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brauchen. Und für eine Forderung, die den kämpfenden Kollegen dient, ist allemal besser zu mobilisieren. (aus: alternative, für die Kolleginnen und Kollegen im Daimler-Werk Utertürkheim, Nr. 51, Juli 2008) express 8/2008 9 Dringliches Ohne Proletariat ins Paradies? Zur Aktualität des Denkens von André Gorz – Tagung der Heinrich-Böll-Stif- tung Hessen und des Instituts für Sozial- forschung, Frankfurt a. M. André Gorz (1924–2007) hat Impulse für zahlreiche soziale und politische Bewegungen gegeben und sowohl die öffentliche wie die akademische Diskus- sion über gesellschaftstheoretische Fra- gen immer wieder bereichert und vor- angetrieben. Das gilt für die 1968er- Bewegung und die europäische undog- matische Linke ebenso wie für die grü- ne Bewegung und die Gründungsge- schichte der »Grünen«. Seine einflussreichen wissenschaftlichen und journalistischen Beiträge im Feld der politischen Ökologie haben maß- geblich dazu beigetragen, dass ökologi- sche Themen Eingang ins öffentliche Bewusstsein und die Agenda der Politik gefunden haben. André Gorz’ Werk kann insgesamt als eine Art »Frühwarn- system« gelesen werden, das gestal- tungs- und wirkungsmächtige gesell- schaftliche Unterströmungen erkannt, thematisiert und in ihren Konsequen- zen analysiert hat. Es verbindet ökologi- sche Kritik der Naturzerstörung des industriellen Kapitalismus, feministi- sche Kritik an der Organisation von Staat und Gesellschaft sowie die Kritik des tradierten Arbeitsbegriffs als zentra- lem gesellschaftlichen und ökonomi- schen Antriebsmotor. Zunehmend wichtig wurde für ihn zudem die Frage, welche Bildung wir eigentlich für die zu erwartenden sozialen, ökologischen und wissenschaftlich-technologischen Herausforderungen benötigen. Diese Tagung verfolgt nicht nur das Ziel, an den »philosophischen Journa- listen« André Gorz zu erinnern, son- dern fragt darüber hinaus nach der heu- tigen Relevanz seines Werkes und den Möglichkeiten, seine Gedanken auf den Gebieten Bildung, Ökologie und Arbeit weiterzuentwickeln. Aus dem Programm: Symbolisches Wissen als demokrati- sche Produktivkraft?, Micha Brumlik, J.W.-Goethe-Universität Frankfurt a.M. Wissensökonomie – jenseits von Kapitalismus und Verwertungslogik?, Hermann Kocyba, Institut für Sozial- forschung, Frankfurt a.M. Die Folgen der Notwendigkeiten der Natur für die Politik als Kunst des kerInnen auch das Instrument der »ver- dachtsunabhängigen Personenkontrolle« (Schleierfahndung), mit dessen Hilfe eben keineswegs jeder kontrolliert wurde, sondern solche Personen, deren Aussehen oder Haut- farbe fremdländisch wirkten oder deren Haa- re zu lang waren. Zur gesellschaftlichen Entpolitisierung dürften die neuen Medien und insbesondere das Privatfernsehen beigetragen haben. So könnte die neue Sorglosigkeit mitzuerklären sein, mit der ein Medium wie das Internet freiwillig und von vielen genutzt wird, um intime Informationen preiszugeben oder pri- vate Fotos zu verbreiten. Doch immerhin: Der Vorratsdatenspei- cherung trat ein gleichnamiger Arbeitskreis entgegen, sammelte im Internet Unterschrif- ten dagegen und organisierte eine Klage. Der Gruppe gehören etwa die Deutsche Vereini- gung für Datenschutz, der Chaos-Computer- Club, die Internationale Liga für Menschen- rechte, Ärzte-Verbände, aber auch sich um den Schutz ihrer Anrufer (und Informanten) sorgende Telefonseelsorger, Journalisten-Ver- bände und Sozialarbeiter an. Möglichkeit schafft Missbrauch Die technischen Möglichkeiten der Erfas- sung und Speicherung von Daten wurden in den vergangenen Jahren unerhört ausgewei- tet. Die Möglichkeit der unbemerkbaren Online-Durchsuchung hat endgültig gezeigt, dass über Kommunikations- netze letztlich ein Zugriff auf alle in das Netz eingebunde- nen Geräte möglich ist. Die Berichte über Hacker, die von zuhause aus selbst in ver- meintlich bestens geschützte staatliche Großrechner einzu- dringen vermögen, bestätigen dies in umgekehrter Weise. Je unüberschaubarer die Datenmenge und je unkon- trollierbarer der Zugriff auf sie über ein Medium wie das Internet, um so erwartbarer die unkontrollierte Nutzung. Handelt es sich beim Daten- missbrauch von privater Seite um gewöhnlichen Betrug, könnte der Missbrauch der Überwachungsmacht von staatlicher Seite zu verheeren- den Konsequenzen führen. Der Zugriff ist zu erwarten, da er technisch möglich ist. Ob die Massendaten jeweils wirklich nach einem halben Jahr gelöscht werden, ist un- überschaubar, wer die Daten zwischenzeitlich gegebenen- falls verwendet, verkauft hat, ebenso. Das Äußerste wäre dann der staatliche Missbrauch der Informationen, eine Katastrophe. Schon Pannen können fatal ausfallen. Wie sich dieser »Datenschutz« in großartiger Weise mit der Privatisierung verträgt, verdeutlicht ein Beispiel aus Groß- britannien. Eine vom Innenministerium beauftragte Firma teilte diesem mit, sie ver- misse ein Speichermedium mit den Namen und Geburtsdaten aller Häftlinge in England und Wales sowie die Adressen von über 30 000 Wiederholungstätern. Die Daten befanden sich auf einem USB-Stick. Die Massendatenspeicherung, über die rechtlich entschieden worden wird, ist einzu- stellen. Nach einem Wort von Hans-Chris- tian Ströbele wird das Bundesverfassungsge- richt wiederum praktisch als Grundgesetzge- ber wirken müssen. Zu fordern ist ein grund- gesetzlich garantiertes Recht auf Daten- schutz. Erinnerung an die Menschenrechte An fanatischen SelbstmordattentäterInnen scheitert der Rechtsstaat, jene können nicht als Prüfstein dienen. Ihn als Vorwand zu neh- men, die Bevölkerung vorzuverurteilen, und jeden und jede zum potentiellen Kriminellen zu machen und im Vorhinein schon einmal die Fingerabdrücke zu nehmen, verdeutlicht, dass der Präventionsstaat das Gegenteil des liberalen Rechtsstaats ist, dessen wirksamste Prävention in einer angemessenen Sozialpoli- tik bestünde. Demgegenüber ist an Bestimmungen der am 10. Dezember 1948 von der Generalver- sammlung der Vereinten Nationen geneh- migten und verkündeten »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« zu erinnern, in der es heißt: In Artikel 2 zum Verbot der Diskriminie- rung: »Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freihei- ten ohne irgendeinen Unterschied, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Reli- gion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umstän- den.« In Artikel 8 geht es um den Anspruch auf Rechtsschutz: »Jeder Mensch hat Anspruch auf einen wirksamen Rechtsschutz vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen alle Handlungen, die seine ihm nach der Ver- fassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzen.« Artikel 18 stellt Gedanken-, Gewissens-, Religionsfreiheit unter Schutz: »Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Ge- wissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder sei- ne Überzeugung zu wechseln sowie die Frei- heit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.« Und schließlich Artikel 19 zur Meinungs- äußerungs- und Informationsfreiheit: »Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinung und Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, sich Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu beschaffen, zu empfangen und zu verbreiten.« Artikel 11 betrifft die Unschuldsvermu- tung: »Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.« Und die Freiheitssphäre des Einzelnen definiert Artikel 12: »Niemand darf willkürli- chen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Ruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen der- artige Eingriffe oder Anschläge.« Es ist daran zu erkennen, welche politischen Folgerungen aus den historischen Erfahrun- gen insbesondere der Nazi-Barbarei gezogen wurden. Zwar ist diese wissenschaftlich bis heute weitaus besser erhellt, als sie es in der Nachkriegszeit sein konnte – aber dem zum Trotz scheint ein entspre- chendes historisches Bewus- stsein in der heutigen Politik kaum noch entwickelt. Im Hintergrund: Altersteilzeit Nach 2009 wird es für die Altersteilzeit (ATZ) keine Zuschüsse mehr von der Ar- beitsagentur geben. Die IG Metall und Südwestmetall hatten sich darauf verstän- digt, dass die bestehenden Betriebsvereinbarungen auch nach 2009 weiterge- führt würden. Auf freiwilliger Basis sollten Betriebe künftig auch neue Altersteilzeit- regelungen für Beschäftigte ab 57 Jahren vereinbaren können – mit bis zu sechs Jahren Laufzeit. Wer sie nutzt, könnte dann mit 60 Jahren aufhören zu arbeiten und mit 63 in Ren- te gehen. Außerdem bestand laut »metallzeitung« Konsens, dass auch Beschäftig- te, deren Arbeit »besonders belastend« ist, wie die von Schichtarbeitern, schon mit 57 Jahren Anspruch auf Altersteilzeit haben. Alle anderen sollten ab 61 bis zu vier Jahre in Altersteilzeit gehen können. Für GeringverdienerInnen sollte das Ent- gelt in der Altersteilzeitphase aufgestockt werden, damit diese die Altersteilzeit überhaupt in Anspruch nehmen können. Während bis zu diesem Punkt Einigkeit bestand, kam es zum Abbruch der Gespräche, weil die Arbeitgeber darauf beharrten, dass in all den Betrieben, in denen es keine Schichtarbeit gibt, nicht mehr als zwei Prozent der Belegschaft in Altersteilzeit gehen dürfen. Bisher liegt die Grenze bei fünf Prozent. Gesellschaftliche Diskussion fehlt Trotz der fortschreitenden Eingriffe in bür- gerliche Freiheitsrechte und des Anwachsens staatlicher Überwachung fehlt eine gesell- schaftliche Diskussion, fehlen weitgehend auch Interventionen »öffentlicher« Intellek- tueller, die sich in den 70er Jahren noch zur »Verteidigung der bürgerlichen Freiheit« äußerten – augenfällige Differenzen im Hin- blick auf die in diesem Jahr verbreiteten Erinnerungen an die gesellschaftliche Politi- sierung und das politische Handeln in den Jahren um 1968. So wirken selbst die Anstrengungen, die es gegen die Volkszäh- lung 1987 gab, wie Formen gesellschaftlichen Handelns aus einer anderen Zeit. Es gab Debatten, vielfältige Initiativen, Schriften wie die »Rechtsschutzfibel«, herausgegeben von der Humanistischen Union und dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwäl- teverein. Hans-Christian Ströbele schrieb seinerzeit: »Nur ein leerer, nicht ausgefüllter Fragebogen der Volkszählung 87 ist ein datensicherer, harmloser und deshalb ein gut- er Fragebogen.« Und er folgerte, dass men- schenfeindliche und nicht im Bürgerinteresse stehende Planungen nicht deshalb erfolgt sei- en, weil etwa Daten aus einer Volkszählung gefehlt hätten, wie die Befürworter der Volkszählung immer behaupteten. Die Daten waren überflüssig, »menschenfeindliche Pla- nungen« würden auch ohne diese umgesetzt, mit den Daten würden sie nicht verhindert. Immer wieder skandalisiert wurde von Kriti-

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brauchen. Und für eine Forderung,die den kämpfenden Kollegen dient,ist allemal besser zu mobilisieren.

(aus: alternative, für die Kolleginnenund Kollegen im Daimler-Werk

Utertürkheim, Nr. 51, Juli 2008)

express 8/2008 9

Dringliches

Ohne Proletariat ins Paradies?

Zur Aktualität des Denkens von AndréGorz – Tagung der Heinrich-Böll-Stif-tung Hessen und des Instituts für Sozial-forschung, Frankfurt a. M.

André Gorz (1924–2007) hat Impulsefür zahlreiche soziale und politischeBewegungen gegeben und sowohl dieöffentliche wie die akademische Diskus-sion über gesellschaftstheoretische Fra-gen immer wieder bereichert und vor-angetrieben. Das gilt für die 1968er-Bewegung und die europäische undog-matische Linke ebenso wie für die grü-ne Bewegung und die Gründungsge-schichte der »Grünen«.

Seine einflussreichen wissenschaftlichenund journalistischen Beiträge im Feldder politischen Ökologie haben maß-geblich dazu beigetragen, dass ökologi-sche Themen Eingang ins öffentlicheBewusstsein und die Agenda der Politikgefunden haben. André Gorz’ Werkkann insgesamt als eine Art »Frühwarn-system« gelesen werden, das gestal-tungs- und wirkungsmächtige gesell-schaftliche Unterströmungen erkannt,thematisiert und in ihren Konsequen-zen analysiert hat. Es verbindet ökologi-sche Kritik der Naturzerstörung desindustriellen Kapitalismus, feministi-sche Kritik an der Organisation vonStaat und Gesellschaft sowie die Kritikdes tradierten Arbeitsbegriffs als zentra-lem gesellschaftlichen und ökonomi-schen Antriebsmotor. Zunehmendwichtig wurde für ihn zudem die Frage,welche Bildung wir eigentlich für die zu

erwartenden sozialen, ökologischenund wissenschaftlich-technologischenHerausforderungen benötigen.Diese Tagung verfolgt nicht nur dasZiel, an den »philosophischen Journa-listen« André Gorz zu erinnern, son-dern fragt darüber hinaus nach der heu-tigen Relevanz seines Werkes und denMöglichkeiten, seine Gedanken auf denGebieten Bildung, Ökologie und Arbeitweiterzuentwickeln.

Aus dem Programm:● Symbolisches Wissen als demokrati-sche Produktivkraft?, Micha Brumlik,J.W.-Goethe-Universität Frankfurt a.M.● Wissensökonomie – jenseits vonKapitalismus und Verwertungslogik?,Hermann Kocyba, Institut für Sozial-forschung, Frankfurt a.M.● Die Folgen der Notwendigkeitender Natur für die Politik als Kunst des

kerInnen auch das Instrument der »ver-dachtsunabhängigen Personenkontrolle«(Schleierfahndung), mit dessen Hilfe ebenkeineswegs jeder kontrolliert wurde, sondernsolche Personen, deren Aussehen oder Haut-farbe fremdländisch wirkten oder deren Haa-re zu lang waren.

Zur gesellschaftlichen Entpolitisierungdürften die neuen Medien und insbesonderedas Privatfernsehen beigetragen haben. Sokönnte die neue Sorglosigkeit mitzuerklärensein, mit der ein Medium wie das Internetfreiwillig und von vielen genutzt wird, umintime Informationen preiszugeben oder pri-vate Fotos zu verbreiten.

