Europas tödliche Grenzen - Flüchtlingsrat Brandenburg · Europa. Das Kommando hat Klaus Rösler,...

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48 DER SPIEGEL 36 / 2014 Europas tödliche Grenzen Asyl Während Deutschland über einen humaneren Umgang mit Flüchtlingen debattiert, rüstet die EU auf: Sie schottet den Kontinent ab, mit Satelliten, Polizisten, Drohnen – und sie bezahlt die Nachbarstaaten für die heikle Arbeit der Abschreckung. Von Maximilian Popp Afrikanische Flüchtlinge in Melilla auf dem Weg zum spanischen Festland

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48 DER SPIEGEL 36/ 2014

Europas tödliche GrenzenAsyl Während Deutschland über einen humaneren Umgang mit Flüchtlingen debattiert, rüstetdie EU auf: Sie schottet den Kontinent ab, mit Satelliten, Polizisten, Drohnen – und sie bezahlt die Nachbarstaaten für die heikle Arbeit der Abschreckung. Von Maximilian Popp

Afrikanische Flüchtlinge in Melilla auf dem Weg zum spanischen Festland

Asyl in der EUErst- und Folgeanträge, in TausendQuelle: Eurostat

Asyl in DeutschlandErstanträge, in TausendQuelle: Bamf; *geschätzt

2008 2009 2010 2011 2012 2013

200*

2228

4146

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2014

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Gesellschaft

Auf den Monitoren an den Wändenblinken grüne Punkte, Linien do-kumentieren den Grenzverlauf. Im

23. Stock dieses Wolkenkratzers in War-schau liegt das Lagezentrum der FestungEuropa. Das Kommando hat Klaus Rösler,59, deutscher Polizeibeamter, seit 40 Jah-ren im Staatsdienst. Er spricht von einem„Sturm auf die Grenzen“, von „Risiko -regionen“, von „Krisenbewältigung“. DerDeutsche leitet die Einsatzabteilung dereuropäischen Grenzschutzagentur Frontex,er ist „Director of Operations Division“.Rösler vermittelt den Eindruck, seine Be-hörde verteidige Europa gegen einenFeind.

Die grünen Punkte kennzeichnen auf-gegriffene Flüchtlinge. Zwischen der KüsteWestafrikas und den Kanarischen Inselnsind die Punkte klein und spärlich. Im türkisch-griechischen Grenzgebiet in derÄgäis verdichten sie sich. Der Seeweg zwi-schen Libyen und Italien erscheint als gro-ße grüne Fläche.

Rösler hat als hoher Beamter der Bun-despolizei in Mazedonien gearbeitet, ander deutsch-tschechischen Grenze, amMünchner Flughafen. Im September 2008wechselte er zu Frontex nach Warschau.

Lange Zeit interessierten sich in Brüsselallenfalls Fachpolitiker für die Arbeit vonFrontex. Seit 2005 baut die Agentur dieAußengrenzen Europas gegen den Zu-strom von Flüchtlingen aus. Doch jetzttreibt der Bürgerkrieg in Syrien MillionenMenschen in die Flucht. Und im Irak be-ginnt nach dem Vormarsch der Terrorgrup-pe „Islamischer Staat“ (IS) der nächsteExodus.

Beinahe jeden Tag fischt die italienischeKüstenwache im Mittelmeer verzweifelteMenschen aus seeuntüchtigen Booten. InDeutschland beantragten im Juli fast 20000Menschen Asyl, so viel wie seit mehr als20 Jahren nicht. Insgesamt werden in die-sem Jahr wohl 200000 Flüchtlinge in dieBundesrepublik kommen.

Angesichts dieser Zahlen und der Bildervon den Booten auf dem Mittelmeer, denZäunen und den überfüllten Aufnahme -einrichtungen in deutschen Städten entwi-ckelt sich die Frage nach der Grenzpolitikder EU zu einer Frage über das Wesen unddie Werte Europas. Als vergangenen Ok-tober 387 Menschen bei einer Schiffskata-strophe vor Lampedusa ertranken, sprachdie EU-Kommissarin Cecilia Malmströmvon einer „schrecklichen Tragödie“. DieSärge in einem Hangar des Flughafens vonLampedusa passten nicht zu dem Bild,„das wir Europäer von uns selber haben“,sagte Bundespräsident Joachim GauckEnde Juni in Berlin. Er mahnte die EU,mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Viele Bür-ger empfinden Mitgefühl mit jenen Men-schen, die sich auf die gefährliche Reisenach Europa machen.

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Doch die Politik der europäischen Regie-rungschefs hat sich seit dem Unglück nichtverändert. Die italienische Küstenwacheund Marine haben zwar seit dem vergan -genen Oktober mit der Operation „MareNostrum“ häufig Boote aus Seenot gerettet –und etwa 70000 Menschen auf italienischenBoden gebracht. Doch Ende August starbenerneut 200 Flüchtlinge bei dem Versuch, miteinem alten Holzboot das Mittelmeer zuüberqueren. Italien hat zudem angekündigt,die Rettungsoperationen zu beenden, diejeden Monat neun Millionen Euro kosten,Frontex müsse übernehmen. Nun soll dieGrenzschutzagentur unter dem NamenFrontex Plus wohl wenigstens einen Teil derAufgaben der Italiener übernehmen. Die Fi-nanzierung ist allerdings noch nicht geklärt.

Für Flüchtlinge gibt es so gut wie keine legalen Wege nach Europa. Nicht für die meisten Syrer, von denen nur wenige alsso genannte Kontingent-flüchtlinge nach Deutsch-land gebracht werden,nicht für Iraker, nicht für Menschen aus afri-kanischen Krisenstaa-ten. Wer in der EUAsyl beantragen will,muss zuvor illegal ein-reisen – auf Booten

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von Schmugglern, versteckt in Kleinbussen,mit falschen Pässen in Flugzeugen. Die EUschottet sich ab, weil sie fürchtet, andern-falls könnten mehr Menschen kommen, ge-rade aus ärmeren Ländern. Aber richtig istauch, dass erst der Ausbau der EU zur Fes-tung die Bedingungen für das Sterben anden Grenzen geschaffen hat. Viele Flücht-linge entscheiden sich für die lebensgefähr-liche Route über das Mittelmeer, weil Fron-tex die Landwege abriegelt.

