Thaipusam in Malaysia: A Hindu Festival in the Tamil Diaspora
Exil und Diaspora 2002 - pthv.de · M. Gruber: Exil und Diaspora 2 Wenn man die biblische...
Transcript of Exil und Diaspora 2002 - pthv.de · M. Gruber: Exil und Diaspora 2 Wenn man die biblische...
DER DUFT DER UMGESTÜRZTEN PARFÜMFLASCHE
Exil und Diaspora - biblische Paradigmen von Krise und Neubeginn
Sr. Dr. Margareta Gruber OSF
In: K. Schaupp, C.E. Kunz (Hgg.), Erneuerung oder Neugründung? Wie Orden und kirchliche Gemeinschaften lebendig bleiben können, Mainz 2002, 72-87.
1. IN DER WÜSTE GEBOREN
„Wir sind in der Wüste geboren“, sagte mir vor einiger Zeit eine
Mitschwester, mit der ich vor 14 Jahren das Noviziat begonnen habe. Seit
wir im Kloster sind, sprechen wir von der „Erneuerung“ des Ordenslebens.
Wir sind natürlich nicht die ersten. Wenn man den Schwestern zuhört, die
um 1960 eingetreten sind, die uns also geprägt haben, so erzählen diese von
dem großen Elan, der den nachkonziliaren Aufbruch geprägt hat. Die
Widerstände müssen groß gewesen sein, entsprechend auch die
gewonnenen Schritte der Erneuerung. Die Stürme und „Erfolge“ dieser Zeit
eines „Exodus“ aus alten Klosterbildern prägten bewusst oder unbewusst
das, was wir uns unter „Erneuerung“ vorstellten – unterstützt natürlich
durch den ungeduldigen Idealismus der Anfänger.
Exodus – Auszug. Ich denke, der Pastoraltheologe Rolf Zerfaß hat recht,
wenn er das Leitbild der Kirche in den 60er und 70er Jahren diesem
biblischen Paradigma zuordnet1. Die „spirituelle Schlüsselmetapher“ des
Konzils, Volk Gottes auf dem Weg, hatte für die meisten Christen in dieser
Zeit den Geschmack des Auszugs und dynamischen Aufbruchs in eine von
Gott zugesagte große Verheißung hinein. Das war in den Klöstern nicht
anders.
M. Gruber: Exil und Diaspora
2
Wenn man die biblische Exodus-Geschichte weiter liest, folgen auf die
dramatischen Exodus-Erfahrungen Israels jedoch bald andere: die Zeit wird
lang, das Volk kommt in der Wüste nur langsam voran und wird müde, das
Ziel ist noch nicht in Sicht, während gleichzeitig der Kontakt zur Ur-
Erfahrung schwindet. Die Ungleichzeitigkeit der Exodus-Truppe äußert
sich in Ungeduld, Uneinigkeit und Murren; das Volk des Auszugs und
diejenigen, die bereits „in der Wüste geboren sind“, müssen lernen, ihre
Schlüsselerfahrung „Volk Gottes auf dem Weg“ neu zu buchstabieren und
die Zeit der Wüstenwanderung in ihre Exoduserfahrung zu integrieren.
2. EXODUS IN DIE ZERSTREUUNG
Doch kennt die Geschichte Israels nicht nur diesen ersten Auszug des
Volkes aus dem Sklavenhaus Ägypten. Es folgt später das, was die
hebräische Bibel gola oder galut nennt, Gefangenschaft, Deportation und
Vertreibung: Israels Weg ins Exil, aus dem gelobten Land in die
Gefangenschaft Babylons. Die Wüstenzeit, die diesem Exodus folgt, ist das
Leben im Exil, der erzwungene Aufenthalt im Feindesland. Im Laufe der
Zeit wird daraus das Leben als Fremde in der „Zerstreuung“, in der
Diaspora.
Zerfaß fragt, ob nicht diese Wegstrecke des Gottesvolkes dem Weg der
Kirche – und der Orden – in den 80er und 90er Jahren mit ihren Irritationen
und Enttäuschungen besser entspricht als der erfolgreiche Exodus. Haben
wir die Metapher vom Volk Gottes auf dem Weg bisher nur halb
verstanden? „Wir haben uns nur die Erfolgsgeschichte Israels zu eigen
gemacht, .. nicht aber seinen Abstieg in die Zerstreuung unter die fremden
M. Gruber: Exil und Diaspora
3
Völker, in die Zumutung einer Existenz als Minderheit inmitten fremder
Kulturen.“2
Um es im Sinn der Themenstellung dieses Bandes vorweg zu nehmen:
Wenn man den Exodus und die Wüstenzeit als die Zeit der „Gründung“ -
Founding – Israels betrachten kann, so ist in Exil und Diaspora Israels
„Refounding“ – seine Wiedergründung – geschehen. Im poetischen
Hoffnungsbild eines Midrasch aus der Diaspora: Israel ist wie eine
Parfümflasche, die umgefallen ist und gerade dadurch ihren Duft
verbreitet3. Deshalb dürfte Ordensleute und Mitglieder geistlicher
Gemeinschaften das neue Paradigma nicht erschrecken, sondern wir sollten
genau hinschauen, um im Licht der Erfahrungen Israels unseren eigenen
Weg in dieser Zeit besser zu verstehen. Dem sollen die folgenden
Überlegungen dienen. Nach einem kurzen Blick auf die Geschichte Israels
in Exil und die Diaspora (Kap. 3) soll untersucht werden, wie Israel mit
diesen Erfahrungen umgegangen ist (Kap 4). Es werden sich sehr
unterschiedliche Antworten zeigen. Welche Grundvoraussetzungen und –
vorgänge für den Prozess einer Neu- oder besser Wiedergründung lassen
sich daraus erkennen (Kap. 5)? Mit den biblischen Paradigmen „Exil“ und
„Diaspora“ werden damit die biblischen Grundlagen für die in diesem
Band vorgestellte und diskutierte Refounding-Theorie als Weg durch die
Krise in einen Neubeginn vorgestellt.