Doch immerhin: Der Vorratsdatenspei-cherung trat ein gleichnamiger Arbeitskreisentgegen, sammelte im Internet Unterschrif-ten dagegen und organisierte eine Klage. DerGruppe gehören etwa die Deutsche Vereini-gung für Datenschutz, der Chaos-Computer-Club, die Internationale Liga für Menschen-rechte, Ärzte-Verbände, aber auch sich umden Schutz ihrer Anrufer (und Informanten)sorgende Telefonseelsorger, Journalisten-Ver-bände und Sozialarbeiter an.

Möglichkeit schafft Missbrauch

Die technischen Möglichkeiten der Erfas-sung und Speicherung von Daten wurden inden vergangenen Jahren unerhört ausgewei-tet. Die Möglichkeit der unbemerkbarenOnline-Durchsuchung hat endgültig gezeigt,

dass über Kommunikations-netze letztlich ein Zugriff aufalle in das Netz eingebunde-nen Geräte möglich ist. DieBerichte über Hacker, die vonzuhause aus selbst in ver-meintlich bestens geschütztestaatliche Großrechner einzu-dringen vermögen, bestätigendies in umgekehrter Weise.

Je unüberschaubarer dieDatenmenge und je unkon-trollierbarer der Zugriff aufsie über ein Medium wie dasInternet, um so erwartbarerdie unkontrollierte Nutzung.Handelt es sich beim Daten-missbrauch von privater Seiteum gewöhnlichen Betrug,könnte der Missbrauch derÜberwachungsmacht vonstaatlicher Seite zu verheeren-den Konsequenzen führen.Der Zugriff ist zu erwarten,da er technisch möglich ist.Ob die Massendaten jeweilswirklich nach einem halbenJahr gelöscht werden, ist un-überschaubar, wer die Datenzwischenzeitlich gegebenen-falls verwendet, verkauft hat,ebenso.

Das Äußerste wäre dannder staatliche Missbrauch der Informationen,eine Katastrophe. Schon Pannen könnenfatal ausfallen. Wie sich dieser »Datenschutz«in großartiger Weise mit der Privatisierungverträgt, verdeutlicht ein Beispiel aus Groß-britannien. Eine vom Innenministeriumbeauftragte Firma teilte diesem mit, sie ver-misse ein Speichermedium mit den Namenund Geburtsdaten aller Häftlinge in Englandund Wales sowie die Adressen von über30 000 Wiederholungstätern. Die Datenbefanden sich auf einem USB-Stick.

Die Massendatenspeicherung, über dierechtlich entschieden worden wird, ist einzu-stellen. Nach einem Wort von Hans-Chris-tian Ströbele wird das Bundesverfassungsge-richt wiederum praktisch als Grundgesetzge-ber wirken müssen. Zu fordern ist ein grund-gesetzlich garantiertes Recht auf Daten-schutz.

Erinnerung an die Menschenrechte

An fanatischen SelbstmordattentäterInnenscheitert der Rechtsstaat, jene können nichtals Prüfstein dienen. Ihn als Vorwand zu neh-men, die Bevölkerung vorzuverurteilen, undjeden und jede zum potentiellen Kriminellenzu machen und im Vorhinein schon einmaldie Fingerabdrücke zu nehmen, verdeutlicht,dass der Präventionsstaat das Gegenteil desliberalen Rechtsstaats ist, dessen wirksamstePrävention in einer angemessenen Sozialpoli-tik bestünde.

Demgegenüber ist an Bestimmungen der am10. Dezember 1948 von der Generalver-sammlung der Vereinten Nationen geneh-migten und verkündeten »AllgemeinenErklärung der Menschenrechte« zu erinnern,in der es heißt:● In Artikel 2 zum Verbot der Diskriminie-rung: »Jeder hat Anspruch auf die in dieserErklärung verkündeten Rechte und Freihei-ten ohne irgendeinen Unterschied, wie etwanach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Reli-gion, politischer oder sonstiger Überzeugung,nationaler oder sozialer Herkunft, nachEigentum, Geburt oder sonstigen Umstän-den.« ● In Artikel 8 geht es um den Anspruch aufRechtsschutz: »Jeder Mensch hat Anspruchauf einen wirksamen Rechtsschutz vor denzuständigen innerstaatlichen Gerichten gegenalle Handlungen, die seine ihm nach der Ver-fassung oder nach dem Gesetz zustehendenGrundrechte verletzen.« ● Artikel 18 stellt Gedanken-, Gewissens-,Religionsfreiheit unter Schutz: »JederMensch hat Anspruch auf Gedanken-, Ge-wissens- und Religionsfreiheit; dieses Rechtumfasst die Freiheit, seine Religion oder sei-ne Überzeugung zu wechseln sowie die Frei-heit, seine Religion oder seine Überzeugungallein oder in Gemeinschaft mit anderen, inder Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre,Ausübung, Gottesdienst und Vollziehungvon Riten zu bekunden.«● Und schließlich Artikel 19 zur Meinungs-äußerungs- und Informationsfreiheit: »JederMensch hat das Recht auf freie Meinung undMeinungsäußerung; dieses Recht umfasst dieFreiheit, sich Informationen und Ideen mitallen Verständigungsmitteln ohne Rücksichtauf Grenzen zu beschaffen, zu empfangenund zu verbreiten.«● Artikel 11 betrifft die Unschuldsvermu-tung: »Jeder Mensch, der einer strafbarenHandlung beschuldigt wird, ist so lange alsunschuldig anzusehen, bis seine Schuld ineinem öffentlichen Verfahren, in dem alle fürseine Verteidigung nötigen Voraussetzungengewährleistet waren, gemäß dem Gesetznachgewiesen ist.«● Und die Freiheitssphäre des Einzelnendefiniert Artikel 12: »Niemand darf willkürli-chen Eingriffen in sein Privatleben, seineFamilie, sein Heim oder seinen Briefwechselnoch Angriffen auf seine Ehre und seinenRuf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hatAnspruch auf rechtlichen Schutz gegen der-artige Eingriffe oder Anschläge.«

Es ist daran zu erkennen, welche politischenFolgerungen aus den historischen Erfahrun-gen insbesondere der Nazi-Barbarei gezogenwurden. Zwar ist diese wissenschaftlich bisheute weitaus besser erhellt, als sie es in derNachkriegszeit sein konnte – aber dem zumTrotz scheint ein entspre-chendes historisches Bewus-stsein in der heutigen Politikkaum noch entwickelt.

Im Hintergrund: AltersteilzeitNach 2009 wird es für die Altersteilzeit (ATZ) keine Zuschüsse mehr von der Ar-beitsagentur geben. Die IG Metall und Südwestmetall hatten sich darauf verstän-digt, dass die bestehenden Betriebsvereinbarungen auch nach 2009 weiterge-führt würden. Auf freiwilliger Basis sollten Betriebe künftig auch neue Altersteilzeit-regelungen für Beschäftigte ab 57 Jahren vereinbaren können – mit bis zu sechsJahren Laufzeit.

Wer sie nutzt, könnte dann mit 60 Jahren aufhören zu arbeiten und mit 63 in Ren-te gehen. Außerdem bestand laut »metallzeitung« Konsens, dass auch Beschäftig-te, deren Arbeit »besonders belastend« ist, wie die von Schichtarbeitern, schon mit57 Jahren Anspruch auf Altersteilzeit haben. Alle anderen sollten ab 61 bis zuvier Jahre in Altersteilzeit gehen können. Für GeringverdienerInnen sollte das Ent-gelt in der Altersteilzeitphase aufgestockt werden, damit diese die Altersteilzeitüberhaupt in Anspruch nehmen können. Während bis zu diesem Punkt Einigkeitbestand, kam es zum Abbruch der Gespräche, weil die Arbeitgeber daraufbeharrten, dass in all den Betrieben, in denen es keine Schichtarbeit gibt, nichtmehr als zwei Prozent der Belegschaft in Altersteilzeit gehen dürfen. Bisher liegtdie Grenze bei fünf Prozent.

Gesellschaftliche Diskussion fehlt

Trotz der fortschreitenden Eingriffe in bür-gerliche Freiheitsrechte und des Anwachsensstaatlicher Überwachung fehlt eine gesell-schaftliche Diskussion, fehlen weitgehendauch Interventionen »öffentlicher« Intellek-tueller, die sich in den 70er Jahren noch zur»Verteidigung der bürgerlichen Freiheit«äußerten – augenfällige Differenzen im Hin-blick auf die in diesem Jahr verbreitetenErinnerungen an die gesellschaftliche Politi-sierung und das politische Handeln in denJahren um 1968. So wirken selbst dieAnstrengungen, die es gegen die Volkszäh-lung 1987 gab, wie Formen gesellschaftlichenHandelns aus einer anderen Zeit. Es gabDebatten, vielfältige Initiativen, Schriftenwie die »Rechtsschutzfibel«, herausgegebenvon der Humanistischen Union und demRepublikanischen Anwältinnen- und Anwäl-teverein. Hans-Christian Ströbele schriebseinerzeit: »Nur ein leerer, nicht ausgefüllterFragebogen der Volkszählung 87 ist eindatensicherer, harmloser und deshalb ein gut-er Fragebogen.« Und er folgerte, dass men-schenfeindliche und nicht im Bürgerinteressestehende Planungen nicht deshalb erfolgt sei-en, weil etwa Daten aus einer Volkszählunggefehlt hätten, wie die Befürworter derVolkszählung immer behaupteten. Die Datenwaren überflüssig, »menschenfeindliche Pla-nungen« würden auch ohne diese umgesetzt,mit den Daten würden sie nicht verhindert.Immer wieder skandalisiert wurde von Kriti-

Page 2: express 8/2008 9 · 2016. 1. 12. · 10 express 8/2008 Möglichen, Elmar Altvater, Freie Uni-versität Berlin Politische Ökologie als revolutionä- re Utopie?, Egon Becker, Institut

10express 8/2008

Möglichen, Elmar Altvater, Freie Uni-versität Berlin● Politische Ökologie als revolutionä-re Utopie?, Egon Becker, Institut fürsozial-ökologische Forschung (ISOE),Frankfurt a. M.● Arbeit, die »passt« – Ein ambivalen-tes Ideal, Wolfgang Engler, Hochschulefür Schauspielkunst »Ernst Busch«, Ber-lin● Welche Arbeit? Welche Utopie?,Ilona Ostner, Universität Göttingen● Persönliche Autonomie, sozialeWertschätzung und menschliche Natur.Zu den Grundlagen von André Gorz’Gesellschaftskritik, Hans-ChristophSchmidt am Busch, Institut für Sozial-forschung, Frankfurt a.M.

Zeit/Ort: 25. Oktober, 11 bis 18 Uhr,

Altes Literaturhaus, Bockenheimer Land-straße 102, 60323 Frankfurt a.M.Information & Anmeldung: Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e.V., Niddastraße64, 60329 Frankfurt a.M., Tel. (069)23 10 90, Email: [email protected]

The road is made by walking

Veranstaltungstour der Industrial Workersof the World (IWW) zur Organisierungillegaler Lagerarbeiter in New York

Seit 2005 organisieren sich ArbeiterIn-nen in den New Yorker Hafenstadttei-len Brooklyn und Queens, um gegenihre extremen Arbeitsbedingungen zukämpfen. Sie arbeiten über 60 Stunden

die Woche, weit unter Mindestlohn,ohne Kranken- und Sozialversicherung.Viele von ihnen sind illegal in denUSA, die meisten aus Lateinamerika.Ihnen droht, wenn sie ihre elementarenRechte einfordern, nicht nur die Kün-digung, sondern auch die Abschiebung.Dennoch haben sich im Laufe der Zeitdie Beschäftigten von zehn Lagerhäu-sern der IWW angeschlossen, einerkleinen militanten Basis-Gewerkschaft,die seit 1905 abseits etablierter Gewerk-schaftsstrukturen aktiv ist.Stephanie Basile (24) ist Mitglied derIWW New York City. Sie ist in derKampagne aktiv und wird in der Veran-staltung erläutern, wie die IWW ver-sucht, in einem Dreikampf aus Protest,Boykott und Gerichts-Prozessen dieAusbeuter in die Knie zu zwingen.

Ergänzend zum Vortrag sollen zweiAktions-Videos aus Brooklyn gezeigtwerden.

Auswahl an Terminen:● 8. September, 19.30 Uhr, BahnhofLangendreer, Wallbaumweg 108, Bo-chum● 9. September, 19 Uhr, Alte Feuer-wache, Gathe 6, Wuppertal-Elberfeld● 10. September, Zeit und Ort (Bre-men) noch unbekannt, bitte bei FAUBremen erkundigen● 11. September, 18.30 Uhr, Curio-haus, Rothenbaumchaussee 15, Ham-burg● 12. September, 19 Uhr, DGB-Haus, Obere Masch 10, Göttingen● 15. September, 20 Uhr, FAU-Lokal,Straßburger Str. 38, Berlin

Information & Kontakt: www.wobblies.de und Christian Gottschalk,Tel. (0177) 4403636

Nach dem Spiel ist vordem Spiel

Nach dem »Aus« für die BAG-SHI: Auf-ruf zur Neugründung einer bundesweitenInteressenvertretung für Erwerbslose

Menschen, die von Armut, Ausgren-zung und Erwerbslosigkeit betroffenoder bedroht sind, brauchen eine bun-desweite Vertretung ihrer Interessen.Sie brauchen eine unabhängigeOrganisation, die sich parteilich inPolitik und Gesellschaft für ihre Bedar-fe und Bedürfnisse einsetzt. Aufgaben

»Visions Of Labor« stellt auf ihrerHomepage »internationale best-prac-tice-Beispiele für neuartige und er-folgreiche Gewerkschaftsarbeit vor«.Im Zentrum stehen dabei selbstorga-nisierte und internationalistischeAnsätze, die im Angesicht eines glo-balisierten Kapitalismus als exempla-risch gelten. Ziel ist es, Zusammen-hänge zwischen praktischer Arbeitund gemeinsamen Visionen von ›glo-bal labor‹ im 21. Jahrhundert zu ent-wickeln. Die Rechercheergebnissewerden auf der Homepage in Formvon Videos, Texten und Links veröf-fentlicht. Die Arbeit soll, so die Initia-torInnen, zu einer »realen Vernet-zung internationaler Projekte mit bei-tragen«. Um dies zu konkretisieren,hatte »Visions of Labor« für den 19.bis 22. Juni zum »Ratschlag« nachBerlin eingeladen. Peter Nowak* hat die Tagung besucht und für denexpress einen Bericht geschrieben, indem uns einige alte Bekannte (undKonflikte) wieder begegnen.

