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Expressionistischer Film Hintergründe, Entwicklung und Wirkung oder: Von Caligari zu Lynch Sören Ihnenfeld MM|VR – Design Professor für Ästhetik: Prof. Dr. Dieter Knoell

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Expressionistischer Film Hintergründe, Entwicklung und Wirkung

oder: Von Caligari zu Lynch

Sören Ihnenfeld MM|VR – Design Professor für Ästhetik: Prof. Dr. Dieter Knoell

EINLEITUNG – Was ist eigentlich Expressionistisch?

Zu Beginn meiner Recherche ging ich davon aus, Expressionismus sei, wie etwa historische Kunstepochen, ein zeitlich klar eingegrenzter Abschnitt, in dem ganz bestimmte Stilmittel innerhalb der verschiedenen Kunstgattungen vorherrschten. So könne eine Zuordnung bestimmter Werke in die Kategorie des Expres-sionismus stattfinden. Dies mag für die Bilden-den Künste durchaus zutreffend sein, lässt sich aber nicht unbedingt auf den Film übertragen. Ganz so leicht, so sollte sich herausstellen, ist es nämlich nicht, was insbesondere an einer immernoch sehr undurchsichtigen Zusam-menfassung ästhetischer Stiltendenzen liegt. Der letzte multinationale Epochenstil ist laut dem Kunsthistoriker Martin Wackernagel das Rokkoko, welcher 1730 - 1750 vorherrschte. In der Kunst der Moderne treten dagegen sehr viele verschiedene Stilrichtungen parallel auf. Diese sind meist zeitlich und räumlich stark begrenzt. Mitunter vermischen sich einzelne Stilelemente untereinander, was eine Zuord-nung individueller Stile im 20. Jh. zunehmend erschwert. Diese Problematik trifft auch auf die Stiltendenzen des Films zu. Bevor ich dazu komme, möchte ich jedoch mit der, zwar obligatorischen, aber dennoch sinnvollen, Definition des Begriffs Expressionismus in der Bildenden Kunst beginnen:Das Wort stammt vom lateinischen expressio ab und bedeutet «Ausdruck». Im selbstver-ständnis der Künstler war es in erster Linie eine Gegenbewegung zu den bestehenden Konventionen und Tendenzen des Impressi-onismus und Naturalismus. Was eine genaue Datierung anbelangt, sind sich viele Quellen nicht ganz einig, auf die moderne Kunst in Deutschland beschränkt, ist der Zeitraum von 1910 bis 1922 wohl einigermaßen genau. Frühe Vorläufer des Expressionismus traten jedoch bereits zum Ende des 19. Jh. auf und vermischten sich mit Elementen des Sym-

bolismus und Jugendstils. Sie sind als erste Gegenreaktionen auf den «Objektiven Ord-nungswillen» des Imressionismus zu verstehen. Künstler aus dieser Zeit, die sich expressionis-tischen Stilelemeten widmeten waren Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Georges Rouaults, Pa-blo Picasso, Henri de Toulouse-Lautrec, James Ensor, Ferdinand Hodler und Edward Munch. In Frankreich wird diese Strömung der Kunst als Fauvismus bezeichnet.Die Zeit des Expressionismus ist geprägt von tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Gesellschaft – Einher mit der Industriellen Revolution, geht auch die Revolution gegen das wilhelminische Patriarchat. Der rapide technologische Fortschritt sorgt für wirt-schaftlichen Aufschwung, die Bedeutung von ökonomischer Funktionalität und Effizienz wächst an und das Individuum wird in den Hintergrund gedrängt. Diese neuen Lebens-bedingungen standen in Kontrast zu alten Werten des Bürgertums, was bald zu großen Spannungen und Unsicherheit führte. Auch der Erste Weltkrieg hatte erheblichen Einfluss auf die Generation junger Expressionisten. Sowohl der Krieg als auch die bald darauf entstehende Weimarer Republik vermochten es jedoch nicht, die Gesellschaft im Sinne des Expressionismus zu verändern.Charakteristisch für die Malerei dieser Zeit sind der freie Umgang mit Form und Farben, die häufig ungemischt verwendet werden. Die traditionelle Perspektive wird aufgehoben, Formelemente und Motive werden reduziert. Den Künstlern des Expressionismus ging es in erster Linie darum, kein Motiv abzubilden, sondern die Emotionen, die das Motiv beim Künstler hervorruft. Also seine ganz subjektive Wahrnehmung zum Ausdruck zu bringen. Zusammenfassend lässt sich behaupten, der Expressionismus ist nicht als bloßer Stil zu betrachten, sondern als Weltanschauung.

Viele der Künstler schlossen sich in diversen Vereinigungen zusammen. So zum Beispiel: Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Otto Mueller und Max Pech-stein. Sie bildeten die Dresdner Brücke (1905 – 1913) und waren auch Mitglieder der Neu-en Secession (1910/1911) in Berlin. Eine andere Gruppe bildeten unter anderen Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Franz Marc, Gabriele Münter und Marianne von Werefkin mit der Neuen Künstlervereinigung München (1909).

Mitglieder dieser Vereinigung, insbesondere Kandinsky und Marc bildeten außerdem von 1911 bis 1914 die Redaktion für Den Blauen Reiter. Sie organisierten Ausstellungen in München und publizierten einen Almanach. Es folgt eine Reihe von exemplarischen Werken des Expressionismus:

01: Die großen blauen Pferde, Marc, 1911 02: Rote Stadt, von Werefkin, 1909 03: Zwei Mädchen im Grünen, Müller, 192504: Russisches Ballet, Macke, 1912

DIE ENTSTEHUNG DES EXPRESSIONISTISCHEN FILMS

Bevor man innerhalb der Kinematographie be-stimmte Stile definieren kann, musste der Film ersteinmal als Kunstform anerkannt werden. Diesen Meilenstein der Filmrezeption setzten Der Andere von Max Mack und Der Student von Prag von Hanns Heinz Ewers /Stellan Rye. Beide Filme hatten ihre Uraufführung 1913. In Frankreich bewarb der Pathé–Konzern seine Produktionen als künstlerische Filme und drehte erfolgreiche Theaterstücke mit

namhaften Darstellern nach, um den Film-markt anzukurbeln. Auch in Deutschland wurden wenige Jahre später die Filme der führenden Produktionsgesellschaften, als künstlerisch ambitioniert, den kulturinteres-sierten Kinogängern schmackhaft gemacht. Diese Entwicklung des Kunstfilms wird schon früh durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges zum Erliegen gebracht und größtenteils mit Unterhaltungsfilmen ersetzt.

