Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. FDR 25. BundesDrogenKongress 5.-7. Juni 2002 Viele Wege aus...
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Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V. FDR25. BundesDrogenKongress
5.-7. Juni 2002
Viele Wege aus dem Chaos - Therapiestreit in Europa
A. Uchtenhagen
Institut für Suchtforschung Zürich
Inhalt
• Strategien der Drogenhilfe und -therapie– Kontextfaktoren, Konzepte, Grenzen
• Faktische Entwicklung der Drogenhilfen
• Integrationsprozesse– Professionalisierung und Forschung– Politik und Ökonomie– Gesellschaftlicher Wandel
• Perspektiven– Chancen und Risiken– Klärungs- und Handlungsbedarf
Strategien der Drogenhilfe und -therapie
• Erziehung zur Abstinenz– Selbsthilfemodell (Synanon, Therap. Gemeinschaft)– Reformmodell (gesunde suchtfreie Gesellschaft)– medizinisches Modell (Heilung der Suchtkrankheit)
• Schadensminderung– Verminderung negativer Konsumfolgen– Vermittlung unschädlicher Konsumformen
(kontrollierter Konsum, Substitution))– Frühinterventionen zur Vorbeugung schädlichen
Konsums (Sekundärprävention)
Zugrundeliegende Konzepte
• Drogenabhängigkeit wird verstanden als– abweichendes (sozialschädliches) oder kriminelles
Verhalten– Folge einer Fehlentwicklung /Fehlsozialisation– Krankheit oder Folge einer Krankheit
• Interventionen sind dementsprechend– Sanktionen– pädagogische Massnahmen– therapeutische Verfahren
Umsetzung der Konzepte(Klingemann & Hunt 1998)
• Drug Prohibition and the abstinence paradigm „Four nations in moral concert“ : USA, Kanada, Schweden, Finnland
• The experimental countries „Tailoring drug treatment to changing times“ :
England, Holland, Schweiz
• From moral crusade to cost-efficient pragmatism„German Rechthaberei and its contribution to a modern
drug abuse treatment system“ : Deutschland,Österreich
Empirische Daten zur Orientierung der Drogenpolitik
(Cattacin et al 1996)
• Nur idealtypische Modelle– Das Modell der Kontrolle– Das therapeutische Modell– Das Modell der Schadensminderung
• In Wirklichkeit entspricht jedes Modell einer Kombination verschiedener Elemente– z.B. Prävention, medizin. Betreuung, Rehabilitation,
Repression, Organisationsform etc.
Kontextfaktoren der Drogenhilfe-Strategien
• Sozial- und gesundheitspolitische Traditionen (Rolle des Staates und des social engineering, Stellenwert privater Initiativen und NGO‘s, Rolle der Psychiatrie...)
• Ausbau / Kompetenzen des Sozialhilfesystems
• Ausbau und Erreichbarkeit medizinischer Dienste
• Drogenhilfe als separates System oder in die bisherigen Strukturen integriert
Grenzen der Wirksamkeit von Strategien
• Je konsequenter die Strategie, desto zweifelhafter der Erfolg
• Vielfache Mischformen und Überschneidungen (z.B. Heilverfahren kommen nicht ohne Pädagogik aus, Sanktionen nicht ohne beides)
• Vorwissenschaftliche, nicht begründbare Über-zeugungen behindern Realitätsanpassung
• Durch politische Polarisierung belastet (partei-politische Dogmen, Stadt versus Land)
Integration der Strategien ?
• Entwicklung der Substitutions-Therapien
• Entwicklung der Überlebenshilfen
• Entwicklung der Entzugsbehandlungen
• Entwicklung der unfreiwilligen Behandlungen
• Entwicklung von innovativen Mischformen– Therapeutische Gemeinschaft mit Methadon– Entzugsbehandlung „Teilentzug“– Methadonbehandlung mit Tagesprogramm– Behandlung im Strafvollzug
Entwicklung der Suchtersatzbehandlungen in Europa
Zahlen pro 100‘000
Einwohner Alter 16-60
(EMCDDA
2001)
Organisation der Substitutions-Behandlungen in Europa
(EMCDDA 2001)
Allgemeinärzte:Belgien, Deutschland, England, Frankreich (Buprenorphin), Irland, Luxemburg, Österreich, Schweiz
Spezialisierte Zentren :Dänemark, Frankreich (Methadon), Italien, Holland, Portugal, Spanien Nur wenige spezialisierte Zentren :Finnland, Griechenland, Schweden, Norwegen
Verhältnis von Langzeitsubstitution zu agonistengestütztem Entzug
(EMCDDA 2001)
• 75-100% Langzeit-Substitution– Frankreich, Irland, Portugal, Schweden, Schweiz
• 50-75% Langzeit-Substitution– Dänemark, Deutschland, England, Finnland,Holland,
Österreich, Spanien
• <30% Langzeit-Substitution, v.a. Entzug– Griechenland, Italien
Entwicklung der Überlebenshilfe in Europa
• Spritzen-Abgabe und Austauschprogramme– (fast)alle Länder
• Niederschwellige Kontakt- und Anlaufstellen– die meisten Länder
• Injektionsräume (Gassenzimmer)– Deutschland, Schweiz, Holland...