Eine junge Frau rast die Rolltreppe hinunter,doch von der U-Bahn, die sie zur Arbeitbringen sollte, sieht sie nur noch die Rück-lichter. Dieses Mal lässt sie sich vom strengenChef am Laptop keine Angst einjagen.Selbstbewusst tritt sie ihm zumindest in demVideoclip entgegen, mit dem HamburgerMayday-Aktivisten in diesem Jahr für ihreParade am 1. Mai geworben haben. Die mitt-lerweile international aktive Bewegung willin prekären Arbeitsbedingungen lebendeMenschen zum Widerstand anregen. DieFrau im Clip ist dafür ein gutes Beispiel.

Ganz andere Bilder verbreitet das süd-koreanische Team Labor News Production(LNP). In ihren Videos wird die Stärke derArbeiterklasse nicht nur mit Worten und Lie-dern beschworen, sondern auch in Kämpfenauf der Straße gezeigt.

In dem Dokumentarfilm »Saure Erdbee-ren, Japans versteckte Gastarbeiter« wieder-um, einem Beitrag des Leipziger Filmema-chers Daniel Kremers, der im Herbst inDeutschland anlaufen soll, wird gezeigt, wiesich ArbeitsmigrantInnen in Japan gegen ihreEntrechtung wehren.

Diese drei denkbar unterschiedlichenBebilderungen aktueller Arbeitskämpfe wur-den auf dem »Visions of Labor«-Ratschlag inBerlin gezeigt und diskutiert. Gewerkschaft-liche AktivistInnen aus aller Welt stellten in

drei Tagen auf der von den MedienaktivistIn-nen Oliver Lerone Schultz und BärbelSchönafinger organisierten Veranstaltungihre Arbeit vor.

Die kann oft lebensgefährlich sein, wieCarlos Olaya von der kolumbianischenLebensmittelgewerkschaft Sinaltrainal deut-lich machte. Mit einer internationalen Boy-kottkampagne gegen Coca Cola1 will sieerreichen, dass der Weltkonzern sich für dasLeben der Gewerkschafter einsetzt. In denletzten Jahren sind sieben aktive Sinaltrainal-GewerkschafterInnen ermordet worden, unddas hat auch die Gewerkschaftsarbeit weitge-hend lahmgelegt. Nachdem Verhandlungenmit dem Konzern gescheitert waren, hat Sinaltrainal die zwischenzeitlich ausgesetzteBoykottkampagne wieder aufgenommen.Doch die deutsche LebensmittelgewerkschaftNGG lehnt nach Angaben von Olaya jedeUnterstützung der Sinaltrainal ab und hältstattdessen weiterhin Kontakte mit einerregierungstreuen Gewerkschaft.

Das war an diesem Wochenende nicht daseinzige Beispiel, das die Probleme vongewerkschaftlicher Solidarität in der globa-len Welt deutlich machte. Ein Vertreter desmexikanischen Continental-Werks berichte-te, dass ein deutscher Betriebsratsvorsitzen-der der Reifenfirma Continental internatio-nale Solidarität als »eine Sache der Vergan-genheit« bezeichnet hatte. Daher konnte dieBelegschaft des mexikanischen Continental-Werks Euzkadi2 auch wenig auf offiziellegewerkschaftliche Unterstützung bei ihremdreijährigen Streik gegen die Schließungihres Betriebes zählen. Solidarität kamjedoch von gewerkschaftlichen Basisaktivis-ten aus vielen Ländern. Mittlerweile wurdedas Werk in die Kooperative Tradoc umge-wandelt und muss sich auf dem von dengroßen Konzernen aufgeteilten Weltmarktfür Autoreifen behaupten, so der mexikani-sche Kollege. Seit der Markenname Conti-nental fehlt, schreibt die Firma rote Zahlen.Jetzt könnte ein US-Investor dem Unterneh-men Luft verschaffen. Doch was dann ausden erkämpften Rechten der ArbeiterInnenwird, ist derzeit unklar.

Neue Formen der Repression

Um die Verteidigung der Rechte geht es auchden verschiedenen Netzinitiativen, die sichder Organisierung der Lohnabhängigen undErwerblosen widmen. Mit Labournet undChefduzen stellten sich auf dem Ratschlagzwei Projekte vor, die sich durch ihre umfas-sende Öffentlichkeitsarbeit viel Ansehenerworben haben. Allerdings haben diese neu-en Formen der Kommunikation, vielleichtgerade aufgrund ihres Erfolgs, auch neue

Formen der Repressionnach sich gezogen. Vorzehn Jahren gab es nochlange gerichtliche Ausein-andersetzungen mit Unter-nehmensleitungen wegenmissliebiger Artikel oderKarikaturen in Betriebszei-

tungen. Heute kontrolliert ein Heer von gut-bezahlten Anwälten ständig die Internetsei-ten von Labournet oder Chefduzen nach ver-dächtigen Inhalten. Dann werden sofort dieAbmahnungen rausgeschickt, kombiniert miteiner Rechnung, wobei die Adressaten derAbmahnungen die Kosten der Anwältebezahlen sollen. Für den Fall, dass sie dazunicht bereit sind, wird mit weiteren erhebli-chen Kosten gedroht. Für nichtkommerzielleProjekte erscheinen solche Maßnahmen exis-tenzgefährdend – und das ist auch Zwecksolcher Aktionen. »Je erfolgreicher wirgeworden sind, desto größer ist die Repres-sion«, so das Resümee der Labournet-Redak-teurin Mag Wompel.

Abgemahnt wurden bislang die unter-schiedlichsten Schriften, darunter auch dieBelegschaftszeitung von Daimler-Benz inKassel. Während sie im und vor dem Betriebjahrelang verteilt werden konnte, diese Artvon Öffentlichkeit also keine Beanstandungfand, sollte Labournet von den Daimler-Anwälten verpflichtet werden, die Zeitungnicht ins Internet zu stellen und nicht zu ver-linken. Hier wird auch schon deutlich, wasdie Gegenseite an den Internetprojekten sostört. Eine Betriebszeitung, und mag sie nochso kritisch sein, kommt in der Regel aus demBetriebsmilieu nicht heraus. Wird sie insNetz gestellt, kann sie plötzlich weltweit gele-sen und diskutiert werden. Genau hierinsehen die MedienaktivistInnen eine großeChance. Künftig wollen sie sich besser ver-netzen, um möglichen kostenpflichtigenAbmahnungen besser begegnen zu können.Allerdings stößt auch die Gegenseite mit die-ser Strategie der juristischen Verfolgung anGrenzen. So wurde im Handelsblatt bereitsdie Frage aufgeworfen, ob es nicht sinnvollersei, statt Internetzeitungen wie Labournetund Chefduzen mit immer neuen Klagen zuüberziehen, eine Homepage mit eigenenInhalten zum Thema aufzumachen unddamit Irritationen zu erzeugen.

Fabienne gesucht

Einfache Auswege aus dem kapitalistischenVerwertungszusammenhang hatte der Rat-schlag erwartungsgemäß nicht zu bieten.Doch Anliegen des »Ratschlags« war es, nichtnur über Kämpfe zu berichten, sondern auchdie Organisierung voran zu treiben. Undtatsächlich kam es auch zu ungewöhnlichenBegegnungen der intendierten Art: So nah-men in einer Arbeitsgruppe Erwerbslose undgewerkschaftlich organisierte MitarbeiterIn-nen von Arbeitsagenturen und JobcenternKontakt miteinander auf. Letztere kamen aufEinladung der Berliner Kampagne gegenHartz IV, die sich zuvor mit einem Flugblatt

Mehr als BilderBericht über einen »Ratschlag« mit vielen Visionen

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für eine solche Interessenvertretungwären:● Veröffentlichung von Informatio-nen zum Sozialrecht, zur Gewährungs-praxis auf den Ämtern sowie zurDurchsetzung von Rechtsansprüchen● Vermittlung von regionalen Bera-tungsstellen und Initiativen● Unterstützung bei der Selbstorgani-sation● Hilfe bei der Vernetzung von Initia-tiven untereinander● Formulierung und Durchsetzungvon Forderungen in Politik und Gesell-schaft● Informations- und Öffentlichkeits-arbeit im Sinne Betroffener● Organisation bundesweiter Veran-staltungen für Information und Aus-tausch

● Veröffentlichung von kritischenStellungnahmen zu aktuellen sozialpo-litischen Themen● Entwicklung und Diskussion vonneuen gesellschaftlichen Ideen● Gestaltung solidarischer Bündnis-politik mit anderen von Ausgrenzungbetroffenen MenschenDiese Arbeit kann effektiv nur vonBetroffenen geleistet werden, weil siedie besten Experten für ihre eigene Si-tuation sind. Eine unabhängige bun-desweite Vertretung von Menschen, dievon Armut, Ausgrenzung und Erwerbs-losigkeit betroffen oder bedroht sind,ist vor dem Hintergrund steigendersozialer Ungerechtigkeit, zunehmenderArmut und Arbeitslosigkeit sowie derVerschärfung sozialer Gesetze drin-gendst erforderlich! Die Erfahrungen

jahrelanger Erwerbslosenarbeit, wie siein der BAG-SHI praktiziert wurde,dürfen nicht aufgegeben werden!Eine Unterschriftenkampagne wurdebegonnen, um der Öffentlichkeit, aberauch den politisch Verantwortlichen zuzeigen, dass es weiterhin ein Interesseund eine Notwendigkeit für eine bun-desweite, unabhängige Interessenvertre-tung von und für Erwerbslose gibt!Deshalb wird gebeten, diesen Aufruf zuunterstützen, ihn weiter zu verbreitenund zu unterschreiben.

Unterschriftenlisten, Kontakt &Information: BAG-SHI, c/o HinrichGarms/Andreas Geiger, Moselstraße 25,60329 Frankfurt a.M., Fax (069)27220897, [email protected] oder [email protected]

Sie kommen nicht durch!Wir sind schon da!

Aufruf der Interventionistischen Linken(IL), den Internationalen RassistInnen-Kongress in Köln zu verhindern

Die rechtspopulistische »Bürgerbewe-gung Pro Köln« will vom 19. bis zum21. September eine »Anti-Islamisie-rungs-Konferenz« durchführen. Zu die-sem Treffen, das mitten in der KölnerInnenstadt auf einem öffentlichen Platzangekündigt ist, werden mehrere hun-dert Rassistinnen und Rassisten ausganz Europa erwartet.Die angekündigte RednerInnen-Listeliest sich wie ein Who is Who deseuropäischen Rechtspopulismus: Ne-ben dem Fraktionsvorsitzenden der bel-

gischen Separatisten vom »VlaamsBelang«, Filip Dewinter, dem Vorsit-zende der österreichischen FPÖ, Heinz-Christian Strache, einem Europaabge-ordneten der italienischen »Lega Nord«,Mario Borghezio, sowie dem Vorsitzen-den des französischen »Front National«,Jean Marie Le Pen, ist eine Reihe vonlokalen Pro-Köln-»Größen« sowie ehe-maligen CDU-Mitgliedern angekün-digt. Schon hier wird klar, worum essich bei »Pro Köln« handelt: Unter demDeckmäntelchen einer »Bürgerbewe-gung« treffen sich Rassisten und Neofa-schisten mit Konservativen und Rechts-populisten.Pro Köln will die Veranstaltung alskommunalpolitischen Wahlkampfauf-takt gestalten, schließlich hat sie – füreine Wählervereinigung der extremen

an die MitarbeiterInnen der Agenturen fürArbeit gewandt hatte. Vorbild war die franzö-sische Arbeitsvermittlerin Fabienne Brutus,die ihre belastenden Erfahrungen aus demArbeitsalltag in einem Arbeitsamt öffentlichgemacht und damit in Frankreich eine regeDiskussion ausgelöst hat (siehe dazu auch dieBerichte in express, Nr. 1/2008). Ein Resultatdieser Debatten war eine gemeinsameErklärung gewerkschaftlich organisierterArbeitsvermittlerInnen, die die Öffentlich-keit darüber informierten, dass sie ihre Arbeitkünftig ausschließlich im Interesse derArbeitslosen verrichten und auf Schikanenund Sanktionen verzichten würde. Dies warauch für deutsche ErwerbsloseninitiativenAnlass, sich auf die Suche nach »der deut-schen Fabienne« in hiesigen Arbeitsämternbegeben. Bisher allerdings leider erfolglos. (S.dazu auch die Berichte in express Nr. 1/2008)

Das Wochenende bot eine Fülle von Anre-gungen auch für die eigene Arbeit. Leiderwurde diese Möglichkeit von zu wenigengenutzt: Vor allem die KollegInnen, die inder letzten Zeit bei der Bahn, im Einzelhan-del oder im Öffentlichen Dienst gestreikthaben, fehlten. Doch auch sie haben dieMöglichkeit, Entgangenes nachzuholen. DieErgebnisse des Ratschlag sollen auf derHomepage (http://visions-of-labor.org/)festgehalten werden. Und selbstverständlichplanen die MedienaktivistInnen auch einenDokumentarfilm zum Ratschlag.

* Peter Nowak ist Journalist und lebt in Berlin. NähereInformationen: www.kverlagundmultimedia.de/Archiv/archiv.html

Die InitiatorInnen des »Ratschlags« habenauch die Tagung von express/AFP e.V. undver.di Rhein-Neckar »Kampf um die Betriebe«medial begleitet. Wer Interesse an dem Mate-rial hat, möge sich mit der Redaktion in Ver-bindung setzen.

Anmerkungen:1) Zur Kampagne der Sinaltrainal gegen Coca Cola vgl.

www.labournet.de/internationales/co/cocacola/index.html

2) Zur Auseinandersetzung um Euzkadi vgl. www.labour-net.de/branchen/chemie/conti/euzkadikampf.html

40 Jahre nach der Niederschlagungdes Versuchs, dem Sozialismus einmenschliches Antlitz zu geben, drohtnun der Kapitalismus sein unmensch-liches in Tschechien zu zeigen und dieSozialversicherungen, allen vorandas Gesundheitssystem – wie in vie-len anderen, früher staatsozia-listischen Ländern Osteuropas auch –zu privatisieren. Allerdings wehrtsich in der Tschechischen Republik dieBevölkerung und demonstriert, auf-gerufen auch von den Gewerkschaf-ten, gegen die »Reform«-Vorhabender Regierung – zunächst mit Erfolg,wie uns Radka Sokolová, Gewerk-schaftssekretärin aus Prag, berichtet.