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Zu den beliebtesten Genres zu dieser Zeit (1915 – 1918) gehören Komödien und Detektivfilme. Diese Filmproduktionen lie-ßen wenig Spielraum für Experimente. Umden Film als Medium für Propaganda besser nutzen zu können wurde eine Vereinigung der Filmfirmen durch das Reich angestrebt. Unter der Leitung von Alfred Hugenberg, Generaldirektor bei Krupp, wurde die Deutsche Lichtbild–Gesellschaft gegründet. Ausländische Firmeninhaber wurden enteignet und Produktionsgesellschaften zusammen- geführt. So wurde, durch den Chef des Generalstabs des Feldheeres, General Ludendorff vorangetrieben, im Dezember 1917 schließlich die Universum–Film AG gegründet. Finanziert über Treuhänder wie der Bosch AG, Lloyd und der AEG, wurde die Ufa zur größten Filmgesell-schaft Europas. Nach der Niederlage des Kaiserreichs blieben diese Firmenstrukuren erhalten. Konzerne wie die Deutsche Lichtbild–Gesellschaft und die Decla–Film-gesellschaft wuchsen sogar schneller denn je. Die anfangs meist mittelständischen Betrie-be der Filmindustrie sind innerhalb weni-ger Jahre zu kapitalistischen Großkonzernen geworden. Die neu entstandene Infrastruktur der Filmindustrie bot vielversprechende Mög-lichkeiten für die Filmproduktion.Ebenfalls neue Möglichkeiten ergaben sich aus der Aufhebung der Zensur im November 1918. Innovationen im Bereich der Ästhetik blieben jedoch aus – stattdessen wurde eine Vielzahl von, als Aufklärungsfilme getarnten, erotischen Unterhaltungsfilmen produziert, in denen auch seinerzeit berühmte Darsteller zu sehen waren, die bei den Konzernen meist längerfristig unter Vertrag standen. Dennoch wurde die Emanzipierung des deutschen Films als Kunstform wieder vorangetrieben. Die prägendsten Filmschaffenden dieser Zeit waren Ernst Lubitsch, Fritz Lang und Friedrich Murnau. In seinen Monumentalfilmen

Die Augen der Mumie Ma (1918), Car-men (1918), Madame Dubarry (1919), Anna Boleyn (1920), Sumurun (1920) und Das Weib des Pharaos (1922) versucht Lubitsch dem Film den Anspruch auf künstlerisce Gestaltung und Ästhetik wiederzugeben. Diese, vom italienischen Monumentalfilm beeinflussten, sowie seine Komödien Die Puppe (1919) und Die Bergkatze (1921) enthalten teilweise malerische Dekors und muten möglicherweise expressionis-tisch an, sind jedoch gesamtästhetisch und inhaltlich weit vom expressionistischen Film entfernt. Lang bedient sich in Filmen wie dem Zweiteiler Dr. Mabuse, Der Spieler (1922) und Inferno – Ein Spiel von Menschen unserer Zeit oder Metropolis (1925/26) meist realitätsnaher, dabei streng geometrischer Ornamente und Dekors. In Inferno finden sich jedoch expressionistische Dekors und Gemälde. Wie Langs Werke, so enthalten auch viele andere Filme der 20er Jahre expressionisti-sche Elemente aber die ästhetische Grundhal-tung weist dabei gleichzeitig neoromantische, impressionistische, realistische und naturalisti-sche Stilelemente auf. Dies ist ebenfalls in Fil-men wie Der Gang in die Nacht (1920), Der Bren-nende Acker (1921) und Der Gang in die Nacht (1921/22) von Murnau zu beobachten. Seine bekannteste Inszenierung, Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1921/22), wird auf Grund der alptraumhaften Stimmung und des, heutzutage leicht albern wirkenden, Spiels von Max Schreck als Graf Dracula, oft als expressionistisch bezeichnet. Aber auch hier sind die Aufnahmen naturbelassen, Dekors und Motive realistisch. Eine Verfremdung findet ausschließlich in der Nachbearbeitung und Montage statt.

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Die Bezeichnung «expressionistisch» wurde zwischen 1916 und 1919 im Rahmen der Filmtheorie erstmals verwendet und geprägt. Für die Vermarktung von Das Cabinet des Dr. Caligari gebrauchte die Produktionsgesell- schaft die Bezeichnung, was bald zu seiner Verbreitung und Anwendung auf ähnliche Insenierungen führen sollte, ohne dabei eine genauere Abgrenzung des Stils vor- zunehmen.Was ist denn nun also als expressionistischer Film zu bezeichnen und welche Film bedienen sich lediglich einzelner Stilelemente und Ver-satzstücke des Expressionismus? Um der Ant-wort auf diese Frage näher zu kommen, werde ich mir einige, als expressionistisch geltende, Filme ansehen und analysieren.

DAS CABINET DES DR. CALIGARIRobert Wiene, 1920 (restauriert; engl. Texte)

Inhaltlich wirkt dieser Film schnell verwirrend, da er in eine Kern– und eine Rahmenhandlung gegliedert ist, deren Übergänge nicht immer ganz deutlich erscheinen, schaut man nicht genau hin. Die Handlung als Ganzes wird in sechs Akte unterteilt:1. Akt – In einem Park unterhalten sich zwei Männer auf einer Bank. Der eine berichtet von Geistern, die ihn aus seinem eigenen Haus vertrieben hatten. Daraufhin tritt eine Frau, Jane, ins Bild und nähert sich den beiden. Sie ist die Verlobte des anderen Mannes auf der Bank, Francis. Dieser antwortet, er habe mit Jane zusammen etwas viel seltsameres erlebt als die Geistererscheinungen seines Gegenübers. Mit einer Rückblende zu dieser seltsamen Geschichte endet hier die Rahmenhandlung. Ab jetzt erzählt Francis von seinen Erlebnissen

in seiner Geburtsstadt Holstenwall. Es beginnt mit der Ankündigung eines Jahrmarkts. Francis und sein Freund Alan beschließen, dort hinzu-gehen. In einer Parallelmontage sehen wir einen älteren Mann, Dr. Caligari, wie er durch die Straßen der Stadt geht. In einem Verwaltungs-gebäude spricht er mit einem schlecht ge-launten Beamten, dem Stadtsekretär, um die Erlaubnis für seine Vorführung auf dem Jahr-markt zu erhalten. Der Sekretär lässt Caligari lange warten, um ihn schließlich zu einem anderen Beamten weiterzuschicken. Dieser er-laubt Caligari die Vorführung.2. Akt – Am nächsten Tag wird der Sekretär tot in seinem Bett aufgefunden. Er wurde von einem Unbekannten Täter mit einem Messer erstochen und die Polizei sucht nun nach Hin-weisen. Francis und Alan schlendern über den Jahrmarkt und treffen auf den mysteriösen Caligari, der vor seiner Bude mit folgenden Worten um Aufmerksamkeit wirbt:«Step rrrrright in! Presenting here for the first time Cesare the Somnambulist. The miracu-lous Cesare – twenty-three years old, he has slept for twenty-three years – Continuously – Day and Night! Right before your eyes Cesare will awaken from his death-like trance. Step right in!» Francis und Alan betreten das Cabinet und sehen zu, wie der Somnambule aus seinem Schlaf erwacht. Caligari behauptet, er könne die erwachte Gestalt, die in einer aufgestellten Holzkiste liegt, befehligen. Außerdem sei der Somnambule allwissend und könne die Zu-kunft vorhersagen. Das Publikum soll nun Fragen stellen um sich selbst davon überzeugen zu können. Alan tritt nach vorne und fragt: «How long will I Live?», worauf der Somnambule, zu Alans Entsetzen antwortet:«Till the break of dawn»

