz 202

    11. Die Drohung mit der Hölle – es gibt sie nicht 203Judas zum Beispiel 204

    12. Der Himmel – ein Reifen in Liebe unter Gottes Augen 210

    Bücher im Hintergrund des Gesprächs 214

    Abbildungsverzeichnis 224

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  • Vorwort

    Dieses Buch ist die verschriftlichte Fassung eines Gesprächs,das Jörg-Dieter Kogel und ich Ende Januar 2018 in Bremengeführt haben. Wir kennen uns seit vielen Jahren aus der fastschon legendären Redefreiheit, einer dreistündigen Sendungim Nordwestradio, die zwischen 2008 und 2015 alle vierWochen von Herrn Kogel als Programmleiter eingerichtetund moderiert wurde, um Menschen mit ihren Fragen anzu-sprechen und zu Wort kommen zu lassen. Das gleiche Kon-zept liegt auch diesem Gespräch zugrunde, indem Herr Kogeldie Anliegen aufgreift, einfügt, weiterdenkt und zum Problemstellt, die er, ganz wie ich auch, als Hindernisse auf dem Wegzu Gott und zu sich selbst bei vielen herausgespürt hat. Auseinem Gespräch über das Böse und die Vielfalt seiner Vorstel-lungen und Erscheinungsformen wird so ein Nachsinnenüber Angst und Aggression, Verzweiflung und Glauben, Aus-gesetztheit und Negiertheit, Kontingenz und Suche nachBerechtigung im Dasein, über Biologie, Sozialpsychologieund Psychoanalyse, über die theologische Lehre von Erb-sünde und Erlösung, über die kirchliche Drohung mit derHölle und die christliche Hoffnung auf den Himmel. Wirhaben dieses Gespräch – in Schrägdruck die Stimme vonHerrn Kogel, in normaler Type die Versuche einer Antwort –möglichst in Abfolge und Stilform bis in den Satzbau hineinbeibehalten, in der Erwartung, den Leser auf diese Weiseunmittelbar ansprechen und begleiten zu können. Dass da, woAngst wohnt, das Vertrauen wächst, bis dass kein »Teufel« istund Gott allein in unsere Seele Einzug hält, ist Ziel und Sinndieses Gesprächs.

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  • I. Gewalt, Leid und »das Böse«

    1. Geschichte und Gewalt – Annäherungen an das Böse

    Gewaltorgien des Menschengeschlechts sind so alt wie das Men-schengeschlecht selbst. Wenn eines verlässlich ist, seit es Menschenauf der Welt gibt, dann sind es Mord und Totschlag sowie ein rück-sichtsloser Umgang mit der Natur durch die Menschen. Es wirdgemordet, gefoltert, unterdrückt, geraubt und gequält. Über dieJahrhunderte ist die Barbarei perfektioniert worden. Andersgesagt: Das Böse im Menschen scheint für unsere Gattung konsti-tutionell zu sein. Ebenfalls zu allen Zeiten haben sich die Menschengrundlegend gefragt, woher das Böse kommt. Wer davon redet,denkt meist auch gleich an eine dunkle Macht. Die Neigung zurPersonalisierung ist stark ausgeprägt. Für das Böse gibt es eineFigur: den Teufel. Eine Umfrage ergab kürzlich, dass in Deutsch-land ein Drittel der befragten Menschen an den leibhaftigen Teufelals Verkörperung des Bösen glaubt. Die Vorstellung vom Satan istbekanntlich nach wie vor Bestandteil der offiziellen Lehre derrömisch-katholischen Kirche, doch nicht nur Katholiken, sondernauch viele andere Christen und auch Anhänger des Islams glaubenan seine Existenz. In den rauchenden Trümmern des in sichzusammenbrechenden World Trade Centers – 9/11 – soll sich sogardie Fratze des Teufels gezeigt haben, einige glaubten, Osama binLaden gesehen zu haben. Die Kette terroristischer Anschläge, ins-besondere solcher, die im Namen Allahs oder des Korans begangenwerden, ist seither nicht abgerissen. Man kann sich sicher sein,dass, wer heute fragt, was »das Böse« oder wer »die Bösen« seien,zur Antwort bekommt: der Islamische Staat und die islamistischenTerroristen.

