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VO – Geschichte und Praxis der Spiritualität WS 2016-17 Christoph Benke 1 Texte zur Vorlesung GESCHICHTE UND PRAXIS DER SPIRITUALITÄT WS 2016-17 Christoph Benke 1 Friedrich Wulf SJ: Spiritualität ist „die geistgewirkte existentielle Antwort des Menschen auf das Heilswirken Gottes in seinem Geist. In der Mitte zwischen Gottes Handeln und des Menschen Antwort, gleichsam als verbindendes Glied, steht der Geist, der Geist der Liebe, der in unseren Herzen ausgegossen ist (vgl. Röm 5,5). Er verbindet Gottes und des Menschen Handeln miteinander; er schafft Gemeinschaft; er macht, dass alles menschliche Tun, das sich auf die Vollendung von Mensch und Welt, auf das Heil bezieht, im Grunde Gnade ist, und alle angenommene Gnade dem Menschen zu eigen wird, in sein eigenes Tun und seine Existenz eingeht.“ [zitiert in: L. Schulte, Aufbruch aus der Mitte. Zur Erneuerung der Theologie christlicher Spiritualität im 20. Jahrhundert – im Spiegel von Wirken und Werk Friedrich Wulfs SJ (1908-1990), Würzburg 1998, 28] 2 Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 199: „Meist werden die beiden Gleichnisse so verstanden, als ob Jesus in ihnen die Forderung nach der vorbehaltlosen Hingabe entfalte. In Wahrheit hat man sie überhaupt nicht verstan- den, wenn man in ihnen an erster Stelle eine zu heroische Tat aufrufende Forderung sieht. Die entscheidenden Worte sind vielmehr: ‚Vor Freude ging er hin.‘ Wenn die große, alles Maß übersteigende Freude einen Menschen faßt, dann reißt sie ihn fort, erfaßt sie das Innerste, überwältigt sie den Sinn. Alles verblaßt vor dem Glanz des Gefundenen. Kein Preis erscheint zu hoch. Die besinnungslose Hingabe des Köstlichsten wird zur blanken Selbstver- ständlichkeit. Nicht die Besitzhingabe der beiden Männer ist das Entscheidende, sondern der Anlaß zu ihrem Entschluß: das Überwältigtwerden durch die Größe ihres Fundes. So ist es mit der Königsherrschaft Gottes. Die frohe Botschaft von ihrem Anbruch überwältigt, schenkt die große Freude ... wirkt die leidenschaftlichste Hingabe.“ 3 Emmanuel von Severus, Art. Nachfolge, in: Praktisches Lexikon für Spiritualität, 913: „Auferstehung und Erhöhung verwandeln die irdische Lebensgemeinschaft, insbesondere die Lehrer-Schüler-Beziehung, zur Lebensgemeinschaft mit Christus im Hl. Geist. Aus dem Schüler Jesu wird der Jünger des verherrlichten Christus. Diese Veränderung führt in der theologischen Rückbesinnung auch zur Vertiefung des Nachfolgegedankens und macht ihn zur Mitte des geistlichen Lebens. Nachfolge wird in der Geschichte des christlichen Glaubens und der Verkündigung zu einem Lernprozeß, dem schon die biblischen Autoren einen individuellen Stempel aufdrücken können wie ebenso die Charismen der Lehrer und Heiligen in nachbiblischer Zeit.“ 4 Eusebius (+ 339), Kirchengeschichte: „Auch (der Diakon) Sanktus ertrug auf wunderbare, übermenschliche Art heldenmütig alle Martern, welche ihm Menschen bereiteten ... Auf alle Fragen antwortete er in lateinischer Sprache: `Ich bin Christ!` Daher waren der Statthalter und die Henkersknechte so erbittert, dass sie ... schließlich glühende Metallplatten auf seine zarten Glieder legten. Diese brannten

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VO – Geschichte und Praxis der Spiritualität WS 2016-17

Christoph Benke

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Texte zur Vorlesung

GESCHICHTE UND PRAXIS DER SPIRITUALITÄT

WS 2016-17 Christoph Benke 1 Friedrich Wulf SJ: Spiritualität ist „die geistgewirkte existentielle Antwort des Menschen auf das Heilswirken Gottes in seinem Geist. In der Mitte zwischen Gottes Handeln und des Menschen Antwort, gleichsam als verbindendes Glied, steht der Geist, der Geist der Liebe, der in unseren Herzen ausgegossen ist (vgl. Röm 5,5). Er verbindet Gottes und des Menschen Handeln miteinander; er schafft Gemeinschaft; er macht, dass alles menschliche Tun, das sich auf die Vollendung von Mensch und Welt, auf das Heil bezieht, im Grunde Gnade ist, und alle angenommene Gnade dem Menschen zu eigen wird, in sein eigenes Tun und seine Existenz eingeht.“ [zitiert in: L. Schulte, Aufbruch aus der Mitte. Zur Erneuerung der Theologie christlicher Spiritualität im 20. Jahrhundert – im Spiegel von Wirken und Werk Friedrich Wulfs SJ (1908-1990), Würzburg 1998, 28] 2 Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 199:

„Meist werden die beiden Gleichnisse so verstanden, als ob Jesus in ihnen die Forderung nach der vorbehaltlosen Hingabe entfalte. In Wahrheit hat man sie überhaupt nicht verstan-den, wenn man in ihnen an erster Stelle eine zu heroische Tat aufrufende Forderung sieht. Die entscheidenden Worte sind vielmehr: ‚Vor Freude ging er hin.‘ Wenn die große, alles Maß übersteigende Freude einen Menschen faßt, dann reißt sie ihn fort, erfaßt sie das Innerste, überwältigt sie den Sinn. Alles verblaßt vor dem Glanz des Gefundenen. Kein Preis erscheint zu hoch. Die besinnungslose Hingabe des Köstlichsten wird zur blanken Selbstver-ständlichkeit. Nicht die Besitzhingabe der beiden Männer ist das Entscheidende, sondern der Anlaß zu ihrem Entschluß: das Überwältigtwerden durch die Größe ihres Fundes. So ist es mit der Königsherrschaft Gottes. Die frohe Botschaft von ihrem Anbruch überwältigt, schenkt die große Freude ... wirkt die leidenschaftlichste Hingabe.“

3 Emmanuel von Severus, Art. Nachfolge, in: Praktisches Lexikon für Spiritualität, 913:

„Auferstehung und Erhöhung verwandeln die irdische Lebensgemeinschaft, insbesondere die Lehrer-Schüler-Beziehung, zur Lebensgemeinschaft mit Christus im Hl. Geist. Aus dem Schüler Jesu wird der Jünger des verherrlichten Christus. Diese Veränderung führt in der theologischen Rückbesinnung auch zur Vertiefung des Nachfolgegedankens und macht ihn zur Mitte des geistlichen Lebens. Nachfolge wird in der Geschichte des christlichen Glaubens und der Verkündigung zu einem Lernprozeß, dem schon die biblischen Autoren einen individuellen Stempel aufdrücken können wie ebenso die Charismen der Lehrer und Heiligen in nachbiblischer Zeit.“

4 Eusebius (+ 339), Kirchengeschichte:

„Auch (der Diakon) Sanktus ertrug auf wunderbare, übermenschliche Art heldenmütig alle Martern, welche ihm Menschen bereiteten ... Auf alle Fragen antwortete er in lateinischer Sprache: `Ich bin Christ!` Daher waren der Statthalter und die Henkersknechte so erbittert, dass sie ... schließlich glühende Metallplatten auf seine zarten Glieder legten. Diese brannten

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zwar, doch er blieb unbeugsam und unnachgiebig und ließ nicht von seinem Bekenntnis. Denn er wurde aus dem Leibe Christi, der himmlischen Quelle des lebendigen Wassers, betaut und gestärkt. Der Körper war allerdings Zeuge dessen, was Sanktus widerfahren war. Denn er war eine Wunde und eine Strieme, er war zusammengeschrumpft und hatte das menschliche Aussehen verloren. In ihm litt Christus, in ihm wirkte er Großes und Herrliches. Er machte den Widersacher zunichte und zeigte zur Belehrung der übrigen, dass da, wo die Liebe des Vaters wirkt, nichts zu fürchten ist, und dass nichts schmerzlich ist, wo sich Christi Herrlichkeit entfaltet ... Der heilige Pothinus, der mit der bischöflichen Würde in Lyon bekleidet war, mehr als neunzig Jahre alt, körperlich sehr geschwächt ... War sein Körper auch durch Alter und Krankheit gebrochen - seine Seele war noch so frisch, dass Christus in ihr triumphieren konnte. Die Soldaten führten Pothinus vor den Richterstuhl. Es waren zugegen die Stadtbehörden und eine Menge Volk. Dieser Pöbel schrie ihm alles Mögliche zu, gleich als wäre er Christus.“