Bestürzt eilen die beiden Freunde aus dem Zelt und verlassen den Jahrmarkt. Auf ihrem Weg nach Hause treffen sie Jane, mit der sie sich kurz unterhalten. Kurz darauf gestehen sich beide, in die Frau verliebt zu sein. Sie ent-schließen sich, ihre Freundschaft nicht daran zerbrechen zu lassen und wollen Jane entschei-den lassen, wen der beiden sie wählen wird. In der Nacht schleicht sich eine dunkle Gestalt an das Bett des schlafenden Alan und greift ihn an. Alan wehrt sich, kämpft um sein Leben, unterliegt jedoch und wird getötet.3. Akt – Als Francis am nächsten Tag vom Tod seines Freundes erfährt, muss er sofort an die unheilvolle Prophezeiung des Cesare denken und veständigt die Polizei. Außerdem be-richtet er Jane und ihrem Vater, Dr. Olsen. Dieser nutzt seinen Einfluss, um eine Untersuchung des Somnambulen zu erwirken. Zusammen mit dem Doktor geht Francis zum Wohnwagen Caligaris, der die beiden freund-lich begrüßt und sie Cesare untersuchen lässt. Zur gleichen Zeit schleicht ein Mann verdäch-tig durch die Straßen und versucht in eines der Häuser einzubrechen. Der, mit einem Dolch bewaffnete, Mann wird jedoch bemerkt und von einigen Passanten aufgehalten. Sie bringen ihn zur Polizei, in der Annahme, den gesuchten Mörder in flagrantie erwischt zu haben. Noch im Wohnwagen Caligaris erfahren Francis und Dr. Olsen von der Festnahme und brechen ihre Untersuchung ab und machen sich auf den Weg zur Polizei. Caligari scheint sichtbar erleichtert, als die beiden gehen. 4. Akt – Der Gefasste wird verhört und gesteht, dass er eine Frau ermorden wollte und dabei so wie der gesuchte Täter vorgehen wollte, um den Verdacht auf ihn zu lenken. Mit einem Stich in die Seite und einem ähnlichen Dolch. In der Zwischenzeit wird Jane unruhig und geht los, um nach ihrem Vater bei Caligari zu suchen. Sie wird eingeladen, Cesare zu besich-tigen, flieht aber entsetzt, als dieser die Augen öffnet und sie ansieht. Francis ist nochimmer sehr misstrauisch und kehrt in der Dunkelheit

zu Caligaris Wohnwagen zurück, wo er durch das Fenster späht und Caligari, sowie Cesare schlafend vorfindet. In der Stadt aber schleicht eben dieser durch die Straßen, in das Haus von Jane. Mit der Absicht sie zu erstechen, nähert er sich ihrem Bett, hält jedoch inne und lässt schließlich den Dolch sinken. Von der Schönheit der Frau bezaubert, entführt er sie aus ihrem Schlafzimmer und trägt sie fort. Ihre Schreie wecken die Mitbewohner, die Ce-sare hinterhereilen. Nach einer kurzen Strecke finden sie Jane auf dem Boden liegend, ohne den Entführer zu Gesicht zu bekommen. Jane beteuert, von Cesare angegriffen worden zu sein, aber Francis, der zurückgekehrt ist, habe den schlafenden Somnambulen die ganze Nacht über beobachtet.5. Akt – Wieder im Polizeigebäude vergewis-sert sich Francis, dass der dort Inhaftierte Ver-brecher immernoch in seiner Zelle sitzt. Dann geht er, gemeinsam mit der Polizei, zu Caligari und dringt in dessen Wohnwagen ein. Es stellt sich heraus, dass in der Holzkiste nur eine Pup-pe liegt, die wie Cesare aussieht. Der wütende Caligari flieht. Francis verfolgt ihn bis auf den Hof einer Irrenanstalt, wo er die Pfleger nach einem Patienten namens Caligari fragt. Die können ihm allerdings nicht weiterhelfen und verweisen ihn an den Direktor der Anstallt. Im Büro angekommen, stellt Francis mit Entset-zen fest, dass der Direktor selbst Caligari ist. Er rennt auf den Hof um dem Personal davon zu erzählen. Sie warten bis der Direktor nach Hause gegangen ist und durchsuchen dann gemeinsam das Büro. Hier finden sie ein altes Buch über Somnambulismus und erfahren in einem Aufsatz, mit dem Namen «Das Cabi-net des Dr. Caligari», von einem Mystiker, der in Italien, im Jahre 1703 ein Dorf terrorisiert

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haben soll, indem er einem Somnambulen dazu befahl, mehrere Menschen zu ermorden. Außerdem finden Francis und die anderen ein Tagebuch, in dem der Direktor voller Freu-de von der Einlieferung eines Somnambulen berichtet. Es folgt eine Rückblende die zeigt, dass der Direktor schon lange auf eine Mög-lichkeit gewartet hat, dem Geheimnis die-ses Mystikers auf die Spur zu kommen und zu lernen, den Somnambulen zu befehligen. Er scheint geradezu besessen davon zu sein. 6. Akt – Der Direktor ist in sein Büro zu-rückgekehrt. Cesare wird gefunden und in das Zimmer gebracht – er ist tot. Als der Direktor ihn sieht, erleidet er einen Zusammenbruch, rastet scheinbar aus. Die anwesenden Ärz-te überwätigen ihn und sperren ihn, in eine Zwangsjacke gefesselt, weg.Nun wechselt der Film wieder zur Rahmen-handlung des ersten Akts, wo Francis mit dem älteren Mann auf der Bank sitzt. Er beendet seine Erzählung mit: «... and from that day on, the madman never again left his cell» Anschließend stehen die beiden auf und gehen gemeinsam. Plötzlich befinden sie sich auf dem Hof der Irrenanstalt, der von diversen Geisteskranken bevölkert ist. Unter ihnen ist auch Cesare, der eine Blume in Händen hält. Francis erkennt Jane, die auf einem Thron sitzt, und macht ihr einen Antrag. Sie lehnt ab mit den Worten: «We queens are not free to answer the call of our hearts» Francis taumelt zurück und wir sehen den Direktor den Hof betreten. Es ist der selbe wie in der Erzählung. Daraufhin stürzt sich Francis auf ihn und ruft: «He is Caligari Caligari Caligari!», wird aber von Pflegern festgehalten und eingesperrt. Der Film endet mit den Worten des Direktors: «At last I understand his delusion. He thinks I am that mystic –CALIGARI–! Now I know exactly how to Cure him...»