Klaus Rösler koordiniert Europas Abwehrgegen die Migranten. Seit 2005 hat sich dasJahresbudget seiner Agentur von gut 6 aufknapp 90 Millionen Euro mehr als verzehn-facht. EU-Länder schicken auf Empfehlungvon Frontex Polizisten und Ausrüstung inGrenzregionen. Einige Beamte aus Deutsch-land, Frankreich und Rumänien patrouillie-ren unter dem Mandat von Frontex gemein-sam an den Rändern Europas.

Rösler sagt, Aufgabe von Frontex sei es,Migration zu steuern, nicht zu verhindern.Doch der Erfolg der Agentur bemisst sichdanach, wie effektiv sie Europa gegen ir-reguläre Einwanderer verteidigt – und da-mit gegen potenzielle Asylbewerber.

Frontex-Mitarbeiter werten die Datender nationalen Grenzbehörden aus, derspanischen Guardia Civil oder der grie-chischen Küstenwache. Sie zählen illegaleGrenzübertritte, sammeln Informationenüber Schleuser und Migrationsrouten. Un-ter der Federführung von Frontex startetedie EU im vergangenen Dezember ein neues Programm zur Überwachung derGrenzen mithilfe von Drohnen und Satel-liten – etwa 340 Millionen Euro gibt dieUnion dafür aus.

Wie viele Menschen an Europas Außen-grenzen sterben, diese Zahl erhebt Frontexnicht.

Eine Arbeitsgemeinschaft europäischerJournalisten ermittelte, dass es mehr als

23000 Menschen sind, die in den vergan-genen 14 Jahren auf der Flucht nachEuropa ums Leben gekommen sind.

In Griechenland berichten Flüchtlingevon Misshandlungen durch Offiziere derKüstenwache. Ungarische Gefängnisärzteverabreichen Gefangenen in den Lagernsystematisch Betäubungsmittel, um sie ru-higzustellen. Marokkanische Soldatenmisshandeln Migranten, die an der Grenzezu Spanien kampieren. Hilfsorganisatio-nen haben diese Vorkommnisse dokumen-tiert.

Frontex ist an solchen Menschenrechts-verletzungen fast nie direkt beteiligt. Aberfast alle Übergriffe geschehen im Einfluss-bereich der Agentur. Mit Methoden, dieallem Hohn sprechen, wofür Europa steht.

Spanien – Marokko

In der Nacht vor dem Sprung schläft Claude Eog kurz und traumlos. Der Windbläst über sein Zelt aus zerrissenem Plastikhinweg. Eog erwacht um Mitternacht vondem Lärm im Lager auf dem Berg Gou-rougou. Flüchtlinge aus Mali, Somalia, Gui-nea wärmen ihre Hände über einem Feuer.Eog schlüpft in seine zerschlissene Jeans,zieht ein Hemd über den ausgemergeltenKörper. Im Tal sieht er die Lichter Europasstrahlen, in Melilla.

Dort setzt sich, etwa zur gleichen Zeit,Leutnant Antonio Rivera an den Rechnerim Centro Operativo Complejo, dem Kon-trollzentrum der spanischen Guardia Civil.Neonlicht scheint von der Decke. Riveraund seine Kollegen klicken sich durch dieBilder der Überwachungskameras auf denMonitoren.

Keine zehn Kilometer trennen den Gen-darm Rivera, 56 Jahre alt, Vater zweierKinder, und Eog, 22 Jahre alt, Halbwaiseaus Zentralafrika – und doch eine Welt:Durch Melilla, eine spanische Enklave auf

marokkanischem Boden, verläuft dieLandgrenze zwischen Afrika und Europa.

Spaniens Regierung hat ab 1998 und verstärkt ab 2005 mithilfe der EU für mehrals 30 Millionen Euro ein Bollwerk an derGrenze zu Melilla errichtet: Drei Zäune,zwölf Kilometer lang, sechs Meter hoch,gesichert mit Nato-Draht, bewacht von marokkanischen Soldaten auf der einenSeite und der Guardia Civil auf der ande-ren, sie schotten Europa gegen Einwande-rer ab. Der Wall ist zu einem Symbol derFestung Europa geworden. Dennoch ge-lingt es Migranten immer wieder, denZaun zu überwinden. Fast 7000 illegaleGrenzübertritte vermeldete Frontex imvergangenen Jahr für die beiden spani-schen Enklaven Ceuta und Melilla sowiedie Straße von Gibraltar.

Auf dem Berg Gourougou im NordenMarokkos beraten Claude Eog und die anderen Flüchtlinge ihre Strategie: ZuHunderten, so wird er später erzählen, wol-len sie losziehen, die Dunkelheit nutzen,um unentdeckt von marokkanischen Sol-daten den Zaun zu erreichen.

Claude Eog hat in Bangui, der Haupt-stadt der Zentralafrikanischen Republik,als Mechaniker gearbeitet. Als Rebellenvergangenen Sommer seinen Vater ermor-deten, sei er geflohen, erzählt er. Schlep-per schleusten ihn nach Marokko, von dortfuhr er im November in einem KleinbusRichtung Gourougou.

Laut Schätzungen der marokkanischenRegierung leben zwischen 25 000 und40000 Menschen ohne Papiere im Land,etwa eintausend Männer und einige weni-ge Frauen verstecken sich in den Wäldernam Gourougou, wo sie notdürftige Lagererrichtet haben. Sie warten auf eine Gele-genheit, die Grenze nach Europa zu über-winden – manche jahrelang. Die Flüchtlin-ge bilden Gruppen nach Herkunftsländern:Nigerianer haben sich zusammengeschlos-sen, Kameruner, Malier.