M. Gruber: Exil und Diaspora
4
3. EXIL UND DIASPORA – DIE URSPÜNGLICHSTE RELIGIÖSE
ERFAHRUNG ISRAELS
Als die „möglicherweise ursprünglichste religiöse Vorstellung des
Judentums“ bezeichnet der jüdische Philosoph und Historiker P. Mendes-
Flohr das Exil.4 Des Judentums, wohlgemerkt; dies sei ausdrücklich
vorangestellt, denn die mit den Stichworten Exil und Diaspora, Verfolgung,
Verschleppung, Zerstreuung und Leben als Minderheit verbundenen
Leidenserfahrungen sind primär die des jüdischen Volkes5. Das biblische
Paradigma, Israel zwischen Exil und Rückkehr, ist zur existentiellen
Standortbestimmung des jüdischen Volkes geworden.6
Exil und Diaspora werden oft in einem Atemzug genannt, sind jedoch nicht
identisch, sondern bezeichnen zwei sehr verschiedene geschichtliche und
kulturelle Standorte. Die begriffliche Unterscheidung ist mit dem
griechischen Wort Diaspora – „Verstreuung, Zerstreuung, Auflösung“
(diaspora) - erst in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments
greifbar, der Septuaginta, die im ägyptischen Alexandria im 2. Jahrhundert
v. Chr. entstand und selber eine der größten Leistungen der jüdischen
Diaspora ist. Die Periode des Exils, der Gefangenschaft, die mit der
Eroberung Jerusalems 587 v. Chr. begonnen hatte, ist längst vorbei. Nach
dem Rückkehredikt des Königs Kyros 538 v. Chr. waren viele der
Verschleppten wieder heimgekehrt und hatten mit dem Wiederaufbau des
zerstörten Tempels und der Neuordnung der jüdischen Gesellschaft
begonnen. Viele Juden blieben jedoch sowohl in Mesopotamien als auch in
Ägypten, wohin sie nach dem Untergang des Südreiches ausgewandert
waren, und so entwickelte sich sowohl in Babylonien als auch in Ägypten
M. Gruber: Exil und Diaspora
5
eine jüdische „Diaspora“, ein Leben in der „Zerstreuung“. Aus dem Exil,
der Verschleppung und dem erzwungenen Aufenthalt im Land der Eroberer
bzw. im ägyptischen Asyl, ist ein Leben in der Diaspora geworden, der
freiwillige Aufenthalt als ethnische und religiöse Minderheit außerhalb des
gelobten Landes. Zur Zeit Jesu gab es fast in allen großen Städten der
römischen Ökumene jüdische Diasporagruppen. Nach der zweiten
Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahre 70 n. Chr. boten diese
Gemeinden die erste Infrastruktur für die nun abermals versprengten Juden,
für die das neuerliche Exil und die sich daraus entwickelnde Diaspora zur
vorherrschenden Lebensform wird bis zur Gründung des jüdischen Staates
1948.
Zusammenfassend lässt sich zur Unterscheidung von Exil und Diaspora in
der biblischen Literatur sagen: Das Exil kann nur ein vorübergehender
Aufenthalt sein, selbst wenn es auf Dauer gelebt werden muss; Exil ist mit
Verfolgung und Bedrohung der Existenz verbunden. In der Diaspora
dagegen ist das Leben auf Dauer eingestellt. Das Leben im Exil bedeutet
Sehnsucht nach Rückkehr in die verlorene Heimat. Diaspora heißt:
Einwurzeln in der Fremde und darin die eigene religiöse Identität
bewahren.
4. BIBLISCHE ANTWORTEN AUF EXIL UND DIASPORA
Exil und Diaspora werden Israels großen Lernorte des Glaubens. „Jeder
Satz des AT darf daraufhin befragt werden, was er Menschen unter
Verhältnissen zu sagen hat, in denen alles gegen Gott spricht.“7 Krise und
Neubeginn ist ein, wenn nicht das Hauptthema das Alten Testaments. Die
M. Gruber: Exil und Diaspora
6
wesentliche Arbeit am hebräischen Kanon geschah nach dem Exil und ist
damit bereits eine Verarbeitung dieser Schlüsselerfahrung Israels. Der
Pentateuch, der Kern der hebräischen Bibel, gegen 400 v. Chr. vollendet,
stellt die vorexilischen Erfahrungen Israels in den Rahmen zwischen Exil
in Ägypten und Rückkehr ins Gelobte Land und macht damit „die
Spannung von Exil und Rückkehr im vollen Wortsinn kanonisch.“8 Die
jüdische Tora enthält damit das Lebensparadigma, in dem auch der Jude
Jesus von Nazareth aufgewachsen ist.
Welche Antworten auf den nationalen und religiösen Zusammenbruch
finden sich in den Schriften des Alten Testaments? Kann man die Prozesse
nachzeichnen, die zu Israels „Wiedergründung“ im Exil führten? Zwei
Grundmodelle lassen sich unterscheiden, in denen sich die beiden
Standorte Exil und Diaspora spiegeln und damit auch verschiedene
geschichtliche Phasen des Neugründungsprozesses: Die
„Wurzelbehandlung“ geschieht durch die großen Propheten im Exil und in
der Geschichtstheologie des nachexilischen deuteronomistischen
Geschichtswerks9. Hier wird die Katastrophe Israels auf die Frage nach
Gottes Handeln in Gericht und Neubeginn konzentriert (Kap. 4.1). Die
spätere Theologie und Spiritualität der Diaspora dagegen zeigt die Chancen
und auch Risiken kultureller Einwurzelung in die Fremde, sowie die
Möglichkeiten und Grenzen ihrer theologischen Integration (Kap. 4.2).
Ich möchte beide Antworten an exemplarischen Texten verdeutlichen:
M. Gruber: Exil und Diaspora
7
4.1 GOTTES HANDELN IN GERICHT UND NEUBEGINN: DIE
ANTWORT DES EXILS
Die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die babylonischen
Truppen Nebukadnezzars 587 v. Chr. bedeutete das Scheitern Israels als
Staat und als Glaubensgemeinschaft. Die Israeliten verloren ihr gelobtes
Land und ihren König; Zidkija wurde als Geblendeter weggeführt,
nachdem er noch die Hinrichtung seiner Söhne mit ansehen musste (2 Kön
25,7). Die Besiegten verloren auch den Tempel, den Ort der Gegenwart
Gottes, und mit ihm ihren Kult und die Priesterschaft, die als geistige Elite
ebenfalls verschleppt wurde. Im babylonischen Exil waren sie als
Minderheit einer Kultur ausgesetzt, die hoch entwickelt und attraktiv war,
auch in kultisch-religiöser Hinsicht. Den Geschlagenen und Heimatlosen
drohte jetzt der stärkste Verlust: hatte die Niederlage nicht die
Unterlegenheit JHWHs unter die babylonischen Götter bewiesen? Für die
Exulanten stand ihre religiöse Identität auf dem Spiel.