Die Gewerkschaft für das Gesundheitswesenund die Sozialfürsorge (OSZSP, 38 000 Mit-glieder) wurde zum Initiator einer beein-druckenden Serie von Massenprotesten, dieEnde Mai und Anfang Juni in Tschechienstattfanden. Der Anlass dafür waren nichtnur die durch die jetzige Regierung vorberei-teten Reformen selbst, sondern auch dieUnwilligkeit der Regierung, einen sozialenDialog zu führen und über die vorgelegtenReformvorhaben zu verhandeln. Was geschahkonkret?

Die Böhmisch-Mährische Konföderation derGewerkschaftsverbände (CMKOS, der mit530 000 Mitgliedern bei rund fünf MillionenErwerbstätigen größte der tschechischenGewerkschaftsverbände), hatte »einen Monatdes bürgerlichen Ungehorsams« verkündet,innerhalb dessen auch vier Demonstrationen

organisiert wurden. Die erste fand am 21.Mai 2008 unter Schirmherrschaft der OSZ-SP statt. Unsere Botschaft an die Regierungwar: Wir lehnen die Umwandlung von Uni-versitätskrankenhäusern und von anderenGesundheitsdienstleistern in Handelsgesell-schaften (vor allem Aktiengesellschaften undGmbHs) ebenso ab wie die Privatisierungvon Krankenversicherungen, die ebenfalls dieForm von Aktiengesellschaften annehmensollen. Hintergrund waren berechtigte Be-fürchtungen, dass die geplanten Reformendie Zugänglichkeit und die Qualität dergesundheitlichen Versorgung für die Bevölke-rung gefährden würden. Themen der weite-ren Demonstrationen waren: die Ablehnungder vorgesehenen Rentenreform, die unterdem Motto »Gegen Renten in Memoriamund gegen Altersarmut« stand; die generelleAblehnung der Reformvorhaben der aktuel-len tschechischen Regierung (»Gegen unge-rechte Reformen«). Die letzte Demonstrationwandte sich unter dem Slogan »Gegen einSchulwesen, für das es kein Geld gibt« gegendie Unterfinanzierung des schulischen Bil-dungswesens.

Schon im März hatten die Vorsitzendender jeweiligen Mitgliedsgewerkschaften desDachverbandes CMKOS während einerTagung ihre Unzufriedenheit mit dem Regie-rungsvorhaben im Bereich des Gesundheits-wesens zum Ausdruck gebracht und mitStreik gedroht. Als nun die Regierung inihrer Arroganz auf die Demonstrationen undöffentlichen Aufrufe nicht reagierte, nutztendie Gewerkschaften die im März verkündeteStreikbereitschaft, und so kam es am 24. Juni2008 zum gemeinsamen Streik der OSZSPund der Ärztegewerkschaft, des »Ärztege-werkschaftsclubs« (LOK). Unterstützt wurdedieser Protest durch einen Warnstreik desDachverbandes CMKOS. Dem Streik selbstschlossen sich rund eine Million BürgerIn-nen an, während 62 Prozent der Bevölkerung(von den ca. 10,5 Millionen EinwohnerIn-nen Tschechiens) ihn laut einer Umfrageunterstützten. In vielen Unternehmen wur-den Meetings mit den Angestellten veranstal-tet, und da, wo es nicht möglich war zu strei-ken, trugen die sympathisierenden Angestell-ten Streik-Buttons. Forderungen unsererGewerkschaft fanden auch bei dem Patien-tenverband der Tschechischen Republik(CR), dem Nationalrat der Behinderten undin der fachlich orientierten ÖffentlichkeitUnterstützung. Der Streik wurde zudemauch vom Ausland aus unterstützt, z.B. sei-tens der polnischen Gewerkschaft Solidar-nosc, des DGB-Bezirks Sachsen, der slowaki-schen Gewerkschaft des Gesundheitswesens undder sozialen Dienstleistungen (SOZZSS), der

European Federation of Salaried Doctors(Europäischen Föderation angestellter Ärzte;FEMS) und des Europäischen Gewerkschafts-verbandes für den öffentlichen Dienst (EPSU).

Warum wurde soviel Aufhebens um dieReformvorhaben der Regierung gemacht? ImFolgenden einige Beispiele aus dem Bereichdes Gesundheitswesens:

Die Regierung hatte sich vorgenommen,Universitätskrankenhäuser und andere Ge-sundheitseinrichtungen in Handelsgesell-schaften (vor allem in Aktiengesellschaften)zu transformieren. Die bisherigen Erfahrun-gen aus der Privatisierung von Krankenhäu-sern haben aber gezeigt, dass dabei Abteilun-gen geschlossen und die Löhne der Arbeit-nehmerInnen auch um einige Tausend Kro-nen gekürzt wurden, was zu berechtigtenBefürchtungen nicht nur bezüglich der Qua-lität und der Verfügbarkeit der gesundheitli-chen Versorgung insgesamt geführt hat, son-dern auch hinsichtlich der Zugänglichkeitvon Weiterbildungsinstitutionen, die für dieQualifizierung des Pflegepersonals und vorallem der Ärzte zuständig sind.

Die Regierung macht sich darüber hinausfür die Privatisierung von Krankenkassenund deren Umwandlung in Aktiengesell-schaften bereit. Diese Krankenkassen werdenals Aktiengesellschaften allerdings keineswegszu Rechtsnachfolgern der jetzigen Kranken-kassen. Insofern sind sie auch nicht verpflich-tet, die bestehenden Beschäftigungsverhält-nisse bzw. Angestellten zu übernehmen, son-dern sämtliche vertraglichen Beziehungenkönnen von ihnen neu abgeschlossen wer-den. Es ist für uns auch nicht akzeptabel,dass rein privatwirtschaftliche Gesellschaftenöffentliche Finanzmittel bewirtschaften sol-len, die gesetzlich verpflichtend für dieöffentliche Krankenversicherung gezahltwurden.

Definitionsgemäß sind Handelsgesell-schaften (dies betrifft sowohl Aktiengesell-schaften als auch GmbHs) zum Zwecke derunternehmerischen Tätigkeit gegründetejuristische Personen. Unter unternehmeri-scher Tätigkeit wird eine dauerhafte undselbstständige, vom Unternehmer im eigenenNamen und auf eigene Verantwortungbetriebene, gewinnorientierte Tätigkeit ver-standen. Aus dieser Definition geht hervor,dass die gesetzliche Krankenversicherung,deren Finanzen auf Pflichtbeiträgen beruhen,als Mittel zur Gewinngenerierung von priva-ten Krankenkasseneigentümern dienen wird.

Die Versicherten in der TschechischenRepublik sind von »Plänen zur gesteuertenVersorgung« bedroht. Es handelt sich dabeium ein System, das dem Patienten weder

Heißer Frühling in Prag»Monat des Ungehorsams« – Radka Sokolová* zu den Streiks in der Tschechischen Republik

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Rechten – in Köln relativ erfolgreichihre rassistischen Positionen verbreitenund die öffentliche Debatte um dieErrichtung einer Großmoschee anhei-zen und für sich nutzen können. ProKöln sitzt in Fraktionsstärke im KölnerStadtrat und in jeder Bezirksvertretung.Gleichzeitig steht der Kongress unterdem Vorzeichen der Formierung einerrechtspopulistischen Liste im Europa-parlament.

Anti-Islamischer Rassismus als Bindeglied des europäischen RechtspopulismusPopulistische und rassistische Kampag-nen gegen »den Islam« haben derzeitKonjunktur in der Propaganda derrechtspopulistischen Parteien in Europa.Im Januar 2008 gründete sich auf Initia-tive von FPÖ und Vlaams Belang dieInitiative »Cities against Islamisation«,

der inzwischen rassistische Fraktionenvieler europäischer Städte angehören. InÖstereich, der Schweiz, in Italien undFrankreich gab es bereits Kampagnen,die ähnlich wie die Kampagnen von»Pro Köln« bzw. ihrem landesweitenAbleger Pro NRW auf die Mobilisie-rung rassistischer Ressentiments einerbreiten Öffentlichkeit setzen. Ziel ist es,an die medial weitverbreitete Kurz-schlussanalogie »Islam = Fundamentalis-mus = Einwanderer = Untergang desAbendlandes« anzuknüpfen. Rund 1/3aller Bundesbürger ist laut Umfragenfür eine Zuwanderungsbegrenzung,über 50 Prozent teilen die Aussage, esherrsche zur Zeit ein »Kampf der Kultu-ren«. Das Thema »Islam« mit der Frageder Zuwanderung zu verknüpfen undrassistisch aufzuladen scheint das zentra-le Kampagnenfeld der europäischenRechten zu werden.

Linke Intervention: Soziale Ursachenstatt KulturalisierungFür uns als interventionistische Linkeversteht es sich von selbst, gegen neo-nazistische (Groß-)Events vorzugehen,mit dafür zu sorgen, dass ihre Treffenunterbunden werden und ihre Propa-ganda kein Gehör findet. Darüber hin-aus ist es angebracht, den sich im Zugevon »9/11« verschärfenden Sicherheits-diskursen, der sich anschließendenanti-islamischen Stimmungsmacheund den damit verbundenen kulturali-sierenden Zuschreibungen im öffentli-chen Diskurs linke Positionen entge-genzusetzen. Eine Linke sollte die sozialen und poli-tischen Ursachen von Migration beto-nen und ihre historische Dimensionhervorheben. Es gilt, das Recht aufMigration herauszustellen und dieSubjekte sichtbar zu machen – und

nicht ihre kulturellen Vorlieben odervermeintlichen Eigenschaften.

Antiracist and antifascist movement:Join us in action!Aus diesem Grund werden wir uns anden Protesten gegen den RassistInnen-Kongress in Köln beteiligen. Ein breitesBündnis von Antifa-Gruppen über lin-ke Initiativen bis hin zu Gewerkschaf-ten, Fußballfanclubs, SchülerInnenver-tretungen, KünstlerInnen und Gastwir-tInnen ruft dazu auf, sich in Form vonMassenblockaden mit Mitteln des zivi-len Ungehorsams den RassistInnen inden Weg zu stellen. Das Bündnis willnicht nur symbolisch eine Absage anRassismus und Rechtspopulismus ertei-len, sondern für eine effektive Blockadedes Tagungsortes unter breiter gesell-schaftlicher Teilnahme sorgen.

Weitere Informationen unter:www.interventionistische-linke.de,www.hingesetzt.mobi, www.antifa.de

Migrantische Kämpfe –Arbeitskämpfe!

Veranstaltungsrundreise über globalesoziale Rechte in den USA mit der Men-schenrechtsorganisation Chirla aus LosAngeles

Während in Deutschland der Kampfgegen Abschiebungen und der Kampfum Arbeitsrechte wenig miteinander zutun haben, ist dies in den USA Alltag.Xiomara Corpeno wird diese Erfahrungim Rahmen einer Rundreise nachDeutschland bringen. Sie arbeitet beiChirla (Coalition for Humane Immi-grant Rights of Los Angeles) als Organize-

eine freie Wahl von Ärzten noch Kranken-häusern ermöglicht – denn dies wird voll inder Kompetenz der Krankenkassen liegen.Wir können uns ebenfalls darauf »freuen«,dass wir für eine moderne Behandlung künf-tig Zigtausende von Kronen zusätzlichbezahlen müssen. In der TschechischenRepublik gibt es nämlich keine festgelegtenStandards der gesundheitlichen Versorgung,deswegen ist der Versorgungsumfang, der ausder gesetzlichen Pflichtversicherung zu erstat-ten ist, schwer abzuschätzen. Die tschechi-sche Regierung bereitet ein weltweit beispiel-loses Experiment vor, und die bevorstehen-den Privatisierungen würden einen irreversib-len Schritt darstellen.

Es stellt sich nun die Frage, ob unsere Pro-teste als erfolgreich zu werten sind. Dies istmit einem eindeutigen Ja zu beantworten.Die Vorbereitung von neuen Gesetzen aufBasis von Vorlagen des Ministeriums fürGesundheitswesen, die die Privatisierung vonUniversitätskrankenhäusern und Kranken-kassen und deren Umwandlung in Aktienge-sellschaften zum Ziel hatten, wurde vorläufigeingestellt. Somit ist der Weg zu Verhandlun-gen der Sozialpartner über die Zukunft dieserEinrichtungen frei.

Übersetzung aus dem Tschechischen:Jitka Knourková

* Radka Sokolová arbeitet in Prag bei der »Gewerkschaft fürdas Gesundheitswesen und Sozialfürsorge der TschechischenRepublik« als Gewerkschaftssekretärin.

»Der weite Weg zur doppelt freienLohnarbeit«, so könnte man die nach-holende Modernisierung chinesi-schen Arbeitsrechts charakterisieren,und so wird die Einführung desArbeitsvertragsgesetzes Anfang2008 auch und selbst von KritikerIn-nen in China diskutiert. Ob auf denProzess der massenhaften Freiset-zung von vor allem ländlicherArbeitskraft nun wenigstens auf for-mal-juristischer Ebene auch dement-sprechende Voraussetzungen für denVerkauf der Arbeitskraft geschaffenwerden, z.B. in Form eines Rechts aufeinen Arbeitsvertrag, das haben dieKollegInnen des Dagongzhe Wor-kers’ Centre in Shenzhen in einer Stu-die untersucht. Sie sind der Fragenachgegangen, wie das Arbeitsver-tragsgesetz umgesetzt wird, ob undinwiefern sich dadurch die Situationder Beschäftigten verbessert hat. Wirfreuen uns umso mehr, die Zusam-menfassung ihrer Rechercheergeb-nisse hier dokumentieren zu können,als das Zentrum, das sich um dieBetreuung von WanderarbeiterInnenkümmert, im letzten Jahr mehrfachattackiert und dessen Leiter HuangQuingnan von bestellten Attentäternschwer verletzt wurde (s. dazuBericht in express Nr. 12/2007).Dank zahlreicher Spenden, auch vonexpress-LeserInnen, konnten dieOperationen von Huang Quingnanbezahlt werden und das Zentrum sei-ne Arbeit wieder aufnehmen.

Seit dem 1. Januar 2008 ist das »Arbeitsver-tragsgesetz« der Volksrepublik China inKraft. An ihm zeigt sich, dass und wie sichdie Regierung eine Neujustierung derArbeitsbeziehungen, die Sicherung bzw.Wahrnehmung der Rechte und Interessender ArbeiterInnen vorstellt.

