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Universität Zürich Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft - Populäre Kulturen Exkursionsmodul «Grüne Urbanität», HS 2017 Exkursionsbericht

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Universität Zürich Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft

- Populäre Kulturen

Exkursionsmodul «Grüne Urbanität», HS 2017

Exkursionsbericht

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Universität Zürich Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft

- Populäre Kulturen

Exkursionsmodul «Grüne Urbanität», HS 2017

Kursleitung:

Dr. Tobias Scheidegger

Teilnehmerinnen:

Ramona Bussien Laura Fischer

Lara Lisette Kirner Dilan Kuas

Sara Michel Mireya Wettstein

Redaktion/Tutorat:

Boris Dietschi

Zürich: Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft, Populäre Kulturen, Universität Zürich 2018.

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VORWORT .............................................................................................................................. 2

PROGRAMM ........................................................................................................................... 4

EXKURSIONSBERICHTE ............................................................................................................ 6

«ESSBARE STADT UND GUERILLA GARDENING» ...................................................................... 7

«GEMEINSCHAFTSGÄRTEN / URBAN GARDENING UND BRACHEN / D.I.Y.-URBANITÄT» ......... 11

«STADNATUR» ..................................................................................................................... 17

«SOLIDARISCHE LANDWIRTSCHAFTSPROJEKTE» ................................................................... 20

«URBAN FARMING» ............................................................................................................. 26

«NACHHALTIGKEIT UND GRÜNER STÄDTEBAU» .................................................................... 31

«STÄDTISCHE UMWELTPOLITIK UND BEHÖRDLICHE WISSENSVERMITTLUNG» ...................... 35

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VORWORT

„Grüne Urbanität“: Zur Einleitung Dass „Stadt“ und „Natur“ in einem schroffen Gegensatz zueinander stehen, ja dass sich die beiden per definitionem gar auszuschliessen scheinen, ist eine Gewissheit, die noch immer Wahrnehmungsmuster und Diskurse der heutigen, urbanisierten Schweiz prägt. Dieses Denkschema ist selber städtischen Ursprungs. Seine Wurzeln reichen zurück ins 18. Jahrhundert, als aufgeklärte Bürger die Natur „erfanden“ beziehungsweise diese strategisch als Kontrastfolie zu zeitgenössischen Missständen stilisierten. Diese Natur als Projektionsfläche für politische Utopien und gesellschaftliche Idealbilder kam vor den Stadttoren zu liegen, ausserhalb der städtischen Alltagsrealität. Zwar widmeten sich im 19. Jahrhundert Architektur, Stadtplanung oder Bevölkerungsgesundheit im Zusammenhang mit Fragen der Organisation der wachsenden Städte durchaus Aspekten urbaner Natur – Grünflächen, Baumalleen, Strassenbeläge, städtische Nutztiere, Abfall und Abwasser, Krankheitserreger und so fort. Aber selbst in den Konzepten dieser Stadtingenieure oder Raumplaner handelte es sich hierbei nicht um „richtige“ Natur. Diese verortete man in den Alpen, wohin die Herren Ingenieure an den Wochenenden und in den Sommerferien zu fahren pflegten, um diese als spezifische „Freizeitnatur“ zu erleben und konsumieren. Die Gewissheit von „Stadt“ und „Natur“ als vermeintliches Gegensatzpaar wurde erst im Laufe des 20. Jahrhunderts ansatzweise in Frage gestellt, von VertreterInnen der Lebensreform und Gartenstadtarchitektur beispielsweise, oder einige Jahrzehnte später, von AkteurInnen der Alternativ- und Umweltbewegung seit den 1970er-Jahren. Eine wachsende Sensibilität für Natur in der Stadt beförderten seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (abgesehen von vereinzelten Pionierarbeiten des frühen Jahrhunderts) auch die Wissenschaften. In den Geisteswissenschaften wurde die Genese der Stadt-Natur-Dichotomie vielfach nachgezeichnet und dekonstruiert. Aktuelle Ansätze beschreiben die Materialität der Stadt und ihre menschlichen und nicht-menschlichen Bewohner als Verflechtungen und feiern – vielleicht nicht minder absichtsvoll und strategisch als die Erfinder der „unberührten Natur“ des 18. Jahrhunderts – die profanen, hybriden und fluiden Stadt-Natur-Assemblagen als utopisches Modell des guten (Zusammen)Lebens. Etwas nüchterner war der Zugang der Naturwissenschaften, die sich im selben Zeitraum in Gestalt der Stadtökologie städtischen Lebensräumen und ihrer biotischen Ausstattung annahmen. Die ÖkologInnen identifizierten eine spezifisch urbane Natur, sie definierten „urbanophile“ Spezies und erforschten deren Bindung an menschgemachte Räume und menschliche Raumnutzungen. Dass sich seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zunehmend auch populäre Wahrnehmungsschemata in Bezug auf „Stadt“ und „Natur“ aufzuweichen begannen, ist neben den Einflüssen genannter sozialer Bewegungen und Wissenschaften ein stückweit wohl auch offiziellen städtischen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitiken im Nachgang des Rio-Gipfels von 1992 geschuldet. Die Verabschiedung des ehemaligen Gegensatzpaares und ihre Ersetzung durch eine geradezu euphorische – und zuweilen naive – Umarmung spezifisch städtischer Natur (beispielsweise in Gestalt des zum festen Bestandteil eines bestimmten bildungsbürgerlich-städtischen Selbstverständnisses gewordenen Verweises auf die höhere Biodiversität innerstädtischer Gebiete im Vergleich mit dem umliegenden „Land“) ist aber

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kaum ausschliesslich auf staatliche Sensibilisierungsprogramme zurückzuführen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dieser öffentliche Gesinnungswandel wesentlich durch die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zahlreich aufblühenden Initiativen, Projekte und Kampagnen von Einzelpersonen, Vereinen oder NGO zu städtischer Natur im weitesten Sinne vorangetrieben wurde. In unserem Exkursionsseminar „Grüne Urbanität“ im Herbstsemester 2017 stand nun die Auseinandersetzung mit solchen Projekten und Institutionen, die Stadt und Natur auf verschiedene Weisen zusammenführen, auf dem Programm (Programm vgl. S.5). Wir streiften mit Maurice Maggi, Guerilla Gardener avant la lettre und Stadtkräuterkoch, durch das Neubaugebiet des Hunziker-Areals in Oerlikon und nahmen mit ihm die Qualität der Grün- und Freiräume kritisch unter die Lupe. In Zürich West führte uns „Lolo“ Devallier über den vielgestaltigen gärtnerischen und kulturellen Mikrokosmos auf der Brache beim ehemaligen Hardturmstadion. Auf einer Exkursion vom Hauptbahnhof über den Platzspitz zum Lettenareal veranschaulichte der Stadtökologe und Historiker Stefan Inneichen, ausgehend von unscheinbaren Phänomenen und Allerweltsarten, eindrücklich die Verflechtungen von Stadtraum, Geschichte, Menschen, Pflanzen und Tieren. Mit der Landwirtschaftsexpertin und WoZ-Redaktorin Bettina Dyttrich besuchten wir das Dunkelhölzli am Stadtrand Zürichs, wo uns Ueli und Tinu ihre Pflanzplätze zeigten und das Konzept der Solidarischen Landwirtschaft erläuterten. Im Dreispitzareal in Basel führte uns Max Mesmer durch die Urban Farm auf dem Dach des LokDepots, in welcher die Aquaponic-Technologie weiterentwickelt und marktreif(er) gemacht werden soll. Auf einem ganztägigen Ausflug nach Freiburg im Breisgau besuchten wir am Vormittag unser dortiges Schwesterinstitut, das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität, wo wir mit Prof. Markus Tauschek und Dr. Sarah May über Ressourcen und Nachhaltigkeit diskutierten, während am Nachmittag eine Führung durch das Freiburger „Ökoquartier“ Vauban auf dem Programm stand. Den Exkursionsreigen schlossen wir mit einem Abstecher in das Neubaugebiet Zollfreilager in Albisrieden und einer Visite in der Stadtgärtnerei Zürich ab, wo uns Ruedi Winkler, Verantwortlicher für die Bildungsarbeit bei GrünStadt Zürich, die Grundsätze der städtischen Grünraumpflege erläuterte. Eine detailliertere Darstellung der einzelnen Exkursionen und der dort verhandelten Themen finden Sie in den studentischen Exkursionsberichten, die hier versammelt werden. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen GastreferentInnen herzlich für Ihr Engagement, bei den Studierenden für den anregenden Austausch und die motivierte Teilnahme und bei Boris Dietschi für sein aktives Ausfüllen der Tutorenrolle sowie seine Redaktionsarbeiten für die vorliegende Broschüre. Hiermit lade ich Sie herzlich ein, sich auf einen Lektüre-Streifzug durch Brachengärten, Grünstreifen, Stadtparks, Pflanzplätze, Dachfarmen und Ökoquartiere zu begeben – auf eine Exkursion durch jene „grüne Urbanität“ der Gegenwart, wie sie vergleichbar in den meisten grösseren und kleineren Städten der Schweiz am Aufblühen ist. Dr. Tobias Scheidegger Kursleitung, Oberassistent am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen.

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PROGRAMM 22. September 2017: «EINFÜHRUNGSSITZUNG» Vorstellung Programm, theoretische und empirische Annäherung an die Thematik. 29. September 2017: EXKURSION «ESSBARE STADT UND GUERILLA GARDENING» Exkursion im Stadtraum Zürichs mit Maurice Maggi (Guerilla-Gardening-Pionier aus Zürich). 6. Oktober 2017: EXKURSION «GEMEINSCHAFTSGÄRTEN/URBAN GARDENING UND BRACHEN/D.I.Y.-URBANITÄT» Führung durch Areal der Stadionbrache Hardturm in Zürich, mit Lorenz «Lolo» Devallier (Brachenwart Verein Stadionbrache). 13. Oktober 2017: KEINE PRÄSENZSITZUNG Individuelle Lektüre Seminartexte, Recherchen für Präsentationen etc. 20. Oktober 2017: KEINE PRÄSENZSITZUNG Individuelle Lektüre Seminartexte, Recherchen für Präsentationen etc. 27. Oktober 2017: PRÄSENTATIONSBLOCK I Präsentationen & Diskussion zu Themenfeldern «Essbare Stadt und Guerilla Gardening» sowie zu «Gemeinschaftsgärten/Urban Gardening / D.I.Y.-Urbanität». 3. November 2017: EXKURSIONEN «STADTNATUR» UND «SOLIDARISCHE LANDWIRTSCHAFTSPROJEKTE» Vormittag: Stadtnatur-Exkursion im Gebiet Letten und Zürich-West, mit Stefan Ineichen (Stadtökologe). Nachmittag: Input zu solidarischer Landwirtschaft/ Vertragslandwirtschaft/ Community Supported Agriculture und Führung durch das CSA-Projekt «Dunkelhölzli» in Zürich-Altstetten, mit Bettina Dyttrich (Redaktorin WoZ und Landwirtschaftsexpertin). 10. November 2017: PRÄSENTATIONSBLOCK II Präsentationen & Diskussion zu Themenfeldern «Stadtnatur» und «Solidarische Landwirtschaft». 17. November 2017: EXKURSION «URBAN FARMING» Führung von Max Mesmer durch das Aquaponic-Projekt «Urban Farmers UF001 LokDepot» in Basel. 24. November 2017: PRÄSENTATIONSBLOCK III Präsentation & Diskussion zum Themenfeld «Urban Farming» Informationen zum Leistungsnachweis «Schriftliche Arbeit».