Diese Frage auf Leben und Tod hat eine gewaltige Glaubensleistung
provoziert: Israel, das bis dahin prinzipiell zwar nur JHWH verehrt, aber
durchaus mit der Existenz auch anderer Götter gerechnet hatte
(Monolatrie), stößt im Exil zum eigentlichen israelitischen Monotheismus
durch. Die Antwort auf die religiöse Bedrohung ist also radikal und
aggressiv: Die Götter, die stärker als JHWH scheinen mussten, sind nicht
nur nicht stärker als JHWH; sie sind in Wirklichkeit „Nichtse“:
„JHWH ist der Gott. Keiner sonst ist (Gott) außer ihm“ (Dtn 4,35).
Die andere Seite dieses radikalen Monotheismus ist die ebenso radikale
Konfrontation mit der eigenen Sündhaftigkeit: Das Exil ist ein
Gottesgericht, ist die Strafe Gottes für Israels generationenlange Untreue.
M. Gruber: Exil und Diaspora
8
Dtn 1-4 ist eine im Exil entstandene rückblickende Zusammenfassung der
Geschichte Israels von der Gottesoffenbarung am Sinai bis an die Schwelle
des gelobten Landes, die dem Mose in den Mund gelegt ist. Dort wird
Israel androht, was mit dem Exil eingetreten war, und dieses dadurch
erklärt:
„Wenn ihr also tut, was in den Augen des Herrn böse ist ... dann
werdet ihr unverzüglich aus dem Land ausgetilgt sein, in das ihr jetzt
über den Jordan zieht, um es in Besitz zu nehmen. Nicht lange werdet
ihr darin leben. Ihr werdet vernichtet werden. Der Herr wir euch
unter die Völker zerstreuen“ (Dtn 4,25-27).
JHWH ist „ein verzehrendes Feuer und ein eifersüchtiger Gott“ (Dtn 4,24).
Seine Eifersucht wird, so die deuteronomistische Theologie, nur durch die
Umkehr Israels zu ihm, dem einzigen Gott, überwunden, theologisch
gesprochen, durch den Durchstoß zum Monotheismus. Daran knüpft sich
auch die Hoffnung auf Vergebung und Neuanfang:
„In späteren Tagen wirst du zum Herrn, deinem Gott zurückkehren
und auf seine Stimme hören. Denn JHWH, dein Gott, ist ein
barmherziger Gott. Er lässt dich nicht fallen und gibt dich nicht dem
Verderben preis ...“ (Dtn 4,30f).
Der spätexilische Prophet Deuterojesaja bringt eine Botschaft des Trostes
für das Volk, das die Krise in die Umkehr geführt hat und nun neu auf das
Wirken JHWHs hofft. Er verkündet, dass Israel die „volle Strafe“ aus der
Hand des Herrn erlitten hat und das Ende des Frondienstes gekommen ist
(Jes 40,2). Die Heimkehr der Verschleppten nach Jerusalem übertrifft sogar
den Exodus; kein hastiger Aufbruch, sondern eine feierliche Prozession, an
deren Beginn und Ende JHWH selbst geht (Jes 52,1.12).
Deuterojesaja ist jedoch nicht nur der große Prophet der Heimkehr, sondern
ein Verkünder des konsequentesten Monotheismus (Jes 41,4.23f. 27-29;
M. Gruber: Exil und Diaspora
9
43,10-13; 44,6.8: 46,9). Er formuliert einen Spitzensatz, der so nur aus der
Situation des Exils verständlich ist, das vor dem „Alles oder Nichts“ in der
Gottesfrage stand: Wenn JHWH der einzige Gott überhaupt ist, der die
Weltgeschichte in der Hand hat, so dass er sogar den persischen König
Kyros wie ein Werkzeug behandeln kann (Jes 45,1-6), dann muss er auch
für alles andere, für das Schädliche, ja, für das Unheil zuständig und
verantwortlich sein:
„Ich bin JHWH, und keiner sonst, der gebildet hat das Licht und
erschaffen hat die Finsternis, der gemacht hat das Heil und
erschaffen hat Unheil. Ich bin JHWH, der gemacht hat all dies.“ (Jes
45,5-7)10
Um der Einzigkeit seines Gottes willen nimmt es der Prophet in Kauf,
selbst Finsternis und Unheil mit seinem Gott zusammenzubringen. Ob
damit auch das mit dem Exil und seinen Folgen verbundene Unheil,
insofern es sich nicht mit der Schuld Israels verrechnen lässt, gemeint ist,
vermag ich nicht zu sagen. Hier die Theodizeefrage anzusetzen wäre wohl
zu weit gegangen. Beeindruckend ist jedoch die Kompromisslosigkeit, mit
der der Prophet fähig ist, für das unbedingte Festhalten an der Allmacht
JHWHs unlösbare Spannungen in seiner Gotteserfahrung auszuhalten und
ins Wort zu bringen. Jesaja und damit Israel, das den Text in seine Heilige
Schrift aufnahm, hat lieber in Kauf genommen, dass JHWH selber
ursächlich für sein, des Volkes Versagen, verantwortlich zu machen sei und
auch darin noch wirke, als die Hoheit seines Gottes angesichts des
Scheiterns Gottes mit Israel preiszugeben.
Als letzte Stimme aus der Zeit des Exils möchte ich den Propheten Jeremia
nennen. Sein Leben zeigt in besonderer Weise, wie sich die Krise des
Gottesvolkes in einer prophetischen Existenz niederschlägt. Es war der
prophetische Auftrag und das Lebensschicksal des Propheten Jeremia,
M. Gruber: Exil und Diaspora
10
mitten in Jerusalem und unter seinem Volk die Situation eines isolierten
Exulanten in gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Randposition an
seinem eigenen Leib vorweg zu erleiden. Auf JHWHs Verfügung hin darf
er weder heiraten noch sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen. JHWH
verbietet ihm sogar die prophetische Fürbitte für sein Volk (er wird
sozusagen von Gott „suspendiert“: Jer 7,17; 11,14; 14,11). Er muss die
Sanktionen, mit denen Familie und Gesellschaft einen Außenseiter
bestrafen, ertragen (11,21-23; 12,6) und auch seine eigene bittere Reaktion
darauf:
„Ich sitze nicht heiter im Kreis der Fröhlichen; von deiner Hand
gepackt, sitze ich einsam; denn du hast mich mit Groll angefüllt“
(Jer 15,17).