An einem Mittag im Sommer hockenMänner um einen Kochtopf. In den Wäl-dern des Gourougou essen die MenschenReste, die sie im Abfall der Marokkanerfinden, an vielen Tagen finden sie abernichts. Auf dem Boden liegen leere Fla-schen, Dosen, Schutt. Es riecht nach ver-branntem Plastik. „Das Leben im Lagerist die Hölle“, sagt Mohammed, 14 Jahrealt, aus Guinea geflohen.

Die Migranten schlafen unter Planenund Zedern. Im Winter fallen die Tempe-raturen am Gourougou unter den Gefrier-punkt. Kranke und Verletzte lehnen anBäumen. Fast jede Woche suchen örtlicheSicherheitskräfte das Lager heim, brennendie Zelte der Flüchtlinge nieder und ver-prügeln all jene, die nicht schnell genugfliehen können, so schildern es Hilfsorga-nisationen vor Ort. Auch Eog wurde mehr-mals vom Militär gefasst. Er behauptet, die

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Frontex-Einsatzleiter Rösler: „Sturm auf die Grenzen“

Soldaten hätten ihn mit Holzstöcken ge-schlagen, bespuckt und auf ihn uriniert.„Sie quälen uns wie Hunde.“

Immer wieder dachte Eog daran aufzu-geben, umzukehren. Doch seine Heimat,die Zentralafrikanische Republik, ist zer-fallen. Warlords und Milizen terrorisierendas Land. Beobachter vergleichen die Verhältnisse in Zentralafrika mit denen inRuanda zu Zeiten des Genozids 1994 anden Tutsi. In Marokko zu bleiben ist auchkeine Möglichkeit; hier haben Migrantenaus Schwarzafrika kaum Aussicht auf Ar-beit oder eine Unterkunft, sie werden we-gen ihrer Hautfarbe diskriminiert. „Wirwollen ein menschenwürdiges Leben füh-ren“, sagt Eog.

Leutnant Rivera empfängt im CentroOperativo Complejo über Funk Nachrich-ten der marokkanischen Patrouillen. Siehaben von Spitzeln in den Lagern erfahren,dass die Migranten eine „Attacke auf denWall“ planen. Rivera ist in Melilla aufge-wachsen. Er erinnert sich noch an die Zeitvor 2005, als der Grenzübergang lediglichaus einem besseren Drahtgeflecht bestand.„Der Zaun hat unsere Stadt in ein Gefäng-nis verwandelt“, sagt Rivera. 600 Beamteder Guardia Civil sind in Melilla inzwi-schen im Einsatz.

Nächtliche Gewalttaten marokkanischerSoldaten sind von der EU nicht abgesegnet.

Doch im marokkanisch-spanischen Grenz-land erprobt die Union die Zukunft derMigrationskontrolle. Hier delegiert die EUdie Abwehr von Migranten an Nachbar-länder. Allein im Rahmen des sogenanntenMeda-Programms überwies Europa zwi-schen den Jahren 2007 und 2010 für denSchutz der Grenze 68 Millionen Euro anMarokko. Frontex koordinierte gemeinsa-me Operationen spanischer und marokka-nischer Sicherheitskräfte.

Die Organisation Human Rights Watchprangert in einem Bericht „exzessive Ge-walt“ gegen Flüchtlinge durch spanischeund marokkanische Grenzschützer vor Me-lilla an. Selbst Schwangere und Kinderwürden geschlagen und misshandelt. DieHilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen(MSF) beendete vergangenes Jahr ihr En-gagement in Marokko aus Protest gegendie „institutionalisierte Gewalt“ gegenMigranten. Zwischen 2010 und 2012 ver-sorgte MSF 10500 kranke oder verwundeteFlüchtlinge, die teilweise Opfer der Grenz-schützer geworden waren. „Wir fandenMänner mit gebrochenen Armen, gebro-chener Nase. Ein Mann war derart

schlimm verprügelt worden, dass er einedreifache Schädelfraktur und eine Hirn-blutung hatte“, erzählt eine Ärztin.

Die EU hat ihr Engagement mit Marok-ko trotzdem ausgebaut. Gegenwärtig ver-handelt sie über ein Abkommen, nach demdie Union Menschen, die über Marokkoillegal in EU-Staaten eingereist sind, auchnach Marokko abschieben könnte. In Li-byen bilden deutsche Polizisten im Zugeder europäischen EUBAM-Mission Milizenzu Grenzschützern aus, obwohl dortFlüchtlinge in Internierungslagern gefoltertworden sind, wie Human Rights Watch be-richtet.

Der Vertreter der spanischen Regierungin Melilla, Abdelmalik El Barkani, Mitgliedder konservativen Volkspartei von Minis-terpräsident Mariano Rajoy, preist die„hervorragende Zusammenarbeit“ mit denStaaten Nordafrikas. Gewalt gehe lediglichvon Migranten aus.

Die Bürger in Melilla sind müde, überFlüchtlinge zu sprechen. Am Strand liegenTouristen in der Sonne. In den Bars trinkenjunge Frauen Bier. Direkt neben dem Auf-fanglager spielen Rentner Golf.

Manche Migranten versuchen, für 3000Euro im Boot eines Schleppers von Ma-rokko nach Spanien zu gelangen. Eog hattesein Geld auf dem Weg nach Marokko auf-gebraucht. Ihm blieb nur, den Zaun zu

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Flüchtlinge auf dem Grenzzaun in Melilla: Methoden, die allem Hohn sprechen, wofür Europa steht

Video:

Europas tödliche Grenzen

spiegel.de/app362014frontex oder in der App DER SPIEGEL

überklettern. Bei den ersten drei Versu-chen rissen die Klingen des Nato-DrahtsWunden in seine Hände und Arme. Ma-rokkanische Soldaten packten ihn nochauf der afrikanischen Seite des Zauns, ersagt, danach hätten sie ihn verprügelt undnach Algerien gebracht, weit weg von derGrenze zur EU.