5 Ignatius von Antiochien (+ um 110 nC)

(a) An die Smyrnäer 4,2: „Wenn nämlich dies zum Schein von unserem Herrn vollbracht wurde, so bin auch ich zum Schein gefesselt. Wozu aber habe ich mich dann dem Tode ausgeliefert ... Nahe dem Schwert ist nahe bei Gott, inmitten der Bestien ist mitten in Gott ... Um mit ihm zu leiden, ertrage ich alles, wenn er mich stärkt.“ (b) An die Römer 6,1.3: „Besser ist es für mich zu sterben auf Jesus Christus hin, als König zu sein über die Enden der Erde. Jenen suche ich, der für uns starb; jenen will ich, der unsertwegen auferstand. Das Gebären steht mir bevor ... Gestattet mir, ein Nachahmer des Leidens meines Gottes zu sein! Wenn einer ihn in sich trägt, soll er verstehen, was ich will.“ (c) An die Römer 4,1-2; 5,3: „Ich schreibe an alle Kirchen und schärfe es allen ein, daß ich freiwillig für Gott sterbe, wenn anders ihr es nicht verhindert. So bitte ich euch, daß ihr mir [euer] Wohlwollen nicht zur Unzeit erzeigt! Laßt mich den Bestien zum Fraß werden; durch sie ist es mir möglich, zu Gott zu gelangen. Gottes Weizen bin ich und werde durch die Zähne der Bestien gemahlen, um als reines Brot Christi erfunden zu werden. Schmeichelt lieber den Bestien, damit sie mir zum Grabe werden und nichts von meinem Körper übriglassen ... Dann werde ich wahrhaft ein Jünger Jesu Christi sein.“ (d) An die Trallianer 5,2: „Bin ja auch ich, obzwar ich Fesseln trage ..., noch kein Jünger. Denn vieles fehlt uns, damit wir Gott nicht verfehlen.“ - An die Epheser 3,1: „Ich befehle euch nicht als wäre ich jemand. Denn wenn ich auch Fesseln trage im Namen (Jesu), so bin ich noch nicht vollendet in Jesus Christus. Denn jetzt fange ich an, ein Jünger zu werden.“

6 P. Christian de Chergé OCSO (1937-1996): Geistliches Testament

Wenn ein “Hin-zu-Gott” ins Gesichtfeld tritt … Wenn es mir eines Tages widerführe – und das könnte heute sein –, Opfer des Terrorismus zu werden, der jetzt anscheinend alle in Algerien lebenden Fremden mit-betreffen will, so möchte ich, dass meine Gemeinschaft, meine Kirche, meine Familie sich daran erinnern, dass mein Leben Gott und diesem Land HINGEGEBEN war.

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Sie mögen innerlich zustimmen, dass der einzige Meister allen Lebens einem solchen bruta-len Abschied nicht fremd sein kann. Sie mögen beten für mich: Wie könnte ich sonst einer solchen Opferhingabe würdig sein? Sie mögen diesen Tod in die Reihe so vieler anderer ebenso gewalttätiger Tode einfügen, die in der Gleichgültigkeit der Anonymität bleiben. Mein Leben hat nicht mehr Wert als ein ande-res. Allerdings auch nicht weniger. Jedenfalls hat es nicht mehr die Unschuld der Kindheit. Ich habe lange genug gelebt, um zu wissen, dass ich mitschuldig bin am Bösen, das, leider, in der Welt überhand zu nehmen scheint, selbst an jenem Bösen, das mich blind treffen könnte. Ich hätte gerne, wenn es soweit ist, eine kurze Frist der Hellsichtigkeit, die mir erlauben würde, das Verzeihen Gottes und das meiner Brüder in der Mitmenschlichkeit zu erbitten, und desgleichen auch, um von ganzem Herzen jenem zu verzeihen, der mich heimsuchen wird. Ich kann einen solchen Tod nicht herbeiwünschen. Es scheint mir wichtig, das offen zu bekennen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich daran freuen sollte, wenn dieses Volk, das ich so sehr liebe, einfach unterschiedslos meines Mordes angeschuldigt würde. Es wäre viel zu teuer bezahlt, das, was man vielleicht „Gnade des Martyriums" nennen wird, einem Algerier ver-danken zu müssen, wer er auch sei, vor allem wenn er meint, in der Treue zu dem, was er Islam nennt, zu handeln. Ich kenne die Verachtung, die man den Algeriern pauschal hat zuteil werden lassen. Ich ken-ne auch die Karikaturen des Islam, die ein gewisser Idealismus hervorbringt. Es ist allzu lei-cht, sich damit zu beruhigen, dass man diesen religiösen Weg mit der sturen Ideologie ihrer Extremisten identifiziert. Algerien und der Islam, das ist für mich etwas ganz anderes, das ist wie Leib und Seele. Ich habe dies genügend offen verkündet, ich glaube, nach bestem Wissen und Gewissen, was ich von ihnen erhalten habe, was ich so oft darin wie eine Leitidee des Evangeliums vorgefunden habe, was ich auf den Knien meiner Mutter, der allerersten Kirche, gelernt habe, und zwar genau in Algerien, und damals schon in Ehrfurcht vor den gläubigen Muslimen. Mein Tod könnte natürlich denen Recht geben, die mich allzu rasch für naiv und idealistisch gehalten haben: „Nun soll er doch sagen, was er davon denkt!" Aber diese sollen wissen, dass dann endlich meine quälendste Neugier gestillt sein wird. Genau deshalb möchte ich, wenn es Gott so recht ist, meinen Blick in den Blick des Vaters versenken, um mit ihm seine Kinder im Islam zu betrachten, so, wie er sie sieht, ganz erleu-chtet von der Herrlichkeit Christi, Frucht seines Leidens, erfüllt von der Gabe des Geistes, dessen geheime Freude es immer ist, Gemeinschaft zu schaffen und die Ähnlichkeit wiede-rherzustellen, indem er mit den Unterschieden spielt. Dieses Leben, ganz das meinige, und ganz das ihre, und nun verloren – ich danke Gott dafür, dass er es anscheinend ganz so gewollt hat, auf diese FREUDE hin, trotz allem. In dieses DANKE, worin letztlich alles gesagt ist über mein Leben, schließe ich natürlich Euch alle ein, meine Freunde von gestern und heute, und euch, o Freunde von hier, zur Seite meiner Mutter und meines Vaters, meiner Schwestern und meiner Brüder, wie auch ihrer Schwestern und Brüder, das hundertfach Zubemessene, wie es versprochen war! Und du auch, Freund der letzten Minute, der Du nicht weißt, was Du tust. Ja, auch für Dich will ich dieses DANKE sagen und dieses “Zu-Gott-hin” annehmen, das du für mich ins Auge gefasst hast.

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Möge es uns geschenkt sein, dass wir beiden Schächer uns im Paradies wiederfinden, wenn es Gott so recht ist, unserem gemeinsamen Vater. Amen! Insch’Allâh!

Algier, 1. Dezember 1993 Tibhirine, 1. Januar 1994

Christian +

7 K.S.Frank, Grundzüge der Geschichte des christlichen Mönchtums, 18:

„Zur `Welt` wurden aber auch die christlichen Gemeinden seit dem 3. Jh. mit ihrem deutli-chen Zug zur Massenkirche, mit ihrem notwendigen Verzicht auf ethische Höchstleistungen und ihrem zwangsläufigen Einlenken auf die ... Zweistufenethik. In neuer Weise kann hier auf die alte These vom Protest gegen eine verweltlichte Kirche zurückgegriffen werden. Al-lerdings verstehen die Asketen, die die Gemeinden verlassen, ihren Auszug nicht als Protest. Sie wollen keine Gegenkirche schaffen, sondern allein und ungestört nach Forderungen des asketisch gedeuteten Evangeliums neben den übrigen Gemeinden leben. Damit entsteht in-nerhalb der christlichen Kirche das Gegensatzpaar von asketischen und nichtasketischen Christen, das unter der geläufigeren Antithese von `Welt und Kloster` die gesamte Kirchen-geschichte spannungsreich begleiten wird. Mit dieser aus der Gemeindesituation entwickel-ten Motivierung ist das Aufkommen der Wüstenaskese im 3. Jh. wohl kaum ganz erklärt. Ein auch in die christlichen Gemeinden eingedrungener Pessimismus konnte die dem Christentum eigene Weltdistanz verstärken und zum Verlassen dieser Welt und ihrer Ordnungen bewegen. Der modische Kynismus konnte gleicherweise Christen anstecken und zur asketischen Weltentsagung drängen. Wirtschaftliche (Steuerlast) und gesellschaftlich-politische (Militärdienst und andere staatliche Dienstleistungen) Motive werden im Einzelfall wiederum nicht auszuschließen sein. Ein vielschichtiges und im Einzelfall auch verschieden gewichtiges Motivbündel hat so die Asketen im Laufe des 3. Jh. aus den Gemeinden hinaus-geführt.“