Nachdem nun die Inhaltliche Ebene ausgebrei-tet ist, kann ich weiter auf den Filmstil, Stim-mung und mögliche Deutungen eingehen.

Über die Frage nach der Verantwortlichkeit für den Stil des Films, insbesondere des Dekors, stritten sich die Beteiligten Personen – beson-ders seit der, dem Film früh zugemessenen großen Bedeutung für das Image des deutschen Kinos. Entscheidend war sicher der Einfluss der Austatter, wie des Architekten der Decla, Hermann Warm. Die Verantwortlichen und die zeitgenössischen Rezepienten waren sich einig, dass das Motiv der Irrenanstalt sehr gut zu dem ausgefallenen, expressionistischen Stil passten. Robert Wiene erkannte von An-fang an die Möglichkeiten, die Realitätsfernen Formelemente des Expressionismus zu seinem Vorteil zu nutzen, Zumal das Budget für die Produktion nicht besonders hoch war. Tatsächlich unterstützen die verzerrten, spitzen Formen des Dekors die insgesamt düstere, beklemmende Stimmung des Werks. Auch die Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Jano-witz hatten wohl großen Einfluss auf den Stil.

Die zackigen, teilweise nach vorn gewölbten Flächen sind in mehreren Ebenen aufgestellt und geben der Szene eine starke räumliche Wirkung. Bemerkenswert sind die Kontrast- reichen Lichter und Schatten, die nicht etwa durch Kunstlicht der Studioausstattung ent-standen, sondern direkt aufgemalt wurden. Dieses Vorgehen war in erster Linie eine Maß-nahme, um Strom zu sparen, da die Versor-gung in Berlin um 1919 sehr schlecht war und dem Produktionsteam nur ein begrenztes Kontingent an Strom zur Verfügung stand. Die harten Kontraste des bemalten Dekors lassen die Szenen unwirklich erscheinen.

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Dabei ist zu bedenken, dass es sich um einen Schwarzweiß–Film handelt, wodurch die Helldunkel–Kontraste wesentlich hervorge-hoben werden. Vorgeführt wurden die Filme zu jener Zeit aber meist mit Farbtönung oder Colorierung. Die Typischen Farbtöne sind dabei bläulich–gelb am Tag, grün-blau in der Nacht. In Das Cabinet des Dr. Caligari kom-men außerdem Grüntöne für die Rahmen-handlung und bräunliche Rosatöne für die Szenen in Janes Zimmer zum Einsatz. Letztere unterstreicht natürlich die Weiblichkeit...

Bei der Farbgebung hat man sich also noch auf geltende Konventionen beschränkt. Durch den Vorgang der Viragierung werden die Kan-ten geringfügig unscharf, Kontraste werden leicht abgeschwächt.

Ein weiterer, wichtiger Faktor, neben den De-kors, ist sicherlich die Spielweise der Haupt-darsteller, insbesondere die des Werner Krauß als Dr. Caligari und Conrad Veidt als Cesare. Die merkwürdig artifizell wirkenden Gesten und Bewegungen Caligaris verstärken seine andersartigkeit und unterstützen seine Rol-le als Antagonisten. Sein Gang ist leicht ge-bückt, mechanisch und abgehackt. Sein hoher Hut lässt ihn dabei nicht klein wirken.Er tendiert dazu, Bewegungsabläufe künstlich zu strecken oder abrupt abzubrechen, um in un-natürlicher Haltung zu erstarren. Im Kontrast dazu, sowie zum expressionistischen Dekor, stehen die Darstellungsweisen der übrigen Darsteller des Ensembles. Friedrich Feher als Francis und Hans–Heinz von Twardowski als Alan halten sich überwiegend an bewährte Darstellungsmuster, ohne sich der Stilisie-rung des Films anzupassen. Sie bewegen sich realistisch, ihre Gesten sind theatralisch und klischeehaft. Besonders die Schauspielerische Leistung der Lil Dagover als Jane wird schon in zeitgenössischen Kritiken negativ bewertet. So schreibt beispielsweise Herbert Jhering im Berliner Börsen–Courier vom 29.02.1920: «Lil Dagover ist die süße Talentlosigkeit, die mit ihrer ausdruckslosen Glätte überall, aber hier erst recht, unmöglich ist. Der Expressio-nismus entlarvt, er verlangt eine unnachgiebige Auswahl der Schauspieler.» Der Vorteil dieser Naturalistischen Spielweise ist ein leichterer Zugang – Die Zuschauer können sich mit den Protagonisten identifizieren und Empathie mit ihnen empfinden. Sieht man sich das über-wiegend naturalistisch spielende Ensemble, und die übrigen Inszenierungen Wienes an, lässt sich behaupten, dass er eigentlich kein expressionistischer Regisseur gewesen ist.Die Kameraeinstellungen, überwiegend halb-nah und halbtotal in Frontalsicht, ergeben sich aus den vorgefertigten Bühnenbildern. Groß-aufnahmen sind hingegen eher selten, werden dadurch aber um so bedeutsamer für die Dramaturgie und Handlung.

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Durch die passive Kamera kommen die kon-trastreichen Licht–, Schattenkompositionen stärker zur Geltung. Bis auf wenige Ausnahmen bleibt die Kamera fix. Dies ist mitunter den Drehbedingungen im Atelier geschuldet, wo die Dekorationen schon einen Großteil der Räumlichkeiten einnahmen und wenig Platz für Kamerabewegungen ließen. Bemerkenswert ist der Gebrauch von Irisblenden, der in zahl-reichen Szenen eine räumlichkeit schafft, beziehungsweise die schon vorhandene Tie-fenwirkung der Bildkomposition verstärkt.

Außerdem wird durch Masken die Aufmerksam-keit immer wieder auf bestimmte Punkte oder Personen fokussiert. Auch als Montagemittel zur Überblendung zwischen Sequenzen wird die Irisblende häufig eingesetzt. Filmhistorisch wird Das Cabinet des Dr. Caligari als «Befrei-ung vom Kitsch» und Festigung des Films als Künstlerisches Medium bezeichnet. Dennoch fanden sich selbstverständlich auch Kritiker der antinaturalistischen Bildgestaltung, darunter der französische Regisseur Jean Epstein oder der russische Regisseur Sergej Eisenstein.Letzterer kommentierte Wienes Film im Jahre 1941 als «barbarische Orgie der Selbstvernich-tung gesunden Menschentums in der Kunst, dieses Massengrab aller gesunden Prinzipien des Films, dieses Schlachtfeld stummer Hysterie, dieser Tummelplatz bemalter Leinwand, stüm-perhaft gezeichneter Kulissen, angepinselter Gesichter, unnatürlicher Verzerrungen und abenteuerlicher Hirngespinste». Trotzdem war er am expressionistischen Film interessiert und nahm seine Stilmittel positiv auf.

