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274 25 Plastizität Aufgaben 1. Ein Stab (Fig. 24.12) der Länge L = 2 m mit dem abgebildeten Kastenquerschnitt und mit E = 2.10 11 N 1m 2 ist vorspannungslos beidseitig eingespannt. Bei wel- cher Temperaturerhöhung i1TE knickt er, wenn &=aLi1T , a=12·10-6 Grad- 1 das Gesetz ist, nach dem er sich verlängern würde, wenn er frei wäre? Unter der Voraussetzung, dass die Elastizitätsgrenze bei 0"0 = 5 . 10 8 NI m 2 liegt, berück- sichtige man noch den Einfluss des gleichmäßig verteilten Eigengewichts des Stabes (Gesamtrnasse 14 Kg) und ermittle die Temperaturerhöhung i1Tp, bei wel- cher in den kritischen Stellen des gefährdeten Querschnittes, unter dem kombi- nierten Einfluss von Biegung und Druck, die Elastizitätsgrenze erreicht wird. __ L __ Fig.24.12 60 (mrn) 2. Man bestätige die in Fig. 24.7 angegebenen Werte des Koeffizienten k in der Eu- lerschen Knickformel (24.33) für die Grundfälle 3, 4 und 5 sowohl durch Einfüh- rung von Exzentrizitäten oder Querlasten als auch durch direkte Lösung der ent- sprechenden Eigenwertprobleme. 25 Plastizität Seitdem wir in Kapitel 17 die Stoffgleichungen für linear elastisches Materialverhal- ten eingeführt hatten, befassten wir uns ausschließlich mit Anwendungen, welche ein solches Verhalten voraussetzten. In den folgenden zwei Abschnitten sollen nun auch Beispiele nichtelastischen Verhaltens kurz behandelt werden. Bereits in Abschnitt 17.1 ist auf die Fähigkeit von zähen (duktilen) Werkstoffen hin- gewiesen worden, sich plastisch (d.h. mit bleibenden Verformungen) zu deformieren, bevor der endgültige Bruch eintritt. Falls bei der Dimensionierung eines Tragwerkes aus zähem Material die Grenze des linear elastischen Verhaltens als Kriterium ver- wendet wird, besitzt die Struktur oft eine Tragreserve, welche mit Hilfe von plastizi- tätstheoretischen Überlegungen abgeschätzt und eventuell ausgenützt werden kann. M. B. Sayir et al., Ingenieurmechanik 2 © B. G. Teubner Verlag / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004

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274 25 Plastizität

Aufgaben

1. Ein Stab (Fig. 24.12) der Länge L = 2 m mit dem abgebildeten Kastenquerschnitt und mit E = 2.10 11 N 1m2 ist vorspannungslos beidseitig eingespannt. Bei wel­cher Temperaturerhöhung i1TE knickt er, wenn

&=aLi1T , a=12·10-6 Grad-1

das Gesetz ist, nach dem er sich verlängern würde, wenn er frei wäre? Unter der Voraussetzung, dass die Elastizitätsgrenze bei 0"0 = 5 . 108 NI m2 liegt, berück­sichtige man noch den Einfluss des gleichmäßig verteilten Eigengewichts des Stabes (Gesamtrnasse 14 Kg) und ermittle die Temperaturerhöhung i1Tp, bei wel­cher in den kritischen Stellen des gefährdeten Querschnittes, unter dem kombi­nierten Einfluss von Biegung und Druck, die Elastizitätsgrenze erreicht wird.

~1---__ L __ ---1~

Fig.24.12

60 (mrn)

40~ ~

2. Man bestätige die in Fig. 24.7 angegebenen Werte des Koeffizienten k in der Eu­lerschen Knickformel (24.33) für die Grundfälle 3, 4 und 5 sowohl durch Einfüh­rung von Exzentrizitäten oder Querlasten als auch durch direkte Lösung der ent­sprechenden Eigenwertprobleme.

25 Plastizität

Seitdem wir in Kapitel 17 die Stoffgleichungen für linear elastisches Materialverhal­ten eingeführt hatten, befassten wir uns ausschließlich mit Anwendungen, welche ein solches Verhalten voraussetzten. In den folgenden zwei Abschnitten sollen nun auch Beispiele nichtelastischen Verhaltens kurz behandelt werden. Bereits in Abschnitt 17.1 ist auf die Fähigkeit von zähen (duktilen) Werkstoffen hin­gewiesen worden, sich plastisch (d.h. mit bleibenden Verformungen) zu deformieren, bevor der endgültige Bruch eintritt. Falls bei der Dimensionierung eines Tragwerkes aus zähem Material die Grenze des linear elastischen Verhaltens als Kriterium ver­wendet wird, besitzt die Struktur oft eine Tragreserve, welche mit Hilfe von plastizi­tätstheoretischen Überlegungen abgeschätzt und eventuell ausgenützt werden kann.

M. B. Sayir et al., Ingenieurmechanik 2© B. G. Teubner Verlag / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004

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25./ Spannungs-Dehnungsdiagramme im einachsigen Spannungszustand 275

In vielen Fällen kann der Konstrukteur aufgrund der höher liegenden, plastischen Tragfähigkeitsgrenze seine Konstruktion verbessern, bewusster und präziser gestal­ten. Außerdem stehen bei Umformproblemen plastizitätstheoretische Überlegungen im Vordergrund, weshalb ein Konstrukteur von Umformprozessen (insbesondere von Metallumformungsprozessen), will er rationell arbeiten, die Plastizitätstheorie und ihre technischen Anwendungen beherrschen muss. Im Folgenden werden einige Grundideen der Plastizitätstheorie auf besonders einfache Probleme angewendet.

25.1 Spannungs-Dehnungsdiagramme im einachsigen Spannungszustand

Wir gehen vorerst vom Verhalten im einachsigen Spannungszustand aus und verein­fachen den in Fig. 17.5 (Seite 73) dargestellten, bei den allermeisten Metallen beo­bachteten Verlauf der Spannung in Funktion der Dehnung. Wir nehmen wie bisher an, dass der Absolutwert der Spannung (Zug oder Druck) bis zur Elastizitätsgrenze lai = ao, meist auch Fließspannung oder Fließgrenze genannt, mit der Dehnung li­near zunimmt. Wir vernachlässigen allerdings den glatten Übergang der Fig. 17.5 zum plastischen Regime mit der stark reduzierten Neigung und linearisieren unmit­telbar bei der Fließgrenze in A und A' den weiteren plastischen Verlauf (Fig. 25.1a).