8 Athanasius von Alexandrien, Leben des Antonius 2:

„Es waren noch keine sechs Monate seit dem Tod seiner Eltern vergangen, da ging er nach seiner Gewohnheit zur Kirche; er hielt Einkehr und überlegte, als er so auf und ab ging, wie die Apostel alles verließen und dem Heiland nachfolgten (Mt 4,20); wie die Gläubigen in der Apostelgeschichte ihren Besitz verkauften, den Erlös brachten und zu den Füßen der Apostel legten, zur Verteilung an die, die Not litten (Apg 4,35), und welch schöne Hoffnung ihnen im Himmel bereitet sei. In solchen Gedanken betrat er das Gotteshaus, und es fügte sich, daß gerade das Evangelium vorgetragen wurde. Und er hörte, wie der Herr zum Reichen sprach: ‚Wenn du vollkommen werden willst, verkaufe all deine Habe, gib den Erlös den Armen, dann komm und folge mir nach, und du wirst einen Schatz im Himmel haben’ (Mt 19,21). Dem Antonius aber war es, wie wenn ihm von Gott die Erinnerung an diese heiligen Worte geworden und als ob um seinetwillen jene Lesung der Schriftstelle geschehen sei; er ging so-gleich aus der Kirche und schenkte seine Besitzungen, die er von den Vorfahren hatte, den Einwohnern des heimatlichen Ortes ... Seine gesamte übrige Habe verkaufte er und brachte so ein schönes Stück Geld zusammen; dies gab er den Armen und legte nur eine geringe Summe mit Rücksicht auf seine Schwestern beiseite.“

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9 Spiritualität der Wüste

(a) Athanasius von Alexandrien, Leben des Antonius 14: „Zu allen aber sagte er, sie sollten nichts in der Welt der Liebe zu Christus vorziehen.“

(b) Weisung der Väter (= WdV) 3: „Was du auch tust, oder was du auch redest: für alles suche ein Zeugnis in den Heiligen Schriften.“

(c) WdV 9: „Ein andermal sagte er [Antonios]: Vom Nächsten her kommen uns Leben und Tod. Gewinnen wir nämlich den Bruder, so gewinnen wir Gott. Geben wir hingegen dem Bruder Ärgernis, so sündigen wir gegen Christus.“

(d) WdV 748.731: „Ein Bruder fragte den Altvater Poimen: Mit mir wohnen Brüder: willst du, daß ich ihnen Befehle erteile? Der Greis antwortete: Nein, sondern erfülle zuerst du deine Aufgabe! Wenn sie leben wollen, werden sie schon auf dich sehen. Da sprach der Bruder zu ihm: Sie wollen es aber selber, daß ich ihnen befehle. Der Alte erwiderte ihm: Nein, werde ihnen ein Vorbild und kein Gesetzgeber!`« - »Abbas Poimen sagte: Den Nächsten belehren ist das gleiche wie ihn anklagen.“

(e) WdV Nr. 3: „Es fragte einer den Altvater Antonios, was er tun müsse, um Gott zu gefallen. Der Greis gab ihm folgende Antwort: Befolge, was ich dir auftrage! Wohin immer du gehst, habe überall Gott vor Augen. Was du auch tust, oder was du auch redest: für alles suche ein Zeugnis in den Heiligen Schriften. Wenn du dich an einem Orte niederläßt, dann entferne dich nicht leicht. Diese drei Dinge beobachte und du wirst das Heil finden.“

(f) WdV Nr. 1: „Als der Altvater Antonios einmal in verdrießlicher Stimmung und mit düsteren Gedanken in der Wüste saß, sprach er zu Gott: Herr, ich will gerettet werden, aber meine Gedanken lassen es nicht zu. Was soll ich in dieser meiner Bedrängnis tun? Wie kann ich das Heil erlangen? Bald darauf erhob er sich, ging ins Freie und sah einen, der ihm glich. Er saß da und arbeitete, stand dann von der Arbeit auf und betete, setzte sich wieder und flocht an einem Seil, erhob sich dann abermals zum Beten; und siehe, es war ein Engel des Herrn, der gesandt war, Antonios Belehrung und Sicherheit zu geben. Und er hörte den Engel sprechen: Mach es so und du wirst das Heil erlangen. Als er das hörte, wurde er von großer Freude und mit Mut erfüllt und durch solches Tun fand er Rettung.“

(g) WdV Nr. 198: „Dem seligen Epiphanios, Bischof von Kypros, wurde mitgeteilt von dem Abt eines Klosters, das er in Palästina hatte: Auf dein Gebet hin haben wir unsere Gebetsregel nicht vernachlässigt, sondern mit Eifer feiern wir Terz, Sext und Non. Er aber tadelte sie mit den Worten: Offensichtlich vernachlässigt ihr die übrigen Stunden des Tages, indem ihr vom Gebete ablaßt. Der wahre Mönch hat unaufhörlich Gebet und Psalmengesang im Herzen.“

(h) Michael Schneider, Aus den Quellen der Wüste, 49: „Die ‚Gedanken’ (Logismoi), gegen die der Mönch zu kämpfen hat, sind Vorstellungen und Begriffe rationalen Inhalts, aber auch viel umfassender: bestimmte Absichten, Pläne, Intentionen, Wünsche, Einfälle, Gefühle, Motive, Stimmungen ... Meist bleiben die Logismoi zunächst verborgen, im Hintergrund und unbewußt, bis sie plötzlich nach oben dringen, ohne daß der einzelne weiß, wie es dazu gekommen ist und warum sie ihn so bestimmen. Als `Befehle` und Aufforderungen motivieren die Logismoi unerwartet zu einem ganz bestimmten Tun und auch zur Sünde.“

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(i) Johannes Cassian, Von den Einrichtungen der Klöster V,21: „Nicht brauchen wir die Feinde von außen zu fürchten. In uns selbst ist der Feind eingeschlossen. Ein innerer Krieg wird täg-lich in uns geführt. Ist dieser ausgekämpft, so wird alles, was sich außerhalb findet, schwach und dem Streiter Christi vollständig unterworfen sein. Nicht werden wir den Feind von außen zu fürchten haben, wenn alles, was in uns ist, sich besiegt dem Geist unterwirft.“

(j) WdV Nr. 602: „Ein Bruder kam zum Altvater Poimen und sagte: Vater, ich habe vielerlei Gedanken und komme durch sie in Gefahr. Der Altvater führte ihn ins Freie und sagte zu ihm: Breite dein Obergewand aus und halte die Winde auf! Er antwortete: Das kann ich nicht! Da sagte der Greis zu ihm: Wenn du das nicht kannst, dann kannst du auch deine Gedanken nicht hindern, zu dir zu kommen. Aber es ist deine Aufgabe, ihnen zu widerstehen!“

(k) WdV Nr. 49: „Jemand sagte zum Altvater Arsenios: Meine Gedanken quälen mich, indem sie mir sagen: Du kannst nicht fasten und auch nicht arbeiten, so besuche wenigstens die Kranken; denn auch das ist Liebe. Der Greis aber, der den Samen der Dämonen kannte, sagte zu ihm: Geh und iß, trinke, schlafe und arbeite nicht, nur verlaß dein Kellion nicht! Er wußte nämlich, daß das Ausharren im Kellion den Mönch in seine rechte Ordnung bringt.“

(l) Lasterkatalog: 1. Freßlust („entfesselter Magen“), 2. Unzucht, 3. Geldgier, 4. Kummer, 5. Zorn, 6. Überdruß (akedia), 7. eitle Ruhmsucht, 8. Hochmut

(m) WdV Nr. 328: „Altvater Poimen erzählte über den Altvater Johannes Kolobos: Er rief Gott an, und die Leidenschaften wurden von ihm genommen, und er war ohne Sorgen. Er ging fort und sagte zu einem Greis: Ich stelle fest, daß ich in Ruhe bin und keine Anfechtung mehr habe. Der Greis sprach zu ihm: Geh und rufe Gott an, daß ein Feind gegen dich aufsteht, und so auch die alte Zerknirschung und Demut, die du früher hattest (wieder zurückkehrt!). Denn gerade durch die Anfechtung macht die Seele Fortschritte. Er bat also, und als der Feind kam, betete er nicht mehr, daß er von ihm befreit werde, sondern sagte: Gib mir Geduld, Herr, in den Kämpfen!“

(n) WdV Nr. 174: „Altvater Gregorios sprach: Diese drei Dinge verlangt Gott von jedem, der die Taufe hat: den rechten Glauben von der Seele, die Wahrheit von der Zunge und Maßhalten vom Leibe.“

10 Aus der Regel des hl. Benedikt

(a) Vorwort, 45-46: „Wir wollen also eine Schule, in der man dem Herrn dient, gründen. Wir hoffen, bei dieser Einrichtung nichts Rauhes, nichts Drückendes vorzuschreiben.“