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1. Dezember 2017: EXKURSION «NACHHALTIGKEIT UND GRÜNER STÄDTEBAU» Vormittag: Besuch des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. B. (D), Austausch mit und Input von Prof. Dr. Markus Tauschek und Dr. Sarah May zu Knappheit und Nachhaltigkeit. Nachmittag: Stadtführung durch das Ökoquartier «Vauban» in Freiburg i.B., mit Erich Lutz von «natur concept», anschliessend selbstständige Erkundung des Quartiers. 8. Dezember 2017: EXKURSION «STÄDTISCHE UMWELTPOLITIK UND BEHÖRDLICHE WISSENSVERMITTLUNG» Morgen: Partielle Begehung des Stadtrundgangs «Unterwegs zur 2000-Watt-Gesellschaft» der Stadt Zürich in Zürich-Albisrieden sowie Stippvisite in «Veg and the City – Bloom», Zollfreilager Zürich. Vormittag: Besuch der Stadtgärtnerei Zürich, Referat von Ruedi Winkler (Verantwortlicher öffentliches Bildungsangebot Grün Stadt Zürich). 15. Dezember 2017: PRÄSENTATIONSBLOCK IV Präsentationen & Diskussion zu Themenfeldern «Grüner Städtebau» und «Städtische Umweltpolitik». 22. Dezember 2017: SCHLUSSSITZUNG Abschlussdiskussion.

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EXKURSIONSBERICHTE

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«ESSBARE STADT UND GUERILLA GARDENING»

Exkursion im Stadtraum Zürichs mit Maurice Maggi (Guerilla-Gardening-Pionier aus Zürich), 29. September 2017.

Bericht von Dr. Tobias Scheidegger

Wenn im Zürich der 1980er-Jahre das städtische Gartenbauamt sich anschickte, Baumscheiben oder Grünstreifen zu «pflegen», dann wurde die Arbeit gründlich und wahrsten Wortsinne radikal erledigt: Spontanvegetation wurde bis auf die Wurzeln ausgemerzt – sie galt als unerwünschtes «Unkraut». An dieser «Braunpflege», wie er sie heute nennt, störte sich Maurice Maggi gewaltig. Maggi war dabei keineswegs bloss ein unbeteiligter Beobachter. Der damals knapp Dreissigjährige war gelernter Gärtner und wurde als Angestellter einer grossen Gartenbaufirma gelegentlich von der Stadt Zürich für eben jene Rodungsaktivitäten in Dienst genommen. Aus seinem Unmut über besagte Praxis reifte der Entschluss, zu nächtlicher Stunde sein bezahltes Tageswerk gewissermassen gleich selbst zu subvertieren: Auf heimlichen Streifzügen durch die Stadt begann er, auf Baumscheiben und Grünstreifen Malvensamen auszusäen. Erst viele Jahre später, im Jahre 2004, trat Maurice Maggi an die Öffentlichkeit und begann, über seine langjährigen Malven-Aussaaten zu berichten. Beflügelt vom urban-grünen Zeitgeist der Gegenwart erfreuen sich Maggis einst unbeachtete Pioniertaten unterdessen grosser Popularität und bescheren ihm grosse Aufmerksamkeit für seine Publikationen1 sowie Planungsaufträge und unzählige Auftritte. So war Maggi am 29. September auch Gast in unserem Seminar und eröffnete den Reigen unserer Stadtnatur-Exkursionen. In einem ersten Teil bei uns am Institut an der Affolternstrasse skizzierte Maggi eine Tour d’Horizon durch seine vielfältigen Aktivitäten und die inhaltlichen Konzepte, die diesen zugrunde liegen. Zuerst berichtete er über seinen eigenen Werdegang und speziell über sein Malven-Projekt, welches ihn einer breiteren Öffentlichkeit erstmals bekannt machte. Der Begriff des «Guerilla Gardening», heute längst im Mainstream angekommen, war im Zürich der 1980er-Jahre noch unbekannt. Maggi bezeichnete sein Tun vielmehr als «Blumengraffiti».2 Mit der Aussaat von Malvensamen markierte er seine persönlichen Wege durch die Stadt. Auf seiner persönlichen Webseite bezeichnet Maggi diese eigensinnigen floralen Vernetzungsaktivitäten des städtischen Raumes auch als Ausdruck eines «bewusst[en] urbane[n] Denken[s]»3. Sein ursprüngiches «Werkzeug» für dieses Unterfangen waren Rosen-Malven (Malva alcea L.). Wie der informelle Stadtgärtner ausführte, setze er heute auf andere Pflanzenarten – «streng einheimisch» – und füge dieser Samenmischung bloss noch einige Malven «als Unterschrift» hinzu.

1 So z.B.: «Essbare Stadt. Wildwuchs auf dem Teller: Vegetarische Rezepte mit Pflanzen aus der Stadt» (2014). 2 Vgl. http://www.maurice-maggi.ch/blumengraffiti/guerilla-gardening/blumengraffiti-meine-geschichte/ (Abgerufen am 21.11.2017). 3 http://www.maurice-maggi.ch/blumengraffiti/tag/malven-stadtplan/ (Abgerufen am 21.11.2017).

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Auch wenn Grün Stadt Zürich nun schon seit längerem auf naturnähere Pflegekonzepte umgestellt habe, richteten die Stadtgärtnerei wie auch private Landbesitzer ihre Stadtbepflanzung doch noch immer stark an postulierten Sachzwängen aus, so Maggi: Auf ökologisch, sozial und ästhetisch wertvolle Bepflanzung werde unter anderem mit den Begründungen verzichtet, diese verursache durch anfallendes Laub ungebührliche Reinigungskosten, behindere die Sicht der Verkehrsteilnehmer, schaffe uneinsehbare und kriminalitätsfördernde Winkel oder beschädige durch herunterfallende Früchte parkierte Autos. Genau an dieser Bruchstelle zwischen vermeintlich längst Mainstream gewordener Stadtnaturbegeisterung und fortgesetzter Missachtung des Stadtgrüns operiert Maggi weiterhin in widerständisch-aufklärerischer Mission. Mit allen seinen Aktivitäten verfolgt er die Absicht, einen anderen, respektvolleren Umgang mit dem Stadtgrün zu fördern. Dabei zielen seine Tätigkeiten über die urbane Vegetation hinaus auf grundlegendere Fragen: Wem gehört der öffentliche Raum und welche Nutzer und Nutzungsweisen werden in diesen Räumen privilegiert? Der zweite Teil dieses Vormittags lieferte in Form eines gemeinsamen Spazierganges durchs Neubaugebiet des Hunziker Areals in Leutschenbach (Oerlikon) Anschauungsunterricht sowohl für diese oben erwähnte Geringschätzung des Stadtgrüns wie auch für positive Gegenbeispiele.4 Bereits schon die ersten Beispiele, auf die uns Maurice Maggi am Eingang des Areals aufmerksam machte, zeigten exemplarisch einige zentrale Aspekte des gegenwärtigen Umgangs mit Vegetation im städtischen Aussenraum auf. So wies er uns auf einen wohldesignten Pflanzentrog hin, in welchen Dutzende von jungen Birken gepflanzt worden sind. Diese Bepflanzung nehme bewusst in Kauf, dass mit dem einsetzenden Wachstum der Bäumchen ein gegenseitiger Verdrängungskampf losgehe, den am Schluss vielleicht keines überlebe – sei doch der Trog selbst für eine einzige ausgewachsene Birke viel zu klein. Besagter Trog ist für Maggi ein sprechendes Beispiel für den respektlosen Umgang mit Pflanzen, der vielerorts vorherrsche. Pflanzen, so der gelernte Gärtner, würden oft zum reinen Dekor herabgewürdigt und überhaupt sei eine mobile Bepflanzung (Kübel, Töpfe, Tröge etc.) höchstens als «absolute Notlösung» akzeptabel. Dies veranschaulichte Maggi an einem nächsten Anschauungsobjekt gleich einige Meter weiter; einer Reihe von schwarzen Kunststoffkübeln, bepflanzt mit kümmerlich wirkenden Stauden. Diese Kübel seien gleich in doppelter Weise eine Notlösung: Der grosszügige Freiraum zwischen den Gebäuden des Hunziker Areals wurde mehrheitlich asphaltiert, was von AutofahrerInnen sogleich als Einladung interpretiert wurde, das ganze Gelände zu befahren und dort zu parken. Um die Autos fernzuhalten, sah man sich gezwungen, besagte Pflanzentröge als Absperrungen aufzustellen. Die schwarzen Kunststoffkübel seien jedoch alles andere als ideal, so Maggi: Sie erhitzten sich im Sommer und müssten täglich mit grossen Wassermengen gegossen werden, trotzdem ginge es den Stauden augenscheinlich nicht besonders gut. Hiermit war jenes Thema angesprochen, das Maggi als eines der grundsätzlichsten Defizite gegenwärtiger Aussenraumgestaltung erachtet – die bis heute gängige Praxis, Freiräume mit 4 In diesem Zusammenhang ist nicht ganz unbedeutend, dass der Aussenraum des Hunziker-Areals vom verantwortlichen Landschaftsarchitekturbüro bewusst so offen geplant wurde, dass er sich gemäss den Wünschen seiner NutzerInnen weiterentwickeln kann. Entsprechende partizipative Prozesse sind derzeit noch immer am Laufen (vgl.: https://www.mehralswohnen.ch/hunziker-areal/aussenraum/ (Abgerufen am 21.11.2017).

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Beton oder Asphalt zu versiegeln. Die Versieglung sei unhinterfragte Normalität, erstrebenswert ist in den Augen Maggis jedoch genau das Gegenteil: Die planerische Notwendigkeit jeder Versieglung müsste zukünftig jeweils ausdrücklich gerechtfertigt werden, ansonsten seien die Flächen unversiegelt auszugestalten. Auf unversiegelten Flächen sei mittels entsprechender Gestaltung des Untergrunds sehr wohl ein Nebeneinander von (intensiver) Nutzung und Pflanzenwachstum möglich: jene Stellen, die häufig befahren oder begangen würden, blieben dann einfach kahl, an den weniger genutzten Flächen hingegen könne es spriessen und blühen. Maggis Plädoyer für unversiegelte Flächen kann durchaus als Metapher für sein Ideal städtischer Raumgestaltung und urbanen Lebens überhaupt gelesen werden: Stadt und urbaner Raum sollen eine Offenheit der Nutzung zulassen und keine Dominanz einer bestimmten Nutzergruppe oder einer spezifischen Nutzungsweise vorschreiben – vielmehr macht erst ein vielfältiges Nebeneinander das gute Leben in der Stadt aus. Maggi hebt jedoch nicht nur den Mahnfinger und verweist ebenso darauf, dass Schritte hin zu städtischer Wohn- und Lebensqualität im Hunziker Areal teilweise durchaus schon realisiert worden seien. So lobte er die hohen architektonischen, ökologischen und sozialen Ansprüche, die mit dem Bau der Gebäude und Wohnungen verfolgt worden seien und erweist sich in diesem Sinne auch mehr als grüner Reformer denn als Gartenrevolutionär. So gleiste er selber in Zusammenarbeit mit der ansässigen KiTa kleinere gärtnerische Interventionen im Areal auf, deren Überreste wir ebenfalls noch betrachten konnten, und auch für die begehbare Magerwiese mit Obstbäumen, die am südwestlichen Ende des Areals angelegt wurde, fand der einstige Nacht-und-Nebel-Gärtner nur lobende Worte.