Seither sind einige Monate verstrichen,und es ist an der Zeit nachzufragen, ob dieRechte und Interessen der ArbeiterInneneffektiv geschützt werden. Das Dagongzhe-WanderarbeiterInnenzentrum in Shenzhenhat daher gemeinsam mit mehreren Organi-sationen eine Erhebung durchgeführt, für dieArbeiterInnen in verschiedenen Gegendenvon Shenzhen (Stadt) befragt wurden, umsich ein Bild von den Auswirkungen des

Sechs Tage die Woche, 6,7 Stunden am Tag»Wie viele Stunden arbeiten Sie laut Vertragpro Tag?« Auf diese Frage antworten dieArbeiterInnen für gewöhnlich mit Verdruss.»Die rechtliche Richtlinie ist auf eine Fünf-Tage-Woche mit einem Acht-Stunden-Tagfestgelegt. Die Unternehmen teilen die vier-zig Stunden aber auf sechs Tage auf, so dassdie tägliche Schicht 6,7 Stunden lang ist. Sobekommen wir keine Überstundenzulagenfür die 6,7 Stunden, die wir samstags arbei-ten.« Diese Praxis zeigt, dass einige Unter-nehmen versuchen, das Gesetz zu ihren eigenen Gunsten auszulegen, um Überstun-denzulagen zu sparen, obwohl die meistenArbeiterInnen hart dafür arbeiten, Überstun-denzulagen zu bekommen.

Unvollständige oder unausgefertigte VerträgeVon den für die Studie ausgewerteten Verträ-gen weisen 3,8 Prozent den Arbeitsort nichtaus, und 10,6 Prozent enthalten keine klareArbeitsplatzbeschreibung. Manche Arbeite-rInnen berichten, dass ihnen ein leeres Blattzur Unterschrift vorgelegt wurde, und 5,9Prozent der Verträge sind nicht ausgefertigt.Für die Beschäftigten ist es ziemlich riskant,unausgefertigte oder unvollständige Verträgezu unterschreiben.

Manche ArbeitgeberInnen verdecktensogar den Inhalt der Verträge, so dass nur derAbschnitt sichtbar war, auf dem die Arbei-terInnen unterschreiben sollten. Herr Sun,der in einer Kunststofffabrik arbeitet, berich-tet: »Die Firma verdeckte den Inhalt der Verträge und forderte uns auf, einfach zuunterschreiben. Zuerst haben wir uns allegeweigert zu unterschreiben, weil wir dasunzumutbar fanden. Doch eine Woche später sagte das Management, dass von den-jenigen, die sich weigern zu unterschreiben,einen Monat der Lohn einbehalten wird, alsowaren wir gezwungen, zu unterschreiben.«

Unterschiedliche Firmenlogos auf den ArbeitsverträgenIm Tiefeninterview berichtete der 28-jährigeHerr Li: »Seit Januar wurden uns in derFabrik Verträge zum Unterschreiben gege-ben. Sie haben uns sogar unbefristete Verträ-ge angeboten. Doch wir haben die Firmen-zeichen von zwei verschiedenen juristischenPersonen auf den Verträgen gesehen, deshalbweigerten wir uns alle, die Verträge zu unter-schreiben. Daraufhin gab die Firma eine Mit-teilung heraus, dass alle ArbeiterInnen, diedie Verträge bis zum 31. Januar nicht unter-schrieben hätten, unbezahlten Urlaub neh-men müssten. Später drohte die Firma denArbeiterInnen, sie ohne Abfindung zu entlas-

Gesetzes zu machen. Von 380 Fragebögenwurden insgesamt 320 ausgefüllt zurückgege-ben. Zusätzlich wurden mit zehn ArbeiterIn-nen Tiefeninterviews durchgeführt. Auf-grund der Ergebnisse können wir zusammen-fassend sagen, dass das ungleichgewichtigeund für die ArbeiterInnen zuweilen schädli-che Machtverhältnis zwischen ArbeiterInnenund ArbeitgeberInnen weiterhin fortbesteht.Auch nach der Implementierung des Ver-tragsgesetzes verschließen sich einige Arbeit-geberInnen vor der Tatsache, dass ein neuesGesetz gilt, und erfinden neue »Tricks«, umdieses zu umgehen.

Im Folgenden eine Zusammenfassung derschwerwiegendsten Verstöße:

Alle Arten eigentümlicherArbeitsverträge

Englischsprachige VerträgeEinige ArbeitgeberInnen übersetzen dieArbeitsverträge ins Englische, wohlwissend,dass einfache ArbeiterInnen nicht Englischlesen können. So sagte beispielsweise der füreine mit ausländischem Kapital betriebeneSpielzeugfabrik arbeitende Herr Yu: »Als wirden Vertrag unterzeichnen wollten, kanntendie meisten ArbeiterInnen deren englischenInhalt nicht, daher weigerten wir alle unszunächst, die Verträge zu unterschreiben.Später zwang uns das Management zu unter-zeichnen; sie sagten, der Vertrag gelte für einJahr (die tatsächliche Dauer betrug zwei Jah-re), und wir könnten jederzeit kündigen. Diemeisten ArbeiterInnen unterschrieben dar-aufhin, ich aber nicht, weil ich den Vertragnicht lesen konnte.«

Zwei Verträge gleichzeitigHerr Pan, gelernter Elektriker in einemHongkonger Unternehmen, erklärt: » Dasmonatliche Grundgehalt in der Fabrik ist auf1 500 Yuan (10 Yuan = ca. 1 Euro; Anm. d.Red.) festgelegt. Die Firma zwang mich aller-dings, zwei identische Verträge zu unter-schreiben, wobei in jedem ein monatlichesGrundgehalt auf 750 Yuan festgeschrieben ist.Insgesamt kommt also das Gleiche heraus.Andere TechnikerInnen mussten auch zweiVerträge unterschreiben.« Die Fabrik teilt die1 500 Yuan auf zwei Verträge auf und verwen-det nur einen davon als offiziellen Vertrag. Sokann sie Überstunden zum halben Satz verrechnen und spart einen bedeutendenZuschlag zur Sozialversicherung. Seit Inkraft-treten des Arbeitsvertragsgesetzes neigenUnternehmen dazu, diesen »Trick« anzuwen-den und so die Überstundenzahlungen fürihre ArbeiterInnen zu reduzieren.

Breaking or Taking the LawStudie zur Umsetzung des Arbeitsvertragsgesetzes in China erschienen

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rin von prekarisierten ArbeitnehmerIn-nen, speziell mit migrantischen Hausar-beiterinnen. Gleichzeitig ist Chirla anden großen Legalisierungs- und Anti-Abschiebekämpfen beteiligt. Im Rah-men der Tour wollen wir uns der Fragestellen, ob und wie auch bei uns (loka-le) Gewerkschaftsarbeit, Kämpfe umArbeitsrechte und Sozialproteste ver-stärkt mit den Kämpfen von Migran-tInnen und antirassistischen Gruppenzusammenkommen und wie entspre-chende Kampagnen und Projekte (wei-ter-) entwickelt werden könnten.Im März 2006 erlebte Los Angeles diebislang größte Demonstration in derGeschichte dieser Metropolenregion,die sechs Wochen später, am 1. Mai2006, gleich nochmals überboten wur-de. Über eine Million Menschen, vorallem weiß gekleidete MigrantInnen,strömten auf den Straßen zusammen

und protestierten gegen eine geplanteGesetzesverschärfung, die zu einer mas-siven Kriminalisierung aller »undocu-mented migrants« sowie ihrer Familien-angehörigen und sonstigen Unterstüt-zerInnen geführt hätte. Überall in denUSA kam es in diesen Wochen zu Mas-sendemonstrationen, in denen eineumfassende Legalisierung der bis zuzwölf Millionen geschätzten Illegalisier-ten gefordert wurde. Diese Forderungwurde zwar bislang nicht erfüllt, dochauch die ursprüngliche Gesetzesvorlageist seitdem auf Grund der vielen Pro-teste blockiert. Wenn auch nicht aufvergleichbarem Niveau wie 2006, dieDemonstrationen und Kampagnen fürdie Rechte der MigrantInnen gehenweiter, zumal die »Migra«, die amerika-nischen Ausländerbehörden, mit ver-stärkten Razzien auf Arbeitsstellensowie zunehmender Abschiebehaft und

Abschiebungen den Druck auf die mi-grantischen Communities enorm er-höht hat.Was ist die aktuelle Situation migranti-scher Bewegungen und Kämpfe in denUSA? Wie kam es zu dieser unglaubli-chen Massenmobilisierung vor zweiJahren, und was hat sich davon haltenkönnen? Wie hat sich migrantischeSelbstorganisierung weiterentwickelt?Wie steht der Konflikt um die Forde-rung nach Legalisierung, und hat dieseFrage nach wie vor gesellschaftlicheund mediale Bedeutung? Welche Rollespielen dabei Menschenrechtsorganisa-tionen wie Chirla? Welchen Stellenwerthat die Zusammenarbeit mit anderenTeilen der sozialen Bewegungen? Wieverhalten sich insbesondere dieGewerkschaften zu den Razzien aufden Arbeitsstellen? Und in wie weit set-zen Teile der migrantischen Bewegun-

gen ihre Hoffnungen auf einen mögli-chen neuen US-Präsidenten BarackObama?

Voraussichtlicher Tourplan:● 10. September in Gießen (überABSP),● 11. September in Berlin (über denAK »undokumentiertes Arbeiten« beimver.di Landesbezirk Berlin-Branden-burg im Fachbereich 13)● 12. September in Leipzig (überABSP)● 13. September in Schwerte (imRahmen der Tagung des ökumenischenNetzwerks Asyl in der Kirche zu globa-len sozialen Rechten)● 15. September in München (überJugendliche ohne Grenzen/JoG undKarawane)● 16. September in Hamburg (überden AK »undokumentiertes arbeiten«

bei ver.di Hamburg und EuromaydayHamburg)● 17. bis 21. September in Malmö,bei Seminaren und Workshops zuMigration und globalen sozialen Rech-ten auf dem europäischen Sozialforum● 22. September in Frankfurt (überkein mensch ist illegal/Hanau, Initiati-ve globale soziale Rechte)

Veranstalter & Unterstützer: Jugend-liche ohne Grenzen und Karawane /München; Aktionsbündnis Sozialpro-teste (ABSP); kein mensch ist illegal /Hanau; Initiative globale soziale Rechte /Frankfurt; AK »undokumentiertes Arbei-ten« von ver.di in Berlin und Hamburg;Euromayday Hamburg

sen, wenn sie die Verträge nicht unterschrie-ben. Letzten Endes haben bis auf 23 alleArbeiterInnen die Verträge unterschrieben.«

Dass eine Firma mehrere »Tochtergesell-schaften« eintragen lässt, ist eine relativ übli-che Praxis. Wenn eine Tochtergesellschaft inirgendeiner Weise gegen Verträge verstößtund die ArbeiterInnen dies vor Gericht brin-gen, lässt die Muttergesellschaft einfach diebetreffende Firma austragen und transferiertdie ArbeiterInnen zu einer anderen Tochter-gesellschaft.

Missbrauch und Manipulation der Betriebsvorschriften

Drastische Preiserhöhungen für Verpflegung und UnterkunftDie Erhebung zeigt, dass 22,2 Prozent derArbeiterInnen eine Erhöhung der Preise fürVerpflegung und Unterbringung hinnehmenmussten. Frau Yang, die in einer Spielzeugfa-brik arbeitet, sagte verärgert: »Unsere Essens-rechnungen sind auf bis zu 250 Yuan monat-lich gestiegen. Wir haben gehört, dass derMindestlohn erhöht wurde und uns dieArbeitgeberInnen deshalb mehr für Unter-bringung und Verpflegung in Rechnung stel-len würden. Jetzt haben wir weniger Über-stunden, dafür eine höhere Rechnung fürEssen und auch noch erhöhte Strafen. Wiekommt es eigentlich, dass unsere Regierungdie Kantinenpreise nicht mehr reguliert?«

Wachsende Listen von Strafpunkten22,3 Prozent der ArbeiterInnen gaben in derErhebung an, dass der Katalog von Verfeh-lungen, für die eine Strafe zu zahlen ist, aus-geweitet und die Bußgelder erhöht wurden.52 Prozent der ArbeiterInnen sagten, dass siediese Vorschriften nicht billigen. So HerrSun, ein Stanzer, der in einem Metallbetriebarbeitet: »Unsere Betriebsvorschriften sehen50 Yuan Strafe für einen unbedeutenden Feh-ler vor; das beinhaltet z.B., eine Minute zuspät zur Arbeit zu kommen oder eine verbaleAuseinandersetzung mit den AufseherInnen

Diskrepanzen zwischen Verträgen und RealitätAls wir die ArbeiterInnen fragten: »Gibt esDiskrepanzen zwischen den Verträgen und derRealität am Arbeitsplatz?«, gab eine Mehrheitvon 63,83 Prozent an, dass ihre Arbeitszeitennicht mit den vertraglich festgesetzten über-einstimmen. 4,26 Prozent gaben an, nicht andem im Vertrag festgesetzten Ort zu arbeiten,und 3,19 Prozent erklärten, dass die Firmen-namen abweichend seien. Verschiedene andereDiskrepanzen machen 11,7 Prozent aus.

Gesellschaftliche Anstrengungen notwendig

Die Erhebung zeigt, dass für 79,2 Prozentder ArbeiterInnen die Situation in den Fabri-ken nicht zufriedenstellend ist. Sie zeigtauch, dass das Arbeitsvertragsgesetz weitererund verbesserter Implementierung bedarf.

1. Umgehung ist keine LösungAnstatt die technischen Kenntnisse, die Krea-tivität und Leitungskompetenzen der Arbei-terInnen zu fördern und so den Betrieb auf-recht zu erhalten, werden die Löhne derArbeiterInnen gekürzt bzw. Überstundenzu-schläge vermieden. Das heißt, tendenziellwerden ArbeiterInnen zugunsten der Wettbe-werbsfähigkeit ausgebeutet. Längerfristig istdies keine tragfähige Strategie für die Firmen,früher oder später werden sie entweder vonder Regierung bestraft werden oder aberArbeiterInnen verlieren, d.h. unter Arbeits-kräftemangel leiden. Zur Zeit fehlen inShenzhen nachweislich 740 000 Arbeitskräf-te. Das ist eine Ermahnung an die Unterneh-men, die ihnen deutlich machen müsste:Wenn sie weiter wachsen wollen, müssen siesich dem Gesetz beugen und das Wachstumin die richtige Richtung bringen.

2. Rechte kennen und wahrnehmenEs ist notwendig, dass ArbeiterInnen ihreRechte kennen lernen und Methoden ent-wickeln, sich selbst zu schützen, um gegen

ihre ArbeitgeberInnen, in Arbeitsbehördenund vor Gericht kämpfen und ihre Forde-rungen klar vorbringen zu können. Dies istdie einzige Möglichkeit, das Arbeitsvertrags-gesetz in Gänze umzusetzen.