KRACAUERS INTERPRETATION

In seinem 1947 veröffentlichten Buch Von Caligari zu Hitler bemerkt der Filmtheoretiker und Soziologe Siegfried Kracauer einen sozial- psychologischen Zusammenhang von Plot, insbesondere der Figur des Dr. Caligari, und der Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland. Er sieht Caligari als machtbe-sessenen Psychopathen, als Tyrann, der den, das Volk repräsentierenden, Durchschnitts-menschen kontrolliert und zum Töten abkom-mandiert, wie es der militaristische Staat tut. Der «kleine Mann», verkörpert durch den schlafwandelnden Cesare, ist seinem Meister willenlos ausgeliefert.Besonders interessant wird in diesem Zusam-menhang der Verlauf der Rahmenhandlung: Francis stellt sich hier als Wahnsinnig her-aus und der Direktor/Caligari wird in seiner Machtposition als Wohlwollende Autorität dargestellt. Der erste Drehbuchentwurf sah in der Schlussszene Francis und Jane vor, wie sie einer Abendgesellschaft gemeinsam die Schauergeschichte erzählen. Stattdessen wird ein überraschender Perspektivwechsel vor-genommen und nicht Caligari, sondern der Erzähler als Verrückt entlarvt.Kracauers Ausführungen stützen sich auf die im Exil verfassten Aufzeichnungen von Hans Janowitz, in denen die Behauptung aufgestellt wird, Caligari sei als Symbol für die Obrig-keit des Kaiserreichs entworfen und Cesare stelle die zum Wehrdienst verpflichteten Un-tertanen dar. Dies gilt jedoch als nachträglich durch Janowitz hinzugedeutet, wie auch an-gebliche expressionistische Stiltendenzen im Originaldrehbuch, das durchweg konventio-nell erscheint. Ebenfalls nicht nachgewiesen, ist die Behauptung Fritz Langs, er selbst sei für die Rahmenhandlung, oder zumindest für die Anfangsszene verantwortlich. Insgesamt ist die Entstehungsgeschichte damals wie heute sehr undurchsichtig und kaum vorbehaltlos nachzuvollziehen.

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EXPRESSIONISTISCHE STUMMFILME NACH CALIGARI

Nachdem Das Cabinet des Dr. Caligari in weiten Kreisen erfolgreich in den Lichtspiel-häusern lief, begann die Produktion weiterer expressionistischer Inszenierungen. Nur Zehn Wochen nach der Premiere von Caligari Be-gannen die Dreharbeiten zu VON MORGENS BIS MITTERNACHTS. Die verantwortlichen Produzenten waren Herbert Juttke und Georg Isenthal. Juttke schrieb zusammen mit Karl Heinz Martin das Drehbuch. Martin fungierte außer- dem als Regisseur. Das Interesse der Verleiher blieb jedoch gering, sodass es zunächst zu keiner öffentlichen Vorführung kam. Erst 1963 wurde eine Kopie des Films vom Staatlichen Filmar-chiv der DDR gekauft und aufgeführt.Das Drehbuch basiert auf der erfolgreichen literarischen Vorlage des gleichnamigen expressionistischen Dramas von Georg Kaiser. Es geht um einen Kassierer, alias Ernst Deutsch, der der Versuchung nachgibt und eine größere Menge Geld stiehlt, um seinem kleinbürgerli-chen Alltag zu entkommen. Die Motivation für diese Tat geht von einer schönen Dame, gespielt von Erna Morena, aus, die Geld aus-leihen wollte, vom Bankdirektor aber abgewie-sen wird. Der Kassierer möchte ihr helfen und bietet ihr das gestohlene Geld an. Die lehnt je-doch lachend ab. Daraufhin geht der Kassierer heim zu seiner Familie – Mutter, Ehefrau und Tochter – nur um kurze Zeit später, aus Angst gefasst zu werden, in das nächtliche Schneege-stöber flieht. Bald darauf kommt auch schon der Bankdirektor samt Polizei im Haus des Kassierers an, den sie nur knapp verpassen. Über einen Filmtrick, ein animierter

Zwischentitel, wird der Zuschauer informiert, dass der Protagonist nun polizeilich gesucht wird. Berauscht vom neuartigen Lebensgefühl, das ihm sein erbeuteter materieller Reichtum scheinbar offenbart, kauft er sich einen ele-ganten Anzug und Hut, besucht ein Sechs-tagerennen und verprasst sein Geld in einem Tanzlokal. Danach landet er in einem Kneipen-keller und zockt mit zwielichtigen Ganoven. Er entkommt der Spielhölle mit Hilfe eines Heilsarmee–Mädchens, gespielt von Roma Bahn, und folgt ihr in eine Kapelle. Hier plagt ihn die Angst vor einer Inhaftierung und er gesteht dem Mädchen seine Tat. Das übrige Geld verteil er an die Armen, die sich auf die vielen Geldscheine stürzen und dann verschwinden. Zum Schluss verrät ihn das Mädchen an einen Polizisten und um seiner Verhaftung zu entkommen erschießt der Kassierer sich mit einer Pistole. In den ver-schiedenen Stationen seiner Reise wird er immer wieder von Visionen eines Totenschä-dels verfolgt, die aus den Gesichtern der Frauen übergeblendet werden. Der hoffnugsvolle Aufbruch des Kassierers in eine neue, bessere Existenz scheint als Analogie zur utopischen Aufbruchstimmung der jungen Expressio-nisten, und deren Scheitern im Ausgang des Krieges gemeint zu sein.In seinem expressionistischen Stil ist Von Morgens bis Mitternachts extrem konsequent: Sowohl Handlung, obwohl nicht wie so häu-fig von phantastischer Ausprägung, als auch Spielweise und Dekorationen sind deutlich expressionistisch. Die Formen sind abstrakt,

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grafisch und stark verzerrt, die Räume wirken flächig, ohne erkennbare Perspektive. Kongru-ent zu den kontrastreichen Dekors stehen die Kostüme und Masken mit ihren aufgemalten geometrischen Formen und weiß nachgezoge-nen Konturen.