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  • Was Sie da malen, ist erschreckende und eindrucksvolle Wirk-lichkeit für jeden Zeitungsleser und Fernsehzuschauer. Wennwir vom Bösen sprechen, meinen wir eine übermenschlicheMacht, die wir im Teufel gegenwärtig finden, eine Gestalt, diefähig ist, uns Menschen gegen den eigenen Willen zu äußers-ter Destruktion zu treiben, die besten Absichten in ihr Gegen-teil zu verkehren, etwas Unheimliches, nicht Durchschauba-res, Unbeherrschbares, im Letzten ein Gegenwille zu allem,was mit dem Leben, mit dem Dasein, mit der Schöpfung ge-meint sein sollte, ein Wesen, das nur auf die Verneinung unddie Destruktion sinnt und die Menschen zu Instrumenten die-ses Planes macht. Wer in dieser Art vom Teufel spricht, ver -rät insgesamt die Kapitulation, das Phänomen des Bösen zubegreifen. Das Böse entzieht sich in seiner personalisiertenGestalt der Fassbarkeit. Es ist überwältigend, rasend, unge-bärdig, anfallähnlich, im Menschen wirksam und trotzdemjenseits dessen, was Menschen sind und sein sollten.

    Entscheidend bleibt, dass wir mit dem Begriff des Bösen zu-nächst etwas Moralisches meinen, sonst würden wir es sichernicht einem Willen zuschreiben, der personifiziert im Teufelvorgestellt wird. Es liegt darin moralisch eine fast exorzistischeAbwehrhaltung: Wir dürfen uns darauf nicht einlassen. Wirmüssen uns dagegen wehren, ohne freilich so recht zu wissen,wie wir das tun könnten. Dem Teufel abzuschwören, ist für ei-nen Christen sogar im Taufversprechen schon des kleinen Kin-des stellvertretend durch die Paten Pflicht: Widersagt ihr demTeufel mit all seinem Gepränge? Die gleiche Frage wird späterbei der Firmung des Kindes mit etwa 13 Jahren ein zweites Malwiederholt. Wer vom Teufel redet, braucht eine quasi magi-sche, apotropäische Form, ihn von sich selber fernzuhalten.Aber dann entdecken wir das Dämonische, das in uns selbersteckt, ohne dass wir verstünden, wieso. Der IS etwa gilt uns alsdas Böse schlechthin. Osama bin Laden verkörpert den Satan.Wir könnten die Liste solcher Inkarnationen des Bösen endlos

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  • fortsetzen. Milošević auf dem Balkan war ein zweiter Hitler,Saddam Hussein der Wahnsinnige in Bagdad, auch er ein zwei-ter Hitler; und der muss politisch korrekt als die Verkörperungdes Bösen an sich betrachtet werden, als eine Heimsuchung derDeutschen, die wie ein Meteorit vom Himmel gefallen ist.

    Wenn wir so sprechen, reden wir von etwas Absolutem, daseigentlich keine Vor- und keine Nachgeschichte hat, das unsbeherrscht, ohne dass wir damit einen anderen als abwehren-den oder selbstzerstörerischen Kontakt aufnehmen könnten.Vielleicht ist in diesem Zusammenhang kein Satz verräteri-scher als die Bemerkung des sogenannten Friedensnobelpreis-trägers Barack Obama im Jahr 2013: Diese – damit meinte erden islamistischen Terrorismus – verstehen nur die Sprache derGewalt. Wenn es so steht, ist nicht nur die Begreifbarkeit des-sen, was da geschieht, nicht länger mehr gegeben, es erlischtbereits der Versuch, im Gespräch den Standpunkt des anderenin irgendeiner Weise sich zugänglich zu machen. Es wäre eineunsinnige Mühewaltung, mit dem anderen, den man für dasBöse oder den Bösen hält, sich noch weiter auseinanderzuset-zen. Er ist identifiziert als die Verkörperung des absolutSchlechten, und deshalb muss er abgeschafft werden. »Diesprechen nur die Sprache der Gewalt« bedeutet: Wir müssensie töten – alle. Egal wie wir sie numerisch einteilen, wie wir sieidentifizieren als Träger des Bösen – wir müssen sie ausrotten.Es ist so viel, wie wenn unser Immunsystem im Körper einenbestimmten Virustyp als lebensgefährlichen Gegner erkannthat und nicht ruhen darf, bis es das letzte Virus ausgeschaltethat. Das Immunsystem merkt sich die Oberfläche des Virus,damit, wenn es je wiederkommt, schneller reagiert werdenkann; ganz analog jetzt auch im politischen Raum: Das Pro-gramm der Ausschaltung des Lebensfeindlichen, des mögli-cherweise Tödlichen hat einen Kampf auf Leben und Tod zurFolge, bei dem das Bedrohliche bis zum letzten Rest annihi-liert, füsiliert, beseitigt werden muss.