(b) RB 58,6-8: „(6) Ein erfahrener Bruder werde für sie [die Novizen] bestimmt, der geeignet ist, Menschen zu gewinnen, und der sich mit aller Sorgfalt ihrer annimmt. (7) Man achte genau darauf, ob der Novize wirklich Gott sucht, ob er Eifer hat für den Gottesdienst, ob er bereit ist zu gehorchen und ob er fähig ist, Widerwärtiges zu ertragen. (8) Offen rede man mit ihm über alles Harte und Schwere auf dem Weg zu Gott.“

(c) RB 72,1-3.8-12: „Wie es einen schlimmen Eifer der Bitterkeit gibt, der von Gott trennt und zur Hölle führt, so gibt es auch einen guten Eifer, der uns vom Bösen trennt und zu Gott und zum ewigen Leben führt. Diesen Eifer sollen die Mönche mit feuriger Liebe betätigen ... Die

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brüderliche Liebe sollen sie einander in reiner Gesinnung erweisen, Gott in Liebe Ehrfurcht entgegenbringen, ihrem Abt in aufrichtiger und demütiger Hingabe zugetan sein, durchaus nichts Christus vorziehen, der uns alle zum ewigen Leben führen möge.“

(d) RB 64,17-19: „(17) In seinen Befehlen sei er vorausschauend und besonnen. Bei geist-lichen wie bei weltlichen Aufträgen unterscheide er genau und halte Maß. (18) Er denke an die maßvolle Unterscheidung des heiligen Jakob, der sprach: Wenn ich meine Herden unterwegs überanstrenge, werden alle an einem Tag zugrunde gehen (vgl. Gen 33,13). (19) Diese und andere Zeugnisse maßvoller Unterscheidung, der Mutter aller Tugenden, beherzige er. So halte er in allem Maß, damit die Starken finden, wonach sie verlangen, und die Schwachen nicht davonlaufen.“

(e) RB 43,1-3;19,1-2.6-7: „Sobald man das Zeichen zur Stunde des Gottesdienstes vernommen hat, verlasse man alles, was man in Händen hat, und beeile sich herbeizu-kommen, jedoch mit Würde, damit man keinen Anlass zu Leichtfertigkeit gebe. Nichts soll also dem Gottesdienste vorgezogen werden ... Wir glauben, dass Gott überall gegenwärtig ist und dass die Augen des Herrn an jedem Ort auf Gute und Böse schauen. Ganz besonders aber sollen wir dann fest davon überzeugt sein, wenn wir beim Gottesdienst stehen ... Denken wir also daran, wie wir uns in der Gegenwart Gottes und seiner Engel benehmen sollen, und stehen wir so beim Chorgebet, dass unser Geist im Einklang sei mit unserer Stimme.“

11 Josef Andreas Jungmann, Christliches Beten in Wandel und Gestalt, 64-65.74:

„Eine neue Art des Betens wird sichtbar, die bisher ... nirgends so deutlich hervorgetreten ist. Es wird auch über das Offizium hinaus das mündliche, das geformte Gebet betont, was die Forderung der Andacht nicht ausschloß. Aber dieses mündliche Gebet sucht nicht mehr so sehr das von der Welt losgelöste einsame Ruhen in Gott, es wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Leistung, ja der Ableistung eines Pensums gesehen, das man schuldig ist oder das man freiwillig übernehmen wollte ... Wenn das Geheimnis der Erlösung berührt wird und dem heiligen Kreuz eine beherrschende Rolle zugeteilt ist, so sind diese Geheim-nisse nicht so sehr Gegenstand der Betrachtung als vielmehr schützende Mächte. Die Bot-schaft des Evangeliums wird weitergesagt, aber sie hat nicht eigentlich das Herz erfüllt. Auffällig ist darin auch die Verschiebung des Akzents auf die Gottheit in Christus und auf die heiligste Dreifaltigkeit; es sind theologische Formulierungen aus der Zeit der christologischen Kämpfe, die weitergegeben werden. Von der heiligen Lesung ist kaum die Rede. Man sucht Schutz vor Gefahren, die von allen Seiten auf Leib und Seele eindringen. Zu den allgemeinen christlichen Antrieben zum Gebet kommt als übermächtige Triebkraft eine Dämonenfurcht, die wohl aus einem nie ganz überwundenen Heidentum ererbt ist, und dazu ein Sündenbewußtsein, das sich der siegreichen Erlösung durch Christus nie ganz bewußt gewor-den ist. Es durchdringt fast alle Gebete ... Wenn so die erlösende Mittlerschaft Christi nicht mehr das Glaubensbewußtsein prägte und der Mensch den ungeheuren Abstand von Gott nun ungemildert auf sich lasten sah, mußte das Bewußtsein der eigenen Armseligkeit und Sündigkeit übermächtig werden. Es kann nicht zufällig sein, daß auf der Synode von Tours (813) von den Gläubigen zum erstenmal ausdrücklich eine neue Körperhaltung, nämlich das Knien, als Grundhaltung verlangt wird, `damit wir so für uns Gottes Gnade und die Vergebung unserer Sünden erbitten`. Die weitere Folge war, daß man nach neuen Hilfen

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ausschaute und daß nun sekundäre Mittlerschaften um so stärker in den Vordergrund traten: Maria, die Engel, die Heiligen, die Reliquien.“

12 Bernhard von Clairvaux (1090-1153)

(a) Hoheliedpredigt 15,6: „Jesus ist nicht nur Licht, er ist auch Nahrung. Spürst du nicht, sooft du seiner gedenkst, wie du stark wirst? Wie dein Geist sich weitet? Wie Jesus deine Sinne erneuert, deine Tugenden festigt, deine guten und ehrenwerten Gewohnheiten belebt, deine reinen Gedanken fördert? Trocken bleibt alle Speise der Seele, wenn sie nicht in dieses Öl getaucht wird; schal, wenn ihr nicht dieses Salz beigegeben wird ... Wenn du etwas schreibst, dann gefällt mir das nur, wenn ich dabei von Jesus lese. Wenn du disputierst und argumentierst, dann habe ich nur Freude, wenn dabei Jesus ertönt. Denn Jesus ist wie Honig im Munde, wie eine Melodie im Ohr, wie ein Jubel im Herzen.“ (b) Hoheliedpredigt 43,4: „Darüber betrachten, nannte ich Weisheit ... Darum habe ich dies gar oft im Munde, wie ihr wißt; habe es allezeit im Herzen, wie Gott weiß; gar vertraut ist es meiner Feder, wie jeder weiß. Das ist meine höchste, innere Philosophie: Jesus kennen, und zwar als den Gekreuzigten.“

„Sitz im Leben“ Ziel Weg

Monastische Theologie

Kloster

[Distanz zur Welt]

affectus

(„Hinneigung zu Gott“)

sapientia

(„Geschmack an Gott“)

liebendes Streben

Scholastische

Theologie

Domschule Universität

[„in“ der Welt]

System

klarer Begriffe

spekulativ-

abstraktes, logisches Denken

(c) Hoheliedpredigt 61,4: „Ich aber eigne mir aus dem Herzen des Herrn getrost alles an, was mir persönlich fehlt. Aus dem Herzen, das von Barmherzigkeit überquillt, und das auch Öff-nungen hat, woraus sie hervorquillt. Sie haben seine Hände und Füße durchbohrt, haben seine Seite mit einer Lanze durchstochen ... Der durchbohrende Nagel ist mir zum öffnenden Schlüssel geworden, die Absichten des Herrn zu durchschauen. Warum sollte ich nicht durch diese Öffnung schauen? Laut ruft es der Nagel, laut ruft es die Wunde, daß tatsächlich Gott sich in Christus die Welt versöhnt hat. `Kaltes Eisen durchbohrte seine Seele` und `brachte sein Herz dem unseren näher`, sodaß er nun Mitleid zu haben weiß mit meinen Schwächen. Die Schleier seines Herzens sind durch die Wunden seines Leibes gelüftet. Offen liegt das große Geheimnis seiner Liebe. Offenbar ist das tiefinnerste `Erbarmen unseres Gottes,

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womit uns der Aufgang aus der Höhe heimgesucht hat`. Trat durch die Wunden nicht sein Innerstes zutage?“

13 Zisterzienser des 12.Jahrhunderts

(a) Gilbert von Hoyland (+ 1172): „Andere haben andere Aufgaben: euer besonderer Auftrag ist die Liebe.“