B B

Ex

C' A' B ' - ao

(a) Elastisch mit linearer Verfestigung (b) Elastisch-ideal plastisch

Fig.25.1: Idealisierte Spannungs-Dehnungsdiagramme für elastisch-plastisches Verhalten

In diesem plastischen Teil AB, A'B' des Spannungs-Dehnungs diagramms im einach­sigen Zug oder Druck soll also die Fließgrenze proportional zum Dehnungsinkrement zunehmen. Das Experiment zeigt, dass die Entlastung elastisch erfolgt, und zwar mit

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276 25 Plastizität

dem gleichen Elastizitätsmodul wie im elastischen Belastungsteil OA, OA'. Sie führt zu bleibenden, plastischen Dehnungen Ep. Bei nochmaliger Belastung verhält sich der Werkstoff wieder elastisch bis zur höher liegenden Fließspannung 0"0* in B, die vor der Entlastung bestand. Die lineare Erhöhung der Fließgrenze bei zunehmender plas­tischer Verformung nennt man lineare Verfestignng. Man beachte allerdings, dass eine Entlastung und Wiederbelastung mit umgekehrtem Vorzeichen (von Zug auf Druck oder umgekehrt) nach Fig. 25.1a die Fließgrenze senkt. Man bezeichnet dieses tatsächlich beobachtbare Phänomen nach seinem Entdecker als Banschinger-Effekt. Bei einem Be- und Entlastungsprozess OABP wird die durch die Trapezfläche OABPO dargestellte spezifische Arbeit je Volumeneinheit zur Erzeugung der plasti­schen Dehnung Ep verbraucht und gilt als mechanisch "verloren" (in der Thermody­namik zeigt man, dass dadurch die Entropie erhöht wird), man nennt sie spezifische Dissipationsarbeit. Bei einem Kreisprozess ABPB'C'CA ergibt sich die spezifische Dissipationsarbeit aus dem Flächeninhalt des entsprechenden Parallelogramms. Das in Fig. 25.1 illustrierte Verhalten heißt elastisch-plastisches Verhalten mit linearer Verfestigung. Bei vielen Anwendungen geht man mit der Idealisierung einen Schritt weiter und vernachlässigt die Verfestigung. Man nimmt also an, dass die Fließ span­nung während der plastischen Verformung konstant bleibe (Fig. 25.1b). Das entspre­chende Verhalten bezeichnet man als elastisch-ideal plastisch. In diesem Fall ergibt sich kein Bauschinger-Effekt. Vor allem bei Stahl beobachtet man tatsächlich unmit­telbar nach der Fließgrenze und über einen verhältnismäßig großen Dehnungsbereich (etwa 5-7-mal die elastische Dehnung bis zur Fließgrenze) elastisch-ideal plastisches Verhalten. Erst bei noch größeren Dehnungen setzt die Verfestigung ein.

Während elastische Deformationen, wie schon in Kapitel 17 erwähnt, im mikrostrukturellen Maßstab durch relative Verschiebungen der einzelnen Atome entstehen, ergeben sich die plasti­schen Deformationen in Metallen vielmehr aus den Bewegungen von Lücken und Fehlern in der periodischen Kristallstruktur. Solche Fehler bilden sich in Metallen bei der Kristallisation wäh­rend des Überganges vom flüssigen in den festen Zustand. Sie werden Versetzungen (auch Dis­lokationen) genannt. Erhöht man die Belastung, so vermehren sich die Versetzungen, bis sie eine kritische Dichte erreichen und sich in Richtung der Korngrenzen in Bewegung setzen. Dies erklärt einerseits die bleibende, irreversible Eigenschaft der durch die Bewegung der Versetzun­gen erzeugten plastischen Verformungen und andererseits die Tatsache, dass solche Verformun­gen bei fast konstanter Belastung erfolgen. Verschiedene Mechanismen (Übergang von einem Korn zum nächsten durch die Korngrenze, Arretierung an KnotensteIlen, wo sich verschiedene Versetzungen treffen, oder an Bereichen mit Stapelfehlern usw.) können jedoch zu einer gewis­sen Verhinderung der freien Versetzungsbewegung führen. Dies äußert sich als Verfestigung. Zur weiteren Erzeugung und Bewegung von Versetzungen wird dann eine bestimmte Erhöhung der Belastung notwendig.

Im Folgenden werden wir einige einfache Anwendungen des elastisch-ideal plasti­schen Verhaltens nach Fig. 25.1 b illustrieren.

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25.2 Stäbe unter Zug- oder Druckbeanspruchung 277

25.2 Stäbe unter Zug- oder Druckbeanspruchung

Steigert man die axiale Belastung eines Stabes aus zähem (metallischem) Material, so wird beim Erreichen der fließgrenze lai = 0'0 der ganze gefährdete Querschnitt plas­tisch. In allen Punkten des Querschnittes entstehen dann bleibende Dehnungen. Man bezeichnet diesen Effekt auch als Fließen. Während die Relation (17.8) für die Span­nungsverteilung mit ax = 0'0 gültig bleibt, werden die auf dem Stoffgesetz der linea­ren Elastizität basierenden Beziehungen (17.9) und (17.10) unbrauchbar. Bei statisch bestimmter Lagerung kann die Belastung P nicht über den Wert Po = A 0'0 hinaus ge­steigert werden, bei dem der gefährdete Querschnitt plastisch wird, und die Längen­änderung 1&1 nimmt beim fließen ohne weiteres Anwachsen von P zu. Um den Kol­laps des Stabes durch unbeschränktes fließen zu verhindern, muss man durch Dimensionierung gemäß (17.13) oder (17.14) dafür sorgen, dass P kleiner als Po bleibt. Ist aber die Lagerung statisch unbestimmt, dann hat der Beginn des plasti­schen Flusses noch keinen Kollaps des Stabes zur Folge, da noch immer elastische Felder vorhanden sind, welche große Deformationen verhindern. Hier kann P über Po hinaus gesteigert werden, bis mit P = PK ein Wert erreicht ist, unter dem so viele Schnitte fließen, dass es zum Kollaps kommt. Man nennt PK die Kollapsbelastung und dimensioniert in solchen Fällen auf Grund der Forderung