3. Arbeitsrechte – eine gesellschaftlicheAngelegenheitArbeiterInnen schaffen gesellschaftlichenReichtum, sie sind die treibende Kraft gesell-schaftlicher Entwicklungen. Als Mitgliederdieser Gesellschaft haben wir alle die Pflichtund die Verantwortung, das Arbeitsrecht unddie Arbeitsbedingungen von ArbeiterInnengenau zu verfolgen. Wenn die ArbeiterInnenden Unterhalt für ihr Leben nicht verdienenkönnen, wird sich dies definitiv auf die Stabi-lität und die Entwicklung der Gesellschaftauswirken. Und wenn die ArbeiterInnen ihreFähigkeiten nicht entwickeln und ausweitenkönnen, wird das ebenso die Entwicklungder Gesellschaft als Ganze einschränken.

4. RegierungsaufgabenDie Erhebung hat klar gezeigt, dass inhohem Ausmaß selbst bei unterschriebenenVerträgen rechtswidrige Praktiken fortbeste-hen. Wenn wir nicht auf die Erfahrungen derArbeiterInnen hören und uns nur auf dieAnzahl der unterschriebenen Verträge kon-zentrieren, führt dies eindeutig zu einer Fehl-einschätzung. Die ArbeiterInnen wissen ambesten über die illegalen Praktiken in denUnternehmen Bescheid. Die Regierung sollteder tatsächlichen Situation der ArbeiterInnendaher mehr Beachtung schenken und aufderen Stimme hören. Gleichzeitig sollte dieRegierung Organisationen wie die Gewerk-schaft, den Frauenverband und andere Grup-pen darin bestärken, ihre Funktion bei derFörderung, Vermittlung, Erleichterung undBeaufsichtigung des Arbeitsvertragsgesetzeswahrzunehmen. In der Zwischenzeit könntedie Regierung klare finanzielle Anreize bie-ten, um soziale Gruppen und Einzelpersonendazu zu ermutigen, die widerrechtlich han-delnden Unternehmen zu melden.

Seit Inkrafttreten des Arbeitsvertragsgeset-zes kam es häufig zu »Tricks« in Unterneh-men. Diese Handlungen haben nicht nur dasRecht der ArbeiterInnen untergraben, son-dern sich auch über das Gesetz hinweggesetztund es mit Füßen getreten. Angesichts einerderartigen Situation rufen wir die ArbeiterIn-nen dazu auf, sich mit dem Arbeitsrecht ver-traut zu machen, rufen wir alle Bereiche derGesellschaft auf, den Rechten der ArbeiterIn-nen volle Beachtung zu schenken, und rufenwir die Regierung auf, die Förderung, Beauf-sichtigung und Durchsetzung des Arbeitsver-tragsgesetzes zu stärken.

Eine vollständige chinesische Version dieses Berichts findetsich unter: www.ngocn.org/?11799. Weitere Informationenund Kontakt: [email protected].

Übersetzung ins Englische:Workers Empowerment und IHLO

(Hong Kong-Vertretung des ICFTU)Übersetzung aus dem Englischen:

Dagmar Fink

zu führen. Für schwerwiegendere Fehler, wie mit dem Management zu streiten, gehtdie Strafe auf bis zu 200 Yuan hoch. DieFabrik verschickt häufig Abmahnungen, undjede Abmahnung kostet uns 50 Yuan. Diezweite Abmahnung bedeutet dann die Kün-digung ...«

Verschleppte Umsetzung des Arbeitsvertragsgesetzes

Immer noch viele Beschäftigte ohneArbeitsverträgeGerade in kleineren bzw. ausschließlich lokaltätigen Unternehmen gibt es noch immereinen Mangel an Arbeitsverträgen. 73,4 Pro-zent der ArbeiterInnen gaben in der Erhe-bung zwar an, einen Vertrag unterschriebenzu haben (auch wenn sie – wie bereitserwähnt – alle möglichen Schwierigkeitendamit haben), doch 26,6 Prozent der Arbei-terInnen arbeiten noch immer ohne Verträge.In 41,9 Prozent der ausschließlich lokal täti-gen Unternehmen und in 35,8 Prozent derKleinunternehmen, d.h. solchen mit wenigerals 1 000 Beschäftigten, werden den Arbei-terInnen keine Verträge angeboten. Von dengrößeren Fabriken, d.h. solchen mit mehr als1 000 ArbeiterInnen, sind es nur 6,1 Prozent,in denen die ArbeiterInnen keine Verträgehaben.

Löhne unter dem MindestlohnDie Erhebung zeigt, dass 28 Prozent der Ver-träge Löhne unter 750 Yuan monatlich bie-ten, 51,6 Prozent bieten Löhne zwischen 750und 1 200 Yuan. Beginnend mit dem 1. Ok-tober 2007 wurde der Mindestlohn in denAußenbezirken Shenzhens auf 750 Yuan fest-gelegt und zum 1. Juli 2008 auf 900 Yuanerhöht. Die gesetzlichen Mindestlöhne stel-len die unterste Grenze dessen dar, was dieArbeiterInnen zum Leben brauchen. VieleFabriken halten nicht einmal diesen Standardein, wie können sie da von einer »persönli-chen Entwicklungsmöglichkeit« für dieArbeiterInnen sprechen?

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14express 8/2008

Leserliches

Existenzgeld Reloaded

Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (Hg.)

»Ein Lied geht durch Europa. Ein Liedüber ein Einkommen für alle, Mann,Frau oder Kind, egal ob man in demLand, in dem man lebt und dieses Ein-kommen bezieht, auch geboren ist.« Sohieß es Ende der neunziger Jahrezusammenfassend in einem Resümeeder Bundesarbeitsgemeinschaft derSozialhilfeinitiativen (BAG SHI) zurEntwicklung der Idee eines Existenz-geldes. Mittlerweile kann von einemganzen Orchester gesprochen werden,das mit unterschiedlichen Dirigentenund Solisten sowie dissonanten Noten-

setzungen durch Europa zieht. Kaumein Tag ohne Berichterstattung oderVeranstaltung über das Für und Widereines bedingungslosen Grundeinkom-mens, nach über zwanzig Jahren Dorn-röschenschlaf wird eine Idee wachgeküsst. Allerdings nicht von einem,sondern von vielen Prinzen! In diesem Band versammeln sich Posi-tionen aus dem Umfeld der BAG derSozialhilfeinitiativen: Konzepte, Vor-stellungen und Diskussionen von Ver-treterInnen der Betroffenen und enga-gierte WissenschaftlerInnen: HaraldRein, Hinrich Garms, Wolfram Otto,Robert Ulmer, Anne Allex, AndreasGeiger.

Aus dem Inhalt:● Hinrich Garms: Wie kommen wirvon diesem zu einem anderen System?

Oder: Will die BAG-SHI die Sozialver-sicherung abschaffen?● Wolfram Otto: Erläuterungen zurFinanzierung des Existenzgeldes● Robert Ulmer: Motivation, Anreiz,Zwang● Anne Allex: BedingungslosesGrundeinkommen für alle: Negativ-steuer oder Existenzgeld?● Harald Rein: Nach den Sternengreifen, ohne das Essen zu vergessen!● Andreas Geiger: Die aktuelle Dis-kussion um den Kinderregelsatz, einBaustein für die Diskussion um einBedingungsloses Grundeinkommen

Bezug über: Bundesarbeitsgemeinschaftder Sozialhilfeinitiativen (Hg.): Existenz-geld Reloaded, AG SPAK-Bücher, Neu-Ulm, 143 S., 16 Euro, ISBN 978-3-930830-96-1

Ob und inwiefern für China von»Klassen« bzw. »Proletariat« gespro-chen werden kann und welcheMomente für das »Werden« einerArbeiterInnenklasse wesentlich sind,ist – wie bei westlichen Intellektuel-len, AkademikerInnen und Gewerk-schafterInnen auch – abhängig vonden theoretisch-politischen Perspekti-ven auf die gesellschaftlichen Ver-hältnisse insgesamt. Doch währendsolche Fragen und Perspektiven hier-zulande kaum – noch – zur Sprachekommen und die sozialgeschichtlicheStandards setzende UntersuchungE.P. Thompsons, die das Werden derenglischen Arbeiterklasse untersuchthat, auch schon einige Jahre zurückliegt, findet dazu in China eine durch-aus rege und offene Kontroversestatt. Dabei spielt auch die Fragenach der Bedeutung von Recht undGesetz bzw. der »moralischen Öko-nomie« eine Rolle. Der folgende Bei-trag von Chris Chan und Pun Ngai1

ist nicht nur eine Antwort auf jeneAnsätze, die die Entstehung von Klas-senbewusstsein primär als Resultatvon Verstößen »gegen das Recht«auf der Basis gegebener Rechtesehen2, sondern analysiert an zweiFallstudien auch, welche Bedeutungdas sog. »Wohnheimregime« als typi-sche Reproduktionsform für die Ent-wicklung kollektiver Aktionen unterchinesischen WanderarbeiterInnenhatte.

Der spezifische Prozess der Proletarisierungin Reform-China hat eine neue Arbeiterklas-se entstehen lassen, die in zunehmendbewussteren Formen kollektive Kämpfe ent-wickelt. Spontane Streiks von Wanderarbeite-rInnen haben seit Mitte der neunziger Jahredeutlich zugenommen. Durch die Untersu-chung der inneren Dynamik kollektiverAktionen der WanderarbeiterInnen im Perl-flussdelta wollen wir den Verlauf und dieKomplexität der Selbsterzeugung einer neuenKlasse besser verstehen. Die meisten kollekti-ven Aktionen der jüngsten Zeit entstandenaus Konflikten zwischen ArbeiterInnen undManagement im unmittelbaren Produktions-prozess, waren aber zugleich mit Organisie-rungsversuchen und Aktionen auf dem

Gebiet der alltäglichen Reproduktion inWohnheimen und Stadtteilen verbunden.

Ressourcen des Klassenbewusstseins

Der Aufsatz beruht auf Feldforschungen inder Industriestadt Shenzhen in den Jahren2003 bis 2007; folgende Fragestellungenlagen den Untersuchungen zugrunde: Wieübersetzen ArbeiterInnen ihr alltäglichesHandeln im Verlauf von Streiks in Formenvon »Klassenbewusstsein«? Wann, wo undwie entwickeln sie kollektive Aktionen?

Aufgrund unserer Untersuchungen lässtsich erkennen, dass die WanderarbeiterInnenin kritischen Momenten dazu tendieren, inkollektiver Weise gegen das Kapital aktiv zuwerden und dabei räumliche und ethnischeSchranken überwinden, um einen an Interes-sen orientierten oder klassenförmigen Ar-beitskampf zu entwickeln.

In Studien zur chinesischen ArbeiterIn-nenbewegung wird oft betont, dass der mao-istische Diskurs, neue legale Möglichkeitenund örtliche Netzwerke die wichtigsten Res-sourcen seien, die den ArbeiterInnen für ihreProteste zur Verfügung stünden. Das Erbedes Maoismus und die Rechtsreformen derRegierung haben ohne Zweifel einen diskur-siven Raum und institutionelle Kanäle geöff-net, in denen ArbeiterInnen ihre kollektivenInteressen als Rechtsansprüche formulierenkönnen. Aber diese Kanäle hindern sie, sozeigen unsere Untersuchungen, nicht daran,zu Kämpfen überzugehen, die auf der Basisvon Klasseninteresse bzw. -bewusstsein statt-finden. Abgeschnitten von jeder wirksamenUnterstützung durch das chinesischeGewerkschaftssystem bleibt den Wanderar-beiterInnen oft nichts anderes übrig, als aufihre eigenen, bereits bestehenden herkunfts-bezogenen Netzwerke zur Entwicklung vonKulturen der Solidarität zurückzugreifen.Doch sobald sich unter den ArbeiterInnenSolidarität entwickelt hat, sind sie auch inder Lage, ihre gemeinsamen Interessen ent-lang von Klassenlinien zu artikulieren.

Produktion, Reproduktionund Proletarisierung

Der spezifische Proletarisierungsprozess derchinesischen WanderarbeiterInnen ist geprägtdurch die Stadt-Land-Spaltung und die mitdem chinesischen hukou-System3 gegebeneräumliche Trennung zwischen Produktionund Reproduktion sowie durch die räumli-

che Rekombination dieser zwei Dimensionenim Rahmen des Wohnheimarbeitsregimes.4

Die Entstehung dieses Regimes ist nichts völ-lig Neues, denn der Einsatz von Wohnhei-men hat in der Geschichte der westlichen wieder östlichen Industrialisierung eine langeTradition. Das Interessante daran ist nichtdie Wiederkehr einer alten Form der Arbeits-kraftvernutzung in der globalen Produktion,sondern die Neubildung von Formen der all-täglichen Reproduktion von Arbeitskraft, diesowohl die Kontrolle wie den Widerstand derArbeiterInnen im heutigen China prägen. Dader Staat für die Versorgung der neuen Arbei-terklasse in den Industriestädten so gut wiekeine Rolle spielt, ist es für die weltmarkt-orientierten Produktionsfirmen zu Notwen-digkeit geworden, Wohnheime zur Unter-bringung der Millionen von Wanderarbeite-rInnen bereitzustellen und sich um ihre all-tägliche Reproduktion zu kümmern.

Das Auffallende am heutigen Chinabesteht darin, dass die Kombination ausstaatlicher Kontrolle (hukou-System), derumfangreichen Bereitstellung von Wohnhei-men und dem Mangel an unabhängigenUnterkünften zu einem modernen Wohn-heimarbeitsregime geführt hat, das weitaushegemonialer und durchdringender ist, alsirgendetwas Vergleichbares in früheren Zei-ten der chinesischen Geschichte oder inanderen Teilen Asiens. Für die mit ausländi-schem Kapital operierenden Firmen in Chinaist es charakteristisch, dass sie Wanderarbeite-rInnen in Wohnheimen unterbringen, diesich auf dem Gelände oder in unmittelbarerNähe der Fabrik befinden. Es könnte soscheinen, als ob das Management dieser aus-ländischen oder privaten Firmen im Rahmendieses Systems über eine außergewöhnlicheKontrolle der Arbeitskräfte verfügt. OhneRückgriff auf einen von der Firma unabhän-gigen häuslichen Raum können die Arbeits-tage je nach Produktionserfordernis ausge-weitet werden, was zu einem flexiblen Ein-satz, verlängerten Arbeitszeiten und einerumfassenderen Kontrolle in und außerhalbder Arbeit führt.