(b) Bernhard von Clairvaux, 1. Hoheliedpredigt: „Ein solches Lied kann nur der Geist der Liebe lehren, es läßt sich nur in der Erfahrung lernen. Wer es erfahren hat, erkennt es wieder, und wer noch nicht, soll glühen in der Sehnsucht, nicht: mehr von ihm zu wissen, sondern: an der Erfahrung teilzuhaben. Dies Lied klingt nicht im Ohr: es jubelt auf im Herzen. Es tönt nicht von den Lippen, sondern erregt in tiefer Freude. Nicht Stimmen schwingen da in eins, sondern die Strebungen der Herzen. Es ist nicht draußen zu vernehmen, es schallt nicht offen auf dem Markt. Nur die es singt, vernimmt den Klang und der, dem sie es singt: die Braut und ihr geliebter Bräutigam.“

(c) Johannes von Ford (+ 1214): „Geistliche Tröstungen, einmal erfahren, führen in Unruhe. Im Augenblick mögen sie befrieden, aber auf längere Sicht bewirken sie Schmerz. Wer sich einmal an Küssen erfreut hat, sucht sie voll Sehnsucht wieder, und je reicher der Oberschwang des Bräutigams die Wünsche der Braut in der Vergangenheit erfüllt hat, desto bitterer wird ihr das Leid, ihn entbehren zu müssen. Sie sucht den Geliebten und findet ihn nicht; sie ruft nach ihm, und er gibt keine Antwort.“

(d) Guerric von Igny (+ 1157): „Ihr alle seid Mütter des Kindes, das uns geschenkt ist. Wache also, heilige Mutter, hüte sorgfältig dein Kind, bis Christus ganz in dir Gestalt annimmt, der dir geboren ist.“

(e) Johannes von Ford (+ 1214): „Hier auf Erden sind alle Schmerzen Geburtsschmerzen, bis die Liebe Christi in voller Gestalt zur Welt kommt. Bis es so weit ist, leidet jeder, der eine Braut des Herrn und eine Mutter Jesu ist, mit jedem mit, der leidet, nimmt Anteil an den Geburtsschmerzen des andern und hilft mit zur Geburt. Wenn die Geburt schließlich gelungen ist, freut er sich in unsäglicher Freude mit, denn dann `ist ein Mensch zur Welt gekommen` (Joh 16,21), und ihm kommt vor, als sei er für ihn selbst geboren worden, und er sagt: `Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt` (Jes 9,6).“

(f) Isaak von Stella (+ ca.1180): „Was wir an der Jungfrau-Mutter Maria besonders ablesen, gilt ganz allgemein von der Jungfrau-Mutter Kirche und gilt für jede einzelne Seele der Gläubigen.“

14 Heinrich Seuse (1295-1366)

„In denselben Zeiten ward ein unmäßiges Feuer in seine Seele gesendet, das sein Herz in göttlicher Minne gar inbrünstig machte. Eines Tages, als er es in sich empfand und gar sehr in göttlicher Minne aufwallte, da ging er in seine Zelle an sein heimliches Plätzchen und kam in eine minnigliche Betrachtung und sprach also: ‚Ach, zarter Gott, könnte ich doch irgendein Minnezeichen erdenken, das ein ewiges Minnezeichen wäre zwischen mir und dir, eine Urkunde, dass ich dein und du meines Herzens ewige Minne bist, ein Zeichen, das kein Vergessen je zu tilgen vermöchte.’

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In diesem inbrünstigen Ernst warf er vorne sein Skapulier auf und öffnete seinen Busen und nahm einen Griffel in die Hand und sah sein Herz an und sprach: ‚Ach, gewaltiger Gott, nun gib mir heute Kraft und Macht mein Begehren zu vollbringen; denn du musst heute in den Grund meines Herzens geschmelzt werden.’ Und er fing an und stach da mit dem Griffel in das Fleisch in der Richtung über dem Herzen und stach also hin und her und auf und ab, bis er den Namen JHS [Jesus] genau auf sein Herz gezeichnet hatte. Von den scharfen Stichen quoll das Blut stark aus dem Fleische und rann über den Leib herab in den Busen. Das war ihm bei der feurigen Minne also minniglich anzusehen, dass er des Schmerzes nicht viel achtete … Er trug den Namen also auf seinem Herzen bis an seinen Tod, und so oft sich das Herz bewegte, so oft wurde der Name bewegt.“ (Heinrich Seuse, Biographie) 15 Franz von Assisi (1181-1226)

(a) Testament Nr.1: „So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben in Buße zu beginnen: denn, da ich in Sünden war, erschien es mir unerträglich bitter, Aussätzige anzublicken. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und während ich fortging von ihnen, wurde mir gerade das, was mir bitter schien, in Süßigkeit des Geistes und des Leibes verwandelt. Und danach verweilte ich nur kurze Zeit und verließ die Welt.“

(b) Das Vermächtnis für die Schwestern der hl. Klara: „Ich ... will dem Leben und der Armut unseres höchsten Herrn Jesus Christus und Seiner heiligsten Mutter nachfolgen.“

(c) Aus der Drei-Gefährten-Legende: „Herr, wollten wir etwas besitzen, so müßten wir auch Waffen zu unserer Verteidigung haben. Daher kommen ja die Streitereien und Kämpfe, die so mannigfach die Liebe Gottes und der Mitmenschen hindern. Darum wollen wir nichts Zeitliches in der Welt besitzen.“

(d) Aus der Drei-Gefährten-Legende: „Von der Stunde an war sein Herz ganz wund und weich beim Gedanken an das Leiden des Herrn. Stets trug er von da an die `Male des Herrn` in seinem Herzen, wie es später zutage treten sollte, da er dieselben Male auf wunderbare Weise `am Leib` empfing, so daß sie äußerlich sichtbar wurden.“

(e) Testament Nr.4: „nach der Form des hl. Evangeliums leben“

(f) Schreiben an Bruder Leo: „Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Gott, dem Herrn, zu gefallen und Seinen Fußspuren und Seiner Armut nachzufolgen, so tut es mit dem Segen Gottes, des Herrn, und im Gehorsam gegen mich. Und wenn es dir notwendig ist, um deiner Seele oder deines sonstigen Trostes willen zu mir zu kommen, und wenn du willst, Leo, dann komm.“

(g) Worte heiliger Mahnung an alle Brüder: „die Menschen in Fröhlichkeit und Freude zur Liebe Gottes hinführen“

(h) Thomas von Celano, Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi (II) Kap. 163: „Darauf benützte er die wenigen Tage, die bis zu seinem Heimgang noch übrig waren, zum Lobe Gottes und forderte seine geliebten Gefährten auf, mit ihm Christus zu loben ... Er lud

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auch alle Geschöpfe zum Lobpreis Gottes ein und durch Worte, die er einstens gedichtet, forderte er sie auf zur Liebe Gottes. Ja, sogar den Tod persönlich, allen schrecklich und verhaßt, forderte er auf zum Lobpreis. Fröhlich ging er ihm entgegen und lud ihn ein zu Gast: Sei willkommen, mein Bruder Tod!“

16 H.Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, 320.321:

„Das Beginentum ist also nicht eine absichtlich und planvoll geschaffene Sonderform des religiösen Lebens, sondern das Ergebnis der religiösen Frauenbewegung, soweit sie nicht Aufnahme fand in den neuen Orden ... Infolgedessen bildete das Beginentum eine seltsame Zwischenform zwischen den kirchlichen Ordnungen dieser Zeit, nicht eigentlich zu dem Mönchsstand ... gehörend, da es kein approbierter Orden war, aber auch nicht zu dem Laienstand ..., da die Beginen [die Welt] verließen, Keuschheit gelobten und in Gemein-schaften ... [ein religiöses Leben] führten, [das] ... als zu Recht bestehend anerkannt wurde, auch durch besondere Hausregeln der einzelnen Gemeinschaften organisiert war, deren Be-folgung alle Mitglieder geloben mußten.“

17 Mechthild von Magdeburg (1208-1282)

(a) „Gott hat an allen Dingen genug, nur allein die Berührung der Seelen wird ihm nie genug.“ (Das fließende Licht der Gottheit IV 12)

(b) „Du bist mein überaus sanftes Lagerkissen, mein schönstes Minnebett, meine heimlichste Ruhe, meine tiefste Sehnsucht, meine höchste Herrlichkeit. Du bist eine Lust meiner Gottheit, ein Trost meiner Menschheit, ein Bach meiner Hitze.“ (I 19)

(c) „O Du gießender Gott in Deiner Gabe! - O Du fließender Gott in Deiner Minne! - O Du brennender Gott in Deiner Sehnsucht! - O Du verschmelzender Gott in der Einung mit Deinem Lieb! - O Du ruhender Gott an meinen Brüsten! - Ohne Dich kann ich nicht mehr sein.“ (I 17)

(d) „Das ist ein seltsamer Weg und ein edler Weg und ein heiliger Weg, den Gott selber ging: daß ein Mensch Pein leidet ohne Sünde und Schuld.“ (I 25)

18 Thomas von Kempen, Nachfolge Christi:

(a) 1. Buch I 2: „Unser erstes Bestreben sei es, uns in das Leben Jesu zu versenken.“