Entwicklung der Entzugsbehandlungen in Europa
• Diversifizierung Entzugsmedikation– Agonisten (Methadon, Codein, Morphin), Antago-
nisten (Naltrexon), Mischpräparate (Buprenorphin)
• Nichtmedikamentöse Verfahren– Physiotherapeutische Massnahmen, Akupunktur,
Naturheilverfahren....
• Beschleunigter Entzug (UROD)
• Teilentzug
• Anschlussbehandlungen
Entwicklung unfreiwilliger Behandlungen in Europa
• Zwangsbehandlung– administrative Einweisung : Schweden, Norwegen – gerichtliche Einweisung : Holland
• Richterlich angeordnete Therapie unter Aufschub der Freiheitsstrafe– alle Länder
• Behandlung im Gefängnis– drogenfreie Abteilungen (TG) : CH, E, F, I, S, UK– Substitutionsbehandlung (Methadon, Heroin) :
BRD, CH, D, E, F, NL, UK
Integrationsprozesse (1)Professionalisierung
• Suchtbehandlung und Suchtmedizin als neue intraprofessionelle Spezialisierungen
• Notwendigkeit der interprofessionellen Zusammenarbeit im Suchtbereich
• Tendenz zur Lehrbarkeit, Manualisierung, Standardisierung der Behandlung von Suchtmittelproblemen
• Kontinuierliche Weiterbildung und Austausch
• Umsetzung neuer Erfahrungen durch moderne Informations-Technologien
Integrationsprozesse (2)Forschung
• Evaluationsforschung als Beitrag zur evidenz-gesteuerten Therapie-Entwicklung
• Analytische Epidemiologie als Beitrag zur bedürfnisgesteuerten Ausrichtung von Therapie-Systemen
• Qualitätsforschung als Beitrag zu einer norm-gerechten Durchführung von Behandlungen
• Umsetzung von Forschungsergebnissen in Weiterbildung und Therapieplanung
Integrationsprozesse (3)Gesellschaftlicher Wandel
• Mehr Pluralismus, mehr Mobilität
• Mehr Freizeit, mehr finanzielle Freiheit
• Mehr Dissoziation und Marginalisierung („neue Armut“, „Bildungsproletariat“, „Fremde“)
• Mehr Selbstbestimmung und Selbstregulation innerhalb der „Konformen“ (inkl. Gebrauch von Suchtmitteln)
• Mehr Bereitschaft für Interventionen gegen „Nicht-Konforme“
Folgen des gesellschaftlichen Wandels für die Therapie
• Suchtmittelkonsum wird als Selbsthilfe („Selbst-medikation“) verstanden, nicht als Devianz
• Therapie und Drogenhilfe müssen helfen, riskante Formen der Selbsthilfe durch weniger riskante zu ersetzen
• Therapieziele und -gestaltung werden individua-lisiert, subjektive Lebensqualität höher gewichtet
• Massnahmen gegen public nuisance und unfreiwillige Behandlungen delinquierender Abhängiger nehmen zu
Integrationsprozesse (4)Politik
• Globalisierung heisser Eisen (Arbeitslosigkeit, Migrationsströme, Widerstand und Terrorismus, Drogenhandel und Drogenprobleme...)
• Nationale Politik ohne Einfluss auf globale wirtschaftlich gesteuerte Entwicklungen
• Wachsender Einfluss internationaler Organe (UNDCP, WHO, EC...)