Impressionen (Fotos von Boris Dietschi)

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«GEMEINSCHAFTSGÄRTEN / URBAN GARDENING UND BRACHEN / D.I.Y.-URBANITÄT»

Führung durch Areal der Stadionbrache Hardturm in Zürich, mit Lorenz «Lolo» Devallier (Brachenwart Verein Stadionbrache), 6. Oktober 2017. Bericht von Laura Fischer Wir betreten die Zwischennutzung auf der Stadionbrache – eine Grünfläche mitten im boomenden Zürich-West. Die Fläche wird gemeinschaftlich bewirtschaftet und bildet einen Kontrast zu sonstiger Bodenknappheit und steigendem Nutzugsdruck in der Stadt. Dank der Führung des Brachenwarts Lolo – dessen Rolle eine Besonderheit für Projekte dieser Art ist – und des «Beast»-Mitgründers Boris Dietschi erhalten wir spannende Informationen zur Entwicklung, den vielfältigen Nutzungen, den ethischen Hintergründen sowie Herausforderungen der Zwischennutzung. Durch den Haupteingang gelangen wir in den grünen Mikrokosmos. Abgesehen von zwei kleineren Nebeneingängen ist die Brache von einem Zaun umfasst. Lolo wünscht sich dadurch ein bewusstes und gezieltes Eintreten in diesen «anderen» Raum. Ein Raum, der weder privat noch öffentlich ist. Hier herrscht ein anderes Klima als in der betonierten Stadt, es herrscht ein besonderes Ambiente und die Zeit läuft langsamer. «Es ist ein offener Raum», meint Lolo und führt uns zum D.I.Y.-Lehmofen, ins Herz der Stadionbrache, «wo alles begann».

Die Anfänge Leute der Hausbesetzerszene besetzten die Fläche im Jahr 2008 mit «Brot & Action». Diese erste organisierte Nutzung sensibilisierte die breite Anwohnerschaft und animierte für weitere Nutzungsprojekte. Nachdem 2011 der neue Stadionentwurf vom Zürcher Stimmvolk abgelehnt wurde, war klar, dass die Fläche für ungewisse Zeit brachliegen wird. Lolo betont, dass die Brache, wie sie heute aussieht, organisch gewachsen sei. Es gab keinen Masterplan, wo welche Nutzung wie stattfinden soll. Auch wenn die Stadionbrache heute die Pionierphase hinter sich gelassen hat und mitten in der Betriebsphase steht, sieht Lolo die weitere Entwicklung als offen und unvorhersehbar.

Facettenreiche, nichtkommerzielle Nutzung Heute leiten ungefähr 20 Gruppierungen diverse Projekte auf der Stadionbrache: Es gibt Hühner, einen Mittagstisch, eine (Wald-)Spielgruppe oder den Verein brotoloco, deren Mitglieder gemeinsam in einem Lehmofen Brot backen. Die Projekte und Gruppen stehen im Vertrag mit dem Mutterverein Stadionbrache, der wiederum in einem Vertrag mit der Stadt Zürich steht. Geregelt ist darin u. a. eine gegenseitige, 6-monatige Kündigungsfrist. Die Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden funktioniere gut – Lolo erwähnt den Service der Grün Stadt Zürich, im Sommer den Fussball-Rasen regelmässig zu mähen. Aus Sicherheitsgründen patrouilliert ein Mal am Tag die Securitas. Der Verein Stadionbrache ist in reger Kommunikation mit allen Akteuren auf dem Gelände: Der Vorstand entscheidet mit der Versammlung über neue Projekte und bestimmt über die facettenreichen Anfragen wie zum Beispiel Filmdrehs, Konzerte, Firmenanlässe und Quartierfeste. Neben der Bedingung, dass die Projekte nicht-kommerziell sein müssen, verbieten die klaren Nutzungsregeln motorisierte Verkehrsmittel, das Hinterlassen von Abfall und Übernachtungen auf dem Gelände.

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Gerade stehen wir im innersten Punkt der Brache; im Stadiongarten (eigener Verein), bestehend aus einzelnen Beeten, die von unterschiedlichsten Leuten (Schulen, Familien, WGs) betrieben werden. Sobald die Bewirtschaftung nicht mehr stattfindet, werden die Beete an neue Interessenten weitergegeben. Diese Art des Gärtnerns ist flexibler als z. B. ein Vertrag mit einem Schrebergarten, was den Städtern ein unverbindliches Ausprobieren ermöglicht. Während in diesen Gärten das Soziale im Mittelpunkt steht, versteckt sich der produzierende Gemüsegarten im hinteren Teil der Brache – hinter dem «Himalaya», der einzigen Topografie auf dem sonst topfebenen Gelände. Hier steht auch die Widerstandslinde, die von Architekturstudentinnen und Studenten gepflanzt wurde. Symbolisch gräbt die Linde tiefe Wurzeln in die Erde und verändert die Nutzungsmöglichkeiten des Bodens. Lolo malt sich das Szenario aus, wie der Baum wohl in 50 Jahren den gesamten Gemüsegarten überschatten würde. Alle Vereine und Aktivitäten auf dem Gelände finanzieren sich selbst. Dabei dürfen deren Angebote keine fixen Preise haben, sondern basieren auf Kollekte und Spenden. Den grössten Umsatz generiert der Mittagstisch, mit welchem u.a. andere Projekte quersubventioniert werden. Lolos Arbeit als Brachenwart vereint verschiedene Funktionen wie Gärtner, Hauswart, Sozialarbeiter, Security, Tourist Guide, Kinderbetreuer, usw. Seine vollzeitliche Beschäftigung auf der Brache hat sich aus einem Bedürfnis im Prozess ergeben und war nicht im Vornherein strukturell geplant. Die Figur des Brachenwarts ist nicht zuletzt auch eine wichtige Instanz, wenn es um die Durch- und Umsetzung von moralischen Werten und Normen im Alltag geht.

Ethik und Moral auf der Stadionbrache Lolo arbeitet nach dem Konzept der Permakultur, das auf die Schaffung von dauerhaft funktionierenden nachhaltigen und naturnahen Kreisläufen zielt. Es zähle die Erfahrung im Moment und nicht das Denken an die Zukunft der Brache, welche ungewiss ist. So lohne es sich in jedem Fall, Bäume zu pflanzen und Infrastrukturen zu bauen. Das Konzept gilt symbolisch auch für das soziale Geschehen auf der Brache. Lolo vergleicht die Du- und Begrüssungskultur auf der Brache mit einem Dorfplatz, wo Ansässige in Kontakt treten und gemeinsam Neues produzieren. Obwohl auf der Brache keine expliziten Regeln und Vorschriften zu sehen sind, ist sowohl das Gärtnern wie auch alles andere Tun von hoher sozialer Kontrolle geprägt. Das bringt uns zu den Herausforderungen und Konfliktpotenzialen auf der Brache.

Herausforderungen? Erstaunlich am mehrjährigen Bestehen der Stadionbrache sei die friedliche Stimmung, sagt Lolo. Es gebe fast keine Konflikte und keinen Vandalismus. Als Grund nennt er, dass es weder ein klares Feindbild noch klare Fronten gebe. Das, obwohl die Debatte rund ums neue Stadion kontrovers und emotional diskutiert wurde. Ein einziges Mal sei die Brache im Anschluss an einen GC-Match angegriffen resp. verwüstet worden. Mit den GC-Fans verstehe man sich aber grundsätzlich gut, was sich beispielsweise an den jeweiligen GC-Versammlungen vor den Derbys zeige, die respektvoll und konfliktfrei ablaufen.

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Als «andere» Seite des Geländes kommt der asphaltierte, ehemalige Fussballplatz daher: Die Stadt stellt den Betonplatz für temporären Nutzungen zur Verfügung, die kommerziell arbeiten wie z.B. der Zirkus Royal, Autokino, Food-Festivals oder Techno-Festivals. Auch wenn die grüne und nicht-grüne Seite des Geländes im Kontrast zueinander stehen – sowohl von der Ästhetik wie auch von den Projektvorgaben her (kein Lärm, emissionsfreie Bewirtschaftung) –, gab es in Vergangenheit laut Lolo keine nennenswerte Probleme. Von hier bewegen wir uns in Richtung Südosten zum dritten Teil des Geländes:

Der Skatepark «Beast» Die Skaterbewegung begann in den 1970er in Kalifornien, als Surfer leerstehende Pools als Spielplatz für sich entdeckten. Seither werden weltweit Rampen gebaut, meist aus Holz, was unter anderem den Vorteil bringt, dass die Installationen schnell wieder abgebaut werden können. Denn oft werden die Bauten ohne Bewilligung realisiert und sind daher von temporärer Dauer. Das Material Beton gewann in der europäischen Szene erst in den letzten 10 Jahren an Bedeutung und das Beast gehört zu den Vorreitern dieser D.I.Y.-Form in der Schweiz. Die informelle Parkbaulogik bietet Raum für ein breites Spektrum an Zugängen; Das Selbstverständnis der Engagierten reiche von der Besetzerszene bis zu partizipieren StadtbürgerInnen. Oftmals werden offizielle Skateparks an die Peripherie der Städte gedrängt, das Beast könnte so im Kontext eines Widerstands gegen eine neoliberale Stadtentwicklung gesehen werden. Aussergewöhnlich ist auch die Schenkung des Betons der Baufirma KIBAG, ohne die die Finanzierung des non-kommerziellen Projekts schwer machbar gewesen wäre. Das Beast versteht sich als Übergangsstelle zwischen dem grünen Mikrokosmos Stadionbrache und dem Rest der Stadt. In Bezug auf Nutzungsgruppen sei das Beast eine grosse Bereicherung, so fühlten sich Jugendliche in dieser Ecke der Brache wohler als im grünen Bereich. Gleichzeitig ist das Beast aber auch Prüfstein, da hier vergleichsweise mehr «Emissionen» (Lärm, Abfall, etc.) entstehen und in diesem Sinne eine Ausnahme der Regel auf der Stadionbrache bildet. Es herrscht aber Konsens darüber, dass dies die strenge Grundhaltung der Brache relativiert und somit eine geschätzte Balance schafft. Sowohl Lolo wie auch Boris erfreuen sich sichtlich an der Vielfalt, dem kreativen Engagement und dem nahen Nebeneinander unterschiedlichster Projekte auf der Stadionbrache.

Zukunft Die Zukunft der Zwischennutzung ist ungewiss und liegt in den Händen des Zürcher Stimmvolkes. Nachdem 2013 ein städtischer Entwurf für ein neues Fussballstadion abgelehnt wurde, übergab die Stadt den Ball an private Investoren. Das Resultat des Architekturwettbewerbs liegt nun unter dem Namen «Ensemble» vor: Es umfasst den Bau, die Finanzierung und den Betrieb eines Fussballstadions für 18’500 Zuschauer, zwei Wohn- und Geschäftstürme sowie 173 Genossenschaftswohnungen. Würde das Bauprojekt Ende 2018 angenommen werden, bedeute dies das Ende für den grünen Mikrokosmos mitten in der Stadt.