Trotz seiner fast totalen Kontrolle öffnetdas chinesische Wohnheimarbeitsregime aberauch Räume für tägliche Kämpfe und kollek-tiven Widerstand. In den Wohnheimen geraten die ArbeiterInnen, die bereits durchGeschlecht, Herkunft, Verwandtschaft undEthnie miteinander verbunden sind, in weit-verzweigte Netzwerke der jeweiligen Fabrikund darüber hinaus. Vor allem in der neuenGeneration der dagongmei- und dagongzai-Subjekte (der Wanderarbeiterinnen undWanderarbeiter; Anm. d. Red.) haben sich

solche Netzwerke herausgebildet. Um derdisziplinären Kontrolle in den von der Firmagestellten Wohnheimen zu entkommen, mie-ten einige der besser bezahlten ArbeiterInnenbefristet Wohnungen in nahe der Fabrik gele-genen Stadtteilen. Es ist vielfach darauf hin-gewiesen worden, dass verwandtschaftlicheund ethnische Netzwerke eine Hilfe bei derMigration, der Arbeitssuche und der Zirkula-tion von Informationen über die Arbeit dar-stellen und den ArbeiterInnen einen Rück-halt bieten, um mit dem Fabrikleben und derstädtischen Not zurechtzukommen. Aber inKrisensituationen oder im Verlauf von Streiksgehen die ArbeiterInnen schnell dazu über,diese »weiche« Unterstützung – Verwandt-schaftsbeziehungen, ethnische Enklaven,Schwesterlichkeit und persönliche Beziehun-gen – in die »harte« Ressource des Fabrik-kampfs zu transformieren.

Es ist für die ArbeiterInnen relativ leicht,die Wohnheimsituation für die Organisie-rung ihrer gemeinsamen Anliegen gegenüberdem Management zu nutzen, weil das engeZusammenleben es schwierig macht, kollek-tive Aktionen zu verhindern. Die Verdich-tung der Zeit, die im Wohnheimarbeitsre-gime den Produktionserfordernissen dient,kommt umgekehrt der kollektiven Organi-sierung der ArbeiterInnen zugute, weil sieKonsensfindung und Strategiebildungbeschleunigt.

Der Streik von 2004

Fabrik A, die kleine Haushaltsgeräte produ-zierte, wurde 1992 eröffnet und beschäftigtezu Beginn nur zwanzig bis dreißig Arbeite-rInnen. Bis 2004 wurde sie zu einem Kom-plex von zwei Fabriken mit einer Belegschaftvon 9 000 ArbeiterInnen erweitert. Ende2004 eröffnete die Firma eine weitereGroßfabrik in der Stadt Huizhou. Im Zwei-schichtsystem müssen die ArbeiterInnen ansieben Tagen in der Woche zwölf Stundentäglich arbeiten, mit zwei Essenspausen vonjeweils einer halben Stunde.

Der örtliche Mindestlohn betrug 2004monatlich 480 Yuan für eine 40-Stunden-Woche. Als Überstundenzuschläge waren anWochentagen 50 Prozent und am Wochen-ende 100 Prozent gesetzlich vorgeschrieben.Aber die tatsächliche Bezahlung war niedri-ger. Der Basislohn in der Produktion betrug450 Yuan monatlich für täglich acht Stundenvon Montag bis Samstag. Überstunden anWochentagen und an Sonntagen wurden mit2,4 Yuan pro Stunde bezahlt. Je nach Über-stunden verdienten ProduktionsarbeiterIn-nen zwischen 700 und 1 300 Yuan. Zusätz-lich zum Basislohn und den Überstundenzu-schlägen, die für alle gleich waren, wurden jenach Abteilung und Posten weitere Zuschlä-ge gezahlt. BandführerInnen erhielten 400bis 500 Yuan, AbteilungsleiterInnen 700 bis800 Yuan. Allen ArbeiterInnen bot die FirmaPlätze im Wohnheim an und zog dafür 50Yuan monatlich vom Lohn für Miete undNebenkosten ab.

»The Making of...«Chris Chan und Pun Ngai über Kollektivaktionen von WanderarbeiterInnen in Südchina, Teil I

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express 8/2008 15

Pun Ngai / Li Wanwei:»Dagongmei.

Arbeiterinnen aus ChinasWeltmarktfabriken

erzählen«, Berlin 2008,282 Seiten, 18 Euro, ISBN

978-3-935936-73-6

Der ökonomische Aufstieg Chinasist ohne die spezifische Mischungaus feudalen und frühindustriellenFormen der Ausbeutung, die selbstin den modernsten Hightech-

Unternehmen zum Einsatz kom-men, nicht zu begreifen. Exempla-risch dafür stehen geschätzte 120-200 Millionen WanderarbeiterIn-nen, zu deren Lebens- und Arbeits-bedingungen die Soziologin undMitgründerin des Chinese WorkingWomen Network, Pun Ngai, ge-forscht und für die sie in ihren letz-ten Veröffentlichungen den Begriffdes »Wohnheim-Arbeitsregimes«geprägt hat. In ihrem soeben beiAssoziation A auf Deutsch erschie-nenen Buch lässt sie nun die»Dagongmei« (»arbeitende Schwes-

tern«), d.h. junge Wander-arbeiterinnen über weiteStrecken selbst über derenErfahrungen in Fabriken,Wohnheimen und Fami-lien sprechen. Ergänzt wer-

den die Berichte durch einen zu-sammenfassenden Aufsatz von PunNgai, in dem sie in kritischer Aus-einandersetzung mit Michel Fou-caults Analysen zur »Mikrophysikder Macht« nach dem Charakterder Herrschafts- und Disziplinie-rungsmethoden inner- und außer-halb der Fabriken fragt. Die Dis-kussion darüber, ob und inwie-fern diese autoritären Versuche,»geistlose Körper« für die Pro-duktionsökonomie herzustellen,Relikte maoistisch-staatssozialisti-scher Herrschaftsformen darstellen

oder nicht vielmehr Elemente undZiele modernster Management-konzepte westlicher Prägung ent-halten, steht hierzulande noch aus.Sie dürfte erhellend sein für diegroßteils verlogen geführte Diskus-sion über den »Buhmann China«,dessen Fabrikkasernen-Kapitalis-mus mehr mit hiesigen Verhältnis-sen gemein hat, als in den vorolym-pischen Zeigefinger-Kommentarenzur Menschenrechtssituation inChina nahe gelegt wurde.

Wer mit der Autorin über ihreThesen zum ländlichen, familialenund industriellen Despotismus, überdie Aufsässigkeiten und den Eigen-sinn, die das »Werden des Proleta-riats« begleiten, diskutieren will, soll-te sich die Termine für die Lesereisezu »Dagongmei« notieren. K.H.

Veranstaltungstermine:

Köln: Freitag, 10. Oktober, 19 Uhrim Naturfreundehaus Köln-Kalk,Kapellenstr. 9a (Nähe U-Bahn-Sta-tion Kalk Kapelle) Wien: Dienstag, 14. Oktober, 19Uhr, im WUK, Großer Initiativen-raum, Währinger Straße 59Poznan: Samstag, 18. Oktober18.30 Uhr, Teatr Ósmego Dnia,Ratajczaka 44Veranstalterin: Inicjatywa Pracow-nicza (ArbeiterInnen-Initiative)Berlin: Montag, 20. Oktober19.30 Uhr, im Rahmen des »globa-le«-Filmfestivals, Ort siehe www.globale-filmfestival.orgJena: Dienstag, 21. Oktober,18 Uhr, Uni-Campus, Carl-Zeiss-Straße 2–4

Im April 2004 führte die Fabrik eine neueRegelung ein, die zum Auslöser des Streiksdirekt in der Produktion wurde. Währendder halbstündigen Mittagspause von elf bishalb zwölf sollten die ArbeiterInnen nun aus-und wieder einstempeln. Für die meisten wardas ein Problem, weil sich eine lange Schlan-ge vor der Stempeluhr bildete. Wer in denoberen Stockwerken des Fabrikgebäudesarbeitete, brauchte nun zehn Minuten oderlänger, um herauszukommen, so dass nurzehn Minuten für das Mittagessen blieben.

Der Streik begann am 10. April in einerder Produktionsabteilungen im fünften Stockdes Fabrikgebäudes. Am nächsten Tag spranger auf die gesamte Fabrik über. Außer ihrerBeschwerde über das Aus- und Einstempelnverlangten die Arbeiter die Anhebung desLohns von 450 auf 480 Yuan und der Über-stundenzuschläge von 2,4 auf 3,5 Yuan proStunde. Am Morgen hing vor allen Abteilun-gen ein Zettel mit dem Streikaufruf. MitZustimmung der VorarbeiterInnen verließendann hundert bis zweihundert ArbeiterInnenaus der Abteilung, die den Streik begonnenhatte, das Fabrikgebäude, um in zwei Grup-pen die Autobahn an zwei Auffahrten zublockieren. Die erste Gruppe wurde vonihren Managern aufgehalten und zur Rück-kehr überredet; die zweite Gruppe, die schonauf die Autobahn gekommen war, wurde vonder Polizei vertrieben. Außerdem nahm diePolizei sieben ArbeiterInnen fest und brachtesie in Polizeigewahrsam. Daraufhin rannteeine Gruppe junger männlicher Arbeiter indie Abteilungen und schaltete den Strom aboder zerschlug die Hauptschalter. Die meis-ten ArbeiterInnen, männliche wie weibliche,legten die Arbeit nieder und verließen dieProduktionslinien. Tausende ArbeiterInnenstanden vor der Fabrik und streikten.

Sofort tauchten städtische Beamte undPolizei vor der Fabrik auf. Mittags fordertedie Firma die ArbeiterInnen auf, ihre Vertre-

ter zu wählen. Es gab keine formelle Wahl,aber zehn Arbeiter meldeten sich freiwillig alsVertreter. Die Verhandlungen begannen amNachmittag. Vor dem Besprechungsraumversammelten sich ArbeiterInnen, um dasErgebnis abzuwarten. Aber am Ende desTreffens wurden die zehn Vertreter mit einemKleinbus aus der Fabrik gebracht und ver-schwanden danach.

Am Abend waren einige der ArbeiterInnenso verärgert, dass sie ins Verwaltungsbürostürmten, Computer zerschlugen und dentaiwanesischen Generalmanager sowie denörtlichen Fabrikdirektor ans Fabriktorschleppten, wo sich tausende ArbeiterInnenversammelt hatten. Die aufgebrachten Arbei-terInnen versuchten, den taiwanesischenManager zu schlagen. Zwei Wachschützerzogen ihn in die Fabrik zurück. ArbeiterIn-nen warfen ihm Flaschen und Abfall hinter-her, beschimpften ihn als »taiwanesischenlao« (Typ, Kerl) und warfen ihm vor, er alsTaiwanese würde sie als Festlands-ChinesIn-nen nicht wie Menschen behandeln. Errechtfertigte sich und versprach, die Löhneentsprechend dem Gesetz zu erhöhen.Danach verbrachten etwa hundert Arbeite-rInnen die Nacht vor der Fabrik, um denAbtransport von Waren zu verhindern.

Am Morgen des dritten Tages ließ die Fir-ma in einem Aushang verkünden, dass derLohn auf den gesetzlichen Standard angeho-ben werde. Aber einige ArbeiterInnen stelltenan der Stempeluhr eine große Pappwand auf,mit der sie dazu aufriefen, eine Petition andie Stadtregierung zur Freilassung ihrer Ver-treter zu unterschreiben. Zwei- bis dreitau-send ArbeiterInnen marschierten dann vonder Fabrik wieder zur Autobahn. Einige fin-gen an, mit Dosen Geld für einen langfristi-gen Kampf zu sammeln. Der Protestzug derArbeiterInnen wurde gestoppt, nachdem siezehn Minuten über die Autobahn gelaufenwaren. Am nächsten Industriegebiet, zu dem

die Autobahn führt, standen Hunderte vonPolizisten und Sicherheitskräften. Beamte derArbeitsverwaltung überredeten sie schließ-lich, zur Fabrik zurückzukehren, und ver-sprachen, ihnen bei den Verhandlungen hel-fen.

Als sie dort ankamen, hörten sie, dass dietaiwanesischen Manager alle in eine benach-barte taiwanesische Fabrik geflüchtet seien.Die ArbeiterInnen fühlten sich getäuscht.Am Abend bemühten sich FacharbeiterInnenund VorarbeiterInnen um die Ausweitungder Mobilisierung quer durch die Fabrik-hallen, Wohnheime und Siedlungen. In derNacht vor der großen Konfrontation standenüberall in der Siedlung ArbeiterInnen zusam-men, diskutierten und trafen Vorbereitungenfür die Demonstration.

In den frühen Morgenstunden des viertenTages wurde unter den einfachen ArbeiterIn-nen die Parole ausgegeben: Zur Stadtregie-rung! Später wurden zwei riesige Transparen-te aufgehängt: »Bringt unsere zehn Vertreterzurück!« und »Firma A verstößt gegen dasArbeitsgesetz, sie erhöht die Löhne nicht!«Um acht Uhr verließen vier- bis fünftausendArbeiterInnen das Industriegebiet in Rich-tung Autobahn. Diesmal war der Protest bes-ser organisiert, geplant und koordiniert alsam Tag zuvor. Die Polizei hatte sich daraufvorbereitet, die Demonstranten an der Auf-fahrt zu stoppen. Aber die ArbeiterInnen gin-gen mit Ziegeln, Steinen und Grasballengegen die Polizei vor, die Verstärkung anfor-dern musste.

Allmählich entstand ein fabrikübergreifen-der Streik, als immer mehr ArbeiterInnen ausanderen Fabriken des Industriegebiets sichder Demonstration auf ihrem Weg anschlos-sen, um sie zu unterstützen – oder einfachaus Spaß. ArbeiterInnen erzählten uns: »Wirwaren so viele. Sie (die Polizei) konnte unseinfach nicht aufhalten.« Fünf Stunden,nachdem sie die Industriezone verlassen hat-

ten, befanden sich sieben- bis achttausendDemonstranten aus mindestens drei Fabrikenauf dem Weg zur Stadtregierung.

Am Nachmittag des fünften Tages wurdeden ArbeiterInnen gesagt, sie sollten zueinem Treffen in die Kantine der Fabrikkommen. Alle, die Beamten der Arbeitsver-waltung des Industriegebiets, die Polizei, derGeneralmanager und der Fabrikdirektor,kamen zu dem Treffen. Der Generalmanagerversicherte den Arbeitern, dass die beidenPausen für das Mittags- und Abendessen aufjeweils eine Stunde verlängert würden, unddass sich die Fabrik streng an die Gesetze halten werde. Der Protest brach damit ab,obwohl weder die festgenommenen Arbeiterfreigelassen noch die Vertreter zurückge-bracht worden waren.

Nach dem Streik kam es zu einer Serie vonArbeitskämpfen zur vollständigen Durchset-zung des gesetzlichen Mindestlohns in denacht großen Fabriken des Industriegebiets,die jeweils über tausend ArbeiterInnenbeschäftigten. Auch in der neuen Tochterfir-ma in Huizhou kam es schon kurz nach ihrerEröffnung im Dezember 2004 zu einemStreik gegen das schlechte Kantinenessen.