Damit sollte er noch vor dem Eintritt der Katastrophe Israel das kommende
Gericht zeichenhaft vor Augen stellen. Es gehört zur bitteren Ironie im
Jeremiabuch, dass die Authentizität seiner Prophetie vom Eroberer
Nebukadnezzar honoriert wird – auf den Trümmern Jerusalems (Jer 39)!
Prophet zu sein in der Situation der Krise bedeutet für Jeremia, eine ihm
von Gott aufgetragene und aufgebürdete Lebenssituation auszuhalten, und
zu akzeptieren, dass er selber von JHWH ergriffen und zum Zeichen der
Krise gemacht wird, durch die Gott prophetisch zum Volk sprechen will.
Später hat sich Israel auch als Ganzes mit dem prophetische
Leidensgeschick identifiziert und die Lieder vom Gottesknecht, die
ursprünglich wohl den Propheten Deuterojesaja selbst meinten, auf sich als
Volk bezogen. So findet das Exilsleiden eine positive Sinngebung und wird
zur Aufgabe an den Völkern: Israel hat stellvertretend für die Sünden aller
gelitten (Jes 52,13-53,12) und wird nun von Gott zum Licht für die Völker
(Jes 42,6; 49,6) und zum Mittler seines Heilshandelns an der Menschheit
(Jes 42,6; 49,8).
M. Gruber: Exil und Diaspora
11
4.2 BEWAHRUNG DER IDENTITÄT UND THEOLOGISCHE
INTEGRATION DES FREMDEN: DIE ANTWORT DER DIASPORA
Jeremia ist nicht mit ins Exil gezogen, sondern blieb bei den
Zurückgebliebenen im zerstörten Jerusalem. Von dort schrieb er an die
Verschleppten vor 597 v. Chr. einen Brief, der als revolutionäre „Magna
Charta des Exils“11 bezeichnet werden kann. Jeremia stimmt kein Klage-
oder Protestlied an, sondern legt hier, kurz nach Beginn des Exils, bereits
die Grundlagen einer künftigen Diasporaexistenz:
„Baut Häuser, um darin zu wohnen, und pflanzt Gärten an, um ihre
Früchte zu essen! Nehmt Frauen, um Söhne und Töchter zu zeugen,
und nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern,
damit sie Söhne und Töchter gebären, und vermehrt euch dort, damit
ihr nicht weniger werdet. Und bittet für das Wohl der Stadt, in die
ich euch exiliert habe, und betet für sie zu Jahwe; denn in ihrem
Wohl liegt euer Wohl“ (Jer 29,5-7)12
Weder Ghetto noch Aufstand noch Flucht ist die Devise, sondern
Einwurzelung, Existenzgründung in der Fremde durch Hausbau und Heirat.
Gerade der Aufruf des Propheten, in der Fremde nun auch zu heiraten, wird
von einigen so ausgelegt, dass Jeremia hier zur Einwurzelung bis hin zur
Vermischung mit den Söhnen und Töchtern des anderen Volkes aufrufe.13
Diese für israelitische Ohren skandalöse Aufforderung ist nicht Ergebnis
seiner Resignation oder Angst um das biologische Fortbestehen des
Volkes, sondern Konsequenz seines Glaubens an die Universalität JHWHs,
der „als Weltschöpfer und Weltbeherrscher an keine nationalen Grenzen
mehr gebunden“ ist, sodass auch die Grenzen auf der Erde aufgehoben
sind.14 Deshalb ist auch das Land der Verschleppung ein Land, in dem die
M. Gruber: Exil und Diaspora
12
Fülle des Lebens zu erwarten ist, und wo JHWH die Gebete erhört, weil er
nicht mehr an einen lokalen Tempel gebunden ist. Die Anweisung
Jeremias, den Hass im Herzen zu überwinden und für die Unterdrücker und
Feinde zu beten, nennt eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ein solches
universales Bewusstsein sich durchsetzen kann. Dass dies für eine ganzes
Volk ein zu anspruchsvolles Programm war, zeigt exemplarisch die
weitere, wieder restriktive Entwicklung der Mischehenfrage.
Im konkreten Verlauf der Einwurzelung Israels in die Fremde schiebt sich
das Bemühen und auch die Notwendigkeit zur Bewahrung und Sicherung
der Identität in den Vordergrund und prägt den Mainstream der jüdischen
Diasporaspiritualität. Hier ist als beeindruckendes Konzept mit großer
pastoraler Wirkung die deuteronomisch-deuteronomistische
Gedächtniskultur 15 zu nennen. In Exil und Diaspora hat Israel gelernt, sich
die identitätsstiftenden Heilsereignisse der Vergangenheit, von denen sie
nicht nur die Zeit, sondern auch die Entfernung von den heiligen Orten
trennte, immer wieder durch Erzählen zu vergegenwärtigen:
„Wir waren Sklaven des Pharaos in Ägypten, und JHWH hat uns mit
starker Hand aus Ägypten geführt...“ (Dtn 6,21).
So ist die Diasporagemeinschaft eine lebenslange Lerngemeinschaft, wobei
das Lernen die konkrete religiöse Praxis erklärt und begleitet16. Orte dieser
kollektiv lebendig gehaltenen Erinnerung, „mit deren Hilfe alle
entscheidenden Bindungen im kollektiven Gedächtnis bewahrt und
lebendig erhalten werden“17 konnten, waren nach dem Untergang der
wichtigen Institutionen (Schulen und priesterlicher Kult) vor allem die
Familien. Das Schema Israel, das jüdische Grundgebet, ist dafür ein
klassisches Beispiel:
M. Gruber: Exil und Diaspora
13
„Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem
Herzen geschrieben sein. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen
...“ (Dtn 6,6f; vgl. Dtn 6,20f; 31,13).