(b) 2. Buch I 1: „`Das Reich Gottes ist in euch`, spricht der Herr (Lk 17,21). Kehr dich von ganzem Herzen zum Herrn, und laß von dieser jämmerlichen Welt, und deine Seele wird Ruhe finden. Lern das Äußerliche verschmähen und dich dem Innerlichen hingeben, und du wirst das Reich Gottes in dich kommen sehen. Denn das Reich Gottes ist `Friede und Freude im Heiligen Geist` (Röm 14,17), welches den Gottlosen nicht gegeben wird. Christus wird zu dir kommen und dir seinen Trost weisen, wenn du ihm drinnen eine würdige Wohnung be-reitest. All seine Herrlichkeit und Anmut thront im Inneren, und dort behagt es ihm. Oft sucht er den innerlichen Menschen heim mit freundlichem Gespräch, danksamen Trost, vielem Frieden und wundersamster Vertraulichkeit.“

(c) 2. Buch V 4: „Ein innerlicher Mensch hat keine wichtigere Sorge als die um sich selbst. Und wer sich selbst mit Sorgfalt beobachtet, schweigt gern von anderen. Nie wirst du

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innerlich und andächtig sein, du schweigest denn von anderen und achtest sonderlich auf dich selbst. Wenn du ganz dich und Gott meinst, wird es dich wenig bewegen, was du draußen wahrnimmst. Wo bist du, wenn du dir selbst nicht gegenwärtig bist? Und wann du alles durchlaufen, dich aber vernachlässigt hast, was hast du geschafft? Sollst du Frieden und wahre Einheit mit dir haben, so mußt du das Ganze hintansetzen und dich allein vor Augen haben.“

(d) 1. Buch I 5: „Ich will lieber Reue fühlen als ihre Definition wissen.“

(e) 2. Buch I 10: „Wärest du nur einmal vollkommen zu Jesu Innerlichkeit eingegangen und hättest ein wenig von seiner heißen Liebe geschmeckt, dann kümmertest du dich nicht um eigenes Gemach oder Ungemach, sondern freutest dich sogar über die zugefügte Schmach, weil die Liebe Jesu den Menschen sich selber verschmähen lässt.“

(f) 2. Buch XII 6: „Niemand fühlt so herzlich das Leiden Christi, wie der, dem Ähnliches zu leiden zufiel.“

19 Ignatius von Loyola (1491-1556)

(a) Geistliche Übungen Nr. 23 Prinzip und Fundament (neuere Übersetzung): „Ziel unseres Lebens ist, für immer mit Gott zu leben. Gott gab uns Leben, weil er uns liebt. Unsere eigene Antwort der Liebe ermöglicht es, daß Gottes Leben grenzenlos in uns hineinströmt. Alle Dinge dieser Welt sind Geschenke Gottes, uns angeboten, damit wir ihn leichter erkennen und uns ihm bereitwilliger liebend zurückgeben. Daraus folgt, daß wir alle diese Geschenke Gottes soweit schätzen und benutzen, als sie uns helfen, uns zu liebenden Menschen zu entwickeln. Aber wenn eine dieser Gaben Mittelpunkt unseres Lebens wird, ersetzt sie Gott und hindert unser Wachsen auf das Ziel hin. So müssen wir uns also im Alltagsleben ange-sichts all dieser geschaffenen Gaben im Gleichgewicht halten, insofern wir noch frei wählen können und nicht durch Verpflichtung gebunden sind. Wir sollen unser Verlangen nicht auf Gesundheit oder Krankheit fixieren, nicht auf Wohlstand oder Armut, Erfolg oder Versagen, ein langes oder kurzes Leben. Denn alles hat in sich die Möglichkeit, in uns eine tiefere Antwort hervorzulocken für unser Leben in Gott. Unser einziges Verlangen und einzige Wahl soll sein: Ich möchte und wähle, was eher dahin führt, daß Gott sein Leben in mir vertiefen kann:“

(b) Bericht des Pilgers Nr. 96: „Als er eines Tages einige Meilen vor der Ankunft in Rom in einer Kirche weilte und dort betete, hat er eine solche Umwandlung in seiner Seele verspürt und so deutlich eine Schau gehabt, wie Gott der Vater ihn Christus Seinem Sohn zugesellte, daß er daran überhaupt nicht mehr zu zweifeln wagen konnte, Gott der Vater habe ihn Seinem Sohne zugesellt.“

(c) Geistliches Tagebuch 173: „Zu diesen Zeiten war in mir eine so große Liebe zu Jesus, und ich verspürte oder schaute ihn so sehr, daß mir schien, in Zukunft kann überhaupt nichts mehr kommen, was mich von ihm trennen oder über die Gnaden und die Bestätigung, die ich empfangen hatte, unsicher machen könnte.“

(d) Brief 1854: [Die Studenten] „können sich deshalb darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, dass seine göttliche Majestät

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durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen ist. Und diese Weise zu meditieren, indem man Gott unseren Herrn in allen Dingen findet, ist leichter, als wenn wir uns zu den abstrakteren göttlichen Dingen erheben und uns ihnen mühsam gegenwärtig machen. Und diese gute Übung wird, indem sie uns bereitmacht, große Heimsuchungen des Herrn bewirken, auch wenn es in einem kurzen Gebet ist. Und darüber hinaus kann man sich darin üben, Gott unseren Herrn vielmals seine Studien und deren Mühen darzubringen, indem man darauf sieht, dass wir sie aus Liebe zu ihm annehmen und unseren Gefallen zurückstellen, damit wir seiner Majestät in etwas dienen, indem wir denen helfen, für deren Leben er gestorben ist.“

(f) Brief Nr. 1848: „Bezüglich des Gebets und der Meditation sehe ich, wenn ... keine besondere Notwendigkeit wegen ... Versuchungen besteht, daß es mehr billigt, in allen Dingen, die man tut, Gott zu finden zu suchen, als dem Gebet viel zusammenhängende Zeit zu widmen. Und diesen Geist wünscht er [Ignatius] bei den Mitgliedern der Gesellschaft zu sehen: daß sie - wenn es möglich ist - nicht weniger Andacht bei welchem Werk auch immer der Liebe und des Gehorsams finden als im Gebet oder in der Meditation. Denn sie sollen keine Sache tun außer um der Liebe und des Dienstes für Gott unseren Herrn willen.“

(g) Jeronimo Nadal († 1580): „daß er [Ignatius] in allen Dingen, Handlungen und Gesprächen Gottes Gegenwart wahrnahm mit einem feinen Sinn für das Geistliche, ja diese Gegenwart schaute und so contemplativus in actione [in allem Tun gottvereint] war. Er pflegte dies in das Wort zu kleiden: Wir sollen in allen Dingen Gott finden.“ (In examen annotationes, in: MHSI Epp. Nadal IV, 651)

20 Teresa von Avila (1515-1582)

„Reden wir denn davon, wie der Bräutigam sich zu der Seele verhält und wie er, bevor er sich ihr ganz zu eigen gibt, eine große Sehnsucht danach in ihr erweckt, auf so zarte Weise, dass die Seele es selber nicht versteht und ich nicht glaube, es so ausdrücken zu können, dass es jemand begreift, der es nicht erlebt hat … Oftmals, wenn der Betreffende sich dessen gar nicht versieht und sich überhaupt nicht an Gott erinnert, erweckt ihn Seine Majestät wie durch den rasch vorüberhuschenden Lichtschweif eines Meteors oder einen Donnerschlag, obwohl kein Schall zu hören ist. Doch die Seele erfasst genau, dass Gott sie gerufen hat … Sie fühlt sich verwundet auf höchst wohltuende Weise, doch sie errät nicht, wie und durch was sie verwundet worden ist. Doch sie erkennt genau, dass dies etwas sehr Kostbares ist, und niemals wollte sie von jener Wunde geheilt werden.“ (Die innere Burg, 6. Wohnung, Kap.2,2)

21 Abbé Fénelon (1651-1715)

(a) Brief an Mme. Guyon [Stufen zur Vereinigung mit Gott, 6. Stufe]: „Die Seele weiß sich vernichtet und umgewandelt, nachdem sie ihre Auferstehung vollendet und das göttliche Leben an Stelle des Eigenlebens empfangen hat. Vernichtet ist sie, weil ihr nichts mehr von ihrem Eigenwillen bleibt, und zwar weder um zu handeln noch erst recht, um zu leiden. Das Leben und der Wille Gottes stehen an der Stelle ihres eigenen Lebens und Wollens.“

(b) „Im Zustand der heiligen Indifferenz wollen wir nichts für uns, sondern alles für Gott. Wir wollen nicht, dass wir vollkommen oder glücklich sind im eigenen Interesse, sondern wollen

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jede Vollkommenheit und alles Glück nur, insoweit Gott mit Wohlgefallen bewirkt, dass wir dies im Antrieb seiner Gnade wollen.“