Ebenfalls kurz nach Caligari begann die Decla– Filmgesellschaft mit der Produktion von GENUINE, wieder unter der Regie von Robert Wiene und einem Drehbuch von Carl Mayer. Der eng gesetzte Zeitplan und die Verpflich-tung des expressionistischen Malers César Klein als Bühnenbildner zeigen das Interesse der Produktionsfirma, an den finanziellen Erfolg von Caligari anzuknüpfen. Die aben-teuerliche Geschichte wird abermals von einer Rahmenhandlung eingefasst, um den Zugang zu erleichtern, und sogar von vornherein als nicht wirklich kenntlich gemacht, da es sich um einen Traum handelt: Der Maler Percy, Harald Paulsen, hat die Priesterin Genuine, Fern Andra, porträtiert und ist nun in sei-nen Roman vertieft. Er schläft ein und das Bildnis der Genuine erwacht zum Leben und entsteigt dem Gemälde. Sie wird von einer Orientalischen Sekte in deren Rituale einbezogen, trinkt Blut und ihr guter Charakter wird verdorben. Nach einem Tumult gerät Genuine auf einen Sklavenmarkt, wo sie an den alten, voyeuristischen Lord Melo, Ernst Gronau, verkauft wird, der sie einsperrt und niemanden sonst in ihre Nähe lässt. Bewacht wird sie von einem übergroßen ,schwarzen Diener. Allein der Friseur des Lords erhält Zutritt zum Schloss, um ihn täg-lich zu rasieren. Weil der Friseur verhindert ist, schickt er seinen Neffen Florian, der mit Hans Heinrich von Twardowski besetzt wurde,

Genuine entkommt ihrem Gefängnis und als Florian sie sieht, fällt er unter ihren Bann. Auch der Neffe des Lords, Percy, verliebt sich in die schöne Genuine. Diese bringt Florian dazu, Lord Melo die Kehle durchzuschneiden und verlangt nun von beiden Männern, sich zum Beweis ihrer Liebe selbst zu töten. Doch Florian verliert den Verstand und Genuine selbst verliebt sich in Percy. Auch der Diener weigert sich Florian zu töten. Währenddessen stürmt ein wütender Mob, angeführt vom alten Friseur, das Schloss. Am Ende ersticht Florian Genuine aus Wahnsinn und Eifersucht.Thematisch knüpft Genuine damit an die vo-rangegangenen Drehbücher Mayers an. Auch in den Werken Johannes Goth und Der Buckli-ge und die Tänzerin steht eine tragische, zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung im Mit-telpunkt der Handlung. Kracauer erkannte aber erst in Genuine eine Schwerpunktverschie-bung, weg vom Motiv des Machtbesessenen Tyrannen, hin zum Triebmotiv. Die Ausstat-tung von Klein ist stark ornamental verziert, weist teilweise schon Stilelemente des Art–Déco auf und wirkt dadurch exzessiv und lebendig. Diese Lebendigkeit geht auch von Andras Genuine aus. Der Stil scheint aber ins-gesamt durchwachsen, teilweise stark abstra-hiert, dabei immer wieder von realistischen Elementen kontrastiert. Artifizielle Dekors treffen auf echte Baumäste, phantastische Ornamente umgeben das reale Spiegelbild des Lords bei seiner Rasur. Was die Spielweise der weiblichen Hauptdarstellerin, sowie der Ne-benrollen anbelangt ist Genuine dem Cabinet des Dr. Caligari auffallend ähnlich: Kaum ge-staltet, von geringer schauspielerischer Tiefe und unpassend naturalistisch. Dennoch schuf Wiene einen deutlich expressionistischen Film.

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Bei dem dritten expressionistischen Film Wienes, RASKOLNIKOW, handelt es sich um die filmische Adaption von Schuld und Sühne, dem wohl populärsten Roman von Fjodor Dostojewski. Dabei handelt es sich keineswegs um die erste Verfilmung des anspruchsvollem Stoffes. so wurde der Roman bereits in Russ-land in den Jahren 1910 und 1913, 1916 in Ungarn und dann auch in Deutschland 1919 von William Kahn auf die Leinwand gebracht. Bei den ausgedehnten Selbstreflexionen in Form von inneren Monologen und Introspek-tion liegt die Verwendung expressionistischer Stilmittel und Medienspezifischer Techniken am nächsten. Wienes Film von 1922 kon-zentriert sich auf die Geschichte des jungen Jurastudenten Raskolnikow, der in einem Artikel davon ausgeht, dass es «außergewöhn-lichen Menschen» erlaubt sein sollte, sich über Hindernisse, etwa in Form von Regeln und Gesetzen, hinwegzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Ein solches Hindernis sieht der finanziell verschuldete Student in einer Pfand-leiherin, die er ermordet, um ihre Wertsachen zu verkaufen. Die Schwester der Pfandleiherin wird Zeuge der Tat und ebenfalls umgebracht. Von Schuldgefühlen geplagt, verfällt Raskolni-kow bald fibrigen Alpträumen und Visionen. Durch die wiederholten Befragungen eines Untersuchungsrichters unter Druck gesetzt, ist er dem Zusammenbruch nahe und gesteht den Doppelmord schließlich der jungen Sonja, bei deren Familie er wohnt, und in die er schon länger verliebt ist. Nur zu ihr hat er noch Ver-trauen. Auch Sonjas Familie ist kurz davor zu zerbrechen – Ihr Vater ist alkoholiker und ihre Mutter beginnt den Verstand zu verlieren. Nachdem ein religiöser Fanatiker sich zu den Morden bekennt und sich das Leben nimmt, geht Raskolnikow zur Polizei und stellt sich. In den Hauptrollen sind Gregori Chmara als Raskolnikow, Maria Kryschanowskaja als Sonja und Pawel Pawlow als Untersuchungsrichter Petrowitsch zu sehen. Um eine gewisse Nähe zur Romanvorlage zu erhalten, wurde als

Ausstatter der Russe Andrej Andrejew vom Moskauer Künstlertheater verpflichtet. Seine Bühnenbilder beinhalten große Strukturfor-men und abstrakte Symbolik. Das Dekor ist wieder stark verformt, gekrümmt und unwirk-lich, spiegelt dabei zusätzlich besonders gut den Gewissenskonflikt des Protagonisten wider. Die expressionistischen Formen kommen hier weniger durch das Wölben und Verzerren ge-samter Gebäude zustande, sondern vielmehr durch die Neuanordnung einzelner Bauteile. Andrejews Architektur vermeidet horizontale und vertikale Linien, Wände sind stark nach vorn geneigt, Balken des Fachwerks stecken wirr ineinander und sind nur selten parallel. Auffällig sind die drastischen Überspitzun-gen der Formelemente im Dekor zur Kennt-lichmachung der alptraumhaften Visionen des Schuldgeplagten Raskolnikow. Spitzen und Zacken stehen überall hervor, wirken bedrohlich und geradezu hysterisch.