p::;;Ik , (25.1) SK

wobei SK die Sicherheit gegen Kollaps (oder Bruch) darstellt. Die Dimensionierung nach (25.1) bedeutet im Allgemeinen nicht, dass man plasti­sche Deformationen wirklich zulässt. Wenn man nämlich den Sicherheits faktor SK nicht zu klein ansetzt, fließt das Material überhaupt nirgends oder höchstens an Stel­len, wo die Spannungen in Wirklichkeit lokal höher sind als nach unserer vereinfach­ten Rechnung anzunehmen ist. Erst die Berücksichtigung der plastischen Reserve setzt uns aber in die Lage, die wirkliche Sicherheit einer Konstruktion zu kennen.

Beispiel 1: Beim Stab von Fig. 17.8 (Seite 80) wird mit a < b, also NA > NB im elastischen Be­reich, das ganze Feld I plastisch, wenn hier

also

NA b P a=-=--=aO

Ao L Ao

L P = Po = - Ao aO

b (25.2)

wird. Da für diese Belastung das Feld 11 noch elastisch ist, kollabiert der Stab unter Po noch nicht. Vielmehr kann P noch weiter gesteigert werden, bis auch das Feld 11 plastisch wird. Dabei gilt (17.16) nicht mehr; dafür weiß man aber für elastisch-ideal plastisches Verhalten, dass

NA = Ao aO (25.3)

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278 25 Plastizität

bleibt. Nach (17.15) gilt also

NB=P-AOaO ' (25.4)

und der Kollaps tritt ein, wenn auch NB = Ao ao wird. Die Kollapsbelastung beträgt also

% = 2 A o aO (25.5)

und ist, da aus a < bauch b > L/2 folgt, größer als die Last (25.2) bei Beginn des plastischen Flusses. (Bei dieser Diskussion ist die Knickgefahr unberücksichtigt geblieben.)

DEFINITION: Wir vergleichen die Grenzlast Po, welche den Anfang plastischer De­formation charakterisiert, mit der Kollapslast PK, welche die Tragfahigkeitsgrenze der Struktur darstellt und definieren die plastische Reserve als

PK:= IX Po

Am Beispiel der Fig. 17.8 folgt aus (25.2) und (25.5)

% 2b 2b PK =-=-=-- (>1) .

Po L a+b

Die Verschiebung der Last P beträgt für P = Po gemäß (25.2)

ab ao Uo =8a=---Po =-a

EAoL E

(25.6)

(25.7)

Für Po :S P :S PK darf der bereits in Kapitel 17 angegebene Ausdruck für 8b verwendet werden, da das Feld II noch elastisch ist. Man bekommt für P = PK und NB = GO Ao

uK =-8b= GO b E

Die Verlängerung

&p =uK -uo =-8b-8a= aO (b-a) E

(25.8)

(25.9)

entspricht einer bleibenden Deformation des Feldes I und würde auch bei einer totalen Entlas­tung dieses Feldes fortbestehen. Erfolgt sofort nach Erreichen von PK eine Entlastung, so steht der ganze Stab anschließend unter einer Druckspannung aD, für die mit (25.9) und a < b

aD = &p E= aO (b-a) E= aO (b-a) <aO L EL b+a (25.10)

gilt. Bei einer nächsten Belastung tritt das fließen erst bei P> Po auf.

BEMERKUNG: Verschiebungen und Deformationen in diesem Beispiel bleiben bis zur Kollaps­last PK in derselben Größenordnung wie jene im elastischen Bereich, was man durch Vergleich von (25.7) mit (25.8) feststellen kann.

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25.2 Stäbe unter Zug- oder Druckbeanspruchung 279

Beispiel 2: Das aus den Stäben BC '" I, CD '" 2 der Länge L bestehende einfache Fachwerk von Fig. 25.2 ist statisch bestimmt. Die Eigengewichte und die Gelenkreibung in den Knoten B, C, 0 seien vernachlässigt (ideales Fachwerk). Somit tragen die Stäbe nur axiale Kräfte, welche mit Hilfe des Knotengleichgewichtes in B als

P P Nj=.fi ' N2=-.fi

bestimmt werden. Die Querschnittsflächen der Stäbe seien unterschiedlich gewählt, nämlich als A j = A l .fi, A2 = A .fi , wobei A eine gegebene Größe mit Flächendimension ist. Die Span­nungen lassen sich dann als

P P O"j = A ' 0"2 = - 2 A

berechnen. Gemäß Fig. 25 .1b beginnt die plastische Deformation, sobald die größere Spannung O"j im Stab 1 den Wert der Fließspannung erreicht, d.h. für den Lastwert

P = O"j A = 0"0 A =: Po .

Dieser entspricht zugleich der Kollapslast

PK = Po = 0"0 A .

