fängt man nie wieder ein. -...

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Die Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit. (afrikanisch) Die verlorene Zeit fängt man nie wieder ein. (französisch) Auf jeden Abend folgt ein Morgen. (türkisch)

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Die Europäer haben die Uhr,

wir haben die Zeit.(afrikanisch)

Die verlorene Zeit

fängt man nie wieder ein.

(französisch)

Auf jeden Abend

folgt ein Morgen.(türkisch)

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7. Zeitbegriff und Umgang mit Zeit Das Empfinden über die Zeit ist in höchstem Maße subjektiv, variiert sogar bei ein und demselben Menschen je nach dessen Ge-mütsverfassung. Die unglaubliche Vielfalt an Sprichwörtern aus aller Welt zum The-menbereich „Zeit“ macht deutlich, dass diese unbestimmte Größe die Menschen seit jeher beschäftigt, lässt aber auch erahnen, wie unterschiedlich – oft kulturell bedingt - der Umgang mit selbiger sein kann.

Nicht nur im Bereich der Wirtschaft stellt der Themenbereich Zeit mit all seinen Fa-cetten (Pünktlichkeit, Einhaltung von Fri-sten, Spontaneität, …) oft eine Herausfor-derung dar, (nicht nur, aber auch) wenn Menschen mit verschiedenem kulturellem Hintergrund zusammenarbeiten.

Im Schulbereich gibt es ebenfalls tagtäglich zahlreiche Situationen, in denen deutlich wird, ob die daran Beteiligten ein ähnliches Zeitgefühl besitzen.

Beispiele:

Kinder, die fast täglich zu spät in die Schule kommen. Gar nicht wegen irgendwelcher unvorhergesehener/unabwendbarer Ereig-nisse, sondern einfach nur so.

Eltern, die nicht zur vereinbarten Zeit in die Sprechstunde kommen.

Eltern, die unangemeldet, außerhalb der Sprechstundenzeiten zu einem Gespräch in die Schule kommen und vom Lehrer /von der Lehrerin erwarten, sofort Zeit für sie zu haben.

Der/die PädagogIn muss Rückmeldungen, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ab-zugeben sind, lange „hinterherlaufen“.

Eltern, die ihre Kinder regelmäßig zu spät von der Nachmittagsbetreuung abholen, wie selbstverständlich, ohne Kommentar oder Entschuldigung.

Eltern, die mit ihren Kindern eine Woche nach Schulbeginn erst vom Urlaub in der Heimat zurückkommen.

Im Folgenden werden einige „Zeit“ - rele-vante Kategorien im interkulturellen Kon-text kurz theoretisch vorgestellt und prak-tisch untermauert.

7.1. Der monochrone und der poly-chrone ZeittypMonochrone Menschen empfinden Zeit als unerbittlichen Ablauf. Sie mögen de-taillierte Planung und geregelte Systeme, konzentrieren sich auf eine einzige Aufga-be und werden höchst unproduktiv, wenn sie davon abgelenkt werden. Sie fühlen sich vor allem der übertragenen Aufgabe ver-pflichtet. Pünktlichkeit und Verlässlichkeit stellen hohe Werte für sie dar.

Vorteil: Monochrone Menschen sind sehr effizient, wenn sie ohne Unterbrechung arbeiten dür-fen.

Nachteil:Sie bleiben auch dann standhaft beim ein-mal eingeschlagenen Weg, wenn sich längst lohnendere Alternativen aufgetan haben. Zusätzliche Arbeit lehnen sie meist ab und gelten daher in Krisensituationen als unkol-legial.

Polychrone Menschen dagegen haben lie-ber mehrere Projekte gleichzeitig am Lau-fen, zwischen denen sie hin- und herwech-seln können. Sie fühlen sich weniger der Aufgabe als vielmehr den beauftragenden Menschen verbunden. Wichtiger als Exakt-heit sind ihnen gute menschliche Bezie-hungen. Ihrer Meinung nach müsste doch je-der einsehen, dass gute Qualität wichtiger ist als ein sklavisch genau eingehaltener Ab-gabetermin. Sie sind gut im Improvisieren.