• „Europa“ vs. Rest der Welt (Ausdehnung der Europapolitik auf Sozialbereiche)
Folgen der Politik für die Therapie
• Rückzug des Staates aus Verantwortungsberei-chen für seine Bürger, „Selbstverantwortung“
• Mehr Koordination, mehr Zusammenarbeit, neue Rolle für NGO‘s
• Zunahme internationaler Vereinbarungen mit national unterschiedlicher Umsetzung
• Zurücktreten ideologischer Orientierung hinter evidenzgeleiteter Orientierung auch in der Drogenpolitik
2 Beispiele
• Vorgaben der Europäischen Kommission für die Behandlung Drogenabhängiger
• Forschungsgeleitete Empfehlungen des National Institute of Drug Abuse NIDA für die Behandlung Drogenabhängiger
Principles and objectives of the EU drug strategy 2000-2004
• ... To ensure collection, analysis and dissemination of reliable and comparable data
• ... to ensure that actions against drugs are evaluated
• ... to give greater priority to drug prevention and demand reduction
• ... to encourage multi-agency co-operation and the involvement of civil society
13 principles of effective drug addiction treatment (NIDA 1999)
A research based Guide
• Matching treatment to all patient needs
• Immediate availability and accessability
• Minimal duration needed is 3 months
• Behavioural therapies are indispensable
• Integrated treatment of comorbidity
• Sanctions / enticements can be effective
Integrationsprozesse (5)ökonomische Gegebenheiten
• Steigende Gesundheits- und Sozialkosten bei schrumpfenden Budgets
• Immense Gewinnspannen im Suchtmittelhandel
• Hohe Gemeinkosten der unbehandelten Sucht („jede Behandlung ist besser als keine“)
• Hohe Gemeinkosten des schädlichen Konsums („mehr investieren in Frühinterventionen“)
Folgen der ökonomischen Gegebenheiten für Therapie
• Niedrigschwelligkeit erhält Vorrang
• „Teure“ Behandlungen geraten unter Druck
• Kompromissbereitschaft und Vernetzung der therapeutischen Institutionen steigt
• Kompromissbereitschaft des Staates zur Gewinnbeteiligung am Suchtmittelhandel steigt (Gewinnbesteuerung statt Prohibition)
• Gesundheitspolitik wird zunehmend dominiert durch Evidenz-Bedarf (What works?) und/oder kurzfristiges Sparen
Perspektiven (1) :Chancen
• Mehr Diversifikation und bessere Berücksichtigung individueller Bedürfnisse
• Mehr Transparenz und Sicherheit von Therapien und anderen Interventionen dank Standards und Qualitätssicherung
• Mehr gesellschaftliche Relevanz von Therapien
und anderen Interventionen dank Bedürfnisorientierung und Integration ins Hilfesystem
Perspektiven (2) : Risiken
• Kompetitives Sich-ausspielen statt Kooperation und Ergänzung der Institutionen
• Vernachlässigung und weitere Marginalisierung der „schlechten Risiken“
• Elitärer Perfektionismus mit zunehmender Selektivität der Institutionen
• Überproportionaler Aufwand für „Papierarbeit“ (Statistiken, Qualitätsmanagement, Evaluation, Öffentlichkeitsarbeit...)
Perspektiven (3) :Klärungs- und Handlungsbedarf
• Was können wir aus Therapie-Misserfolgen lernen ?
• Was können wir von den Selbstheilern lernen ?
• Wie lässt sich die Therapiebereitschaft verbessern ?
• Was lässt sich durch Manualisierung thera-peutischer Verfahren verbessern ?
• Wie erhalten wir Freiräume für Neues ?
Quellen und weiterführende Literatur
• Estievenaert G (Ed.) : Policies and Strategies to combat Drugs in Europe. Nijhoff Dordrecht 1995
• Cattacin S, Lucas B, Vetter S : Drogenpolitische Modelle. Eine vergleichende Analyse sechs europäischer Realitäten. Seismo 1996
• Klingemann H, Hunt G (Eds.) : Drug treatment systems in an international perspective. Drugs, demons and delinquents. Sage 1998
• Derks J, Kalmthout Av, Albrecht HJ (Eds.) : Current and future Drug Policy Studies in Europe. MPI ausländ. & internat. Strafrecht, Freiburg i.Br. 1999
• EMCDDA : Methadone maintenance in Europe. Brussels 2001
• Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V. : Situation und Perspektiven der Suchtkrankenhilfe. Positionspapier 2001