Sobald nämlich der Stab BC gemäß dem idealisierten Spannungs-Dehnungsdiagramm von Fig. 25.1 b beliebig große Dehnungen erfahren darf, dreht sich Stab 2 ohne Deformationen um 0 bei gleich bleibender Last PK (Fig. 25.3). Die plastische Reserve ist nach (25.6)

PK =1 ,

wie für ein statisch bestimmtes Zug- und Druckproblem zu erwarten war.

p

Fig. 25.2: Statisch bestimmtes Fachwerk

B

P = 0"0 A

o

Fig. 25.3: Kollaps des Fachwerks von Fig. 25.2

Beispiel 3: Aus dem Fachwerk von Fig. 25 .2 entsteht durch Hinzufügen eines dritten Stabes Cc' '" 3 der Länge LI.fi eine einfach statisch unbestimmte Struktur (Fig. 25.4). Wir wählen die Querschnittsfläche A3 = A und den gleichen Elastizitätsmodul E für alle 3 Stäbe. Das Kno­tengleichgewicht in C ergibt nun

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-NI +N2 +P,J2 =0 ,

NI +N2 +N3 ,J2=0

25 Plastizität

(25.11)

Eine dritte Gleichung für die Unbekannten NI, N2, N3 bekommt man durch Berücksichtigung der Deformationen, für den elastischen Bereich z.B. mit Hilfe der Arbeitsgleichungen oder des Satzes von Castigliano. Man kann aber auch direkt die kinematischen Relationen und die Stoff­gleichungen aufstellen und durch Elimination die fehlende dritte Gleichung erhalten. Das letztere Verfahren ist sowohl auf elastisches als auch auf elastisch-plastisches Verhalten anwendbar und wird im Folgenden ausgeführt. Die Verschiebungen von C seien mit u, v bezeichnet; im Rahmen der linearen Approximation wird auch für elastisch-plastisches Verhalten u, v« L angenommen, so dass die Winkeländerungen, wie schon bei der Aufstellung der Gleichgewichtsbedingungen (25.1 I) geschehen, vernachlässigt werden dürfen. Die Verlängerungen der einzelnen Stäbe betragen dann

ATI=u+v u-v UL ,J2 , &2=,J2 , öL3=u , (25.12)

denn diejenige Komponente des Verschiebungsvektors (u, v), weIche zum jeweiligen Stab senk­recht steht, bewirkt in erster Approximation keine Verlängerung. Bei zunehmender Belastung entstehen zwei Phasen nacheinander: eine elastische 0 ~ P ~ Po bis zum Erreichen der Aieß­spannung 0"0 in einem der drei Stäbe und eine elastisch-plastische Po ~ P ~ PK , bei der die bei­den elastisch gebliebenen Stäbe die Zunahme der Belastung ohne erhebliche zusätzliche Defor-mation "aufnehmen" können.

u I I I

( Kollaps )

- cr2y l I / I I I I

I I P I I p:=-

1.0 I 1.2: Po

Fig. 25.4: Statisch unbestimmtes Fachwerk

Fig. 25.5: Stabspannungen in Abhängigkeit des Belas­tungsparameters

a) 0 ~ P ~ PO, elastische Phase: Mit der Stoffgleichung gemäß (17.12) bekommt man zunächst

AL' = Nj Li, . 1 2 3 Ll [ , [= " .

EAj (25.13)

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25.2 Stäbe unter Zug- oder Druckbeanspruchung 281

Setzt man dies in (25.12) ein und eliminiert u, v, so entsteht die Verträglichkeitsbeziehung

2Nj+N2-N3..n=0, (25.14)

welche zusammen mit (25.11) zu den Stabkräften

Nj = 2..n P N2 = _ 3..n P N3 =..!. P 5' 5' 5

und folglich zu den Normalspannungen

4 P 3 P O"j =5A ' 0"2 =-5A

führt. Die größte Spannung erfahrt Stab 1. Hier wird auch bei

5 P= Po =-0"0 A

4

(25.15)

(25.16)

(25.17)

zuerst die Fließgrenze erreicht. Für P > Po kann sich jedoch dieser Stab wegen seiner Verbindung in C noch nicht beliebig verlängern. Der Kollapszustand ist folglich mit Po noch nicht eingetre­ten. Die Verschiebungen uo und Vo von C bei P = Po ergeben sich aus (25.12), (25.13), (25.15) und (25.17) zu

..n 0"0 L uo=~

7..n 0"0 L Vo = 8E

b) PO:S; P :s; Ilc , elastisch plastische Phase:

(25.18)

Die Beziehungen (25.11), (25.12) bleiben hier gültig. In (25.13) muss jedoch für i = 1 statt der elastischen Stoffgleichung die aus dem Diagramm der Fig. 25.1b folgende Beziehung

A Nj=O"oAj=O"0..n (25.19)

verwendet werden; damit wird die Struktur statisch bestimmt. Die übrigen Stab kräfte folgen aus (25.11) und betragen

N2 =-p..n+O"o ~ , N3 =P-O"O A (25.20)

mit

P 4 P p:=-=---

Po 5 0"0 A (25.21)

gemäß (25.17) lassen sich die Spannungen als

O"j =0"0 , 0"2 =-0"0 (%p-~) , 0"3 =0"0 (%P-l) (25.22)

bestimmen. Die Abhängigkeit der Stabspannungen vom Belastungsparameter p ist in Fig. 25.5 graphisch dargestellt. Bei gleicher Fließspannung für Zug und Druck erreicht der zweite Stab die Fließgrenze als nächster, und die Struktur kollabiert. Der zugehörige Wert des Belastungspara­meters ist zugleich die plastische Reserve gemäß (25.6), sie folgt aus (25.22) mit 0"2 = -0"0 und beträgt

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282 25 Plastizität

6 PK =-=1.2

5

Berechnet man mit Hilfe von (25 .12), (25.13), (25.19), (25.20) und (25.21) auch die Verschie­bungen von C für P = PK und vergleicht sie mit (25 .18), also denjenigen für P = 1 (P = PO), so findet man

uK = 2 , vK = 10 :; 1.43 . Uo Vo 7

Auch bei dieser Struktur bleiben also die Deformationen bis zum Kollaps von derselben Größen­ordnung wie jene in der elastischen Phase.