Zeit, was ist Zeit? Sie ist einfach immer da, manchmal verrinnt sie uns zu rasch, manchmal will sie gar nicht vergehen, manchmal glauben wir, gar keine mehr zu haben und

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Zeit empfinden polychrone Menschen als eine von ihnen formbare und veränderbare Größe, sie machen sich keine Sorgen um das Zeitmanagement.

Auch wenn sie jammern und stöhnen - sie lieben und brauchen Zeitdruck, um Aufga-ben zu beenden. Gut ist es, nicht nur den Endtermin fest zu legen, sondern den Auf-trag in kleinere Zwischenziele zu unter-teilen – aus dem großen Zeitdruck werden mehrere kleinere gemacht.

Vorteil:Störungen machen ihnen wenig aus. Vor Stressprojekten scheuen sie nicht zurück.

Nachteil:Polychrone Menschen neigen dazu, sich zu überschätzen. Ein überforderter Mensch ist meist nur an einem Ort eingesetzt, der ein ihm fremdes Zeitmuster verlangt.

In vielen Gebieten der Welt spielt die Uhr keine Rolle. Die Natur bestimmt wich-tige Ereignisse. Wann Pflanzen gesät wer-den, wie der Rhythmus des Viehtriebes aus-sieht usw. Auch die sozialen Geschehnisse werden oft von Ereignissen bestimmt. Es herrscht unausgesprochene Übereinstim-mung wonach Ereignisse beginnen und en-den. Jedoch wird durch die zunehmende Globalisierung auch eine „Einheitlichkeit“ und Standardisierung der Zeit vorangetrie-ben. Es spielen auch in diesen Kulturen in-ternationale Zeitstandards eine Rolle, aber nicht die Wichtigste.

„Jeder Moment zählt“, es werden Termine „koordiniert“, der Mensch „gerät immer öf-ter unter Zeitdruck“ und „Zeit ist Geld“ be-schreiben, wie wichtig in manchen Kulturen die Zeit ist.

Wenn Menschen aus eher „langsamen Kul-turen“ in Länder kommen, in denen die Kultur sich stark nach Planung und Uhrzeit richtet, werden sie sich deren Einfluss nicht entziehen können und zunehmend zeitori-entierter werden.

Allerdings bleibt das Verständnis von Zeit dennoch von Kultur zu Kultur unterschied-lich. Der Schriftsteller Jeremy Rifkins be-schrieb dies mit: „Jede Kultur hat ihre ei-genen zeitlichen Fingerabdrücke“. Ein Volk

kennen, heißt die Zeitwerte kennen, mit denen es lebt.“ (Jeremy Rifkin, „Uhrwerk Universum“)

Beispiele:

In Mexiko gibt es das Sprichwort „dar le tiempo al tiempo“, was heißt „der Zeit Zeit geben“ und meint, dass nicht die ganze Zeit verplant werden sollte, sondern noch genug Zeit für Spontanität und unvorherge-sehene Dinge bleiben soll. Aus Trinidad kommt der Ausdruck „Jegliche Zeit ist Trini-dad-Zeit“ und in Brunei wachen Menschen mit der Frage „Was wird heute nicht ge-schehen?“ auf.

Bei den folgenden Beispielen werden viele Alltagsereignisse für die Zeit herangezogen.

In Madagaskar wird die Dauer mit „die Zeit, welche man zum Reiskochen bracht (ca. eine halbe Stunde) oder „solange es dauert eine Heuschrecke zu braten (kurz) be-schrieben.

Manche Kulturen haben nicht einmal ein Wort für „Zeit“. Ein Volk in Nordmyanmar (ehemals Burma), genannt die Kachin, ha-ben unterschiedliche Begriffe um Zeitspan-nen deutlich zu machen. Es existiert kein Begriff für Zeit. Zeit ist für sie ohne greif-bare Realität.