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  • Das sind Begriffe aus der Immunbiologie und Physik …

    Das Entsetzliche ist: Wir haben es bei diesem Denken mitMenschen zu tun, nicht mit Viren. Wir befinden uns auch nichtim Ersten Weltkrieg, wo wir ab 1915 planquadratweise Fran-zosen und Briten ausrotten konnten mit Giftgas, wie wenn wireine Schädlingsbekämpfung durchführen würden. Wir mer-ken in all dem nicht, dass wir alleine dadurch, dass wir Men-schen als die Verkörperung des Bösen ins Absolute dämonisie-ren, uns selber zu Teufeln machen. Wir halluzinieren uns eineWelt, die von allem Bösen befreit wäre, wenn es uns nur gelin-gen würde, die richtigen Macht- und Zerstörungsmittel zuplatzieren. Wir sehen nicht, wie wir die Welt selber in eineHölle verwandeln. Alles ruft unter solchen Umständen nacheinem Ausweg, den wir aus lauter Angst, in gewissem Sinneauch aus lauter Hilflosigkeit und Ohnmacht, uns selber unddem vermeintlichen Gegner kaum noch zutrauen. Wir müss-ten die Angst überwinden durch Dialog. Wir müssten vor al-lem die Vorgeschichte, die Herkunft der Phänomene, die wirals böse identifizieren im moralischen Sinne, uns verdeutli-chen: Was geschieht eigentlich in Ländern, deren Kultur imNeokolonialismus oder vor 160 Jahren im Kolonialzeitalterüber Jahrzehnte, über Jahrhunderte verwüstet wurden, die zer-stört wur den aus Wirtschaftsinteressen, in denen Demütigun-gen aller Art eine lange Tradition besaßen und in denen allesittlichen und humanen Werte wie Freiheit, Fortschritt,Menschlichkeit und Wissen bis zur Lüge pervertiert wurden?Darüber nach zudenken würde unsere Absolutsetzungen in-frage stellen, es würde unsere Maßnahmen des sogenanntenAntiterrorkrieges selber diskreditieren. Es wäre der einzigeWeg, von der blutigen Gewalt, von der Sie sprechen, endlichloszukommen.

    Man kann die menschliche Geschichte als eine Orgie nichtendender Gewalt betrachten, ganz ohne Zweifel, aber umso

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  • mehr stellt sich die Frage: Was passiert, wenn Menschen dahinkommen, Gewalt als letztes Mittel zur Lösung ihrer Konfliktezu begreifen, und was meinen wir, wenn wir den Teufel als Er-klärung für ein derartiges Verhalten einsetzen, ohne entferntauch nur erklären zu können, was denn der Teufel eigentlichsei. Wir dämonisieren die moralisch verurteilten oder rätsel-haften Anteile im Menschlichen, wir verabsolutieren sie undgeben uns damit das Recht, in die Methoden, die wir eigentlichanklagen, selber einzutreten; um das Böse auszuschalten, wer-den wir davon selber infiziert und drehen uns auf endloseWeise im (buchstäblich jetzt:) »Teufelskreis« – eine Blutmühleohne Ende, in der wir uns weigern, zu ver stehen, in der wir unsweigern, uns aufzuschließen für die Gründe und Hintergründedes Beklagenswerten, und in der wir uns außerstande zeigen,im Dialog mit dem vermeint lichen Gegner und einvernehm-lich im eigenen Herzen eine Lösung vorzubereiten.

    2. Die Ambivalenz der Naturund die verunendlichte Angst

    Sie haben schon darauf hingewiesen: Das Böse ist weiß Gott keineSpezialität derer, die im Namen Allahs Terror, Angst und Schre-cken verbreiten. Insbesondere die christliche Geschichte des Abend-landes ist ja reich an Beispielen auf diesem Gebiet. Reden wir alsoüber die Spezies Mensch. Thomas Hobbes hat einmal gesagt:»Schlimmer als ein Wolf dem anderen ist der Mensch einem ande-ren Menschen.« Und ein Blick in die Vergangenheit und in dieGegenwart zeigt: Der Mensch ist der schlimmste aller Mördergeworden, und es hört nicht auf. Wir lassen uns von Wahnsinnigenregieren, maximale Mordkapazität als Sicherheit, mit Sophokleszu reden: »Nichts ist schauerlicher als der Mensch«, weil er buch-stäblich zu allem fähig ist.