Die Situation in der späten Zeit spiegelt sich in den Büchern Ester und
Tobit. Dort zeigt sich einerseits die Tendenz zur Abgrenzung von der
fremden Umgebung, die für das Leben in den kleinen Diasporagruppen
charakteristisch ist (Est 3,8), aber auch die starke Solidarität nach innen
und die Kraft, unter schwierigen Lebensumständen bis hin zur Verfolgung
ein hohes Ethos durchzutragen. Im Gebet der Königin Ester in ihrer
Todesangst (Est 4,17k-z) verbinden sich in beeindruckender Weise
exilische Umkehrgesinnung mit dem Selbstbewusstsein der jüdischen
Diasporafrommen, die von ihrem Gott Schutz, Rettung und Genugtuung
gegenüber ihren Feinden erwartet.
„Überlass dein Zepter nicht den nichtigen Götzen! Man soll nicht
höhnisch über unseren Sturz lachen. Lass ihre Pläne sich gegen sie
selbst kehren. ... Denk an uns, Herr! Offenbare dich in der Zeit
unserer Not, und gib mir Mut, König der Götter und Herrscher über
alle Mächte“ (Est 4,17q-r).18
Wenige Jahrzehnte vor Christus entstand im ägyptischen Alexandria das
jüngste Buch im Alten Testament, das Buch der Weisheit. Hier findet sich,
nach 500 Jahren jüdischen Lebens in der Diaspora, ein faszinierendes und
singuläres Zeugnis kultureller Einwurzelung und theologischer
Durchdringung des ursprünglich Fremden, so dass man von einer jüdisch-
hellenistischen „Synthese“ sprechen kann.19 Der Autor will seiner
„heranwachsenden Generation“, die von der hellenistischen
Popularphilosophie und den ägyptischen Mysterienkulten angezogen ist,
die jüdische Glaubenstradition vermitteln und wagt ein
Inkulturationsprogramm, das ihn bis „hart an die Grenze des im
M. Gruber: Exil und Diaspora
14
Monotheismus noch Hinnehmbaren“20 führt: „Obgleich der Verfasser der
Sache nach keine Unklarheiten darüber aufkommen lässt, dass ein einziger
allein Gott und Schöpfer und die Weisheit seine Gabe ist, lässt er sich doch
– in der ungefährdeten Gewissheit des eigenen Monotheismus – beim
Versuch, Isis-Preisungen auf seine israelitische Weisheit zu übertragen, zu
Formulierungen hinreißen, die im Judentum als anstößig empfunden
wurden und werden, vor allem dort, wo er die Weisheit als Throngenossin
Gottes schildert“21:
„Gib mir die Weisheit, die an deiner Seite thront“ (Weish 9,4, vgl.
8,3.4).
Das Weisheitsbuch verkörpert profiliert Chancen und Risiken des
Einwurzelungsmodells in der Diaspora zwischen Integration und
Anpassung. In der Atmosphäre einer geistigen Weite, in der es entstand,
wagt sich der Autor bis an die Grenze der Orthodoxie vor. Was damals eine
Syntheseleistung war, musste unter veränderten Bedingungen als Häresie
gelten: Nach dem Untergang des hellenistischen Judentums geht seine
Denkleistung in einer neuerlichen Konzentration auf die hebräisch-
aramäische Tradition wieder verloren.22
5. „REFOUNDING“ ISRAELS IM EXIL UND IN DER DIASPORA
Israel hat in der Zeit des Exils und weiter in der Diaspora eine
„Neugründung“ erfahren. Vereinfacht gesagt: Das Exil bedeutete das Ende
Israels, in der Diaspora ist die Geburtsstunde des Judentums. Das Charisma
Israels - sein JHWH-Glaube, ist ihm im Exil neu geschenkt worden. Mit
dem Monotheismus wird das Judentum das Ende der polytheistischen
M. Gruber: Exil und Diaspora
15
Antike überleben können und wird zur Mutter auch der beiden anderen
monotheistischen Weltreligionen.
Der Weg der Verarbeitung und Umformung ist jedoch lang und
differenziert sich je nach den verschiedenen Standorten. Im Folgenden
möchte ich das, was oben anhand verschiedener Texte und in historischer
Nachzeichnung dargestellt wurde, in kanonischer Zusammenschau auf
Grundvoraussetzungen und Grundvorgänge eines Refoundig-Prozesses hin
befragen. Dabei möchte ich ansatzweise die Linien zur heutigen Situation
der Orden und geistlichen Gemeinschaften zwischen Krise und Neubeginn
ausziehen.
1. Der Beginn des Umformungsweges ist mit dem äußeren Verlauf der
Katastrophe – dem Eintritt des Chaos - drastisch genug markiert:
Der Zusammenbruch ist radikal und betrifft nicht nur Äußerliches, sondern
die zentralen Haftpunkte der Identität. Die tragenden Institutionen werden
weggenommen oder brechen zusammen (sie werden nicht freiwillig
losgelassen); der Abbruch geht bis in den Kern und macht auch vor dem
nicht Halt, was von Gott selbst verheißen und geschenkt war. Diese
Erfahrung trifft auch Orden und geistlichen Gemeinschaften: In der Krise
scheint das Charisma selber verloren zu gehen.
2. Der Weg ins Exil beginnt ungefragt (kein freiwilliger Exodus!); die
Exulanten werden aneinandergekettet und müssen gemeinsam
losmarschieren. Es entsteht eine Schicksalsgemeinschaft unter denen, die
gehen müssen. Gleichzeitig stellt sich eine Ungleichzeitigkeit zu denen ein,
die daheim bleiben. Beide sind jedoch von der Katastrophe betroffen.
Hier ist bei einer Aktualisierung noch ein weiterer Aspekt mitzubedenken.
Im Bild gesprochen: Losmarschieren müssen ja nicht nur die alten Orden
oder die Kirche. Der weltweite gesellschaftliche Umbruch mit seinen
M. Gruber: Exil und Diaspora
16
ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren, den wir gegenwärtig
erleben, formt eine weit größere Schicksalsgemeinschaft unfreiwillig
aneinandergeketteter „Exulanten“. Die Frage ist, wie sich die Gruppe der
christlichen (Ordens-)Exulanten innerhalb dieses globalen Exodus versteht.