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Fragestellung für die Folgediskussion Inwiefern die ungewöhnliche Atmosphäre, fehlende fixe Strukturen auf der Brache und keine Eigenwerbung wie ein Filter gewisse Leute anzieht und andere fernhält, gilt es zu diskutieren.

Fakten 150 Personen/Tag nutzen die offene Fläche. 4-6 Info & Austauschtreffen des Vereins Stadionbrache pro Jahr, im Vrgleich zu anderen Zwischennutzungen (z.B. Parkplatz Letten) wenig Programm und organisierte Aktivitäten. Stadionbrache ist eine von aktuell 7 Zwischennutzungen, die von der Stadt Zürich bewilligt sind.

Informative Links Verein Stadionbrache: http://www.stadionbrache.ch Verein Stadiongarten: http://stadiongarten.ch IG Freiräume Zürich West: http://pro-stadionbrache.ch/die-ig/ Verwaltung Stadt Zürich «Angebote & Beratung» der Grün Stadt Zürich: https://www.stadt-zuerich.ch/ted/de/index/gsz/angebote_u_beratung/zwischennutzungen/stadionbrache.html Medienmitteilung Liegenschaftenverwaltung «Start zur Zwischennutzung auf dem Areal des Stadions Hardturm» vom 10. Juli 2011: https://www.stadt-zuerich.ch/fd/de/index/das_departement/medien/medienmitteilungen/2011/juli/110701a.html Hochbaudepartement «Privater Gestaltungsplan Areal Hardturm-Stadion»: https://www.stadt-zuerich.ch/hbd/de/index/staedtebau_u_planung/mitwirkung/oeffentliche_auflage/privater_gp_hardturm_stadion.html

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Impressionen (Fotos von Laura Fischer und Boris Dietschi)

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«STADNATUR»

Rundgang im Gebiet Letten und Zürich West, mit Stefan Ineichen (Stadtökologe), 3. November 2017. Bericht von Mireya Wettstein Am 3. November 2017 um 10 Uhr 15 haben wir uns in der Bahnhofshalle in Zürich zusammen mit dem Buchautor, Dozenten und Stadtökologen, Herrn Stefan Ineichen, getroffen, um eine zweistündige Führung im Gebiet Letten und Zürich West durchzuführen.

Bahnhof Zürich Herr Stefan Ineichen fing seine Führung mit der Frage an, was eigentlich die Löcher an den Bahnhofsgleisen bedeuten sollten. In der Folge erklärte er uns, welche Vögel und Tierarten im Laufe der Zeit sich an das Leben im Bahnhof gewönnt haben. Darunter fallen unter anderem die Spatzen, die Stadt-Amseln, die Tauben, die Mäuse, die Ratten und die Kakerlaken. Alle diese Vögel, Tiere und Insekten finden im Bahnhofsareal die idealen Lebensbedingungen vor. So finden die Spatzen ausreichend Nahrung. Sie hüpfen zwischen den Passanten herum und suchen dabei nach Brotkrumen. Sie finden in diesem Lebensraum anscheinend das vor, was sie brauchen – inklusive der Insekten, die sie zur Ernährung der Jungen benötigen. Sie finden ebenso offene Bodenflächen, um dort ein Staubbad zu nehmen. Dadurch pudern sie sich ihr Gefieder ein, um es zu reinigen und sich auch vor Gefiederparasiten zu schützen5. Der Grund, warum die Stadt-Amseln und die Spatzen sich wohl fühlen im Bahnhofsgelände, kann auch mit der Zunahme von Prädatoren und dem Stadtleben zusammenhängen, das so stressig geworden ist. Dies gemäss der Meinung von Herrn Ineichen. Die Bekämpfung von Kakerlaken, Ratten und Tauben als Verbreiter von Krankheiten findet Herr Ineichen übertrieben. Die Führung ginge danach weiter in Richtung Landesmuseum. Das herbstliche Wetter hat dabei richtig mitgemacht. Mit warmen Temperaturen und bei strahlendem Sonnenschein bewegten wir uns weiter in die Richtung des Platzspitzes.

Platzspitz Der Platzspitz wurde Ende des 18. Jahrhunderts nach dem französischen Vorbild einer barocken Parkanlage gebaut. Es ist eine der ältesten und geschichtsträchtigsten Parkanlagen Zürichs mit einem Allmendcharakter. Im Zentrum der Anlage findet sich das Denkmal des Staatsmannes Salomon Gessner6. Ein Steindenkmal befindet sich nur wenige Meter oberhalb des Weges, das für Salomon Gessner, einen Zürcher Idyllen-Dichter und Maler errichtet wurde. Gessner, der im Jahr 1756 mit seinen «Idyllen» als Konstruktion einer Gegenwelt europaweit bekannt wurde. Er war unter anderem auch Gründer der «Zürcher Zeitung», die sich in der Folge ab dem Jahr 1821 «Neue Zürcher Zeitung» nannte. Diese Parkanlage wurde im 16. und 17. Jahrhundert meist nur «Platz» genannt. Der Weg führte uns durch die zahlreichen Stadt-Platanen, von denen einige mehr als 300 Jahre alt sind. Nach der Aussage 5http://www.zeitlupe.ch/fileadmin/user_upload/_Zeitlupe/leseproben/Leseproben_Website/ZL9_Spatz.pdf (Abgerufen am 8.11.2017). 6 https://de.wikipedia.org/wiki/Salomon_Gessner#/media/File:Z%C3%BCrich_-_Platzspitzpark_-_Salomon_Gessner_IMG_1239.jpg (Abgerufen am 8.11.2017).

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von Herrn Ineichen werden viele von diesen kräftigen Bäumen von verschiedenen Wanzen und Insekten, die durch den Wind und die Vögel weiterverbreitet werden, angegriffen. Viele von diesen Schädlingen werden aus dem Ausland (aus China wie auch aus Nord- und Südamerika) mit dem Warenverkehr hierher transportiert. Sogar Papageien hat Herr Ineichen auch mal gesehen. Zudem finden Fledermäuse ebenfalls ihren Lebensraum in der «Baumhöhle» dieses Parks.

Letten Entlang des Kanals, der dem Kraftwerk Wasser zuführt, tummeln sich im Sommer nicht nur unzählige Badegäste und andere Erholungssuchende, sondern es existieren hier auch in den Räumen zwischen den Gleisanlagen auf den Lager- und Kiesplätzen für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten die idealen Lebensbedingungen. Weiter führte der Weg über den Drahtschmidlisteg und am Dynamo Jungenzentrum vorbei Richtung Letten. Am Anfang des Oberen Lettens wurden artgerechte Bedingungen für die Mauereidechsen geschaffen. Um diese Anlage zu schützen, wurde ein Plakat aufgehängt, das die Sprayer bittet, „diese Fläche den Tieren zu überlassen“ und nur die daneben vorgesehenen Wände zu nutzen.

Unterer Letten Herr Ineichen zeigte uns auf dem ehemaligen Bahnareal, wo Schwarze Honigbienen gehalten werden und wie Wildbienen gefördert werden sollen. Er legte uns weiter dar, inwiefern Konflikte zwischen den Ansprüchen von Mensch und Natur am Letten entstehen können. Wir führten unsere Exkursion Richtung Kornhaus Brücke weiter bis zum alten Bahnhof Letten. Dort befindet sich immer noch das Gebäude mit einem blauen Schild, auf dem «Bahnhof Transhelvetica» steht. Weiter erzählte unser Expeditionsführer von den verschiedenen Tierarten, die über die Alpen in die Stadt gelangt sind und sich hier angesiedelt haben. Betreffend den nicht mehr vorhandene Bahnschienen berichtet Tobias Scheidegger von der Völkerwanderung im 19. Jahrhundert, vom Übergang von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft. Damals wurden sehr viele Schienen gebaut, um die Menschen vom Punkt A zum Punkt B zu bringen. Das alte Gebäude des Bahnhofs Letten wurde in der Zeit der Privatbahnen am Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, dies bevor die SBB im Jahr 1898 gegründet wurden. Aus dem Archiv des heutigen «Bahnhofs Transhelvetica» ist zu entnehmen, dass dieses Bahnhofsgebäude im Jahre 1989 mit der Eröffnung des Eisenbahntunnels vom Stadelhofen zum Hauptbahnhof auf den Fahrplanwechsel hin stillgelegt wurde7. Die Schienen wurden entfernt und das Trassee begehbar gemacht für Fussgänger und Velofahrer. 7 http://transhelvetica.ch/wp-content/uploads/2011/03/die_geschichte_bhf_letten.pdf (Abgerufen am 9.11.2017).

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Impressionen (Fotos von Mireya Wettstein)

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«SOLIDARISCHE LANDWIRTSCHAFTSPROJEKTE»

Input zu Solidarischer Landwirtschaft/ Vertragslandwirtschaft/ Community Supported Agriculture und Führung durch das CSA-Projekt «Dunkelhölzli» in Zürich-Altstetten, mit Bettina Dyttrich (Redaktorin WoZ und Expertin Solidarische Landwirtschaft) am 03.11.2017.

Bericht von Lara Kirner

Das Solidarische Landwirtschaftsprojekt Dunkelhölzli, ein Hof mit Pflanzplatz am Stadtrand in Zürich-Altstetten, befindet sich circa drei Gehminuten von der Endhaltestelle Dunkelhölzli entfernt und ist erreichbar mit dem 78er-Bus. Nach unserer Ankunft dauerte es nicht lange bis Bettina Dyttrich, Journalistin und Forscherin mit dem Schwerpunkt solidarische Landwirtschaft, eintraf. Die Exkursion gliederte sich insgesamt in drei Programm-Punkte auf:

Die Vorstellung von Ueli und Tinu als Verantwortliche und Angestellte vom Pflanzplatz Dunkelhölzli, eine Führung über den vorderen Hof mit anschliessender Fragerunde am Acker, und der Vortrag von Bettina Dyttrich mit anschliessender Diskussionsrunde.

Die Einfahrt des Hofes war ausgelegt mit einem Netz, an dem zwei Personen beschäftigt waren. Die verantwortlichen Bauern stellten sich uns vor. Sie zeigten uns den vorderen Bereich des Hofes. Ueli erklärte, er habe das Bauern-Sein mit dem Studium der Agronomie und mit seiner Arbeit für Helvetas8 im Ausland gelernt. Er wollte schon immer ein Bauer sein und praktisch arbeiten. Er schätze am Dunkelhölzli die Kombination aus Stadt und Land sehr. Die Lage am Stadtrand gebe ihnen mehr Möglichkeiten. Sie könnten so progressiver agieren. Tinu erklärte, er sei da hineingewachsen. Er habe Schreiner gelernt. Man müsse es nicht studiert haben, um es zu tun. Hier bekomme jeder die Möglichkeit.

2010 wurde das Dunkelhölzli gegründet. Auf dem Grundstück befand sich davor eine alte Gärtnerei. Das Areal umfasst ein Gemeinschaftshaus, ein Werkzeugschuppen und 1.2 Hektar Land, wovon aber lediglich ein Fünftel bewirtschaftet werden. Das Land wird von der Stadt Zürich zur Verfügung gestellt und vom Verein „Stadtrandacker“ verwaltet. Aufgrund einer Schwermetallbelastung im Boden ist das Land kein erwerbbares Bauland und kann bis auf weiteres für das Landwirtschaftsprojekt genutzt werden. Auf den Flächen werden Lauch, Ackerbohnen, Tomaten, Feldsalat und anderes Gemüse angebaut. Tinu berichtete, dass es mehrere Flächen am Dunkelhölzli zur Bewirtschaftung gebe, und weitere in anderen Teilen von Zürich.