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  • Das hat einen langen Hintergrund, der aber zunächst einmalnicht mit dem Teufel zu tun hat, sondern mit der Herkunft desMenschen selber und seiner schwierigen Beheimatung inmit-ten der Welt, die ihn hervorgebracht hat. Wir schauen uns um,und wir sehen in den Grundtatsachen der Evolution, des Le-bens selber, einen Urwiderspruch. Abgesehen von den Archae-bakterien, die in den Tiefen der Ozeane an den Black Smokersihre Energie gewinnen, ist alles Leben auf der Erde angewiesenauf die Sonnenenergie, die in der Fotosynthese der Pflanzen inbiochemische Energie umgewandelt wird und dann gespei-chert von den Tieren angeeignet werden kann. Wir Menschenleben in einer Mischwelt. Wir leben von Pflanzen, wir lebenauch von Tieren, in jedem Falle von anderem Leben, das wirzerstören müssen, um eine kurze Zeit selber am Leben zu blei-ben. Wann auch immer es eingetreten ist: Recht bald werdenunsere Vorfahren vor zwei Millionen, drei Millionen Jahrengelernt haben, Werkzeuge herzustellen und sie für Jagd aufKleintiere einzusetzen, viel später weitertragende Waffen oderWurfgeschosse einzusetzen, um auch größeres Wild zu erle-gen. Man erfand die Jagd zum Zwecke des Nahrungs erwerbs,auf Lebewesen, die uns anschauen, als hätten sie menschlicheGefühle, die mit ihren Lauten signalisieren können, dass siezweifellos zu Gefühlen wie wir selber imstande sind. Biologenkönnen uns verraten, dass unsere eigenen Ge fühle im limbi-schen System im Gehirn das Ergebnis von über zweihundertMillionen Jahren der Säugetierevolution in sich tragen, sodasswir über gewaltige Zeiträume der Ge schichte des Lebens mit-einander verbunden sind. Jeder versteht den Anblick und dieLautkundgabe seiner Katze und seines Hundes, und die umge-kehrt auch, wenn wir reden. Die Tiere verstehen nicht Deutschoder Chinesisch, aber wie wir fühlen, verstehen sie sehr gut. Esist deswegen nicht möglich, Tiere einfach zu töten, ohne dassuns Skrupel anfechten, ohne dass wir nicht irgendwie wüssten,dass wir etwas tun, was wir nicht tun sollten, aber das wir doch

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  • tun müssen, und das uns sogar Freude macht, wenn wir im Er-folgsfalle mit dem getö teten Tier Nahrung für uns selber oderfür die ganze Sippe zur Verfügung stellen können. Die Paläon-tologen glauben, dass vor allem die Männer darauf spezialisiertwaren, über lange Zeiträume und in Gruppen auf die Jagd zugehen. Die Hauptform des Jagens richtet sich natürlich aufRaubtiere, die dem Menschen selber gefährlich sind, doch derÜbergang ins spezifisch Menschliche liegt auf der Hand:Wenn Tiere miteinander kämpfen, haben sie in aller Regel be-stimmte Signale, um ohne tödliche Verletzungen, ohne Ver-nichtungskämpfe ge wisse Rangstufen abzumessen, ihre Re-viere abzustecken und damit die soziale Organisation derGruppe zum Ausdruck zu bringen. Bei uns Menschen funktio-nieren die Signale aufgrund ihrer Zweideutigkeit viel wenigereffizient. An der Stelle hat Hobbes unbedingt recht: Ein Tier,wenn es einem anderen im Kommentkampf, zum Beispiel umden Zugang zu einem Weibchen zu erstreiten, unterlegen ist,wird vom Felde gehen, ohne dass seine Niederlage für es selberweitere Folgen hat. Bei uns Menschen ist das anders. Wir wis-sen, dass der Besiegte nachdenken wird, warum er schwächerwar in dem Moment der Auseinandersetzung. Ihm wachsennicht wie ei nem Hirsch naturgemäß weitere Enden des Ge-weihs. Er verfügt über Waffen, über Nachdenklichkeit, überStrategie; und all das kann er verbessern. Er ist bei seiner Nie-derlage unbedacht auf eine Lichtung gelockt worden, aberkünftig kann er selber den An griffs punkt wählen, er kann denÜberraschungsvorteil kalkulieren, er kann die Organisationder Auseinandersetzung mitbestimmen. Eines steht fest: Derandere, wenn er unterlegen ist, wird beim nächsten Mal ge-fährlicher zurückkommen, als er je war.