3. „Reinigung des Gedächtnisses“: Eine erste Reflexion ergibt: Das
Chaos ist nicht unvermittelt eingetreten. Die Krise hatte sich lange
vorbereitet. Was weggebrochen ist, war längst brüchig geworden.
Warnende Stimmen und Zeichen wurden nicht erkannt oder in den Wind
geschlagen. Im Exil setzt ein schmerzlicher Umkehrprozess ein: In
schonungsloser Selbsterkenntnis begreift Israel den Zusammenbruch als
Gottes richtendes Handeln an seinem untreuen Volk. Reue und Buße
ermöglichen langsam eine Sinngebung der Katastrophe. Im
Schuldbekenntnis liegt das „Ja“ zum zugemuteten Sterbeprozess und
gleichzeitig der Ausdruck der Hoffnung, dass Gott vergibt und einen neuen
Anfang schenkt. So steht am Beginn des Weges der „Wiedergründung“ die
Umkehr. Die „Reinigung des Gedächtnisses“ stärkt den Weg in die Zukunft
(Johannes Paul II am 12. 3. 2000!).
Die Schrift verschweigt jedoch nicht, wie schwierig dies ist. Resignation,
Verstummen, Verweigerung, ja, Rachephantasien bis hin zur
Selbstverfluchung gehören zu den Reaktionen, die im Psalter ihre Stimme
bekommen (vgl. den ganzen Ps 137, den wir immer sehr geglättet beten!).
Dadurch wird der Beter zu einem realistischen und ehrlichen Weg der
Verarbeitung ermutigt.
Gerade darauf muss auch eine Gemeinschaft gefasst sein und diesen Weg
zulassen und geduldig durch alle „Sterbe-Phasen“ hindurch begleiten.
Vielleicht erschließen sich dabei manche Texte des Stundengebetes neu23
M. Gruber: Exil und Diaspora
17
und lernen wir so, unsere Erfahrungen in die Erfahrungen des Volkes
Gottes hineinzuhalten.
4. Mut zur Konzentration auf Gott: Darin liegt die Leistung Israels im
Exil – oder besser, seine Gnade. In der Konzentration auf Gott liegt die
Quelle des beständigen Refounding. Alles kann weggenommen werden
außer Gott! Doch dazu durchzustoßen bedeutet einen Bruch mit bisherigen
Haftpunkten der Identität und mit manchen Kategorien, in denen man Gott
gedacht und erfahren hat. Er ist auch dort anwesend, wo es nicht möglich
erschien; selbst in den dunklen Erfahrungen muss er zu finden sein. Das
ermöglicht eine ganz neue Freiheit; doch werden die Spannungen im
Glauben nicht kleiner. Gottes Handeln auch im Unheil wird gläubig
festgehalten, aber dadurch nicht erklärt; die letzte Antwort auf das Warum
der Krise und des zugemuteten Sterbens muss offen bleiben. So möchte ich
die Grenzaussagen im Buch Jesaja zur Souveränität Gottes auch im Unheil
deuten; es sind nur einzelne Stimmen im Kanon, die jedoch einen
unverzichtbaren Stachel für die weitere theologische Vertiefung
darstellen.24
Christlich ist hier der Ort, wo wir mit „ehrfürchtiger Scheu“ (Phil 2,12) an
das Paschamysterium rühren. Die Gnade der Konzentration auf Gott
bedeutet dann ein tieferes Hineingenommenwerden in das
Lebensgeheimnis Jesu25.
5. Erleiden der prophetischen Existenz: Der Weg des Volkes in die
Krise ist biblisch immer begleitet von prophetischen Gestalten. Es sind
meistens Einzelne, die von Gott in diese Rolle gerufen werden; Israel hat
sich jedoch immer wieder auch als Ganzes mit dieser Funktion identifiziert
(z.B. mit dem Gottesknecht Jes 53) und sein Schicksal als stellvertretendes
Leiden für die Völker und als Aufgabe an den Völkern verstanden. An
M. Gruber: Exil und Diaspora
18
Jeremia im Alten Testament und an Johannes dem Täufer an der Schwelle
zum Neuen Testament wird die Stellung der Propheten auf dem Weg der
„Neugründung“ exemplarisch deutlich.
In ihnen hat sich immer wieder das Ordensleben wiedergefunden. Gerade
die Biographie des Täufers ist ein Steckbrief für prophetisches Schicksal in
der Zeit zwischen Krise und Neubeginn: Der Prophet muss die
Sündenverstrickung seines Volkes am eigenen Leib solidarisch mittragen;
er hält die Wahrheit des Gerichts aus im Blick auf den, der da kommt; er
erkennt ihn zuerst und muss doch warten, bis er sich offenbart („bist du es,
der da kommen soll?“). Dieser Auftrag braucht zutiefst uneigennützige
Menschen: Johannes schlägt alle Angebote aus, selber die messianische
Rolle zu spielen, schickt statt dessen seine Schüler zum Messias und muss
von der Bühne abtreten, bevor er die Früchte seines Einsatzes sieht; im
Gefängnis sitzend hört er noch, dass das Neue beginnt. Der Kleinste im
Himmelreich ist größer als er (vgl. Lk 7,28); das heißt, wo das Reich
Gottes aufbricht, sind die Propheten kleiner als das Neue. Das muss ihre
Selbsteinschätzung prägen. Sie sind jedoch die Freunde des Bräutigams
und ihnen ist seine Freude verheißen.
Wenn diese Freude (Joh 3,29) jedoch nie Wirklichkeit wird, besteht die
Gefahr, sich auf die prophetische Rolle, gar die Leidensrolle zu fixieren.
Die sehr realistische und ganz unpathetische Art etwa des Jeremiabuches
kann davor bewahren.
Im Sinn Jeremias wird sich also keine geistliche Gemeinschaft selber
überlegen können, wie man in einer Situation der Krise und des
Niedergangs ein prophetisch zeichenhaftes Leben führt; man findet sich in
einer Lage vor, die man sich weder selbst gesucht hat noch als
erstrebenswert erfährt, und muss darin aushalten, so lange die Situation
andauert. Das Prophetische besteht darin, an der Gegenwart Gottes in
M. Gruber: Exil und Diaspora
19
dieser Situation und an seinem Handeln in der Krise und durch die Krise
unter allen Umständen festzuhalten.