Der erste fabrikweite Streik in der Firma Awirkte wie eine Initialzündung. Seitdem wur-de an den beiden Standorten Shenzhen undHuizhou immer mal wieder abteilungsüber-greifend die Arbeit niedergelegt. Streiks wur-den zu einer endemischen Kultur in dieserFirma.

Teil II folgt im nächsten express.

Übersetzung aus dem Englischen:Christian Frings

Anmerkungen:1) Chris King-Chi Chan und Pun Ngai unterrichten an

der Polytechnischen Universität Hongkong. Der Aufsatz,der auf Englisch unter dem Titel »The Making of a NewWorking Class? A Study of Collective Actions of MigrantWorkers in South China« in The China Quarterlyerscheinen wird, wurde für den Abdruck im expressstark gekürzt und zusammengefasst. Auf Literaturanga-ben wurde weitgehend verzichtet. Die vollständige Über-setzung wird im Labournet Germany und im Rahmeneiner derzeit in Planung befindlichen neuen Ausgabe der»Ränkeschmiede« erscheinen.

2) So zum Beispiel: Lee, Ching Kwan: »Against the Law:Labor Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt«, Univer-sity of California Press, Berkeley 2007; Isabelle Thireau /Hua Linshan: »The Moral Universe of Aggrieved Chi-nese Workers: Workers’ Appeals to Arbitration Commit-tees and Letters and Visits Offices«, in: The China Jour-nal 2003, Nr. 50, S. 83-103

3) Das unter Mao eingeführte strenge staatliche System derHaushaltsregistrierung, an das auch die Inanspruchnah-me von Sozialleistungen gebunden ist, sollte massenhafteWanderungsbewegungen unterbinden. Aufgrund derLockerungen der gesetzlichen Bestimmungen zur inner-chinesischen Arbeitsmigration unter Deng Xiaopingleben zwar die meisten WanderarbeiterInnen mittler-weile fast ganzjährig an ihrem Arbeitsort, doch sind siehier, aufgrund der Bindung der Sozialleistungen an dengemeldeten Herkunftsort, faktisch von diesen ausge-schlossen. Erst in wenigen Provinzen, so in Guangdong,wird von dieser Praxis abgegangen und eine partiellerechtliche Gleichstellung von WanderarbeiterInnen undgemeldeten StadtbürgerInnen angestrebt. (Anm. d.Red.)

4) Siehe dazu genauer Pun Ngai / Chris Smith: »PuttingTransnational Labour Process in its Place: The DormitoryLabour Regime in Post-socialist China«, Work, Employm-ent and Society (2007), Vol. 21, No. 1, S. 27-45.

»Geistlose Körper«?Lesereise mit Pun Ngai und Leseempfehlung

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In den nächsten Ausgaben: Armuts- und Reichtumsbericht: alles relativ? ● Michael Kittners Geschichte des Arbeitskampfs ● Noch mehr Rauch um

China: Interview mit Chang Kai, Maoismus-Rezeption in Deutschland u.v.m.

16express 8/2008

Neue Prämien fürneue Abos

Für jedes neu geworbene Jahresabonnement gibt eseine der folgenden Prämien (bitte ankreuzen)

■■ Flying Pickets (Hg.):»... auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet«, Hamburg 2007

■■ Wolfgang Schaumberg:»Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision ...«, Ränkeschmiede 16, Offenbach 2006

■■ Jens Huhn: »Anders arbeiten – bei vollem Gehalt«, Mannheim/Heidelberger HBV-Hefte, Mannheim, 2001

■■ Yvette Bödecker / Heinz-Günter Lang:»Der längste und letzte Tanz bei Nanz«, Mann-heim/Heidelberger HBV-Hefte, Mannheim, 1999

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Mit »It’s a Free World«, der im Okto-ber in deutschen Kinos anläuft, hatder britische Regisseur Ken Loacheinen Film vorgelegt, der den Wan-del in Britanniens Arbeitswelt infolgeder Ausweitung von Leiharbeit be-schreibt – und die Politik ändernkönnte.

Sie sind überall – in Pubs, auf Baustellen, inFabriken und Bürogebäuden. Sie putzen inBanken, arbeiten auf Bauernhöfen, füllen inSupermärkten die Regale, schaufeln Löcher,reinigen Spitalkorridore oder zapfen Bier. Siehaben noch weniger Rechte als die fest ange-stellten Beschäftigten, erhalten kein Kran-kengeld, haben keinen Urlaub und könnenjederzeit gefeuert werden. Rund 1,4 Millio-nen TagelöhnerInnen stehen derzeit auf denListen britischer Leiharbeitsfirmen – undwahrscheinlich gibt es noch viel mehr.

Viele von ihnen stehen jeden Morgen inHinterhöfen, Werkhallen oder Büros an undhoffen, dass ihnen die mehr oder wenigerseriösen Zeitarbeitsfirmen ein miserabelbezahltes Tagwerk offerieren. Und viele vonihnen kommen aus den neuen EU-Mitglieds-staaten im Osten Europas. Allein aus Polenhaben 2,5 Millionen Arbeitsuchende eine bri-tische Sozialversicherungsnummer beantragt.

Nicht alle dieser MigrantInnen jobben un-ter erbärmlichen Bedingungen; manche arbei-ten auch als LehrerInnen, im Gesundheitswe-sen oder bei der nordirischen Polizei. Anderejedoch, und deren Zahl geht in die Hundert-tausende, haben weniger Glück – und das,obwohl sie in ihrer Heimat ebenfalls oft Leh-rerInnen, ÄrztInnen oder PolizistInnen wa-ren. Zu ihnen gehören nicht nur MigrantIn-nen aus Polen, Ungarn oder der Slowakei, dieseit Anfang 2004 in Britannien legal einerBeschäftigung nachgehen dürfen, sondernauch die vielen abgewiesenen Asylsuchendenund illegalen MigrantInnen aus Nigeria unddem Iran, von Santiago de Chile bis Kiew.Ohne ihre »Flexibilität« und ohne ihre Aus-beutung käme London, das ökonomischeKraftwerk der britischen Dienstleistungsge-sellschaft, innerhalb kurzer Zeit zum Stillstand.

Welt der Tagelöhner

Paul Laverty, der Autor des Drehbuchs vonKen Loachs neuem Film, hat lange recher-

chiert. Er hat in Lagerhallen, auf Großbau-stellen, in Werkstätten und Supermärktennachgefragt und aufgeschrieben, was ihm diedort arbeitenden TagelöhnerInnen erzählten:dass sie oftmals um ihren Lohn geprellt wer-den; dass sich ein Schweißer aus Polen vonzu Hause eine Schutzmaske schicken lassenmusste, weil ihm sein Boss keine zur Verfü-gung stellen wollte; dass ein junger Pole voneiner Seilwinde in zwei Teile zerfetzt wurde;dass sich ein Portugiese beim Sturz voneinem Holztransporter das Rückgrat brach –und dass all jene, die vom Elend dieser neuenArbeiterklasse profitieren, vom Staat nichtszu befürchten haben. Sie werden allenfallsverwarnt, wenn sie die Papiere ihrer Arbeits-kräfte »nicht genau genug prüfen«.

Laverty hat schon viele Drehbücher fürKen Loach verfasst – darunter The WindThat Shakes the Barley (2006), Ae Fond Kiss(2004), Sweet Sixteen (2002), Bread andRoses (1999) oder Carla’s Song (1996).1 Abernur selten skizzierte er die Arbeitswelt amunteren Rand der britischen Gesellschaft sofaktenreich, realitätsnah, überzeugend undgleichzeitig so unterhaltend wie in Loachsneuestem Film It’s a Free World. Die Opferder neuen Beschäftigungsverhältnisse könnenmit der »unerträglichen Leichtigkeit derStory« wahrscheinlich wenig anfangen,schrieb Laverty in der britischen TageszeitungGuardian – aber um die Opfer ging es La-verty und Loach in diesem Film nicht, jeden-falls nicht in erster Linie.

Loach, der bisher revolutionär-dokumen-tarische (Big Flame 1969), ausgelassen komi-sche (Riff-Raff 1990), historisch-politische(Land and Freedom 1995) oder sozial be-drückende (My Name is Joe 1998) Geschich-ten aus der Warte der Betroffenen erzählte,hat dieses Mal die Perspektive gewechselt.Nicht die Ausgebeuteten stehen im Mittel-punkt, sondern eine Ausbeuterin, die selbstDutzende von Scheißjobs durchlitten hat, dieimmer nur die »Fußabtreterin« gewesen war– und nun die Initiative ergreift.

Jederzeit billig

Angie (Kierston Wareing), die gerade malwieder gefeuert wurde, und ihre FreundinRose (Juliett Ellis) gründen im Hinterhofihrer Stammkneipe eine Arbeitsagentur, dieTagelöhnerInnen vermittelt. Sie engagierensich mit großem Elan (»Endlich frei!«) für ihrGeschäft (»Wir können zu jeder Stunde bil-

ligste Arbeitskräfte liefern!«), und das läuftanfangs auch ziemlich rund. Doch dann häu-fen sich die Probleme: Wechsel platzen, man-che ihrer Auftraggeber gehen in Konkurs, dieTagelöhner rebellieren, weil die Bezahlungausbleibt. Und Angie, die sich nebenbei auchnoch um ihren elfjährigen Sohn Jamie küm-mern sollte, rutscht von einer heiklen Situa-tion in die nächste – bis sie nur noch betrügtund verrät.

Ihr Gegenpart ist nicht die Freundin (ob-wohl die von Anfang an am gemeinsamenProjekt zweifelt), sondern ihr Vater Geoff, derfür Jamie sorgen muss und auf seine Zuge-hörigkeit zur Arbeiterklasse stolz ist. »Dir gehtes doch nur um dich«, hält er seiner Tochtervor, einer dreißigjährigen Businessfrau, die imvon Margaret Thatcher mitbegründeten Neo-liberalismus aufgewachsen ist und nie etwasanderes kannte als die von Ausbeutung undErniedrigung geprägte Ellenbogengesellschaft.Und: »Zahlst du den Leuten wenigstens denMindestlohn?« Zwei Mal wiederholt er dieseFrage, bis er von ihr die Allerweltsantwortbekommt: »Ich gebe ihnen zumindest eineChance...« Geoff (hervorragend verkörpertvon Colin Caughlin, der nie Schauspielerwar, sondern als Gewerkschafter und ehemali-ger Londoner Docker wie so viele Darstel-lerInnen in Loachs Filmen sich selber spielt)lässt Angie ihr Welt- und Selbstbild auf denPunkt bringen.

Doch Angie macht weiter, muss weiterma-chen. Als Rose ihr vorschlägt, den betroge-nen ArbeiterInnen einen Teil des gemeinsa-men Gewinns auszuzahlen, knallt sie ihr einGeldbündel auf den Tisch: »Das kannst ja dutun, hier ist dein Anteil. It’s a free world.«

Thatchers Powerfrau

Diese Erzählperspektive haben Laverty (derfür sein Skript den Drehbuchpreis der Film-festspiele von Venedig 2007 gewann) undLoach mit Bedacht gewählt. Von der Arbeitder TagelöhnerInnen profitieren ja nicht nurirgendwelche SchurkInnen und alle, die billigeinkaufen wollen. Auf zusehends prekärerenBeschäftigungsverhältnissen beruht auch einGesellschaftsmodell, das knochenharte Kon-kurrenz, Unterdrückung und Egoismus alsFortschritt begreift – und das per Outsour-cing und »Freistellung« immer mehr Lohnab-hängige auf den Markt schleudert, die sichals Selbstständige durchbeißen müssen undsich dabei, wie Angie, selbst verlieren.

Ken Loachs neuer Film lebt ganz von derHauptfigur. Mehrere Hundert Schauspiele-rinnen hatten sich Loach und seine Casting-direktorin Kathleen Crawford angeschaut.Am Ende entschieden sie sich für eine, dieüber lange Zeit hinweg selbst in Unsicherheitund Ungewissheit lebte. Die SüdengländerinWareing, die von 1997 bis 2000 in New YorkSchauspielunterricht nahm, hatte ihren Jobbereits sausen lassen. Ein paar Fernsehclips,eine Nebenrolle, wenige Werbeaufnahmen(die dann doch nicht gesendet wurden) – zumehr brachte sie es nicht. Wareing, mittler-weile 31 Jahre alt, lernte um und arbeitete alsGerichtssekretärin, als sie jetzt zum erstenMal eine Chance bekam und diese auf ein-drucksvolle Art nutzte. Er habe nach einerSchauspielerin gesucht, die die Komplexitätder Hauptfigur Angie, diese so oft vorhande-ne Mischung aus Sentimentalität und Rück-sichtslosigkeit, ausdrücken könne, sagteLoach in einem Interview. Und er hat sichfür Kierston Wareing entschieden, weil sie»Ecken und Kanten hat, die von der TV- undFilmindustrie noch nicht weggeschliffen wurden«.

Film und Wirklichkeit

Vor über vierzig Jahren hatte Ken Loachserster großer Film Cathy Come Home fürFurore gesorgt. Seine Geschichte einer ob-dachlosen Familie bewirkte damals weitrei-chende Änderungen in der britischen Sozial-wohnungspolitik und verhalf der geradegegründeten Obdachlosenorganisation Shel-ter zu einem fulminanten Start.

Wie Cathy Come Home wurde auch It’s aFree World zuerst im britischen Fernsehengezeigt. Ein paar Wochen nach der Ausstrah-lung debattierte das britische Unterhaus erst-mals über eine Gesetzesinitiative, die Leihar-beiterInnen mehr Rechte geben soll. Bisherhat die Labour-Regierung von GordonBrown selbst die bescheidenen EU-Ansätzezum Schutz der TagelöhnerInnen hintertrie-ben. Die Führung der ehemaligen Arbeiter-partei lehnt deren Besserstellung weiterhinab, aber in der Fraktion rühren sich allmäh-lich die HinterbänklerInnen, die angesichtsder desolaten Umfragewerte um ihren Sitzfürchten. Vielleicht hatte die Debatte janichts mit Loachs Film zu tun. Vielleichtaber doch.

* Pit Wuhrer ist Redaktor der genossenschaftlichen Schwei-zer Wochenzeitung WOZ.

Anmerkung:1) Alle diese Filme von Ken Loach gibt es in deutscher Syn-

chronisation; in der Regel behalten sie aber ihre engli-schen Titel.

Die neuen FreiheitenPit Wuhrer* über Ken Loachs neuen Film »It’s a Free World«

Nächster Redaktionsschluss:22. September 2008