25.3 Statisch bestimmte Biegeprobleme

Die Dimensionierung von statisch bestimmten Balken in spezieller Biegung geht ge­mäß (18.20) bis (18.22) und (18.27) von der Forderung aus, dass an keiner Stelle des Balkens die Fließ- bzw. Bruchgrenze erreicht werden soll. Bei zähem Material führt aber ein lokaler plastischer Fluss noch nicht zum Kollaps. Vielmehr beginnen mit dem Erreichen der Fließgrenze <Jo im gefahrdeten Querschnitt zunächst die äußersten Fasern zu fließen, und erst mit zunehmender Belastung greift das plastische Gebiet auch auf die inneren Fasern sowie auf die Nachbarquerschnitte über.

plastisch

...::: Stab .~ -----(1;

<Il "0

plastisch

Fig. 25.6: Spannungsverteilung im teilweise plastischen Querschnitt

...::: u

·E {/)

---<Il--

::§. Ö ;>

Fig.25.7: Spannungsverteilung im vollplasti­schen Querschnitt

Vernachlässigt man bei dünnen Balken in erster Näherung die Schubspannung auch in Gebieten mit teilweise plastischen Querschnitten, so gilt die kinematische Bezie­hung (18.39) (Querschnitte bleiben eben und senkrecht zur Mittellinie); dagegen ist die Normalspannungsverteilung nicht mehr durch (18.20) gegeben, und auch die Krümmung der Biegelinie folgt nicht mehr aus (18.40). Vielmehr hat die Normal­spannung in denjenigen Fasern, auf die sich das plastische Gebiet erstreckt, den kon­stanten Wert <Jo. Bei Querschnitten, welche bezüglich der Hauptachse z symmetrisch sind, bleibt diese Neutralachse auch während der elastisch-plastischen Phase erhal­ten, sofern das Materialverhalten für Zug und Druck gleich ist. Die Spannungsvertei­lung hat, solange sich ein elastischer Kern erhält, den gebrochenen Verlauf von Fig.

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25.3 Statisch bestimmte Biegeprobleme 283

25.6. Mit weiter zunehmender Belastung schrumpft der elastische Kern mehr und mehr zusammen, und sobald dieser im gefährdeten Querschnitt (Fig. 25.7) ver­schwindet, kollabiert der statisch bestimmt gelagerte Balken. Es sei Mo das Biegemoment, unter dem am Rande eines Querschnittes erstmals die Fließspannung 00 erreicht wird, und Mp dasjenige, unter dem der ganze Querschnitt plastisch wird. Ein größeres Biegemoment als Mp kann der Schnitt nicht aufnehmen; er wird unter Mp, wie man sagt, zum Fließgelenk. Das Verhältnis

fp := Mp Mo

(25.23)

stellt die Festigkeitsreserve dar, die der mit 11011.,:; 00 dimensionierte Querschnitt unter Berücksichtigung des plastischen Verhaltens besitzt. Es hängt von der Form des Querschnitts ab und wird daher als Formfaktor bezeichnet. Da bei statisch bestimm­ten Problemen das Biegemoment in einem beliebigen Schnitt proportional zur Belas­tung ist, stellt hier fp auch das Verhältnis der Kollapslast zur Belastung dar, unter der erstmals Fließen auftritt. Bei statisch bestimmten Biegeproblernen gilt also

Mp PK =fp = Mo ' (25.24)

d.h. die plastische Reserve ist gleich dem Formfaktor.

b oo.!:!...!! ---- 2

h-- • h

- 00 4"

19 ~.h 00 z -4 •

y

Fig. 25.8: Spannungsverteilung im volIplasti­schen Rechteckquerschnitt

a 0 0

oc' h =::t:::= • --, - np-- -r= E dC'c" C

Mb - no ______ I

'b~' ~

= • - E ~ =-= - 00 ==

Fig. 25.9: Verschiebung der Neutralachse bei der Plastifizierung von unsymmet­rischen Querschnitten

Beim Rechteck (Fig. 25.8) ist Wz = b h2/6 und daher nach (18.22) im elastischen Bereich

Ilall = 611Mb 11

bh2

Hieraus folgt das Moment

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284

bh2 Mo =--crO

6

25 Plastizität

für den Beginn des Aießens. Beim vollplastischen Querschnitt ist die Spannungsverteilung ei­nem Kräftepaar vom Moment

b h h b h2 Mp=crO--=--crO

2 2 4

äquivalent; der Formfaktor beträgt daher

Mp fp =-=1.5

Mo

Bei den für Beanspruchung auf Biegung besonders günstigen Profilen, bei welchen sich möglichst viel Fläche möglichst weit von der Neutralachse entfernt befindet, hat der Formfaktor einen wesentlich kleineren Wert als im letzten Beispiel. So ist für 1-Normalprofile fp ungefähr 1.15.

BEMERKUNG: Bei Querschnitten, welche bezüglich der Hauptachse z durch den Flächenmittelpunkt nicht symmetrisch sind (Fig. 25.9), verschiebt sich die Neutral­achse mit zunehmender Plastifizierung des Querschnittes. Während sie bis zum Grenzmoment

(25.25)

mit der z-Achse zusammenfällt (no = z), verschiebt sie sich bei zunehmender Querbe­lastung so, dass die Normalkraft N = 0 bleibt. Erreicht die Last den Kollapswert PK, d.h., wird das Biegemoment im gefährdeten Querschnitt gleich dem plastischen Moment Mp, so muss (damit N = 0 bleibt) die eine Hälfte des Querschnittes Zug­spannungen O"x = 0"0 und die andere Druckspannungen O"x = -0"0 aufnehmen (Fig. 25.9). Die Neutralachse np im vollplastischen Querschnitt muss folglich die Quer­schnitts fläche halbieren. Der Flächenmittelpunkt der ,,zughälfte" sei mit C' und jener der "Druckhälfte" mit C" bezeichnet. Der Spannungs verteilung im Querschnitt sind eine resultierende Zugkraft in C' vom Betrag

F=O"o A/2 (25.26)

und eine resultierende Druckkraft in C" gleichen Betrages statisch äquivalent. Das plastische Moment Mp kann als Moment des Kräftepaars {{C', E }, {C", -E }} be­rechnet werden und beträgt mit dem Abstand dc'c" zwischen C' und C"

I M p = - 0"0 A dC' c" (25.27)

2

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25.4 Statisch unbestimmte Biegeprobleme 285