Das Gemüseabo wurde im Anschluss an die Einführungsrunde vorgestellt. Beim Gemüseabo handelt es sich um das Finanzierungssystem des Hofes, bei dem die Abonnenten für regelmässige Lieferungen bezahlen. Pro Saison wird von den Abonnenten zusätzlich an mindestens zwei Tagen bzw. vier Halbtagen Mitarbeit auf dem Feld verlangt. Im Gegensatz zu anderen solidarischen Landwirtschaftsprojekten, wie beispielsweise Ortoloco9, gibt es für die

8 Das Ziel von der schweizerischen Entwicklungsorganisation Helvetas ist eine gerechtere Welt, in der alle Menschen selbstbestimmt leben und alle Grundbedürfnisse befriedigt sind. Vgl. Homepage https://www.helvetas.ch/de/ 9 Ortoloco besitzt das Sanktionssystem des Ausschlusses aus der Gemeinschaft, davor gibt es aber E-Mails an die Abonnenten. Ortoloco besitzt ein ähnliches Funktionsprinzip wie der

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Dunkelhölzli-Abonnenten, die das Arbeitspensum auf dem Hof nicht erfüllen, keine Sanktionssysteme. Ueli sagt: „So lang es so geht, wollen wir es so lassen“. Der ironische Unterton zum Arbeitsengagement der Abonnenten war dennoch nicht zu überhören. Mit einem verschmitzten Lächeln wurde von beiden Bauern an mehreren Stellen geäussert „Sie haben zu viel Respekt davor, etwas falsch zu machen“. Der Hof beliefert mit E-Velos in der Stadt Zürich ein Restaurant sowie einige Abholdepots und Verteiler mit Gemüse. Die Abonnenten10 können ihre Gemüsetaschen wöchentlich an den jeweiligen Abholdepots beziehen oder direkt beim Hof. Die Inhalt der Taschen variiert nach Beitragszahlungen und Ernteertrag. Gerätschaft, Kurier, Verwaltungskosten sowie die Gehälter der zwei verantwortlichen Bauern werden zu einem Teil von den Abonnementeinnahmen finanziert und zum anderen Teil vom Verein getragen. Beim Dunkelhölzli arbeiten auch Menschen, die im Rahmen eines städtischen Programms für Arbeit und soziale Integration einen Einsatz leisten, der ihnen mit einer Zulage der Stadt vergütet wird.

Für den letzten Kulissenwechsel der Führung ging es am E-Velo vorbei, durch eine verwinkelte Werkstatt auf eine Magerwiese vor dem Gemüseacker. Hier bot sich nicht nur ein weiter Blick in die Natur und den angrenzenden Wald, es war auch ein Gebäude in geraumer Distanz erkennbar; die Naturschule Dunkelhölzli, eine Institution der Stadt, die einen naturpädagogischen Auftrag hat und sich an Kindergärten und Schulen richtet.

Die Stadt arbeitet noch an Plänen für die Zukunft des Areals. Es sollen grosse Flächen für kollektives Gärtnern reserviert werden und daneben weiterhin Familiengärten in traditioneller Form geben. Der Pflanzplatz Dunkelhölzli wird bei der Planung berücksichtigt. Die verschiedenen Interessensgruppen diskutieren die Pläne schon seit geraumer Zeit.11 Im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit anderen Kooperativen nannte Ueli Austausch-Treffen mit anderen Kooperativen, die kaum von Konkurrenz oder dem Gefühl geprägt seien, sich gegenseitig die Kunden wegzuschnappen. Hier wurde explizit auf das breite Einsatzfeld verwiesen und den entsprechenden zu bewältigenden Aufwand: Hof, Garten, Kommunikation und Einführung der Abonnenten in Tätigkeiten, wie Jäten, Pflanzen und Ernten. Das Ziel sei für ihr Projekt, die Anzahl von 50 bis 100 Abonnenten nicht zu überschreiten.

Im Laufe der Exkursion wurde vermehrt die Frage nach der Motivation für das Gärtnern im Rahmen des solidarischen Landwirtschaftsprojektes gestellt. In diesem Zusammenhang wurde klar der Wunsch nach alternativen Lebensstilen geäussert, sowie das progressive und konsumkritische Klima, Selbstversorgung, das Abtauchen vom Alltag und die Sinnstiftung, u.a.

Pflanzplatz Dunkelhölzli mit dem Unterschied, dass es sich nicht um einen Verein handelt, sondern um eine Genossenschaft. 10 Im Internet werden vier Abosysteme angeboten: Klein für CHF 630, Klein zweiwöchentlich für CHF 335, Mittel für CHF 1040, Gross für CHF 1320, mit einer Laufzeit von einem Jahr, vgl. http://www.dunkelhoelzli.ch/gemueseabo/. 11 Für genauere Informationen zu dem Zwist, kann im NZZ-Artikel aus dem Jahr 2015 „Zwist um Gartenkooperativen im Zürcher Dunkelhölzli“ nachgelesen werden: https://www.nzz.ch/zuerich/stadt-zuerich/zwist-um-gartenkooperativen-im-zuercher-dunkelhoelzli-1.18465345 (Abgerufen am 19.2.2018).

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gegen das Ohnmacht-Gefühl bezüglich Food-Waste agieren zu können. Die Teilnahme sei die Folge von Überzeugungen, auch wenn der Aufwand grösser sei, als der Verdienst.

Im letzten Teil der Exkursion hat Bettina Dyttrich den aktuellen Forschungsstand zu Solidarischer Landwirtschaft aufgezeigt, den sie massgeblich im schweizerischen Raum beeinflusst hat. Sie ist eine Expertin im Themenfeld, mit dem sie sich seit rund 20 Jahren befasst. Ihr Vortrag thematisierte neben landestypischen Begriffsdefinitionen von Solidarischer Landwirtschaft vor allem die Unterschiede des Konzepts im deutschsprachigen Raum. Basierend auf ihrem Buch „Auf dem Acker“ (Rotpunktverlag, 2015) präsentierte sie uns dieses weite und komplexe Forschungsfeld. Hier einige zentrale Aussagen: Der Begriff Solidarische Landwirtschaft12 wird eigentlich nur in Deutschland verwendet. In der Schweiz wird das Phänomen mit dem Begriff „regionale Vertragswirtschaft“ zusammengefasst. Beide Begriffe werden im Englischen „Community Supported Agriculture“ (CSA) genannt. Es gibt zwei Entwicklungszweige Solidarischer Landwirtschaft, die mehr oder weniger parallel zueinander abliefen. In Japan entstand in den 70er Jahren eine zunehmende Abwehrhaltung gegenüber chemisch behandeltem Gemüse infolge gehäufter Quecksilber-Vergiftungen und den daraus resultierenden Missbildungen. In Westeuropa entstand die Besorgnis um Essen während der 68er Bewegung; in Gärten von WG-Villen wurde infolgedessen zunehmend Gemüse kultiviert. In der Schweiz entstand 1978 das erste Solidarische Landwirtschaftsprojekt mit dem Jardin Du Cocagne in Genf. 1980 war in der Schweiz die erste Welle in Jura, Basel und Zürich. Generell ist die Solidarische Landwirtschaft stärker in der Westschweiz vertreten als in der deutschsprachigen Schweiz. Seit 2010 gibt es mindestens 50 solcher Vereine. Dyttrich betonte die Grundlagen solcher Projekte, die nicht zu unterschätzen seien: Es benötigt Land, Planung der Anbauintervalle von 50 Gemüsesorten, Verwertung der Ernte, Preissystem und Flächenpauschalen, Vertriebskanäle und Verteilungssysteme, sowie nebst Professionellen auch die Mitarbeit der Mitglieder/Abonnenten. Ausserdem seien die juristischen Anforderungen ernst zu nehmen.

Das Besondere an dieser Organisationsform ist, dass nicht das, was wächst, verteilt wird, sondern Berechnungen gewisse Mindestproduktionsmengen von Höfen gewährleisten sollen. Bei dieser Vertriebsform gibt es keine Finanzierung über Direktzahlung, sondern Vorauszahlung der Mitglieder. Vereine wie Solitaire Bern unternehmen den Versuch, bestehende Höfe in einem Kooperationsnetzwerk zu vereinen. Es wurde auch aufgezeigt, warum Hof-Besitzer der Grund für das Aus eines solchen Projekts sein können. Anschliessend gab es noch eine anregende Diskussion über das Potenzial, welches die Zusammenlegung der landwirtschaftlichen Flächen der Schweiz mit Süddeutschland hätte, sowie zum Konsumverhalten. Neben globalen Problemen in der Nahrungsmittelproduktion und Verteilung wurden Fair-Trade-Konzepte und Lebensmittel als Spekulationsgüter diskutiert. Zuletzt wurde auch das Rätsel um das Netz, an dem die Mitglieder beschäftigt waren, gelüftet: Es dient der Abwehr von Schädlingsbefall.

12 Mein Exkursionsbericht begreift Solidarische Landwirtschaft als Oberbegriff. Um Missverständnisse zu vermeiden habe ich mich für den Begriff der Solidarischen Landwirtschaft auch im Schweizer Kontext entschieden. Es könnte aber ebenso regionale Vertragswirtschaft genannt werden.

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Impressionen (Fotos von Lara Kirner und Boris Dietschi)

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«URBAN FARMING»

Führung durch das Aquaponic-Projekt Urban Farmers UF001 LokDepot in Basel, 17. November 2017. Bericht von Sara Michel Wir begeben uns von der Tramhaltestelle durch das Basler Industriegebiet Dreispitz und nach einer Weile sind auf einem Dach die orangenen Container der Urban Farmers zu erkennen. Wir haben unser Ziel erreicht und werden von Max Mesmer abgeholt, der uns unkompliziert begrüsst und uns das Du anbietet. Max kommt ursprünglich aus der IT Branche und ist bei Urban Farmers für Führungen zuständig. Ausserdem schaut er ab und zu nach den Fischen, die ihm am Herzen liegen. Wir werden aufs Dach zu Farm und Büro der Urban Farmers geführt, wo wir zuerst in einer Mischung aus Vortrag und «Frage-Antwort» Informationen zum Unternehmen bekommen und anschliessend durch die Farm geführt werden.