    Diese Tatsache hat vor vielen Jahren schon Verhaltens -forscher wie Nikolaas Tinbergen sagen lassen, wir Menschenseien vermutlich die einzigen in der Evolution, die gelernthätten, dass der Tod des Gegners eine endgültige Lösung

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  • einer Auseinandersetzung darstellen könnte. Wir können denSatz auch umkehren: Es ist in uns Menschen eine Angstgewachsen, wie kein Tier sie kennt. Tiere erleben Angstmomentan, in Gefahrensituationen, und sie reagieren instink-tiv darauf, wie es im Artdurchschnitt als überlebensgünstigsich erwiesen hat. Wir Menschen indessen können uns vor-stellen, dass, weit überragend den Gefahrenaugenblick jetzt,in die Zukunft hinein projizierbar die gleichen Gefahren auf-treten werden, unheimliche, vergrößerte, unbeherrschbare,wenn wir nicht im Vorlauf etwas dagegen tun. Nehmen wir alsdes Furchtbaren Beispiel nur das Grundmodell: Jemand istunterlegen einzig deshalb, weil er in dem Waffensystem, dasihm zur Verfügung stand, schwächer war. Wir müssen nurzurückdenken an die Zeit des sogenannten Kalten Kriegesund an die Bereitschaft, Atombomben, Wasserstoffbomben,Neutronenbomben einzusetzen in der Einbildung, dass, wennwir die größte Waffe besäßen, die tödlichste, eine, die Hun-derttausende von Menschen, die Millionen Menschen miteinem Schlage tötet, wir so uns etwas wie Sicherheit schüfen:»Balance of Power – Gleichgewicht des Schreckens«, daswaren die Worte, die wir für Frieden genommen haben.Wenn wir derart vernichtende Tötungskapazitäten anhäufen,dass wir die Menschheit im Ganzen ausschalten könnten,dann wäre das die optimale Form von Sicherheit. So sehen wiretwa 1953 im amerikanischen Wahlkampf Harry S. Trumandabei, zu überlegen, wie er seine Wählbarkeit durch Macht-entfaltung dem amerikanischen Publikum demonstrierenkönnte, und wie er zu diesem Zweck überlegt, entsprechendden Einflüsterungen seiner Militärberater, wie viele Bombenman braucht, um die kommunistische Hydra zu enthaupten.Ungefähr so: drei Atombomben auf Sankt Petersburg, vier aufMoskau, fünf auf Magnitogorsk und so weiter. Wir haben dieBomben, wir können damit drohen, wir können im Notfalldamit zuschlagen.

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  • Und das wird dann auch noch Politik genannt.

    Wenn das Politik ist, Sicherheit zu definieren durch maxi-mierte Tötungskapazität, haben Sie die Aufgipfelung dessen,was Sie einleitend eben beschrieben haben: eine mörderischeGeschichte. Aber wir schreiben sie jetzt nicht mehr dem Teu-fel zu, wir schreiben sie der Angst zu, die der eine Mensch vordem anderen hat. Wir sind biblisch gesprochen in derGeschichte von Kain und Abel. Wir brauchen keinen Dämon,wir sind ausgeliefert einem Sicherungsbedürfnis, das wir insUnendliche treiben, weil wir Verstand haben, uns aber gleich-zeitig außerstande zeigen, mit dem Verstand diese verunend-lichte Angst wieder zurückzurufen. Dazu bräuchten wir einVertrauen, das uns davor bewahrt, die Welt in die politisierteParanoia hineingleiten zu lassen. Deshalb in gewissem Sinnescheint es in vielen Kulturen, in vielen theologischen Syste-men ungleich viel einfacher, den Teufel ins Spiel zu bringen,denn dann haben wir die Durcharbeitung unserer eigenenGefühle und Gedanken sowie unserer kulturgeschichtlichenStandards nicht nötig. Dann aber sind wir ausgeliefert unsselbst gegenüber, und wir können auf magische Formeln sin-nen, die uns spukhaft das, was wir selber nicht beherrschenkönnen, mit magischen Mitteln dennoch als beherrschbarerscheinen lassen.