6. Bereitschaft zur Einwurzelung: Diese ist eine Konsequenz aus den
bisher genannten Schritten und markiert den Übergang vom Exil in die
Diaspora. Die Gewissheit, dass sich Gott überall finden lässt, dass er mit
ins Exil gezogen ist, ermöglicht es, die neue Situation als von Gott gegeben
anzunehmen und sich ganz darauf einzulassen. Die „Fremde“ wird als
neuer Lebensraum akzeptiert und das eigene „Fremdsein“ darin positiv
gestaltet. Konkret bedeutet dies die Auseinandersetzung mit einem Leben
als Minderheit, in gesellschaftlicher Randposition und ohne Einfluss26.
Jeremia betont als eine der Voraussetzungen die Bereitschaft zur
Versöhnung mit den Unterdrückern (Jer 29,7). Die Bindungen innerhalb
der Glaubensgemeinschaft werden jetzt umso wichtiger; darin liegt die
Chance einer Vertiefung der Identität, andererseits die Versuchung einer
(sub)kulturellen oder religiösen Einigelung und Isolierung, der man sich
immer wieder stellen muss. Das Spannungsfeld der Diaspora, das Eigene
zu bewahren und sich gleichzeitig bis an die Grenzen möglicher
Integration des Fremden vorzuwagen, um es (apostolisch) für das Eigene
zu gewinnen, wird sich nicht auflösen lassen. Die Schrift rechtfertigt hier
kein rigoristisches Entweder-Oder; sie macht Spannung geradezu
konstitutiv, da sie sowohl das Buch Tobit als auch das Weisheitsbuch in
ihren Kanon aufnimmt.
Damit hat die kanonische Hermeneutik der Schrift sowohl sensibilisierende
wie auch entlastende Funktion für Orden und geistliche Gemeinschaften,
die auf ihrem Weg der Wiedergründung unweigerlich in dieselbe Spannung
von Profilierung/Abgrenzung und Einwurzelung/Integration geraten
werden.
M. Gruber: Exil und Diaspora
20
7. Entwicklung einer neuen gemeinschaftlichen Identität: Nicht nur
prophetische Einzelgestalten bestimmen den Weg der Neugründung,
sondern eine Gemeinschaft als Ganze muss bereit sein, sich umwandeln zu
lassen. Dieser Punkt ist auch für den Umformungsprozess einer geistlichen
Gemeinschaft von zentraler Bedeutung. Der Weg der Wiedergründung zielt
dahin, als Gemeinschaft einen neuen Lebensstil auszuprägen, der die Kraft
hat, das Wesentliche der gemeinsamen Identität lebendig zu erhalten und es
im neuen Lebenskontext wirksam umzusetzen und nach innen wie nach
außen zu vermitteln.
Wenn dies gelingt, kann man von einem „Refounding“ sprechen, das durch
Krise, Chaos und Exil hindurch geschehen ist. Die Übergänge sind
fließend, die Standorte wieder ungleichzeitig. Als Eckpunkte einer solchen
neuen Identität einer Gemeinschaft in der Zerstreuung lassen sich aus den
oben behandelten biblischen Zeugnissen folgende Kennzeichen nennen; sie
können gewiss nicht einfach kopiert, aber analog auch auf eine geistliche
Gemeinschaft übertragen werden:
- Die Gemeinschaft hat in langen Zeiten der Ohnmacht und der
Demütigung gelernt, dass Erwählung auch Abstieg, Verlust und
Entfremdung umfassen kann.
- So lebt sie im „gereinigten“ Selbstbewusstsein eines erwählten Volkes
Gottes in der Fremde.
- Sie lernt, sich in dieser Fremdlingsexistenz auf die Völkerwelt zu
beziehen und gewinnt so ein „ökumenisches“ Bewusstsein.
- Sie entwickelt eine gemeinschaftliche Kultur des Lernens, Erinnerns
und Feierns.
- Sie praktiziert eine starke Verbindlichkeit und Solidarität nach innen,
die auch für Außenstehende offen ist und anziehend wirkt.
M. Gruber: Exil und Diaspora
21
- Die Mitglieder ermutigen sich zu einer Lebensführung, die von einem
hohen Ethos gekennzeichnet ist.
- Wenn dieser Lebensstil als zeichenhaft für das neue Handeln Gottes
(neutestamentlich: für das Reich Gottes) begriffen wird, wird die ihm
innewohnende Tendenz zur elitären Abgrenzung aufgesprengt in eine
dienende und apostolische Haltung.
- Dann können auch die Feindbilder überwunden werden.
- Die Gemeinschaft betet so, dass der Lobpreis Gottes „unter den
Völkern“ nicht verstummt.
Den letzten Punkt, der hier zu nennen wäre, möchte ich gleichzeitig als
Schlusspunkt unter die genannten Kennzeichen von Israels
„Wiedergründungsweg“ in Exil und Diaspora setzen:
8. Die Spannung zwischen Exil und Rückkehr darf nie aufgegeben
werden: Ob neuer Exodus, neue Schöpfung, neuer Bund, neues Herz oder
neuer Tempel: im Exil lernt Israel zu hoffen, dass das Größere und
Vollendete erst noch kommt, und dass Gott sich an seinem unter die Völker
zerstreuten Volk verherrlichen wird. An der Spannung zwischen Exil und
Rückkehr ist deshalb auch in der Diaspora festzuhalten im Wissen darum:
Es gibt ein Mehr. Wann und wie das kommt, ist Gottes Sache.
Für eine geistliche Gemeinschaft in einer Umbruchsphase kann dies
bedeuten: Gerade angesichts der Möglichkeit des geschichtlichen
Niedergangs der eigenen konkreten Gemeinschaft bleibt die „Hoffnung
wider alle Hoffnung“ (Röm 4,18) auf den totenerweckenden Gott eine
geistliche Herausforderung und das eigentliche Zeugnis - im Bild des
jüdischen Midrasch: der Duft der umgestürzten Parfümflasche.