Hintergrund & Geschichte Urban Farmers13 ist ein Zürcher Unternehmen, das seit 2011 existiert und mittlerweile Projekte in Berlin, Den Haag, Basel und Wallisellen hat. Das Ziel von Urban Farmers ist nicht das direkte Produzieren und Verkaufen von Gemüse, sondern das System des Anbaus mithilfe der Aquaponik-Technik zu verbreiten. Um die Technik erklären und anschaubar zu machen, hat Urban Farmers jedoch eigene Farmen. In der Schweiz ist die einzige funktionsfähige Farm in Basel (UF001 LokDepot), welche es seit 2011 gibt. Die Christoph-Merian-Stiftung fördert die Urban Farmers seit 2011 durch finanzielle Unterstützung und indem sie ihnen ihr Dach als Standort zu Verfügung stellen. Basel wird als Forschungsstätte angesehen, wo auch experimentiert werden kann, die Produktion dient als Anschauungsobjekt und muss nicht gewinnbringend sein. Die Farm in Basel ist 200 qm gross wobei nur 100qm dem Anbau dienen, was keine grosse Anbaufläche darstellt. Die Angestellten sind vielfach unbezahlte Praktikanten, die Erfahrungen in der Thematik des Aquaponik sammeln wollen. Es gibt eigentlich keinen Bauern oder Farmer, sondern einen Operator, der darüber wacht, wie es den Pflanzen und Fischen geht, ob Sauerstoffgehalt und PH-Werte stimmen, und bei Bedarf eingreift oder ein Eingreifen durch andere auslöst. Im 2015 schrieb das Projekt zum ersten Mal keinen Verlust, was auf einen sonnenreichen Sommer sowie ein Verschont-bleiben von Krankheiten zurückzuführen war. Im 2016 konnte ein kleiner Profit ausgemacht werden. Das Jahr 2017 war dann jedoch das schlechteste Jahr seit dem Start: Mücken und Mehltau bereiteten Mühe, ausserdem sollte das gesamte Angebot von einem Restaurant bezogen werden, jedoch endete die Zusammenarbeit abrupt, so dass das bereits angebaute Gemüse nicht bezahlt wurde. Um es nicht zu verschwenden wurde viel davon verschenkt. Um doch noch etwas Geld in diesem Jahr einzuholen wird derzeit CBD/Cannabis angebaut. Die Farm in Den Haag ist mit 1’200qm einiges grösser und wird kommerziell betrieben, das heisst innerhalb von 8 Jahren muss die Produktion kostendeckend sein. Die Farm sei auf einem 13 Für weitere Informationen siehe https://urbanfarmers.com

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guten Weg das Ziel zu erreichen, dementsprechend hat es dort auch bezahlte Angestellte. Max erklärt, dass die Produkte gut ankämen, weil sie regional produziert werden und man sich die Produktion anschauen kann. Die Farm in Den Haag ist aber auch Bildungsort für Schulklassen, ausserdem hat sie sich als Eventstätte etabliert, so kann es sein, dass dort morgens ein Yoga-Kurs und abends ein Apéro stattfindet. Dies sei sehr beliebt, und Max bemerkt, dass achtgegeben werden muss, damit der Fokus auf die Landwirtschaft nicht verloren gehe.

Aquaponik Aquaponik14 ist keine neue Technik, sondern wird seit hunderten von Jahren betrieben, z.B. werden in Asien vielerorts Fische auf geflutete Reisfelder gebracht. Das Verwenden von Aquaponik für den Anbau auf städtischen Dächern ist aber neu. Beim Aquaponik wird der Kot von Fischen gesammelt und als Nährstoff für Pflanzen verwendet, welche im Wasserbad wachsen. In manchen Farmen, so auch in Basel, gibt es einen geschlossenen Wasserkreislauf. Max weist darauf hin, dass es pro Fischart ein Wassersystem geben sollte, da es nur so profitabel betrieben werden könne. In Basel habe es aufgrund des beschränkten Platzes nur vier Fischbecken. Es biete sich deshalb an, eine unkomplizierte Fischart zu wählen, die keine unterschiedlichen Wasserbecken, z.B. warm und kalt, benötigen. Es wurde der tropische Buntbarsch, auch Tilapia genannt, gewählt, der anspruchslos in Bezug auf Ernährung und Lebensraum ist. Er lebt ganzjährig in der gleichen Temperatur und weilt in der Natur in 1.5m Tiefe, d.h. er ist gerne in der Dunkelheit. Max betont, dass die Fische in den Plastikbecken glücklich seien und nicht mehr bräuchten. Er erwähnt, dass versucht wurde, den Lebensraum z.B. mit Steinen belebter und natürlicher zu gestalten, was jedoch keinen Einfluss auf die Fische gehabt habe. Die Fische werden mit Cerealien gefüttert, welche in Soja gebunden sind. Die Soja sei laut dem Lieferanten nicht gentechnisch verändert, was aber nicht geprüft werden könne. Die Ernährung der Fische ist insofern wichtig, da dies eine Grundvoraussetzung für eine vegane Zertifizierung angestrebt wird. Eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass auf Fleischfutter und Futter aus Fischknochenmehl verzichtet wird.

Vegan Eine vegane Zertifizierung wäre für den Vertrieb und das Marketing hilfreich. Derzeit gibt es noch keine klare Regelung darüber was veganer Anbau ist und was nicht. Es steht deshalb derzeit zur Debatte, ob ein Anbau, bei dem Tiere eingesetzt werden, überhaupt als vegan deklariert werden darf. Des Weiteren ist zu klären, ob die Fische bei einer möglichen veganen Zertifizierung nicht mehr für den Verzehr getötet werden dürfte, sondern stattdessen auf ihr natürliches Ableben gewartet werden müsste. Im Dezember 2018 soll es eine Konferenz in London geben, bei welcher dies genauer definiert sein soll. Die Zertifizierung wäre für Urban Farmers wünschenswert, da die Produkte relativ teuer sind und es deshalb gut wäre, sie auf einem Nischenmarkt, der auf eine zahlungsfähige Kundschaft ausgerichtet ist, anbieten zu 14 Aquaponik ist zusammengesetzt aus Aquakultur (Fischzucht) und Hydroponik (Pflanzenzucht ohne Erde), URL: https://urbanfarmers.com/technology/aquaponics (Abgerufen: 20.11.2017).

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können. Max erklärt uns, dass in der Schweiz zwar nur rund 1% der Bevölkerung einen veganen Lebensstil ausübe, in der Umgebung Basel aber 25% der Restaurants veganes Essen anbieten würden. Für manche Veganer sei es inakzeptabel, dass ein Tier beim Anbau ihres Essens beteiligt ist, aber andere stören sich nicht so daran. Derzeit werden die Fische nach 5 Monaten Lebenszeit geerntet. In der Natur Leben sie 3.5 bis 4.5 Monate lang. Es könnte sein, dass die neue Definition von veganem Anbau zur Folge hätte, dass die Fische nicht mehr getötet werden dürften, sondern auf ihr natürliches Ableben gewartet werde müsste.

Rundgang Nach einem äusserst informativen Austausch dürfen wir nun auch die Farm sehen. Diese sieht wie ein normales Gewächshaus aus, und Max erklärt, dass sie das ohne die Fische auch wäre. In der Farm ist es warm und die Luftfeuchtigkeit ist hoch. Wir nehmen sofort den Geruch der Cannabispflanzen wahr, die unter den Dampflampen wachsen. Neben den 4 bis 5 Reihen Cannabis hat es ein Tischbeet, wo Setzlinge (Microgreens) auf Steinwolle gezogen werden. Es liegen auch einige Beete brach, doch zuhinterst hat es noch zwei Beete, in denen Salat wächst. Max erklärt, dass im Winter vor allem Salat angebaut werde, der ganz einfach im Wasser wachsen könne, wo er Nährstoffe (von den Fischen) und Sauerstoff habe. Tomaten anzubauen sei komplizierter, da sie nicht direkt im Wasser wachsen und es deshalb Wassertomaten benötige. Wir gehen weiter zu den Fischen, die in einem separaten Raum untergebracht sind, wo es noch wärmer ist und weniger Licht hat. In zwei Becken hat es eine beachtliche Menge dieser orange-lachs-farbigen Fische, die auch eine stattliche Grösse haben. Max erklärt, dass er jeweils jene Fische, die aus unerklärlichen Gründen nicht wachsen oder von ihren Artgenossen geplagt werden, herausfische und sie in einem separaten Becken unterbringe, welches wir nun auch sehen. Er erklärt auch, dass sie nur Männchen in der Zucht haben, da die Fische in der Natur geschlechtergetrennt leben und dies in den Becken nicht möglich wäre. Auch die Menge an Fischen in einem Becken müsse optimal sein: sind es zu wenige, würden sie laichen wollen, können aber aufgrund der fehlenden Weibchen nicht und würden aggressiv gegenüber den anderen Fischen werden; sind es zu viele, würden sie einfach sterben. Wir bekommen auch den Filter gezeigt, wo schädliche Bakterien mit Schwarzlicht getötet werden. Es wird klar, dass das System zwar als simpel und beinahe als selbstversorgend präsentiert wird, jedoch trotzdem viel Überwachung und Aufmerksamkeit braucht. Zum Schluss zeigt uns Max eine unscheinbare Kiste, welche das teuerste Instrument der Farm sei. Darin werden die Fische durch einen elektrischen Schlag getötet. Sie gehen danach in ein Eisbad und dann sofort zum Abnehmer, wo sie nur zwei Stunden nach der Ernte in der Küche landen. Max erklärt uns, dass die Reinheit des Anbaus in Basel auf verschiedene Art und Weise unter Überwachung stehe. Einerseits ginge es den Fischen sofort nicht gut, wenn man die Pflanzen düngen würde, da sie in einem Kreislauf leben, und umgekehrt ginge es den Pflanzen nicht gut wenn die Fische Antibiotika bekämen. Max betont die Transparenz, die aus diesem System heraus entstehe. Andererseits sei der Standort der Farm speziell, da er auf der Grenze von Baselland und Basel-Stadt liege. Dies habe zur Folge, dass sich Gärtner und Kantonsärzte beider Kantone für den Betrieb interessieren und eine doppelte Kontrolle bestehe. Zusätzlich seien die Investoren von Urban Farmers im selben Gebäude ansässig und übten durchaus auch

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ihren Einfluss aus, sowohl auf das tägliche Geschehen, als auch auf die langfristige Ausrichtung des Unternehmens.

Zukunft und Fazit In Zukunft müsse mehr ins Marketing investiert werden, damit man eine breite Masse an Abnehmern hat. Max hofft, dass nächstes Jahr wieder Gemüse angebaut werde, obwohl das Cannabis mit seinem Kilopreis von 3'500.- weitaus lukrativer ist als z.B. der Tomatenanbau mit 9.-/Kilo. Der Sinn von Aquaponik und die Mission von Urban Farmers sei jedoch nicht der Profit, sondern eine alternative Möglichkeit der Lebensmittelproduktion aufzuzeigen, und dies gerade für städtische Gebiete. Aquaponik beanspruche aber nicht ein grundsätzlich besserer Anbau zu sein, sondern einfach eine ergänzende Möglichkeit für die Zukunft, denn Max erklärt auch, dass selbst wenn alle Dächer von Basel und Zürich landwirtschaftlich bebaut werden würden, dies nur 25% des Bedarfs decken würde. Schlussendlich wurde auch die Frage nach der Akzeptanz thematisiert, und Max bestätigt, dass viele Konsumenten den Aquaponik-Anbau ablehnen, da er ihnen unnatürlich erscheine, und dies sei seiner Meinung nach nur durch ein persönliches Besuchen der Farm veränderbar. Abschliessend ist festzuhalten, dass der Besuch bei den Urban Farmers sichtbar gemacht hat, dass das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt und möglicherweise weniger einflussreich sein kann, als es der hochprofessionelle Internetauftritt verspricht. Es ist deshalb fraglich, welche Spuren diese urbane Anbautechnik in den kommenden Jahren im Bereich des produktionsorientierten Lebensmittelanbaus tatsächlich hinterlassen wird. Des Weiteren wurde sowohl unterschwellig auch als explizit deutlich, dass das primäre Interesse und die Motivation des Unternehmens technische Innovation ist und nicht eine Veränderung der Gesellschaftliche in Richtung eines nachhaltigen Lebensstils.