Er kam zurück, und dieses Mal, am 17.März, schaffte Eog es, sich unbemerkt andie Grenze zu schleichen. Er verstecktesich bis zum Einbruch der Dunkelheit inBüschen. Antonio Rivera bemerkte umMitternacht auf seiner Kamera Bewegun-gen großer Gruppen. Später erfuhr er: Eswaren 800 Menschen. So viele wie seltenzuvor. Eog lief als einer der Ersten auf dasBollwerk zu. Flutlicht blendete seine Au-gen. Er krallte seine Finger in die engenMaschen des Zauns. Seine Arme und Bei-ne schmerzten. Der Weg vor ihm war jedoch frei von Patrouillen. Er wusste: Dieses Mal würde ihm der Sprung nachEuropa glücken.

Zwei Monate später lehnt Eog an derMauer des Flüchtlingsheims in Melilla. Sei-ne Hände sind vernarbt. 120 Migranten,erzählt er, hätten es in der Nacht vom 17. auf den 18. März nach Europa geschafft.Sie seien freudetrunken durch die Straßenvon Melilla gelaufen, hätten gebrüllt: „Frei-heit! Freiheit!“

Nun ist Eog in einem Lager unterge-bracht. Er hofft, auf das spanische Festlandverlegt zu werden. Eog will weiterfliehen,am liebsten nach Deutschland. „Ich willin Deutschland als Mechaniker arbeiten.“

Leutnant Rivera versucht unterdessenzu erklären, was im März schiefgelaufenist. Er fährt im Geländewagen der GuardiaCivil durch Melilla. Der Druck auf dieGrenze sei in den vergangenen Jahren ste-tig gewachsen, sagt Rivera. In den erstenMonaten 2014 hätten bereits mehr Flücht-linge den Wall überwunden als im ge -samten Jahr zuvor. „Wir können einzelneMigranten abschrecken, aber gegen großeGruppen sind wir machtlos.“

Sogar die Gewerkschaft der Guardia Ci-vil protestierte gegen die scharfen Klingenam Zaun von Melilla: Ihre Beamten wür-den den Anblick schwer verletzter Flücht-linge dort nicht länger ertragen. Sie fragtensich nach dem Sinn ihrer Arbeit. Die spa-nische Regierung hat angekündigt, weitereMillionen in den Grenzwall zu stecken.Der Zaun soll noch feinmaschiger werden,damit ihn Menschen nicht mehr überklet-tern können.

Auf die erneut steigenden Flüchtlings-zahlen reagiert Europa nach dem stets glei-chen Muster: mit mehr Abschreckung. DieEU will in den kommenden sieben Jahrenweitere 2,8 Milliarden Euro in einen neuen

Fonds für die innere Sicherheit investieren.Hinzu kommen die Ausgaben der einzel-nen Mitgliedstaaten und Forschungsgelderzur Entwicklung von Grenztechnologie.Künftig sollen etwa Roboter mit Über -wachungskameras zur Flüchtlingsabwehreingesetzt werden.

Einzelne Routen werden vorübergehendblockiert. So vermochte Frontex die Zahlillegaler Grenzübertritte zwischen der Küs-te Westafrikas und den Kanarischen Inselnim Zuge der „Operation Hera“ von fast32000 im Jahr 2006 auf nur noch 250 imJahr 2013 senken. Trotzdem gelangen ins-gesamt nicht weniger Flüchtlinge nachEuropa. Die Migranten weichen auf ande-re, oft gefährlichere Wege aus.

Griechenland – Türkei

Am 19. Januar kenterte ein Flüchtlingsbootauf dem Weg von der Türkei nach Grie-chenland. 12 Menschen ertranken vor denAugen der griechischen Küstenwache,Frauen und Kinder. Mindestens 7 Migran-ten starben bei einem ähnlichen Unglückin der Ägäis im März, 6 im April, mindes-tens 22 im Mai.

Rana Fida, 42, tritt auf den Balkon ihrerFlüchtlingswohnung auf der griechischenInsel Lesbos. Sie blickt auf das Meer, überdas sie kam, und sagt: „Es ist ein Wunder,hier zu sein.“

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Lager auf dem Berg Gourougou in Marokko: „Sie quälen uns wie Hunde“

Gesellschaft

Fida hat gemeinsam mit ihren zwölf Jah-re alten Zwillingen Aya und Abdullah drei-mal versucht, auf dem Landweg aus Sy-rien über die Türkei nach Europa zu flie-hen: Zweimal wurden sie von bulgari-schen Sicherheitskräften festgenommenund zurück in die Türkei geschleppt, ein-mal wurde die Familie von türkischen Poli-zisten aufgehalten. Beim vierten Anlaufriskierte Fida ihr Leben und das Leben ihrer Kinder: Sie stieg in das Schlauchbooteines Schleppers.

Das ist die unmittelbare Folge derGrenzsicherung durch Frontex. Bis vorKurzem gelangten Flüchtlinge im südöst -lichen Mittelmeerraum auf dem Landwegnach Europa. Auf Druck der EU riegelteGriechenland die Grenze zur Türkei je-doch ab. Die griechische Regierung zog2012 nach dem Vorbild Melillas einen 10,5 Kilometer langen Grenzzaun am FlussEvros, entsandte 1800 zusätzliche Polizis-ten, eröffnete neue Internierungslager fürMigranten. Frontex investierte in den Jah-ren 2011 und 2012 für die „Operation Po-seidon“ etwa 37 Millionen Euro zur Siche-rung der griechisch-türkischen Grenze. Einige Kilometer weiter nördlich hat Bul-garien gerade mit Unterstützung der EUeinen 30 Kilometer langen Metallzaun ent-lang eines Grenzabschnitts fertiggestellt.

Die technische Aufrüstung sei Teil „ei-nes effektiven Grenzmanagements“, heißtes bei Frontex.

Immer mehr Flüchtlinge nehmen nundie Route über das Meer. In der Ägäis ka-men zwischen August 2012 und Juli 2014mindestens 218 Menschen ums Leben. Ei-nige von ihnen wurden nach Berichten von

Menschenrechtsorganisationen von dergriechischen Küstenwache zurück aufs offene Meer getrieben, wo sie ertranken.

Rana Fida, die ihren wirklichen Namennicht nennen möchte, knetet eine Gebets-kette. Sie trägt einen langen schwarzenRock und ein Kopftuch.