Die Betonung der expressionistischen Formen wird fast schon überstrapaziert, während die Metaphysik, die Sezierung des Konflikts zwi-schen dem Verstand, der Seele und dem Ver-brechen überzeugend visualisiert wird.

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Die Kostüme der Figuren zeigen ihren sozialen Status an: Raskolnikow trägt einen abgenutzten Mantel, höhergestellte Personen, wie der Un-tersuchungsrichter, sind in feine Anzüge ge-kleidet. Sonjas Wandel von einer Prostituierten zur geläuterten, religiösen Frau wird durch ihren Garderobenwechsel symbolisiert. Trägt sie zu Beginn noch einen frechen Federhut und ein farbenfrohes Kleid, wird sie später mit einem züchtigen, geschlossenen Gewand in reinem Weiß gezeigt.Die Lichtgestaltung ist abermals durch starke Helldunkel–Kontraste, in Form von dunklen Räumen und Korridoren, gespickt mit hellen Lichtflecken, geprägt. Wenn der Protagonist fast vollständig in diesen düsteren Korrido-ren verschwindet, scheint der Schatten wie ein Symbol für Raskolnikows Innerstes, wo ein Kampf zwischen Hell und Dunkel – Gut und Böse ausgefochten wird. An anderen Stellen sind Lichter direkt auf die Oberflächen auf-

gemalt. Die teilweise in phosphoreszierenden Farben gezogenen Linien werden von Licht-kegeln hervorgehoben und unterstützen die spitzen, aggressiven Konturen des Dekors. Häufig werden mit Scheinwerfern auch wichtige Figuren fokussiert, statt sie in einer Großaufnahme zu zeigen. Das Schauspiel der russischen Darsteller ist reduziert, dabei sehr naturalistisch – mit Ausnahme der Traumse-quenzen – und stellt sich damit in Kongruenz zu den abstrakten Bühnenbildern. Es ist psycho- logisierend aber nicht sehr expressionistisch.

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DAS EXPRESSIONISTISCHE THEATER IM VERGLEICH

Harry Alan Potamkin degradierte 1929 die Ästhetik expressionistischer Filmprodukti-onen zu einer Kopie der Theaterästhetik. Auch Kracauer beschrieb in seinem Aufsatz «Wiedersehen mit alten Filmen» von 1939 die expressionistischen Filmdekors als Theaterde-korationen, was er später in seinem Hauptwerk relativieren sollte. Hier schreibt er von einer «Nähe des Caligari zur Bühne».Zur Zeit des 1. Weltkrieges sorgten materielle Engpässe für eine Reduzierung und Abstrahie-rung der Bühnenbilder und expressionistische Dramen begünstigten diese Vereinfachung. Um Emotionen zu verdichten und auf das we-sentliche herunterzubrechen, blieb die Bühne fast völlig leer oder man beschränkte sich auf we-nige Details. Diese reduzierten Formelemente heben fast immer auch die Essenz der Dichtung

hervor und bedienen sich mehr oder weniger abstrahierter Symbole. Besonders in späteren Stücken wurde exzessiv mit Farbe gearbeitet und die Farbgebung expressionistischer Male-rei auf die Bühnenbilder übertragen. Wie auch der Film, bedient sich das expressionistische Theater starker Helldunkel–Kontraste und greift dabei auf moderne Lichttechnik zurück. Grelle Lichtakzente oder dunkle Schatten un-terstreichen die Stimmung von Dekorationen und Schauspielern. Außerdem hilft das Licht bei der Gliederung abstrakter Räume.Insgesamt ist das expressionistische Thaea-ter bestimmt von Verdichtung, Konzentra-tion und Symbolik, zugunsten einer visio-nären Umsetzung des Grundmotivs. Später wurde das Bühnenbild teilweise sogar vom expressionistischen Film beeinflusst.

MERKMALE EXPRESSIONISTISCHER FILME – eine Zusammenfassung:

Nach dieser exemplarischen Sichtung möchte ich nun versuchen, die gemeinsamen Eigen-schaften expressionistischer Inszenierungen anzuführen, um die am Anfang gestellte Frage nach einer Definition, im Bereich Film zu beantworten.Die Dekors expressionistischer Filme sind überwiegend verzerrt, teilweise bis zur Un-förmigkeit überzeichnet. Eigentlich statische Flächen wie Hauswände fallen nach vorn oder hinten, Fenster, Giebel und andere Bauele-mente verformen zu Trapezen. Die Architektur wird dadurch sehr dynamisch, scheint bei radikalen Verzerrungen der Gravitation zu trotzen. Zusätzlich kommen häufig dekorative und ornamentale Elemente zum Einsatz, die geometrisch wirken und dabei helfen, den Raum zu gliedern. Gute Beispiele sind die Strahlenförmig zulaufenden Bemalungen auf dem Boden des Hofs der Irrenanstalt im Ca-binet des Dr. Caligari oder etwa das Treppen-geländer im Haus der Pfandleiherin in Ras-kolnikow. Bei letzterem, und auch in anderen späten Produktionen, treten architektonische Elemente and die Stelle aufgemalter Linien und Flächen. Teilweise wird die Perspektive zumindest zurückgenommen, wodurch ein grafischeres, zweidimensionales Bild entsteht., die jedoch nicht so stark ausgeprägt wurde wie in der Malerei. Auch das Gestaltungselement der Farbe kann im expressionistischen Film nicht angewandt werden.Die Funktionalität der Filmdekors unterschei-det diese von expressionistischer Malerei zu-sätzlich. Auch im Vergleich zum Bühnenbild des expressionistischen Theaters bleiben die Dekors relativ gegenständlich, nicht vollkom-men abstrakt, wie im radikalsten Fall eine leere Theaterbühne. Von Morgens bis Mitternachts ist hierbei wohl der Film, dessen Ausstattung am puristischten ausfällt.

Die häufige Verwendung von grafischen oder architektonischen Symbolen haben Theater und Film gemeinsam. Ein aufge-maltes Spinnennetz, in dessen Zentrum der Untersuchungsrichter sitzt, versinnbildlicht in Raskolnikow die lauernde Bedrohung, die Falle, in die der Protagonist gelockt werden soll.

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EINFLUSS EXPRESSIONISTISCHER FILME

In der heutigen Zeit finden wir immernoch deutliche Spuren des expressionistischen Films und seiner ästhetischen Qualitäten. Auch wenn moderne Inszenierungen, Standards und Sehgewohnheiten keine rein expressio-nistischen Produktionen mehr zulassen dürf-ten, stoßen wir immer wieder expressionisti-sche Elemente innerhalb vielzähliger Filme. In Folge der Machtergreifung der Nazis 1933

verließen viele deutsche Filmschaffende das Land und gingen nach Hollywood. Hier bil-deten sich zwei Filmgenres heraus, die weit-gehend vom Expressionismus beeinflusst wa-ren: Der Horrorfilm und der Film Noir. Das Immer wieder in Horrorfilmen auftauchende Motiv der durch das Böse bedrohten Unschuld wurde schon in Filmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari vorweggenommen.