Impressionen (Fotos von Sara Michel und Boris Dietschi)

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«NACHHALTIGKEIT UND GRÜNER STÄDTEBAU»

Vormittag: Besuch des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. B. (D), Austausch mit und Input von Prof. Dr. Markus Tauschek und Dr. Sarah May zu Knappheit und Nachhaltigkeit. Nachmittag: Stadtführung durch das Ökoquartier «Vauban» in Freiburg im Breisgau, mit Erich Lutz von «natur concept», anschliessend selbstständige Erkundung des Quartiers, 1. Dezember 2017. Bericht von Dilan Kuas Unsere Exkursion vom 1. Dezember 2017 war thematisch in zwei Schwerpunkte aufgeteilt: Einerseits ging es um ein kulturwissenschaftliches Verständnis des Begriffs «Nachhaltigkeit», der in Diskursen über grüne Urbanität präsent und immer auch politisch kodiert ist. Dabei interessierte uns die Frage, wie die Phänomene Nachhaltigkeit, Knappheit und Ressource diskursiv situiert sind. Um über diese und weitere spannende Fragen zu diskutieren, besuchten wir am Vormittag das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (KAEE) der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg i. B. (D), wo wir uns mit Prof. Dr. Markus Tauschek und Dr. Sarah May austauschen konnten. Andererseits haben wir uns in Freiburg das Öko-Quartier Vauban angeschaut, das oft als beispielhaftes Zukunftsmodell des nachhaltigen städtischen Lebens bezeichnet wird. Wie sieht ein solch Grüner Städtebau aus und wie sind die ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Ebenen miteinander verknüpft? Welche narrativen Strategien und welche Akteure waren in der Umwandlung des ehemaligen Militärbrachgeländes wirksam? Mittels einer Stadtführung mit Erich Lutz von «natur concept» und der anschliessenden selbstständigen Erkundung des Quartiers wollten wir uns diesen Fragen annähern. Trotz durchdachter Planung und einem frühzeitigen Treffen um 07:45 am Hauptbahnhof Zürich kamen wir aufgrund von Zugverspätungen leicht verspätet am Institut KAEE an: Ein sehr charmantes Haus mit eigenem Garten, in einem idyllischen Quartier gelegen. Sehr herzlich und enthusiastisch empfing uns Sarah May und bot uns eine Führung durch das Institutsgebäude an. Ihr Enthusiasmus hatte auch durchaus Grund, denn das Institut feierte erst kürzlich sein fünfzigjähriges Jubiläum. Im Rundgang durch das alte Gebäude betonte Sarah May einerseits das Wachstum des Instituts, welches sich durch die Geschichte der Räumlichkeiten verbildlichte, andererseits auch die familiäre Atmosphäre, die sich in den Seminarräumen und den eigens bepflanzten Tomaten im Garten sichtbar machte. Nebenbei bot sich auch die Gelegenheit, während der Führung über innenpolitische Verhältnisse der Institute in Zürich und in Freiburg zu reden und Vergleiche zu ziehen. Im Sitzungsraum, umgeben von einer grossen Märchensammlung, wurden wir nun auch von Markus Tauschek freundlich begrüsst. Das Thema unserer Diskussion war der kulturwissenschaftliche Zugang zum Thema Nachhaltigkeit, wobei der von Markus Tauschek und Maria Grewe herausgegebene Sammelband «Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen» die theoretische Grundlage für unsere Diskussion bildete. Bei unseren Betrachtungen, die mal begrifflich und mal praktisch waren, zeigte sich auch die Wichtigkeit von kulturanthropologischen Praktiken für das Verständnis von aktuellem Zeitgeschehen. Im Anschluss an die Diskussion stellte auch Dr. Sarah May ihr aktuelles Postdoc-Projekt vor, wobei

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sie die Wichtigkeit der Materialität von Holz bei ökologisch-ökonomischen Diskursen besonders hervorhob. Am Paula-Modersohn-Platz in Vauban trafen wir um 13:30 Erich Lutz, der als Landschaftsplaner bei der Planung des Quartiers Vauban mitbeteiligt war und seither in Vauban wohnt und arbeitet. Er führte uns während 1.5 Stunden durch Vauban, wobei er als erstes betonte, dass es keine Standardführung gebe. Vielmehr passe er die Führung immer an die entsprechenden Gruppen an. Der Ablauf unserer Führung sah dann so aus, dass er uns zuerst einen kurzen Überblick über die Geschichte von Vauban vermittelte. Nach dem Abzug der in Freiburg stationierten französischen Truppen in 1992 kaufte die Stadt Freiburg 1994 das Gelände vom Staat und setzte sich das Ziel, ein dichtes Wohnviertel mit hohen sozialen und ökologischen Standards zu entwerfen. Die Erzählung über die Entstehung des nachhaltigen Konzepts Vauban und die Planungsphase des Quartiers war geprägt von der Betonung der grossen Bürgerbeteiligung und der Wichtigkeit von Baugruppen. Es sei ein «Glücksfall» gewesen, dass der Prozess so einstimmig und mit grossen Freiheiten von Statten gehen konnte. Eingeleitet mit einer Anspielung auf Lenin («Vertrauen ist gut, Kontrolle besser»), erfuhren wir mehr über die Beschlüsse bezüglich der Umweltstandards: Die Begrünung der Terassendächer und die Solaranlagen auf den Dächern, das Regenwassermanagement und die Versickerungsgräben, der Niedrigenergiestandard, energieeffizientes Bauen und das «autofreie», bzw. auto-reduzierte Verkehrskonzept seien die wichtigsten ökologischen Aspekte des grünen Städtebaus in Vauban. Danach stellte er uns einige Projekte im Quartier vor, die auch einen pädagogischen und sozialen Aspekt haben: Projekte wie der Kinderabenteuerhof und der interkulturelle Garten sollten hier das Soziale und Pädagogische mit dem Grünen vereinbar machen. Doch dann räumte Herr Lutz auf Nachfrage auch einige Mängel im Quartier ein: Der soziale Aspekt sei zu kurz gekommen in der Planung und so gebe es wenig Sozialwohnungen. Generell sei Vauban wirtschaftlich wertvoll geworden, was dazu führe, dass die Immobilien- und Mietpreise immer mehr steigen. Man habe auch erst spät daran gedacht, dass die Kinder älter werden und auch ihre eigenen Freiräume bräuchten. Interessant war auch die Schilderung der Entwicklung in den Peripherien, die nicht so in das eher einheitliche Bild von Vauban passen würden: Die grösseren und weniger ökologischen Projekte werden vom Bürgerverein («von uns», so Lutz) kritisiert. Auch Konflikte mit der Stadt bezüglich der Autoparkplätze und der Asphaltierung der Strassen zeigten an, dass es durchaus auch Reibungen gibt. Grundsätzlich war Erich Lutz aber sehr pragmatisch und optimistisch eingestellt und betonte, dass Kompromisse gemacht würden und die Stadtpolitik gut funktioniere. Er vermittelte uns den Eindruck, dass in der Politik und wie auch im Zusammenleben in Vauban grundsätzlich Konsens herrsche. Unsere Führung endete mit dem Punkt «das Lebensgefühl in Vauban», wobei genau dieses durch die Führung hindurch immer schon im omnipräsenten Ausdruck «wir» im Raum stand. Das nachbarschaftliche Zusammenleben, die familiäre Wohnsituation mit überwiegend jungen Familien und die Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner in die Stadtentwicklungspolitik wurden als besondere Qualitäten des Lebens in Vauban gepriesen. Beim selbstständigen Spaziergang durch das Quartier haben wir jedoch festgestellt, dass diese Einstimmigkeit durchaus auch ambivalente Gefühle in uns ausgelöst hat, die eine weiterführende Analyse verlangen.

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Impressionen (Fotos von Boris Dietschi)

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«STÄDTISCHE UMWELTPOLITIK UND BEHÖRDLICHE WISSENSVERMITTLUNG»

Morgen: Partielle Begehung des Stadtrundgangs «Unterwegs zur 2000-Watt-Gesellschaft» der Stadt Zürich in Zürich-Albisrieden sowie Stippvisite in «Veg and the City – Bloom», Zollfreilager Zürich. Vormittag: Besuch der Stadtgärtnerei Zürich, Referat von Ruedi Winkler (Verantwortlicher öffentliches Bildungsangebot Grün Stadt Zürich), 8. Dezember 2017. Bericht von Ramona Bussien

9:30 Uhr: Eine nasse Bescherung

Unheilschwanger verdunkelten die Regenwolken das Firmament über den Dächern Albisriedens, als ich den Treffpunkt an der Bushaltestelle «Im Gut» erreichte. Eine halbe Stunde zu früh. Der Asphalt glänzte nass, die Luft war trocken. Noch. Das Grau in Grau spätherbstlichen Wetters verhiess nichts Gutes für die letzte Exkursion im Rahmen des Mastermoduls «Grüne Urbanität» bei Herrn Doktor Scheidegger. Das Thema: Städtische Umweltpolitik und behördliche Wissensvermittlung. Um 9:30 Uhr trafen die letzten Studentinnen ein – und als hätten die Wolken auf diesen Moment gelauert, nässten die ersten Regentropfen meine Stirn. Während Regenschirme entfaltet wurden und die Tropfen immer unnachgiebiger auf Strassen und Gehwege trommelten, setzten wir uns in Bewegung, noch halbwegs guter Dinge, den vom Tiefbau- und Entsorgungsdepartement der Stadt Zürich (in Zusammenarbeit mit dem Gesundheits- und Umweltdepartement) bestellten Spaziergang durch Albisrieden zu begehen. Unterwegs zur 2000-Watt-Gesellschaft! Unsere Zuversicht bröckelte bald: Der Wind blies uns die Tropfen in die Gesichter, Regenschirme entglitten feuchten Fingern. Nach einem getriebenen Blick auf einen Quellwasserbrunnen und nach ein paar Schritten dem Triemlifussweg entlang entschieden wir uns zum Abbruch. Was hätte der Spaziergang bereitgehalten? Wer sich diese Frage stellte, hatte nunmehr – im Schutz der Bushaltestelle – die Gelegenheit, die Broschüre zurate zu ziehen.

Ein Blick auf die Broschüre des 2000-Watt-Spaziergangs «Züri z’Fuess»15: Das Projekt umfasst 24 Spaziergänge in der Stadt Zürich; die Themenvielfalt reicht von Geschichte über Politik bis hin zu Fussball. Der 2000-Watt-Spaziergang ist einzigartig: Der Rundgang durch Albisrieden verspricht, eine grosse Bandbreite ökologischer Probleme zu adressieren, aufzuzeigen, wo noch Handlungsbedarf besteht, wo Fortschritte zu verzeichnen sind, ja, wo Albisrieden – und damit zu einem gewissen Grad auch Zürich selbst – in der Entwicklung hin zu einer ökologisch wertvollen und umweltbewussten Örtlichkeit steht.