Fida hat in Damaskus als Grundschul-lehrerin gearbeitet, ihr Mann als Managerfür ein Busunternehmen. Der Bürgerkrieghat die Familie auseinandergerissen. Diebeiden ältesten Söhne flüchteten bereitszu Beginn der Gefechte 2011 vor dem Mi-litärdienst nach Schweden und Dänemark.Fida harrte mit ihrem Mann und den Zwil-lingen in Damaskus aus. „Ich wollte meineHeimat nicht verlassen. Ich hoffte bis zu-letzt, der Krieg würde bald zu Ende ge-hen“, sagt sie. Vergangenen Sommer ver-schleppten Schergen des Diktators Bascharal-Assad Fidas Mann. Fida floh in den Li-banon und von dort weiter mit dem Flug-zeug nach Istanbul.

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syriensind mehr als eine Million Flüchtlinge inder Türkei angekommen. Vielleicht einDrittel von ihnen ist in provisorischenCamps untergebracht. Sie erhalten regel-mäßige Mahlzeiten, die Kinder Schul -unterricht. Die meisten Neuankömmlingesind jedoch gezwungen, ohne jede staat -liche Hilfe zu überleben.

Fida hauste in Istanbul gemeinsam mitihren Kindern in einer Einzimmerwoh-nung, die Bekannte ihr vermittelt hatten.Ihr Sohn Abdullah arbeitete als Laufbur-sche in einer Maklerfirma, um die Mietezu bezahlen. Fida wollte weiterreisen nachEuropa, zu ihren Söhnen im Norden des

Kontinents. Ein Schlepper lotste die Fami-lie für 800 Euro an die bulgarische Grenze.

Fidas Stimme stockt, als sie von ihrerersten Begegnung mit Europa erzählt. Ge-meinsam mit zwei Dutzend Migranten irrte sie nachts durch das türkisch-bulga -rische Grenzland, ihre beiden Kinder ander Hand. Hunde der bulgarischen Polizeispürten die Flüchtlinge in einem Wald auf.Fida wurde verhaftet, ihr Sohn sei von Si-cherheitskräften geschlagen worden, sagtsie. Einen Tag habe die Familie auf einerPolizeistation verbracht, bis bulgarischePolizisten sie zurück in die Türkei karrten.

Zwar sind die Mitgliedstaaten der EUdazu verpflichtet, die Situation jedes ein-zelnen Flüchtlings zu prüfen. Nationen anden Außengrenzen wie Spanien, Bulgarienoder Griechenland setzen sich jedoch im-mer wieder über diese Bestimmung hin-weg. Sie schicken Flüchtlinge im Zuge un-gesetzlicher sogenannter „Push-Back“-Operationen kurzerhand in die Nachbar-länder zurück.

Nach einem halben Jahr in Istanbul undeinem weiteren missglückten Versuch,über Land nach Europa zu gelangen, folgteFida dem Rat anderer Migranten, die ge-fährliche Fahrt über das Mittelmeer zu wa-gen: „Wir hatten keine andere Wahl. Wo-von hätten die Kinder und ich in der Tür-kei leben sollen?“, sagt sie.

Menschenhändler profitieren von derVerzweiflung der Geflüchteten. Dennohne die Hilfe von Schmugglern überwin-det fast keiner von ihnen die Grenze nachEuropa. Fida bezahlte 2500 Euro für dieReise nach Griechenland. Verwandte lie-hen ihr das Geld. Ein Schlepper sollte dieFamilie von Istanbul mit einem Kleinbusin den Süden schmuggeln und von dortmit einem Schlauchboot auf eine grie-chische Insel. Fida hinterlegte das Honorarbei einem Mittelsmann. Der Betrag solltedem Schlepper nach ihrer Ankunft in derEU ausbezahlt werden. Beim ersten An-lauf stoppten türkische Polizisten den Wagen und nahmen den Fahrer fest. EineWoche später gelangten die Flüchtlingenach Izmir.

Die Stadt, 330 Kilometer südwestlichvon Istanbul, hat sich in den vergangenenJahren zu einem Knotenpunkt für Migran-ten entwickelt. Aus Izmir fahren die Busseder Schleuser an die Küste ab. DutzendeFlüchtlinge hocken an einem schwülenSommernachmittag in den Gassen hinterdem Bahnhof Basmane. Familien aus Syrien, Männer aus dem Sudan und ausSomalia.

Faris, ein junger Syrer, erklärt, wie dasSchleppergeschäft funktioniert. Er ist imJahr 2012 vor dem Krieg aus Aleppo ge-flohen. Eineinhalb Jahre lang schuftete erauf einer Baustelle in der türkischenGrenzstadt Kilis. Ein Bekannter vermittel-te ihn als Fahrer an ein Schleppernetzwerk

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Spanischer Gendarm Rivera,

Flüchtling Eog

Scharfe Klingen am Zaun

M i tt e

l meer

250 km

M A R O K K O

A L G E R I E N

S P A N I E N

EuropäischeUnion

Melillaspanisch

6838 illegale Grenzübertritte 2013*

+ 7 % zum Vorjahr

Ceutaspanisch

*hauptsächlich über Marokko und Algerien; Quelle: Frontex

Gesellschaft

in Izmir. „Ich wollte nie als Schleuser ar-beiten. Aber ich brauche das Geld fürEuropa“, sagt Faris.

Banden haben das Geschäft mit Migran-ten in der Türkei unter sich aufgeteilt. IhreAnführer engagieren Flüchtlinge wie Farisals Handlanger. Faris schleust Migrantengegen eine Provision von Izmir an die Küste.

Zwar hat die EU vergangenen Dezem-ber einen Deal mit der Türkei geschlossen:Ankara soll Flüchtlinge aus der EU, dieüber die Türkei kamen, wieder zurückneh-men und darf dafür auf Visafreiheit fürtürkische Staatsbürger in Europa hoffen.Es ist ein weiterer Versuch der Union, dieFlüchtlinge schon vor der Grenze aufzu-halten. Doch die türkische Polizei kontrol-liert Schlepperrouten nur sporadisch, zuweitläufig ist das Gelände. Etliche Beamte,erzählt Faris, würden zudem von Men-schenhändlern geschmiert. Fida und ihreKinder erreichten nach einer Nacht in Iz-mir die türkische Küste. Der Schleuser set-ze die Familie in einer Bucht ab und schick-te sie zu einem Boot.