25.4 Statisch unbestimmte Biegeprobleme

Die in den Abschnitten 18.5, 19.1, 19.2, 23.2 und 23.3 besprochenen Verfahren zur Ermittlung der unbekannten Lagerkräfte bei statisch unbestimmten Biegeproblemen stützen sich auf die Differentialgleichung der Biegelinie mit dem Stoffgesetz des line­ar elastischen Verhaltens. Diese Verfahren gelten folglich nicht mehr, sobald der Bal­ken bereichsweise plastisch wird, also das Biegemoment im gefährdeten Querschnitt und in seiner Umgebung das Grenzmoment Mo überschreitet. Bei weiterer Steigerung der Belastung nimmt das Biegemoment in den teilweise plastischen Querschnitten zu, bis der Schnitt mit dem größten Biegemoment unter dem Moment Mp zum Fließ­gelenk wird. Das hat bei statisch unbestimmter Lagerung noch keinen Kollaps zur Folge, da noch immer eine genügende Anzahl von Bindungen übrig bleibt. Die Belas­tung darf noch weiter erhöht werden, und dabei bleibt das Biegemoment im Fließ ge­lenk konstant, nämlich gleich Mp. Da Mp mit 00 und den Querschnittsabmessungen bekannt ist, reduziert sich der Grad der statischen Unbestimmtheit mit dem Auftreten jedes Fließ gelenkes um eins. Man hat daher nur die Verteilung der Biegemomente in Funktion der zunehmenden Belastung zu verfolgen und erhält die Traglast schließ­lich als diejenige Belastung, unter welcher sich das letzte für den Kollaps notwendige Fließgelenk bildet.

Beim Balken von Fig. 18.19 (Seite 119) ist im elastischen Bereich der Betrag des Biegemoments in den Einspannquerschnitten am größten, und zwar gilt hier (18.48). Der plastische Fluss be­ginnt in diesen beiden Schnitten, wenn

L Me =P-=MO =Wz GO

12

ist, das heißt unter der Belastung

P-R _ 12Mo - 0 - L (25.28)

Bei einer weiteren Steigerung der Belastung gilt zwar noch (18.47), alle weiteren Beziehungen werden jedoch ungültig. Da die Spannungs verteilung in den Einspannquerschnitten die Form von Fig. 25.6 annimmt, bleibt das Einspannmoment, obwohl es weiter zunimmt, hinter dem Wert (18.48) zurück. Die Einspannquerschnitte werden zu Fließgelenken, sobald die Einspann­momente den Wert

Me =Mp =fp MO (25.29)

erreichen. Von da an bleiben sie konstant, und der Balken verhält sich, wie wenn er beidseitig aufgelegt und an den Enden durch die Momente Mp zusätzlich belastet wäre. Wächst P weiter an, dann beginnt schließlich auch der Mittelquerschnitt zu fließen. In diesem Querschnitt beträgt das Biegemoment in dieser Phase nach (18.47) und (25.29)

( L) L L L Mb - =fp Mo-P-+P-=fp MO-P-<O . 2 4 8 8

Sobald auch hier der Betrag des Biegemomentes den Wert Mp erreicht, also

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286 25 Plastizität

IMb(~)I=pi-fp MO =fp MO (25.30)

wird, bildet sich ein weiteres Fließ gelenk, und damit kollabiert der Balken. Die Kollapslast be­trägt nach (25.30) und (25.28)

MO 4 ll<. =16fp-=-fp Po . L 3

Der Kollaps setzt demnach unter einer Last ein, die PK = 4 fp/3 mal so groß ist wie die Belas­tung bei Fließbeginn. Ist der Querschnitt des Balkens ein Rechteck, dann beträgt der Formfaktor nach Abschnitt 25.3 fp = 1.5; die plastische Reserve ergibt sich also als PK = 2.

BEMERKUNG (1): Bei statisch unbestimmten Biegeproblernen ist die totale plasti­sche Reserve das Produkt, gebildet aus dem Formfaktor fp des Querschnittes und aus einem Faktor s, der die statisch unbestimmte Lagerung charakterisiert. Man schreibt allgemein

PK =s fp . (25.31)

Am Beispiel der Fig. 18.19 ist, wie oben dargelegt, s = 4/3 .

BEMERKUNG (2): Bildet sich ein Fließgelenk an einem Querschnitt einer statisch unbestimmten Struktur (mit IMbl = Mp), ohne dass der Kollapszustand eintritt, so können bei einer weiteren Zunahme der Belastung wegen Spannungsumlagerungen die teilweise plastifizierten Nachbarquerschnitte zum Teil elastisch entlastet werden.

PlaSliscli Fl iessgelenk

Plastisch

Mp

Fig. 25.10: Elastische Entlastung in der Nähe der Einspannstellen trotz Zunahme der Belastung

Am Beispiel der Fig. 18.19 tritt eine solche Entlastung in der Nähe der Einspannquerschnitte auf. Bei einer weiteren Belastung über Zustand (a) hinaus muss das Biegemoment in der Mitte des Balkens absolut zunehmen (Fig. 25.10). Dazu ist aber bei konstant bleibendem, vollplasti­schem Einspannmoment Me = Mp eine Abnahme des Biegemomentes in der Nähe der Ein-

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25.5 Fließbedingungen im räumlichen Spannungszustand 287

spannstellen (nicht aber an der Einspannung selbst) notwendig. Diese Abnahme wird aus dem Vergleich der Zustände (a) und (b) in Fig. 25.10 ersichtlich.

25.5 FIießbedingungen im räumlichen Spannungszustand

Bei den bisher betrachteten Anwendungen mit durchweg einachsigem Spannungszu­stand ist das Kriterium für den Beginn der plastischen Deformationen gemäß Dia­gramm von Fig. 25.1 b die Fließbedingung IO'xl = 0'0 gewesen, welche auch in der Form

(25.32)

geschrieben werden kann. Die damit definierte Funktion <l>(O'x) heißt Fließfunktion. Solange <l>(O'x) < 0 bleibt, deformiert sich der Werkstoff im entsprechenden materiel­len Punkt elastisch. Die Verallgemeinerung von (25.32) auf räumliche Spannungszustände liegt auf der Hand: <I> wird als Funktion von allen 6 unabhängigen Spannungskomponenten im betreffenden materiellen Punkt aufgefasst. Fließ funktion und Fließ bedingung werden damit formell