Das Lebensparadigma Israels zwischen Exil und Rückkehr hat das
Christentum vom Judentum übernommen, und es hat den zweiten
M. Gruber: Exil und Diaspora
22
Brennpunkt der Diaspora-Ellipse noch entschiedener in die von Gott her
kommende Wirklichkeit hinein verlagert. Die Christen begreifen sich von
vornherein - schon in ihrer „Gründungsphase“ – als „auserwählte Fremde
und Gäste“ (1 Petr 2,11), die in der Welt fremd sind, weil sie in Wahrheit
durch ihre Zugehörigkeit zu Christus bereits „heimgekehrt“ sind (1 Petr
2,25). So können sie als oft unterdrückte, aber selbstbewusste Minderheit
eine missionarische Spiritualität entwickeln. Damit beginnt jedoch eine
neue Geschichte, die ich hier nicht weiter verfolgen kann. Mir scheint
jedoch, um auf die anfängliche These von Rolf Zerfaß zurückzukommen,
dass wir Christen erst jetzt, 2000 Jahre nach unserer Gründung, unsere
Identität als „auserwählte Fremde in der Zerstreuung“ (1 Petr 1,1) besser zu
verstehen beginnen, und zwar dadurch, dass wir – unfreiwillig und
schmerzhaft wie Israel – den Exodus in die Zerstreuung antreten müssen.
1 R. ZERFAß, Das Volk Gottes auf dem Weg in die Minderheit? Zur pastoralen Aktualität einer zentralen
Erfahrung Israels. Katechetische Blätter 1 (2000) 42-52; vgl. ders.: Zum Leitbild der Kirche heute.
Ordenskorrespondenz 41 (2000) 375-391. 2 R. ZERFAß, Das Volk Gottes auf dem Weg in die Minderheit 43. 3 Ebd., 47, mit Bezug auf P. PETZEL, Aspekte jüdischer Diasporaerfahrung – in christlicher Sicht.
Lebendiges Zeugnis 51 (1996) 137-151, hier 144. 4 P. MENDES-FLOHR, Zion und die Diaspora. Vom babylonischen Exil bis zur Gründung des Staates
Israel. In: A. NACHAMA u.a. (Hgg.), Jüdische Lebenswelten. Essays. Frankfurt 1991. 260. 5 Vgl. R. ZERFAß, Das Volk Gottes auf dem Weg in die Minderheit 46. 6 F.-L. HOSSFELD, Israel in der Diaspora. In: G. RIßE, C.A. KATHKE (Hgg.), Diaspora: Zeugnis von
Christen für Christen. 150 Jahre Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken. Paderborn 1999. 205-216, hier
214. 7 R. ZERFAß, Das Volk Gottes auf dem Weg in die Minderheit 50f. 8 F.-L. HOSSFELD, Israel in der Diaspora 209. 9 Das sogenannte deuteronomistische Geschichtswerk umfasst die Überarbeitung des Buches
Deuteronomium und die Geschichtsbücher Josua bis 2 Kön. 10 Vgl. W. GROß, Krise und Neubeginn. Israel im Exil und in der Disapora. In: TH SÖDING (Hg.), Zukunft
der Kirche, Kirche der Zukunft. Christen in der modernen Diaspora. Hildesheim 1994, 17-30, hier 25 und
M. Gruber: Exil und Diaspora
23
dazu weiter: W. GROß, K.J. KUSCHEL, „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“ Ist Gott verantwortlich für das
Übel? Mainz 1992, 34-46. 11 F.-L. HOSSFELD, Israel in der Diaspora 211. 12 Übersetzung nach H. WEIPPERT, Fern von Jerusalem. Die Exilsethik von Jer 29,5-7*. In: F. HAHN, F.-L.
HOSSFELD, H. JORISSEN, A. NEUWIRTH (Hgg.), Zion. Ort der Begegnung. BBB 90. Bodenheim 1993. 127-
139, hier 130. Zur folgenden Auslegung vgl. dort. 13 H. WEIPPERT, Fern von Jerusalem 136; F.-L. HOSSFELD, Israel in der Diaspora 210f schließt sich ihrer
Deutung an; die meisten Jeremia-Interpreten verstehen die Verse jedoch als Aufruf zu Familiengründung
innerhalb der Exulanten. 14 H. WEIPPERT, Fern von Jerusalem 132. 15 Vgl. dazu W. GROß, Krise und Neubeginn 18-21; ferner: G. BRAULIK, Das Deuteronomium und die
Gedächtniskultur Israels. Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zur Verwendung von lmd . In: G.
BRAULIK, W. GROß, S. MC EVENUE (Hgg.), Biblischer und gesellschaftlicher Wandel. Festschrift N.
Lohfink. Freiburg 1993. 9-31. 16 Vgl. zum Thema Identitätsfindung und Gemeinschaft aus gegenwärtiger Perspektive den Beitrag von
Walter SCHAUPP in diesem Band. 17 J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München 1992. 213f. Zitiert nach W. GROß, Krise und Neubeginn 19. 18 Eindrucksvoll gestaltet ist diese Spannung zwischen Schutzlosigkeit und wunderbarer Rettung auch in
der Susannaerzählung (Dan 13). 19 W. GROß, Krise und Neubeginn 28 mit Bezug auf: H. ENGEL: „Was Weisheit ist und wie sie entstand,
will ich verkünden.“. In: G. HENTSCHEL, E. ZENGER (Hgg.), Lehrerin der Gerechtigkeit. Erfurter
Theologische Schriften 19. Leipzig 1990. 67-102. 20 W. GROß, Krise und Neubeginn 28. 21 W. GROß, Krise und Neubeginn 27f. 22 Einen ganz anderen Kanal der Wirkungsgeschichte finden seine Verse dagegen in der christlichen
Tradition, die im Weisheitsbuch eine Hilfe sah, um das Verhältnis zwischen Jesus Christus und seinem
Vater zu formulieren, ohne den Monotheismus zu verlassen, vgl. W. GROß, Krise und Neubeginn 29. 23 Die alttestamentlichen Cantica in den Laudes sind hier besonders fruchtbar, denn in ihnen kommt oft
sehr prägnant die Spannung zwischen Exil und Rückkehr zum Ausdruck. 24 Das Verstockungswort in Jes 6 gehört zu den am häufigsten zitierten Stellen im Neuen Testament, vgl.
Mk 4,11-12 parr.; Joh 12,39f; Apg 28,26f. 25 Vgl. dazu die Betrachtung von Hans SCHALK in diesem Band. 26 Dieser Aspekt ist v.a. in der lateinamerikanischen „refundaciòn“ des Ordenslebens theologisch und
spirituell vertieft worden, vgl. den Beitrag von Anneliese HERZIG in diesem Band.