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22 Charles de Foucauld (1859-1916)

„Eines Tages werde ich meinen Aposteln sagen: Verkündet das Wort Gottes … Hier sage ich zu all jenen, die mich besitzen und die verborgen leben, die mich besitzen, aber keine Sendung zu predigen haben; ihnen sage ich, die Seelen zu heiligen, indem sie mich in Stille in sich zu den stillen Seelen mit verborgenem Leben tragen, die in der Einsamkeit fern in der Welt leben. Hier gebe ich ihre Sendung und ihre Regel. Ich sage ihnen: Arbeitet alle, alle, an der Heiligung der Welt, arbeitet daran wie meine Mutter: ohne Worte, im Stillen, erbaut eure frommen Zufluchtsorte inmitten derer, die mich nicht kennen. Tragt mich zu ihnen, errichtet dort einen Altar, einen Tabernakel, und bringt das Evangelium, nicht indem ihr es mit dem Mund predigt, sondern mit dem Beispiel, nicht indem ihr es verkündet, sondern lebt: Heiligt die Welt, tragt mich in die Welt … so wie mich Maria zu Johannes gebracht hat.“ (Einkehrtage in Efraim 1898)

23 Thérèse von Lisieux (1873-1897)

(a) „Ich erfreute mich damals eines so lebendigen, so klaren Glaubens, dass der Gedanke an den Himmel mein ganzes Glück ausmachte, ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Gottlose gäbe, die keinen Glauben haben. Ich meinte, sie sprächen gegen ihre bessere Erkenntnis, wenn sie die Existenz des Himmels leugneten … In den so fröhlichen Tagen der Osterzeit ließ Jesus mich fühlen, dass es tatsächlich Seelen gibt, die den Glauben nicht haben, die durch den Missbrauch der Gnaden diesen kostbaren Schatz verlieren … Er ließ zu, dass dichteste Finsternisse in meine Seele eindrangen und der mir so süße Gedanke an den Himmel bloß noch ein Anlaß zu Kampf und Qual war … Diese Prüfung sollte nicht nur ein paar Tage, ein paar Wochen dauern, sie sollte erst zu der vom Lieben Gott bestimmten Stunde erlöschen und … diese Stunde ist noch nicht gekommen ... Man muß durch diesen dunklen Tunnel gewandert sein, um zu wissen, wie finster er ist.“ (Selbstbiographische Schriften 219)

(b) „Ich eile zu meinem Jesus und sage Ihm, ich sei bereit, bis zum letzten Blutstropfen dafür Zeugnis abzulegen, dass es einen Himmel gibt. Ich sage Ihm, ich sei froh, diesen schönen Himmel nicht auf Erden zu genießen, damit Er ihn den armen Ungläubigen für die Ewigkeit erschließe … Selbst wenn du, was ja unmöglich ist, von meinem Leiden nichts wüsstest, so wäre ich auch dann noch glücklich zu leiden, wenn ich dadurch ein einziges Vergehen gegen den Glauben verhindern oder wiedergutmachen könnte.“ (Ebd. 222)

24 Léon Bloy (1846-1917)

(a) Gott „ist fern von den Städten, den Landgemeinden, den Bergen und Tälern. Er ist nicht in den Gesetzen, den Wissenschaften, den Künsten, der Politik, der Erziehung und den Sitten aufzufinden. Er ist selbst im religiösen Leben abwesend, in dem Sinne, dass die, die noch Seine intimsten Freunde sein sollten, keine Sehnsucht nach Seiner Gegenwart empfinden. – Gott ist so abwesend, wie Er es nie war. Das allgemein bekannte Psalmenwort unter den Hebräern, das Beben und Zittern hervorrief, das ‚ne dicant gentes, ubi est Deus eorum?/Damit die Völker nicht sagen: Wo ist ihr Gott?’ [Ps 79,10] ist in seiner ganzen Fülle Wirklichkeit geworden. Es waren nicht weniger als neunzehn christliche Jahrhunderte dazu nötig.“ (Stimme, die in der Wüste ruft 98-99)

(b) „Ich bringe es nicht fertig, Freude über die Auferstehung zu empfinden, weil die Auferstehung für mich nie zustande kommt. Immer sehe ich nur Jesus mit dem Tode

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ringend, Jesus am Kreuz, und ich kann ihn nicht anders sehen.“ (Der beständige Zeuge Gottes 45)

(d) „Sie ist der Zusammenklang aller Seelen seit Erschaffung der Welt, und dieser Zusammenklang ist so wunderbar zwingend, dass es unmöglich ist, sich ihm zu entziehen. Die unbegreifliche Ausschließung einer einzigen Stimme wäre eine Gefahr für die ewige Harmonie. Man musste das Wort ‚Reversibilität’ erfinden, um so gut wie möglich einen Begriff von dem ungeheuren Mysterium des gegenseitigen Aufeinanderbezogenseins zu geben … Alles, was wir in Ehrfurcht und Anbetung erahnen können, ist das beständige Wunder eines unfehlbaren Gleichgewichtes zwischen den Verdiensten und den Verschuldungen der Menschen, derart, dass die geistig Mittellosen von den im Geiste Reichen ausgeglichen und die Furchtsamen ergänzt werden durch die Kühnen.“ (Ebd. 376)

25 Heinrich Schlier

„In seinem Geist … erschließt Gott sich selbst, der Geist ist die Kraft der Selbsterschließung Gottes … Gottes Geist ist primär, das heißt in seinem Ursprung, Gott selbst in der Kraft seiner lichtenden und lebenschaffenden Selbsterschließung … Der heilige Geist – der Geist Christi, der Geist Gottes – eröffnet in der Tat für unsere konkrete Existenz eine andere Dimension als die bisherige, nämlich die, in die er uns als die Macht des sich in ihm erschließenden Jesus Christus versetzt hat, eben in die Dimension Jesu Christi; er öffnet uns diesen Lebensraum und diese Lebensweise, indem er unser in sich verschlossenes Dasein zu einem offenen macht, offen zu Gott und zum anderen Menschen hin und so offen im eigenen Leben, und indem er uns gegen alle ständigen Verschließungen dieses Lebens offenhält in Glaube, Hoffnung, Liebe, Erkenntnis, Gebet u.a.m. In ihm, der in solcher Weise die Offenheit Gottes in Jesus Christus für uns in uns eröffnet, wirkt sich also tatsächlich die lebenlichtende Kraft aus.“ (H. Schlier, Grundzüge einer paulinischen Theologie, Freiburg i.B. 1978, 179-180.191)

26 Bernd Jochen Hilberath

„Der Heilige Geist schenkt das in Christus vom Vater her offenbar gewordene neue Leben. Er befähigt die Menschen dazu, die ererbten und erworbenen selbstsüchtigen Verhaltensweisen zu überwinden und eine Gemeinschaft des wahren Lebens und der wahren Freiheit aufzubauen. Die Kirche, welche dem Geist als Werkzeug seines heiligenden-heilenden Wirkens dient, ist bleibend gekennzeichnet von der Spannung zwischen dem Sichbinden des Geistes und seinem freien, unverfügbaren Wirken. Kirche lebt nicht aus sich selbst, sondern aus dem lebendig machenden Geist Gottes, und Kirche lebt nicht für sich selbst, sondern verwirklicht sich im Dasein für andere. Als Sakrament des Geistes für die Welt geht sie selbst erst der Vollendung entgegen, der vom Geist bewirkten Gemeinschaft aller Menschen in der Gemeinschaft des dreieinigen Gottes“ (B. J. Hilberath, Pneumatologie, in: Handbuch der Dogmatik I. Hg. v. T. Schneider, Düsseldorf 2000, 551).