<1>( O'x , O'Y' O'z, 'txy , 'tyz , 'tzxJ < 0 ~ elastisch (25.33)

geschrieben. Statt der 6 Spannungskomponenten können als unabhängige Variablen auch die drei Hauptspannungen 0'1, 0'2, 0'3 und die zugehörigen Einheitsvektoren ~I, ~, ~3 der Hauptrichtungen im betrachteten materiellen Punkt verwendet werden (sie­he Abschnitt 15.6). Ist der betrachtete Körper isotrop, d.h., sind seine Materialeigen­schaften (zumindest in erster Näherung) richtungsunabhängig, so hängt die Fließ­funktion <I> nicht von den Hauptrichtungen ~I, ~, ~3 ab. Somit vereinfacht sich (25.33) für isotrope Körper zu

<I>(O'j, 0'2, 0'3) <0 ~ elastisch

<1>( 0'1, 0'2, 0'3) = 0 ~ plastisch (25.34)

Die Fließbedingung <I> = 0 lässt sich in einem Hauptspaunungsraum H3 mit den Achsen O'!, 0'2, 0'3 als Gleichung einer Fläche SF veranschaulichen (Fig. 25.11). Die­se Fließfläche für isotropes Verhalten besitzt wegen der Symmetrie bezüglich ±O'l, ±O'2, ±O'3 eine mindestens sechsfache Symmetrie um die Raumdiagonale 0'1 = 0'2 = 0'3. Der Spannungszustand in einem beliebigen materiellen Punkt eines belasteten Körpers lässt sich durch einen Bildpunkt Q mit den Hauptspannungskoordinaten in H3 darstellen. Liegt der Bildpunkt (Q in Fig. 25.11) innerhalb der Fließfläche SF, so verhält sich der Körper elastisch; erreicht Q die Fließfläche, so deformiert sich der

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288 25 Plastizität

Körper plastisch. Die Fließfläche schneidet die Achsen 0"1, 0"2, 0"3 in H3, der einach­sigen Fließbedingung (25.32) entsprechend, im Abstand 0"0 vom Ursprung.

Fig.25.11: Fließfläche eines isotropen Werkstoffes im Hauptspannungsraum

a) Trescasche Fließbedingung

Die genaue Gestalt der Fließfläche eines spezifischen Materials kann aus geeigneten Versuchen mit ebenen oder räumlichen Spannungszuständen bestimmt werden. Bei Metallen zeigen die Versuche, dass die Fließ fläche kaum vom hydrostatischen Span­nungsanteil O"r /3 = (0"\ + 0"2 + 0"3) /3 abhängt. Mit anderen Worten: Metalle lassen sich mit hydrostatischen Spannungszuständen 0"\ = 0"2 = 0"3 praktisch nicht plastisch deformieren. In diesem Fall darf die Fließfläche SF die Raumdiagonale 0"1 = 0"2 = 0"3 nicht schneiden, sie hat also die Gestalt eines Zylinders (oder Prismas) um die Raumdiagonale mit mindestens sechsfach symmetrischem Querschnitt. Ein reguläres Sechseckprisma mit Leitgeraden parallel zur Raumdiagonalen und mit den Seitenflächen

0"1-0"2±O"O=O , 0"2-0"3±O"O=O '0"3-0"1±O"O=O (25.35)

ergäbe eine mögliche Fließ fläche (Fig. 25.12). Die Fließ bedingung (25.35) kann mit Hilfe von (15.59) physikalisch interpretiert werden. Ihr zufolge tritt in einem materiel­len Punkt plastisches Fließen dann ein, wenn die größte Schubspannung einen be­stimmten Wert 'Co erreicht, mithin

'Cmax = 'Co (25.36)

ist. Da beim einachsigen Spannungszustand (Fig. 15.19, Seite 37) 'Cmax = 10"11/2 ist, lässt sich 'Co mit

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25.5 Fließbedingungen im räumlichen Spannungszustand

Cio 1:0=-

2

289

(25.37)

auf die Fließgrenze Cio bei einachsigem Zug zurückführen, und die Bedingung (25.35) lautet somit

Cio 1:max =-

2 (25.38)

Fig. 25.12: Reguläres Sechseckprisma als F1ießbedingung von Tresca

Diese Fließhypothese der größten Schubspannung wurde zum ersten Mal von Tresca (1868) formuliert; wir nennen sie deshalb auch Trescasche Fließ bedingung. Für den ebenen Spaunungszustand (Ci3 = 0) reduziert sich (25.35) oder (25.38) auf

Max(ICill,ICi21,ICil-Ci21)-CiO =0 . (25.39)

Diese Bedingung lässt sich in der Ebene Cil, Ci2 (Fig. 25.13) durch ein Sechseck (ebe­ner Schnitt Ci3 = 0 durch das Prisma der Fig. 25.12) darstellen. Jeder Spannungs zu­stand, unter dem sich das Material noch elastisch verhält, wird durch einen Punkt Q im Inneren des Sechsecks dargestellt, und mit zunehmender Belastung kommt es zum plastischen Fluss des Materials, wenn der Bildpunkt Q den Rand erreicht. Für den einachsigen Spannungszustand (Ci2 = Ci3 = 0) reduziert sich (25.39) erwar­tungsgemäß auf die Bedingung 1Cill- Cio = O.

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290 25 Plastizität

Fig. 25.13: Die Fließbedingung von Tresca im ebenen Spannungszustand

b) Von Misessehe Fließbedingung

Eine weitere mögliche Fließfläche für isotrope Metalle wäre ein einfacher Kreiszylin­der im Hauptspannungsraum H3 mit der Raumdiagonalen als Achse (Fig. 25.14).