    Sie haben auf mein Zitat von Thomas Hobbes »Schlimmer als einWolf dem anderen ist der Mensch einem anderen Menschen«geantwortet mit einem Ausflug in die Evolutionsgeschichte desMenschen und versucht zu erklären, warum der Mensch so gewor-den ist, wie er ist, vor allen Dingen politisch handelnd. Ich möchteein anderes Beispiel geben: Im März 2015 reißt ein an Depressio-nen leidender Kopilot hundertneunundvierzig unschuldige Men-schen in den Tod, indem er sein Flugzeug in den Pyrenäen gegeneinen Berg fliegt, darunter einige Schüler aus der Nähe Ihrer Hei-

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  • matstadt, die auf Klassenfahrt waren. Da haben alle – ich gehöreauch dazu – gesagt: Das muss der Ausdruck des Bösen sein.

    So werden wir sprechen, wenn wir eine Tat mit furchtbarenFolgen einer bewussten Entscheidung unterstellen und mora-lisch bewerten. Wenn wir hingegen schauen, wie Menschendahin kommen, so zu handeln, wie es etwa in Ihrem Beispielgeschehen ist, haben wir etwas ganz Anderes vor uns. Ohneuns in die Psychologie dieses uns im Grunde unbekanntenPiloten einzuarbeiten, muss und kann man doch denken, dasser ein hilfloser Mensch war, ein getriebener, überforderter,der sich zum Piloten vor allem hochgearbeitet hat, um irgend-etwas in seinem Leben zu vollbringen, angesichts dessen erRespekt vor sich selber haben könnte und mit dem er auch denanderen beweisen könnte, dass er jemand ist, auf den manschaut, der wirklich zu etwas imstande ist. Wenn all das kolla-biert, weil der Anspruch dieses Ideals viel zu hoch ist und weildie Nichtbeachtung umgekehrt ostentativ unerträglich wird,kann man darauf kommen, etwas Spektakuläres zu tun, etwasUnvergessliches, Großes, nun aber nicht mehr positiv, son-dern destruktiv. Die ganze psychische Energie prallt gegen diegefühlte Mauer der Ablehnung, flutet zurück und katalysiertsich im Katastrophischen. In jedem Falle hat man vor sichschon im Tathergang, aber sicherlich auch in der zugrundeliegenden Psychologie einen Menschen, der die anderendurchaus nicht mehr wahrnimmt. Es ist ihm egal, ob an BordSchüler sich befinden oder Erwachsene, ob da zwei Schülersind oder hundertfünfzig Schüler – es ist völlig egal, was dieFolge des selbstverursachten Absturzes sein wird. Sie habenjemanden vor sich, der im Innenraum seiner Seele wie ineinem inneren Kerker eingeschlossen ist, ohne dass Licht vondraußen noch hineinfiele, buchstäblich jemanden, der blindan den Wänden seiner Seele tastet mit einer Bombe in derHand – einen Verzweifelten.

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  • 3. Leid, das Leiden schafft

    Das wird natürlich die Anverwandten und Angehörigen derer, dieunschuldig zu Tode gekommen sind, nicht im Mindesten trösten.

    Von Trost ist jetzt auch noch gar nicht die Rede, nur von derErfassung des Vorgangs. Trost spielt eine Rolle in der Bezie-hung eines Menschen, der den anderen lieb hatte, dem an ihmlag und der ihn durch ein unbegreifbares Schicksal verlorenhat. Trost müsste einen Ausweg bieten, um über die Trauerhinweg zu reifen. Die Erklärung, das Unglück ist passiertdurch jemanden, dem wir moralisch die Schuld an der Kata-strophe geben können, tröstet auch nicht. Eine solche Erklä-rung kann allerdings Affekte von Wut und Zorn zusammen-führen. Auch eine solche Reaktion ist archaisch genug.