In einem Experiment wurde das Lebenstem-po von Großstädten in 31 Ländern unter-sucht und verglichen:

Wie lange braucht ein Postbeamter, um eine Briefmarke zu verkaufen?

Wie lange braucht ein Bankangestellter, um Geld zu wechseln?

Wie genau sind öffentliche Uhren?

Die Untersuchungen ergaben, dass die Städ-te in Westeuropa und Japan zu den schnells-ten zählen, vergleichbare wirtschaftlich weniger entwickelte Städte (Mexiko, Brasi-lien) zu den langsamsten.

Allererdings gab es auch innerhalb gleicher Staaten große Unterschiede.

Ob diese Studien das Lebenstempo spiegelt kann bestritten werden, aber sie zeigt die Unterschiede mit dem Umgang mit Zeit und dem allgemeinen Lebenstempo auf.

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Bedeutung für die pädagogische Praxis:

Die Unterscheidung der Kulturen in mono-chron und polychron erfolgt nur tendenzi-ell – das heißt die oben beschriebenen Eigen-heiten treffen nicht zu 100% zu, sind aber üblicher, werden also mit größerer Wahr-scheinlichkeit als normal akzeptiert.

Bei der Länderweisen Zuteilung in polychron und monochron ist ein Nord-Süd-Gefälle zu erkennen. So zählen Nordeuropa, Japan, USA zu eher monochronen Kulturen, Süd-Ost-Eu-ropa, Afrika, aber auch Ost-Europa eher zu den polychronen.

Beispiele aus der Praxis:

z.B.: Termineinhaltung, Pünktlichkeit, Ab sagen, wenn Termin nicht eingehalten werden kann, weil spontan Besuch ge-kommen ist, Fristen einhalten….

Wenn es um Termine und Fristen geht, können Menschen mit Migrationshinter-grund ernsthafte Probleme bekommen (z.B. auf Ämtern und Behörden), wenn diese nicht pünktlich eingehalten wer-den. Zu betonen, dass es hier unbedingt notwendig ist, nach „österreichischer“ Zeit zu handeln und absolut pünktlich zu sein brauchen diese Menschen oft als An-stoß bzw. sie müssen öfter daran erinnert werden. Für sie ist es schwierig, etwas nach dem sie so lange gelebt haben anzu-passen – es ist ein Lernprozess, der seine Zeit braucht.

7.2. Multitemporalität

Lewis Mumford beschreibt die Multitem-poralität: Das ist das Lebenstempo, in dem man, wenn es die Situation erfordert, schnell reagieren kann, aber auch entspan-nen, wenn der Druck endet. Dazwischen gibt es viele Schattierungen. Wie der Takt der Musik, soll jede Aktivität in ihrem rich-tigen Tempo stattfinden und den menschli-chen Bedürfnissen angepasst sein.

Diese Multitemporalität kann gut durch die „italienische Lebensweise“ erklärt werden. Es wird hart gearbeitet, um etwas zu errei-chen, aber auch das Tempo gebremst um das „dolce vita“ genießen zu können. Das schafft nötigen Ausgleich und Entspannung. Auch Zusammenhänge mit der Gesundheit werden deutlich: In Ländern wo das Lebens-tempo schnell ist, wie etwa in Westeuropa, treten Herzerkrankungen gehäuft auf.

Die Schriftstellerin Joyce Carol Oates brach-te es so auf den Punkt: „Zeit ist das Ele-ment, in dem wir existieren... Wir werden entweder von ihr dahingetragen, oder wir ertrinken in ihr.“ Die Herausforderung der Multitemporalität ist, ohne Stress gut zu ar-beiten und gleichzeitig genug Zeit für Be-ziehungen und Ruhe zu finden.

Literatur

Levine, Robert: Fingerabdrücke der Zeit. Zeitschrift für KulturAustausch 3/1998.http://www.ifa.de/pub/kulturaustausch/archiv/zfk-1998/zeit/levine/