Fida klammerte sich während der Fahrtüber die Ägäis an ihren Sohn Abdullah.Wasser schwappte in das überfüllteSchlauchboot. Fida übergab sich vorAngst. Die Menschen auf dem Boot aberhatten Glück: Nach vier Stunden auf Seeerreichten sie unbemerkt von griechischenPatrouillen die Insel Lesbos.

Die Passage zwischen der türkischenMittelmeerküste und den griechischen Inseln hat sich in eine Kampfzone ver -wandelt: 24800 Migranten versuchten lautFrontex 2013, irregulär von der Türkei,meist übers Meer, in die EU zu gelangen,so viele wie in kaum einer anderen Region.Ein Heer türkischer, griechischer und an-derer europäischer Grenzschützer soll diesverhindern.

Schwacher Wind weht über die Ägäis.Panagiotis Polidoras, Kapitän der grie-chischen Küstenwache auf der Insel Lesbos,hat Reporter eingeladen, sein Team auf einer Patrouille zu begleiten. Er möchtedemonstrieren, wie gewissenhaft die Küs-tenwache auf Lesbos arbeitet. Sein Schnell-boot gleitet über die glatte See. In der Ferne flackern die Lichter der türkischenSiedlungen.

Die Regeln für Einsätze im Grenzgebietsind streng: Die griechische Küstenwachedarf nicht in türkischem Gewässer patrouil-lieren. Entdeckt Polidoras ein Flüchtlings-boot auf dem Radar, verständigt er türki-sche Kollegen. Etliche Migranten werdenauf diese Weise von der türkischen Küs-tenwache gestoppt, bevor sie die Seegren-ze überqueren.

Flüchtlinge, die griechisches Gewässererreichen, können laut nationalem und europäischem Recht von der griechischenKüstenwache zwar aufgehalten, jedoch

nicht in die Türkei zurückgewiesen wer-den. Die meisten Migranten reisen auf see-untüchtigen Booten. Polidoras sagt, seinTeam rette immer wieder Flüchtlinge vordem Ertrinken.

Menschenrechtsbeobachter werfen dergriechischen Küstenwache jedoch vor, Mi -granten zum Teil mit brutalen Methodenabzuwehren. Mehrere Syrer berichtetenvergangenes Jahr der Organisation ProAsyl von Misshandlungen durch grie-chische Patrouillen.

Männer in schwarzen Uniformen mitMasken hätten Flüchtlinge auf einen Mili-tärstützpunkt geschleppt und dort mitHolzstöcken auf sie eingeschlagen. Sie hät-ten die Hände der Migranten hinter derenRücken gefesselt sowie Handys und Pässekonfisziert. „Wir dachten, wir waren inEuropa und in Sicherheit“, sagte einer derFlüchtlinge. Viele Stunden lang hätten sieeingesperrt in einem fensterlosen Raumausharren müssen. Am Abend hätten dieSicherheitskräfte die Migranten in Bootenohne Benzin zurück aufs Meer geschleppt.Türkische Patrouillen griffen die Flüchtlin-ge schließlich auf.

Der Chef der griechischen Küstenwacheauf Lesbos, Antonios Sofiadelis, bestreitetdie Vorwürfe, es handle sich höchstensum Einzelfälle. Die Schilderungen der Syrer decken sich jedoch mit den Berich-ten von Amnesty International und derAnwaltskammer in Izmir, die ähnliche Fälle untersucht haben. Nach Angabenvon Pro Asyl wurden zwischen Oktober2012 und September 2013 an den Land-und Seegrenzen etwa 2000 Flüchtlinge imRahmen oft gewaltsamer Push-Back-Ein-

sätze aus Griechenland in die Türkei zurückgewiesen, völkerrechtswidrig. ImMärz schossen griechische Grenzschützerlaut Berichten von Amnesty Internationalsogar mit scharfer Munition auf syrischeFlüchtlinge.

Der griechische ParlamentsabgeordneteKonstantinos Triantafyllos glaubt, die Men-schenrechtsverletzungen in der Ägäis zeug-ten von einer grundsätzlichen Krise dereuropäischen Flüchtlingspolitik. Die EUmute den Ländern an ihren Rändern eineunlösbare Aufgabe zu: Sie sollen einerseitsdie Grenzen abschotten, andererseits Men-schenleben retten – das gleiche Dilemma,vor dem auch die italienischen Behördenstehen.

Griechenland hat mit den Folgen derWirtschaftskrise zu kämpfen, die Bereit-schaft der Regierung, Flüchtlinge aufzu-nehmen, ist entsprechend niedrig. Athendrängt die Küstenwache wohl nicht offenzu Push-Back-Einsätzen, geht jedoch auchnicht dagegen vor. Jeder Migrant, der vongriechischen Patrouillen in der Ägäis ge-rettet wird, ist ein potenzieller Asylbewer-ber. Premier Antonis Samaras versprach2012 als Oppositionsführer, GriechenlandsStädte von ebenjenen „zurückzuerobern“.Athens ehemaliger Polizeichef forderte ineiner Rede: „Wir müssen den Migrantendas Leben unerträglich machen.“

Die EU fördert diesen Umgang mitFlüchtlingen. Sie überwies Griechenlandin den vergangenen drei Jahren gut 12 Millionen Euro für die Versorgung vonMigranten. Die Sicherung der griechischenGrenze war ihr im selben Zeitraum 228Millionen wert.

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Küstenwachenchef Sofiadelis,

Lager für Flüchtlinge auf Lesbos

Aufs Meer zurückgetrieben?