    Wenn wir eben von den Wölfen sprachen und dem Erbeder Säugetiere in unserem Gefühlshaushalt, passt dieses Er-klärungsschema gerade auch hier: Eine Mutter, ein Vater wer-den es als ihre biologische Aufgabe begreifen, das Kind, das siezur Welt gebracht haben, gegen jegliche Gefahr zu schützen.Wenn sie nun erleben, dass sie das nicht vermocht haben, wer-den sie überlegen, warum sie das nicht konnten, beziehungs-weise was sie hätten tun müssen, um es zu erreichen. Das Paradoxe eines solchen Unglücks ist: Sie erleben Schuld -gefühle, sie haben die Pflicht versäumt, ihr Kind zu schützengegen alle Gefahr. Objektiv haben sie das nicht vermocht.Und sie machen sich dafür Vorwürfe. Die Frage stellt sich des-halb: Wie hätten wir es denn trotz allem ge konnt? Also bleibtein Handlungsimpuls gegenwärtig, der die Vergangenheit un-ter allen Umständen korrigieren möchte. Und so entsteht dieeinfachste Antwort fast obsessiv: Wenn wir den Täter recht-zeitig hätten töten können, dann würden wir es geschafft ha-ben, denn dann hätte es ihn ja gar nicht gegeben. Wir projek-tieren deshalb eine Strafe für den vermeintlich Schuldigen in

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  • die Zukunft, um ihn auszuschalten, sodass er in der Vergan-genheit niemals das hätte tun können, was er getan hat. Es istein verdrehter Zeitspiegel: Rückwärts schauend sehen wir ineine Zukunft, die wir uns wünschen, um die verwunscheneVergangenheit zu tilgen – eine Unmöglichkeit, eine Erleich-

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    Abb. 1: Gislebertus, Das Jüngste Gericht, Detail, Steinmetzarbeit,1120–1135, Tympanon, Kathedrale Saint-Lazare in Autun, Frankreich© mauritius images/Alamy RF/Arthur Greenberg.

    Das Hauptportal der Kathedrale von Autun zeigt die endgültige Aus-einandersetzung zwischen Gott und Teufel. Doch ist eine so klareTrennung von Guten und Bösen möglich, wenn man die Menschen ineiner solchen Hilflosigkeit wahrnimmt? Der Mensch: ein solchesWesen braucht Hilfe und Mitleid, nicht noch weitere Strafen und Vor-würfe.

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  • terung in Revanche- und Rachegefühlen, aber kein Trost. ImGegenteil, nur wieder ein Ausdruck von Verzweiflung.

    Auf diese Weise bekommen wir ein Beispiel, wie das soge-nannte Böse, sagen wir jetzt vielleicht analytisch klarer: dasZerstörerische, Destruktive, Verzweifelte, sich selber fortzeugtaus Schmerz, aus Leid. Das Leid ist der Katalysator des Bösen,es ist die Vermittlungsgröße des Zerstörerischen, keinesfallsder böse Wille, wohl aber der Schmerz, wohl aber enttäuschteLiebe, wohl aber ins Leere greifende Pflichtgefühle und nach-geholte Handlungsimpulse, die wie ein Befehl aus dem archai-schen Erbe unseres Säugetiergehirns Platz greifen mitten inder Kultur. Eine solche Reaktion des Leids ist etwas, das unsaffektiv derartig heimsucht, dass wir unter dem Druck desSchmerzes um beliebig lange Zeiträume in der Ge schichte desLebens in archaische Handlungsgewohnheiten zurückfallen.Wir könnten den Mörder unserer Kinder ermorden.

    4. Der Begriff des Bösen

    Vielleicht sollten wir an dieser Stelle fernab von Trost und Psycho-logie uns einmal fragen, ob denn das überhaupt richtig sein kann,dass wir nur bei Menschen von Böse und im Umkehrschlussmanchmal von Gut sprechen.

    Gut und Böse sind moralische Begriffe, wie wir schon sagten,und sie rechtfertigen sich allein mit der Annahme, dass hinterunseren Taten ein freier Wille stünde, über den wir selberEntscheidungsmacht hätten und der sich ordnen ließe entlangbestimmter moralischer Wertsysteme und gewisser Regel-werke des richtigen Verhaltens. In Wirklichkeit liegen Gutund Böse, wie wir sehen, unserem Willen schon voraus, siesind ganz sicher tiefer als alles, was wir als Menschen planenkönnen. In der Natur selber liegen die Widersprüche.

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