In ihrer Wirkung sich gegenseitig unterstüt-zend, sollen Dekors und Schauspieler expres-sionistischer Filme miteinander verschmelzen. Die Gewichtung beider Elemente ist dabei im Film umgekehrt. Steht im Theater deut-lich der Mensch im Vordergrund, gewinnt im Film das Dekors und die daraus entstehende Bildkomposition stark an Bedeutung.Schauspieler wie Werner Krauß und Conrad Veidt versuchten sich durch ihr artifizielles Schauspiel, mechanische, gezielt verlangsam-te Bewgungen und unnatürlichen Posen, der Ästhetik der Filmdekors zu nähern. Rhythmi-sierte Bewegungsmuster, unorganisch abrupt akzentuierte Abläufe und angespannte, kon-zentrierte Körperhaltungen sind Merkmale des expressionistischen Filmspiels.

Bei der Betrachtung der bevorzugten Hand-lungsmotive fällt eine Anhäufung Phantas-tischer, düster–schauriger Handlungen auf. Diese Schauerromantischen Motive finden ihre Vorbilder in der Trivialliteratur. Es beste-hen durchaus Analogien zu Schriftstellern wie Edgar Allen Poe oder Karl Heinz Strobl und Alfred Kubin. Poe wird zu den Vertretern der sogenannten schwarzen Romatik gezählt.Als Handlungsorte dienen meist ahistorische, nicht genauer lokalisierte Schauplätze. Es fin-det sich zwar immer auch eine soziale Realität,

die aber in verzerrter und übertriebener Form dargestellt wird. In den ersten Künstlerisch ambitionierten Filmen, wie Der Student von Prag, Nosferatu oder Golem tauchen vermehrt übernatürliche, unmenschliche Gestalten und Kreaturen auf. Diese Tendenz bleibt in expressionistischen Filmen weitgehend aus. Stattdessen handelt es sich um ungewöhnli-che Menschen, mit unnatürlichen, grotesken Phantasien, Gelüsten oder Obsessionen, von denen auch der Handlungsverlauf bestimmt wird. Béla Balázs schrieb 1924:

«Traum und Vision. Das ist das Gebiet, wo der Expressionismus jedem Philister einleuchtet». Unterstützt wird die Wirkung von Schauspiel und Dekor durch gezielte Be-leuchtung mit starken Helldunkel–Kontras-ten. In manchen Fällen sind Licht und Schat-ten direkt auf die Oberflächen aufgemalt.

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Auch Motive wie Angst und Tod sind im Filmexpressionismus stark vertreten und werden im Horrorgenre aufgegriffen. Das Genre Film Noir entstand im amerika-nischen Kino der 40er und 50er Jahre, als dessen erster Vertreter Die Spur des Falken von John Huston, 1941 gilt. Sowohl ästhetisch als auch inhaltlich tendieren Filme dieser Gattung zur Romantisierung, ha-ben dabei aber einen zynisch pessimistischen Grundton. Das Ensemble beinhaltet fast im-mer einen verzweifelten Detektiv in der Rol-le des Antihelden und eine attraktive Femme fatale. Die Fokussierung auf die subjektive Wahrnehmung der Hauptfigur ist dabei eine weitere Parallele zum expressionistischen Film der 20er Jahre, wie etwa in Raskolnikow.In der Gestaltung seiner Filmdekors scheint insbesondere Tim Burton stark vom Expressi-onismus beeinflusst zu sein. In seinen Filmen wie Beetlejuice von 1988 oder The Nightmare Before Christmas von 1993 fallen die verzerr-ten, skurril wirkenden Kulissen auf.Daneben gibt es auch einige direkte Nachah-mungen expressionistischer Werke, wie etwa die Neuverfilmung von Das Cabinet des Dr. Caligari von David Lee Fischer im Jahr 2006 oder die Homage The Imaginarium of Doctor Parnassus von Terry Gilliam, 2009.Am deutlichsten beeinflusst ist wohl das Werk des Regisseurs David Lynch, dessen surrealis-tisch alptraumhafte Inszenierungen sich mit Themen wie Metamorphose, Voyeurismus, Unterbewusstsein und Traumwelten auseinan-dersetzen. Lynch selbst zählt zu seinen größten Einflüssen die Maler Edward Hopper, Francis Bacon und Henri Rousseau. Außerdem habe ihn Franz Kafka stark geprägt. Diese Prägung kommt besonders in seinem 1997 erschienenen Film Lost Highway zur Geltung. Als Gegenpart zu Motiven wie Mittelstand, Geborgenheit der Kleinstadt, Familie und Lie-be treten unterdrückte Gewalt und Lust auf. In Introspektion werden Unbewusste Triebe und Obsessionen behandelt und mit filmi-

schen Mitteln visualisiert. Desweiteren finden sich Motive des Doppelgängers oder fremdar-tiger Gestalten. So auch in Lost Highway der Mystery Man und die Figuren Renée und Alice. Lynch bedient sich einer offenen Erzählstruk-tur und seine Werke lassen viel Spielraum für Interpretationen. Bemerkenswert ist auch sein Einsatz von Musik und Soundkulissen, die dazu beitragen, eine banale Alltagssituation in Horror umschlagen zu lassen.Lynch und Burton sind wohl die einzigen, in deren Werken sich eine anhaltende Tendenz zum Expressionismus entdecken lässt. Nen-nenswert ist ansonsten noch der visuelle Stil von Lemony Snicket‘s A Series of Unfortunate Events von Brad Silberling, 2004 und La Cité des enfants perdus von Jean-Pierre Jeunet, 1995.Während der Expressionismus vor allem in den Bereichen des Dekors und der Motive weiterhin erkennbar bleibt, lässt sich schein-bar eine rein expressionistische Spielweise nicht mehr zeitgemäß verantworten. Verblie-bene Elemente und Einflüsse der expressionis-tischen Filme lassen sich nicht mehr eine eng definierte Kategorie beschränken, sondern tauchen, in mehr oder weniger ausgeprägter Form, in vielen der heutigen Genres und Sub-genres auf, meist ohne in den Vordergrund der ästhetischen gestaltung zu rücken.

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QUELLEN:

- Jürgen Kasten, Der expressionistische Film, ISBN 3-88811-546-9, MAkS Publikationen

- Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler, ISBN 978-3518280799, Suhrkamp

- Gerhard Vana, Metropolis: Modell und Mimesis, ISBN 3-7861-2345-4, Gebr. Mann Verlag

- Wikipedia: Artikel zu Expressionismus, im Text genannte Filme, Lynch, Burton