Mi t t e l m e e r

Ä g ä i s

250 km

B U L G A R I E N

G R I E C H E N -L A N D

T Ü R K E I

Izmir

Istanbul

EuropäischeUnion

Lesbos

12968 illegale Grenzübertritte über Land 2013, –61% zum Vorjahr

11831 illegale Grenzübertritte über See 2013, + 171% zum Vorjahr*hauptsächlich über die griechisch-türkische Grenze; Quelle: Frontex

Fida lebt nun in der Wohnung einer grie-chischen Hilfsorganisation auf Lesbos. Siewill zu ihren Söhnen nach Schweden zie-hen und hat bei den Behörden einen An-trag auf Familienzusammenführung ge-stellt. Die wenigsten Migranten beantragenAsyl in Griechenland, denn die Bedingun-gen dort sind auch für anerkannte Flücht-linge elend. Viele tauchen deshalb in Län-dern Nord- und Mitteleuropas unter.

1997 trat das Dubliner Übereinkommenin Kraft, das die Zuständigkeit für Asyl-verfahren regelt: Jeder Flüchtling, derEuropa erreicht, darf sich seither nur indem Land um Asyl bewerben, das er zu-erst betritt. Die Dublin-Regelung nütztDeutschland, das von EU-Ländern umge-ben ist. Sie verleitet zugleich überforderteStaaten an den Außengrenzen, Flüchtlingeschlecht zu behandeln, damit diese andereFluchtrouten wählen.

Ungarn – Serbien

Zuerst überfalle ein Schauer den Körper,erzählt Abu Naffa. Hände und Füße wür-den taub, die Nerven vibrierten, der Kopfschwindle. „Die Pillen töten deinen Ver-stand“, sagt Naffa. „Du wirst zu einemZombie.“

Ein halbes Jahr lang war Naffa, Flücht-ling aus Palästina, in einem Asylgefängnisim Norden Ungarns eingesperrt. Die Wär-

ter, sagt er, hätten den Insassen zur Beru-higung Rivotril verabreicht, ein Mittel zurAnwendung bei Epilepsie und Angst -zuständen, das in Deutschland unter dasBetäubungsmittelgesetz fällt. Die Pillenkönnen schon nach kurzer Zeit abhängigmachen. In Ungarn, berichtet Naffa, seienSicherheitskräfte jeden Abend von Zellezu Zelle gegangen und hätten Migrantengenötigt, das Medikament zu schlucken.

Das Flüchtlingshilfswerk der VereintenNationen (UNHCR) warnte bereits 2011,ungarische Asylwächter würden Migrantenmit Drogen ruhigstellen. Der Menschen-rechtsbeauftragte des ungarischen Parla-ments, Máté Szabó, kritisiert, im Asylge-fängnis Nyírbátor mit 922 Insassen seieninnerhalb eines Jahres neben Tausendenanderen Beruhigungsmitteln 7800 PillenRivotril verteilt worden.

Szabó mahnt, die Zustände dort seienschlechter als in einem gewöhnlichen Gefängnis. Die Flüchtlinge schlafen aufzerschlissenen Matratzen in beengten Zel-len, sind mangels Toiletten teilweise ge-zwungen, in Plastikflaschen zu urinieren.Migranten, die einen Arzt aufsuchen wol-len oder eine Behörde, werden an einerLeine und in Handschellen durch den Ortgeführt.

Abu Naffa ist 22 Jahre alt, doch er siehtaus wie ein Greis. Er hat seine Haare um

die Ohren kahl geschoren, seine Zähne sindbraune Stümpfe. Naffa fährt mit seinerHand über rosa Narben auf seinem Bauch.Er sagt, er habe im Rivotril-Entzug seineHaut mit einer Rasierklinge aufgeritzt. „Ichkonnte ohne den Stoff nicht leben.“

Ungarn hat kein funktionierendes Asyl-system. Die wenigen bestehenden Einrich-tungen sind überfüllt, etliche Flüchtlingewerden deshalb in ehemalige Militärbara-cken oder Gemeindegebäude gesteckt, diezu Gefängnissen für Migranten umgebautwurden. Im April waren in Ungarn mehrals 40 Prozent aller männlichen Asylsu-chenden in einem Knast untergebracht.Die Gründe für Verhaftungen sind willkür-lich und undurchsichtig. Migranten werdenin der Regel monatelang festgehalten,ohne ein Verbrechen begangen zu haben.Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen kritisiert die Bedingungen in un-garischen Asylgefängnissen als „unmensch-lich und erniedrigend“.

Mehrere Dutzend Demonstranten ha-ben sich an einem Samstag im Mai vordem Asylgefängnis Debrecen an der un-garisch-rumänischen Grenze versammelt.Sie sind mit einem Bus aus Budapest an-gereist, um gegen den Umgang ihrer Re-gierung mit Flüchtlingen zu protestieren.Auf dem Zufahrtsweg haben Anhängerder rechtsextremen Partei Jobbik Stellung

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Syrische Flüchtlingsfamilie auf Lesbos: „Es ist ein Wunder, hier zu sein“

Gesellschaft

bezogen. Sie tragen Bomberjacken undSpringerstiefel. Polizisten bewachen dasGelände.

Abu Naffa ist an diesem Samstag erstvor wenigen Stunden aus dem Gefängnisin ein offenes Lager in Debrecen verlegtworden. Er hat sich dem Protestmarsch angeschlossen. „Die Europäer sollen wissen, was Flüchtlingen in Ungarn an -getan wird“, sagt er. Als die Demonstran-ten das Gefängnis erreichen, stürmen Häftlinge ans Fenster. Männer aus Afgha-nistan, Frauen aus Syrien, Kinder. Sie win-ken mit weißen Handtüchern, schreien:„Rettet uns!“

Naffa ist aus Gaza-Stadt auf dem Land-weg über die Türkei und den Balkan indie EU geflohen. Er sah in Palästina nachdem Schulabschluss keine Zukunft fürsich, träumte von einem Leben in Frank-reich oder Deutschland. Doch in der Rea-lität griffen ihn ungarische Polizisten aufund sperrten ihn im Nordosten des Landesmit vielen anderen Migranten in ein Ge-fängnis.

Naffa klagt, er sei von Sicherheitskräftenregelmäßig misshandelt worden. Viele sei-ner Mitinsassen seien Rivotril verfallen,manche hätten versucht, sich umzubringen.