0"0

/ /

/ / o

/ /

/

/ /

/ /

/

Fig. 25.14: Der von Misessehe Kreiszylinder als Fließfläche für Metalle

Die Gleichung eines solchen Kreiszylinders ist

(0"1)2 +(0"2)2 +(0"3)2 -0"10"2 -0"20"3 -0"30"1-(0"0)2 =0

Sie kann auch mit Hilfe von O"r := 0"1 + 0"2 + 0"3 in der Form

(25.40)

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25.5 Fließbedingungen im räumlichen Spannungszustand 29\

( 1 )2 ( 1)2 ( 1)2 2 2 cr\-"3crI + cr2-"3cr\ + cr3-"3crI -"3(crO) =0 (25.41)

geschrieben werden. Die Ausdrücke in den Klammem entsprechen den Hauptwerten des Spannungsdeviators }:D (siehe Abschnitte 17.4 und 22.6), und die Summe der drei Quadrate ergibt gemäß (22.48) die doppelte zweite Grundinvariante von }:D. Wir bekommen also aus (25.41): -

D I 2 Tu -"3(cro) =0 (25.42)

und wegen (22.49)

6GUO-(crO)2=0 (25.43)

Gemäß (25.43) tritt in einem materiellen Punkt plastisches Fließen dann ~in, wenn die in (22.47) definierte Verzerrungsenergie der Gestaltänderung Uo einen Grenzwert (cro)2/6G erreicht hat. Die Fließ bedingung (25.40) und ihre gleichwerti­gen Formen (25.41), (25.42) oder (25.43) wurden unabhängig voneinander von Maxwell (im Spezialfall des ebenen Spannungszustandes), Huber, Hencky und von Mises formuliert. Heute wird sie von Misessehe Fließbedingung genannt. Für den ebenen Spannungszustand reduziert sich (25.40) auf

(cr\)2 + (cr2)2 -crl cr2 _(crO)2 =0 . (25.44)

Diese Bedingung entspricht in der Ebene crl, cr2 (Fig. 25.15) einer Ellipse (Schnittel­lipse des ebenen Schnittes cr3 = 0 durch den Kreiszylinder der Fig. 25.14), die dem Sechseck von Fig. 25.13 umschrieben ist.

Fig. 25.15: Die von Misessche fließ bedingung im ebenen Spannungszustand

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292 25 Plastizität

Sowohl die Trescasche als auch die von Misessche Fließ bedingung werden in der Praxis mit Erfolg verwendet. Bei numerischen Anwendungen (mit standardisierten Computerprogrammen) zieht man wegen ihrer Differenzierbarkeit die von Misessche Fließbedingung (25.40) vor. Man führt dabei den Begriff der Vergleichsspannung

[ 2 2 2 J1/ 2 <Jy:= (<J1) + (<J2) +(<J3) -<J1 <J2 -<J2 <J3 -<J3 <J1 (25.45)

ein und errechnet mit den jeweiligen Spannungswerten in den kritischen Punkten auch <Jy. Plastische Deformation wäre dann zu erwarten, wenn gemäß (25.40) <Jy = <Jo wird. Damit lässt sich ein etwaiges Überschreiten des Grenzwertes <Jy bei der betreffenden Konstruktion kontrollieren und durch geeignete Maßnahmen ver­meiden. Bei Umformproblemen hingegen müsste an allen plastisch zu deformierenden Stellen <Jy = <Jo gewährleistet werden. Wir erinnern daran, dass sich die hier eingeführten Begriffe auf das idealisierte Dia­gramm von Fig. 25.lb stützen. Die Erhöhung der Fließgrenze bei zunehmender plas­tischer Deformation (statische Verfestigung, im einachsigen Zustand darstellbar durch das linearisierte Diagramm von Fig. 25.la) oder bei hohen Dehnungsge­schwindigkeiten (dynamische Verfestigung), unterschiedliche Zug- und Druckver­halten und andere Phänomene lassen das plastische Verhalten der Metalle erheblich komplexer erscheinen. Dennoch ergibt die hier besprochene idealisierte Theorie bei vielen Anwendungen befriedigende Übereinstimmung von Berechnung und Experi­ment.

Aufgaben

1. Man berechne die Kollapslast PK für die Aufgabe 3, Kapitel 17, Fig. 17.18 (Seite 98).

Fig.25.16

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26.1 Spannungskonzentration um ein Kreisloch 293

2. Man ermittle den Formfaktor fp für die drei Querschnitte der Fig. 25.16. 3. Man ermittle die Kollapslast PK für die Aufgabe 5, Kapitel 18, Fig. 18.27 (Seite

124).

26 Bruchmechanische Grundlagen

Feste Werkstoffe weisen in ihren mikrostrukturelIen Gefügen Fehler wie Lücken, Lö­cher, Mikrorisse auf, die selbst bei hoch perfektionierten Herstellungsprozessen, so­wohl bei amorphem Aufbau (Glas, viele Kunststoffe) als auch bei Werkstoffen mit Korn- und/oder Kristallstruktur (Metalle, viele Keramikarten), unvermeidlich sind. Wie schon in Abschnitt 17.1 dargelegt, vergrößern sich diese Fehler im Mikromaß­stab unter monoton zunehmender oder unter zyklischer Belastung (Ermüdung) und führen schließlich zum katastrophalen Versagen des entsprechenden Tragwerkes. Das Verständnis der Phänomene, die zur Vergrößerung eines mikrostrukturelIen Feh­lers durch Vernichtung der entsprechenden molekularen Bindungen beitragen, ist bei der sinnvollen Voraussage der Belastbarkeitsgrenze oder der Lebensdauer eines Ma­schinenteils oder eines Bauwerkes unabdingbar. Die Bruchmechanik versucht als Teilgebiet der Mechanik deformierbarer Körper, unter Zuhilfenahme kontinuums me­chanischer Grundlagen, einen Weg zu einem solchen Verständnis aufzubauen. Im vorliegenden Kapitel werden nur die allernötigsten Begriffsbildungen der Bruchme­chanik dargelegt. Für eine weiter gehende Vertiefung sei der Leser auf die entspre­chenden spezifischen Monographien verwiesen (siehe z.B. vertiefende Literatur zu Kapitel 26).

26.1 Spannungskonzentration um ein Kreisloch

Man betrachte eine dünne Scheibe mit einem Kreisloch, dessen Radius R im Ver­gleich zu den Scheibendimensionen so klein ist, dass die Scheibe als "unendlich" lang und breit aufgefasst werden kann (Fig. 26.1). Sie soll im "Unendlichen", d.h. am entsprechenden Rand, einachsig durch gleichmäßig verteilte Normalspannungen

(Jy(x, y ~ ± 00) = (J = konstant in x (26.1)

in y-Richtung belastet werden.