15 Tiefbauamt der Stadt Zürich (Hg.): Unterwegs zur 2000-Watt-Gesellschaft (Züri z’Fuess, Nr.20), Zürich 2012.

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Von 6000 Watt auf 2000 Watt Energieverbrauch pro Person: Auf nur einen Drittel soll eine Reduktion möglich sein – und das mit nur wenigen Einschränkungen im alltäglichen Wohlbefinden? Wie das gehen soll oder kann, zeigen die 13 Posten des Spaziergangs. Posten 3: einer der Zürcher Quellwasserbrunnen. «Unser Züri-Wasser ist gesund und benötigt 1000 Mal weniger Energie als Mineralwasser aus der Flasche», heisst es auf dem Plan. Lieber Hahnenwasser als Wasser aus der Migros. Die Broschüre bezieht den Leser mit ein, erteilt Ratschläge und sensibilisiert für selbstverständlich empfundene Alltagselemente wie Trinkwasser, Strom oder Nahrungsmittelverpackungen. Posten 10: die alte Mühle Albisriedens. Hier entsteht Ökostrom. «Sie [die Wasserkraft] ist nicht nur CO2-neutral, sondern auch einheimisch und erneuerbar.» Drei Wertigkeiten, die sich über diesem Bau aus dem 19. Jahrhundert zu einem idealtypischen Dach zusammenschliessen. Wer auf Ökostrom umsteigen möchte, kann sich sogleich unter dem zur Verfügung gestellten Link informieren.

10:00 Uhr: Unterwegs im Zollfreilager

Um 9:50 Uhr löste sich der Bus 89 aus dem nasskalten Gestöber und gewährte uns für eine kurze Fahrt bis zur Haltestelle Flurstrasse Obdach. Das Wetter beruhigte sich und fast unbehelligt besichtigten wir den 11. Posten des 2000-Watt-Spaziergangs, das Zollfreilager. Gegründet 1929 als Lagerfläche für die Zwischenlagerung unverzollter Güter beherbergte das Zollfreilager lange Zeit vor allem Automobile. Nach seiner Auflösung fand hier ein Wohnbauprojekt seinen Platz – und heute besteht es aus fünf Quartieren, mehrheitlich Neubauten, die dem Minergie-Standard folgen. Kurz nach 10:00 Uhr betraten wir die ehemalige Ladepassage. Hagebuchenhecken kreuzten unser Sichtfeld und der Kies knirschte unter unseren Sohlen. Der Rasen: kurzgeschoren. Wir passierten langgestreckte Holzbauten, die Langhäuser des Zollfreilagers. Holz als erneuerbare Ressource gilt als ökologisch wertvoll. Nur ahnen konnte ich, dass es sich beim verwendeten Baumaterial um Nadelhölzer aus der Region handelt. Die Wege und Strassen folgten strikten geometrischen Formen, hielten das Grün unter Kontrolle. Wenige Gehminuten später öffnete sich vor uns die Ladenflucht der Marktgasse. Backsteinmauern zu beiden Seiten erhoben sich in den grauen Himmel; ihre Balkone fingen unsere Aufmerksamkeit. Wie Pilze an Totholz hingen sie über der Gasse. Ein «Spar»-Laden hatte sich hier eingerichtet, doch zogen wir weiter zu einem Geschäft, das Interessanteres versprach: «Veg and The City». «Gärtnern in der Stadt» und «Do it yourself» lauten die Devisen dieser auf sämtliche ökologisch bedeutsamen Parameter ausgerichtete Ladenkette. Die Ladenverantwortliche klärte uns bereitwillig über «Veg and The City» auf, Fotos aber wünschte sie keine. Ein Gang durch den Laden ähnelte einem Gang durch ein grünes Wunderkabinett: Von Seedballs über Blumenzwiebeln und rauchfreie Kohlegrills bis zu Ratgeberliteratur und Insektenhäuschen findet hier der Urban Gardener alles, was sein Herz begehrt. Wir verliessen die Marktgasse und beschritten weiträumige Plätze und Wege zwischen den Häuserbauten. Aus unversiegelten Kreisflächen erhoben sich mal fünf, mal sieben Laubbäume, und plötzlich klaffte diese grüne Nische zwischen den Bauten. Abgesondert, heimlich, als wollte sie sich vor unwillkommenen Blicken schützen. Privatgärten, mutmassten

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wir. Eine grüne Oase, wie wir sie auf unserem kurzen Gang durch den Rest des Zollfreilagers vergeblich suchten: Viele Aussenflächen präsentierten sich uns versiegelt. Die Vegetation wirkte mehrheitlich gepflegt, nicht wuchernd oder gar wild. In einer Pfütze spielten Kinder unter den wachsamen Augen ihrer Eltern oder Erziehungsbeauftragten. Das Zollfreilager beherbergt mehrere Spielplätze und verspricht damit, vor allem Familien ein lebhaftes – wohl nicht ganz so günstiges – Wohnquartier zu bieten. Albisrieden scheint beispielhaft. Ein Vorzeigeexemplar, auf das die Stadt stolz sein kann. Einfach mutet der Weg hin zu einem nachhaltigen Umgang mit unseren Ressourcen an – vielleicht zu einfach. Was in Albisrieden funktioniert, könnte sich andernorts als ineffizient entpuppen. Ein Wasserrad läuft nur dort, wo Wasser fliesst. Menschen können sich solch eine Wohnsituation nur leisten, wo der Wohlstand ins obere Mittelfeld geklettert ist. Auf jeden Fall regt der Spaziergang zum Nachdenken an, inspiriert womöglich den ein oder anderen zur Auseinandersetzung mit ökologischen Problematiken. Auch in seinem Alltag.

11:00 Uhr: Bei Herrn Ruedi Winkler von der Stadtgärtnerei Zürich

Mit der Busnummer 89 fuhren wir zurück nach Hubertus. Der Weg war nicht weit: Die Eingangshalle der Stadtgärtnerei empfing uns mit wohliger, regelrecht tropischer Wärme. Das ist kein Zufall: Das Zürcher Zentrum für Pflanzen und Bildung war ursprünglich ein reiner Produktionsbetrieb, zuständig für die Anzucht von Schnittblumen, Gemüsesetzlingen, Topfpflanzen und vielem mehr. Heute lockt der Park mit seinem dünenähnlichen Sandgarten, das Tropenhaus bietet Besuchern einen Blick in ferne Ökosysteme und das breitgefächerte Bildungsangebot sorgt für einen stetigen Informationsfluss hin zum Zürcher, zur Zürcherin. Herr Ruedi Winkler, der Fachbereichsleiter Bildung bei Grün Stadt Zürich, empfing uns zu einem Gespräch über die Stadtgärtnerei und Grün Stadt Zürich, über die Hintergründe, die Zielsetzungen. Grün Stadt Zürich ist Teil des Tiefbau- und Entsorgungsamtes und infolgedessen zuständig für Parks, Friedhöfe, Gartendenkmäler, Sportflächen, Landwirtschaft, Wald und Garten. Das Hauptanliegen ist nach Herrn Winkler leicht zu benennen: Artenvielfalt. Biodiversität. Ein Wort, dem wir im Laufe unseres Seminars schon häufig begegnet sind. Doch was macht Biodiversität so gewichtig? Weshalb zählt Biodiversität überhaupt? Herr Winkler liefert auf diese Frage die Antwort: Biodiversität ist nicht nur von ökologischem, sondern auch von ökonomischem Interesse. Wo die Natur blüht, pflegt und regeneriert sie sich mehrheitlich selbst. So fielen für Wohnaussenräume weniger Pflegearbeiten an, wovon letztlich alle profitieren. Ferner biete eine gesunde und vielfältige Natur dem Menschen wertvolle Erholungsräume – und gewiss brechen solche grünen Oasen das trostlose Grau des stereotypen Stadtalltags auf und bereichern es. Allerdings verweist Herr Winkler ebenfalls auf den Umstand, dass wuchernde Natur nicht immer die höchste Biodiversität verspricht. Flächen verwildern zu lassen, das sei nicht Ziel von Grün Stadt Zürich. Grün Stadt Zürich wünscht demnach keine Verwilderung, gleichsam aber eine höchstmögliche Biodiversität. Meine Gedanken stockten. Natürlichkeit bedeutet nicht zwangsweise eine hohe Biodiversität. Die Natur schuf und schafft Ökosysteme, in denen weniger Arten koexistieren als in anderen. Wo es an ökologischen Nischen mangelt, siedeln sich weniger Arten an: Ist dieses Streben nach höherer Biodiversität nicht bereits wieder ein kulturelles Phänomen? Ja, was meint der Einzelne, wenn er von Biodiversität spricht?

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Zahlreiche Ökosysteme vergangener Tage verschwanden mit der Besiedelung des Menschen, wurden zerstückelt, ausgehungert. Der Versuch, diese verlorene Vielfalt wiederherzustellen und das Verbliebene zu beschützen, scheint im Wunsch zu wurzeln, die heute empfundene Rücksichtlosigkeit des Menschen gegenüber seiner Umwelt wiedergutzumachen. Ein Begriff, angereichert mit solch vielen Deutungsweisen und versteckten Botschaften, doch selten definiert: Droht «Artenvielfalt» zu einer ähnlich leeren Worthülse zu verkommen wie «Knappheit» und «Nachhaltigkeit»? Ruedi Winkler sprach darüber hinaus das Bildungsangebot der Stadtgärtnerei an. 800 Schulklassen besuchen jährlich das Zentrum für Pflanzen und Bildung. Kurse, Führungen und Vorträge stehen im Angebot, Ausstellungen finden statt und Publikationen und Broschüren tragen das «grüne Wissen» weiter. Nicht das Vermitteln von harten Fakten steht im Fokus, sondern das Wecken von Interesse, das Bieten eines Berührungspunktes zwischen Mensch und Natur, der Verständnis schafft und zum Nachdenken anregt. Und zum Nachdenken regt das vielfältige Angebot der Stadtgärtnerei mit Sicherheit an. Herr Winklers Worte malen Bilder und ganze Szenerien vor mein inneres Auge. Szenerien aus unserem Alltag: Jeden Sonntag prangt eine Vase voller prächtiger roter Rosen auf dem Esstisch. So ist es immer gewesen. Eine familiäre Tradition. Von Januar bis Dezember ohne Ausnahme. Aber brauchen wir das? Was, wenn im Januar plötzlich keine handelsüblichen Rosen mehr auf dem Tisch thronen, sondern Christrosen aus der Region? Was brauchen wir wirklich? Worauf könnten wir verzichten, ohne unseren Wohlstand, an den wir uns ein Leben lang gewöhnt haben, beschneiden zu müssen? Ruedi Winkler nennt dies das Suffizienzprinzip. Nachhaltig und ökologisch leben bedeutet nicht nur neue Technologien und ein Umsteigen auf Ökostrom, dieser Lebensstil legt generell nahe, Dinge zu hinterfragen und gegebenenfalls nach Einfachheit zu streben, die die Christrose im Dezember der roten Rose aus dem Supermarkt vorzieht. Das exzessive Importgeschäft hat die Bedeutung der Jahreszeiten längst ausgehebelt. Ruedi Winkler denkt positiv: Er glaubt, die Bevölkerung nähme eine Umorientierung hin zu regionalen Produkten ohne allzu grossen Aufschrei an. Auch ich bin mir sicher: Der Trend zur Einfachheit greift um sich.

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Impressionen (Fotos von Ramona Bussien und Mireya Wettstein)

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