Nach internationaler Kritik hatte Un-garn ab Januar 2013 die gröbste Verfolgungvon Flüchtlingen abgeschafft. Als darauf-hin jedoch erheblich mehr Asylsuchendeins Land kamen, führte die Regierung vonPremier Victor Orbán ein halbes Jahr spä-ter ein neues Haftregime ein. Die Asyl -gefängnisse dienten in erster Linie der Abschreckung, sagt Júlia Iván von der un-garischen Menschenrechtsorganisation Hel-

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Flüchtling Naffa,

Asylgefängnis in Debrecen

Mit Medikamenten ruhiggestellt

nach Ungarn zu kommen. Frontex-Polizis-ten patrouillieren im ungarisch-serbischenGrenzgebiet. 2008 führte die serbische Re-gierung ein Asylsystem ein. Seither wurdejedoch lediglich drei Menschen tatsächlichder Flüchtlingsstatus gewährt. „KeinFlüchtling kann auf Dauer anständig inSerbien leben“, sagt Pfarrer Varga.

Die meisten Migranten fliehen nach wenigen Wochen weiter nach Norden.Abu Naffa gelangte bei seinem zweitenAnlauf unbemerkt bis nach Österreich.Dort wurde er von Polizisten gefasst undzur Rückreise nach Ungarn gezwungen.

Nun sitzt er, etwas verloren, vor demEingang zu den Flüchtlingscontainern. Ersagt, das offene Lager, in das er verlegtwurde, unterscheide sich kaum von demGefängnis. Auch hier lebten Migranten zusammengepfercht, kontrollierten Wärterdie Zellen. Naffa will nun ein drittes Malversuchen, nach Deutschland zu kommen.„Die Polizisten können mich verhaften, siekönnen mich schlagen. Ich werde nicht auf-geben.“

Im vergangenen Jahr waren lautUNHCR weltweit mehr als 50 MillionenMenschen auf der Flucht – so viele wie seitdem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Neunvon zehn Migranten wurden von Entwick-lungsländern aufgenommen. Im Libanon,einem Land mit gut vier Millionen Einwoh-nern, leben derzeit eine Million Syrer. Inder EU beantragten in den vergangenendrei Jahren gerade einmal 81015 Flüchtlin-ge aus Syrien Asyl. Die Einwanderungnach Europa sei im Vergleich zu Staatenwie dem Libanon verschwindend gering,sagt der UNHCR-Direktor für Internatio-nalen Schutz, Volker Türk.

EU-Innenkommissarin Cecilia Malm-ström fordert die EU-Staats- und Regie-rungschefs auf, mehr legale Wege fürFlüchtlinge zu schaffen. Bislang ist es fürMenschen aus armen Ländern beinahe unmöglich, ein Arbeitsvisum für die EUzu erhalten. Ebenso gering ist die Chance,in einem Resettlement-Programm unter-zukommen, das Flüchtlinge aus akuten Kri-sengebieten wie Syrien oder Südsudandauerhaft ohne bürokratisches Asylver -fahren in sichere Staaten vermittelt. DasUNHCR sucht gegenwärtig für 94 000Flüchtlinge Resettlement-Plätze. Die USAnahmen zuletzt über 50000 solcher Um-siedler auf, die gesamte EU mehr als 5000,Deutschland 300. Es sei „eine Schande“,dass die Europäer nur so wenige Flücht-linge aufnähmen, sagt Kommissarin Malm-ström. „Ich bin überzeugt, dass die EU-Mitgliedsländer viel mehr tun müssen, umden Menschen, die vor Hunger, Elend undGewalt aus ihren Heimatländern fliehen,zu helfen.“

Die Europäische Union hat bislang ihreGrenze geschützt. Sie sollte beginnen,Menschen zu schützen.

sinki-Komitee. Sie sollen Geflüchtete dazubewegen, Ungarn zu meiden oder weiter-zuwandern nach West- und Nordeuropa.

Wer Ungarn nicht freiwillig verlässt,wird häufig in den Nordosten oder den Süden abgeschoben – in die Ukraine odernach Serbien.

In Subotica, der fünftgrößten Stadt Ser-biens an der Grenze zu Ungarn, habenMigranten ein Lager am Rande einer Müll-halde errichtet. Zwischenzeitlich vegetier-ten hier mehrere Hundert Flüchtlinge,überwiegend aus Syrien und Afghanistan,in Behausungen aus Plastikplanen undSpanplatten. Die Migranten ernähren sichvon Abfällen, waschen sich in einem Tüm-pel. Sie warten darauf, dass AngehörigeGeld schicken für die Weiterfahrt. AbuNaffa lebte vorübergehend in dem Lagerin Subotica, nachdem ungarische Polizis-ten ihn abgeschoben hatten.

Pastor Tibor Varga fährt jede Woche zuden Flüchtlingen, verteilt Decken, Brot,Aspirin. Der Pfarrer ist einer der wenigenim Ort, die sich um die Migranten küm-mern. Varga parkt seinen Wagen im Hofeiner stillgelegten Ziegelfabrik, steigtdurch hohes Gras, folgt den Spuren amBoden. Das Lager ist an diesem Vormittagverwaist. Kleidung liegt auf dem Boden,Telefonkarten, Kochtöpfe. Die serbischePolizei hat wenige Tage zuvor eine Razziaauf dem Gelände durchgeführt und all jeneMigranten verhaftet, die nicht fliehenkonnten.

Wie andere Anrainerstaaten drängt dieEU auch Belgrad dazu, Flüchtlinge erst garnicht in die Nähe der Grenze zu lassen.Serbien soll Flüchtlinge davon abhalten,

Mittel

meer

250 km

U N G A R N

R U M Ä N I E N

B U L G A R I E N

U K R A I N E

S E R B I E N

Budapest

EuropäischeUnion

19951 illegale Grenzübertritte 2013*

+ 212 % zum Vorjahr*hauptsächlich über die serbisch-ungarische Grenze; Quelle: Frontex

Subotica

Debrecen

Nyírbátor