27 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes 22:

„(Christus, der neue Mensch): Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den

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Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung … Der ‚das Bild des unsichtbaren Gottes‘ (Kol 1,15) ist, er ist zugleich der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet war. Da in ihm die menschliche Natur angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden. Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit einem menschlichen Willen hat er gehandelt, mit einem menschlichen Herzen geliebt … Als unschuldiges Opferlamm hat er freiwillig sein Blut vergossen und uns Leben erworben. In ihm hat Gott uns mit sich und untereinander versöhnt und der Knechtschaft des Teufels und der Sünde entrissen. So kann jeder von uns mit dem Apostel sagen: Der Sohn Gottes ‚hat mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben‘ (Gal 2,20). Durch sein Leiden für uns hat uns nicht nur das Beispiel gegeben, dass wir seinen Spuren folgen, sondern er hat uns auch den Weg gebahnt, dem wir folgen müssen, damit Leben und Tod geheiligt werden und neue Bedeutung erhalten. Der christliche Mensch empfängt, gleichförmig geworden dem Bild des Sohnes … ‚die Erstlingsgaben des Geistes‘ (Röm 8,23), durch die er fähig wird, das neue Gesetz der Liebe zu erfüllen. Durch diesen Geist, der das ‚Unterpfand der Erbschaft‘ (Eph 1,14) ist, wird der ganze Mensch innerlich erneuert bis zur ‚Erlösung des Leibes‘ (Röm 8,23): ‚Wenn der Geist dessen, der Jesus von den Toten erweckt hat, in euch wohnt, wird er, der Jesus Christus von den Toten erweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen des in euch wohnenden Geistes‘ (Röm 8,11). Auch auf dem Christen liegen ganz gewiß die Notwendigkeit und auch Pflicht, gegen das Böse durch viele Anfechtungen hindurch anzukämpfen und auch den Tod zu ertragen; aber dem österlichen Geheimnis verbunden und dem Tod Christi gleichgestaltet, geht er, durch Hoffnung gestärkt, der Auferstehung entgegen. Das gilt nicht nur für die Christgläubigen, sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein. Solcher Art und so groß ist das Geheimnis des Menschen, das durch die christliche Offenbarung den Glaubenden aufleuchtet. Durch Christus und in Christus also wird das Rätsel von Schmerz und Tod hell, das außerhalb seines Evangeliums uns überwältigt. Christus ist auferstanden, hat durch seinen Tod den Tod vernichtet und uns das Leben geschenkt, auf dass wir, Söhne im Sohn, im Geist rufen, Abba, Vater!“

28 II. Vatik. Konzil, Lumen Gentium (Dogmatische Konstitution über die Kirche)

Nr. 39: [Die Kirche ist heilig durch die Hingabe des Sohnes] „Daher sind in der Kirche alle ... zur Heiligkeit berufen ... Sie drückt sich vielgestaltig in den Einzelnen aus, die in ihrer Lebensgestaltung zur Vollkommenheit der Liebe in der Erbauung anderer streben. In eigener Weise erscheint sie in der Übung der sogenannten Evangelischen Räte.“

Nr. 40: [Jesus predigte allen die Heiligkeit] Die an Christus Glaubenden „sind von Gott nicht kraft ihrer Werke, sondern aufgrund seines gnädigen Ratschlusses berufen und in Jesus dem Herrn gerechtfertigt, in der Taufe des Glaubens wahrhaft Kinder Gottes und der göttlichen

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Natur teilhaftig und so wirklich heilig geworden. Sie müssen daher die Heiligung, die sie empfangen haben, mit Gottes Gnade im Leben bewahren und zur vollen Entfaltung bringen ... Jedem ist also klar, dass alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen sind.“

Nr. 41: „In den verschiedenen Verhältnissen und Aufgaben des Lebens wird die eine Heiligkeit von allen entfaltet ... Alle Christgläubigen also werden in ihrer Lebenslage, ihren Pflichten und Verhältnissen und durch dies alles von Tag zu Tag mehr geheiligt, wenn sie alles aus der Hand des himmlischen Vaters im Glauben entgegennehmen und mit Gottes Willen zusammenwirken und so die Liebe, mit der Gott die Welt geliebt hat, im zeitlichen Dienst selbst allen kundmachen.“

29 Heinrich Schlier

„Alle drei gemeinsam, Glaube, Hoffnung und Liebe … sagen dem Apostel grundlegend, in welcher Weise sich das Leben vollzieht, das von dem Ereignis Jesu Christi angerufen und bestimmt wird. In allen dreien gemeinsam vollzieht sich christliche Existenz … Keine der drei Weisen des christlichen Daseins allein genügt ihm, sie zu charakterisieren … Diese Dreiheit ist für Paulus eine Einheit; selbst das Verb ‚bleiben’ steht im Singular … Blickt man auf die Ausrichtung des christlichen Daseins, so liegt das Gewicht auf der Hoffnung. Sieht man auf die Substanz ihrer Seinsweise, so muß man die Liebe zuletzt nennen. Aber blickt man auf die Wurzel des christlichen Lebens, so ist es immer der Glaube ... Sie transzendieren alle Zeit und reichen hinüber in die Ewigkeit: der Glaube im Schauen, die Hoffnung in der erfüllten Erfahrung, die Liebe – in der Liebe. In Glaube, Hoffnung, Liebe ist das menschliche Dasein in seiner Substanz geborgen.“ (H. Schlier, Nun aber bleiben diese Drei. Grundriß des christlichen Lebensvollzugs, Einsiedeln 21972, 9.11.12.15) 30 Dorothee Sölle

„Mystik und Transformation stehen … in einem nicht auflösbaren inneren Zusammenhang. Ohne wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit, kurz ‚ecojustice’ genannt, oder Gottes besondere Vorliebe für die Armen und für diesen Planeten – scheint mir die Gottesliebe und die Sehnsucht nach dem Einswerden eine atomistische Illusion. Der im privaten Erlebnis angeeignete Seelenfunke kann zwar die Suche nach Gnosis im weiten Sinn des Wortes bedienen, aber auch nicht mehr. Die wirkliche mystische Reise hat ein größeres Ziel als das, uns ‚positiv denken’ zu lehren und sowohl unsere Kritik- wie unsere Leidensfähigkeit einzuschläfern.“ (D. Sölle, Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München 1999, 123-124)

31 Lectio divina I

Hieronymus († 419): „Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen“

Origenes († 254): „Ihr, die ihr den heiligen Geheimnissen beiwohnen durftet, wisst es: Wenn man euch den Leib des Herrn reicht, so hütet ihr ihn mit aller Sorgfalt und Verehrung, damit kein Krümchen auf die Erde falle. Wenn ihr aber so große Sorgfalt anwendet, seinen Leib zu bewahren – und ihr tut es mit Recht –, wie könnt ihr dann glauben, es sei eine geringere Schuld, das Wort Gottes zu vernachlässigen als seinen Leib?“ - [Geistliche Lesung =] das „gebrochene Wort auf geheimnisvolle Weise empfangen.“

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Hieronymus: „Wir essen das Fleisch und trinken das Blut Christi im Geheimnis der Eucharistie, aber auch in der Lesung der Heiligen Schriften.“

Ambrosius († 397): „Warum sich nicht an Christus wenden, mit Christus sprechen, auf Christus hören? Zu ihm sprichst du, wenn du betest, ihn hörst du, wenn du die Heilige Schrift liest.“

Augustinus († 430): „Es gibt keine Stelle in der Heiligen Schrift, die nicht von Christus spricht.“

Gregor der Große († 604): „Entdecke das Herz Gottes im Wort Gottes.“

II. Vaticanum, Dei Verbum 21: „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht.“

II. Vaticanum, Dei Verbum 25: „Alle ..., die sich dem Dienst des Wortes widmen, müssen in beständiger heiliger Lesung und gründlichem Studium sich mit der Schrift befassen ... Sie sollen gern an den heiligen Text selbst herantreten, einmal in der mit göttlichen Worten gesättigten Liturgie, dann in frommer Lesung oder auch durch geeignete Institutionen und andere Hilfsmittel ... Sie sollen daran denken, daß Gebet die Lesung der Heiligen Schrift begleiten muß, damit sie zu einem Gespräch werde zwischen Gott und Mensch.“

32 Lectio divina II: Frühchristliche Psalmenexegese – Die Psalmen als Buch von Christus

Die Kirchenväter nehmen die gesamte Bibel (AT und NT) als Einheit wahr. Zu den Prinzipien der patristischen Schriftauslegung gehört eine konsequent christologische Auslegung. Der Glaube an Jesus Christus ist der Schlüssel zum Verstehen der ganzen Schrift. Die Väter beziehen, ausgehend vom Gedanken der Präexistenz (vgl. Prolog des Joh-Ev), schon das alttestamentliche Wort Gottes auf Christus. Schriftlesung ist für die Väter Christusbegegnung, jetzt und heute (Gleichzeitigkeit). Jesus Christus ist nicht tot, sondern lebt als der Erhöhte beim Vater und spricht durch die Schrift. Die Psalmen sind nach Ansicht der Väter eine Zusammenfassung der gesamten Hl. Schrift. Wer die Psalmen kennt, hat die biblische Verkündigung in ihrem Kern aufgenommen. Die Psalmen sind ein Buch von Christus: Die frühen Christen fanden in den Psalmen vor allem die Person und das Schicksal Christi ins Wort gebracht. Nach Ansicht der frühen Kirche bleibt der Psalter ohne den Glauben an Jesus Christus verschlossen. Patristische Psalmenexegese sucht bei jedem Psalm zu zeigen, wie er mit Christus in Beziehung steht und von Christus her verstanden werden kann. Für die frühe Kirche reden die Psalmen entweder von oder zu Christus, oder sie hört Christus in ihnen reden:

Christus = Sprecher: Wort Christi, gerichtet an den Vater Psalmus vox Christi ad Patrem

Christus = Angesprochener: Gebet d. Kirche an Christus Psalmus vox Ecclesiae ad Christum

Christus = Gegenstand: Prophezeiung über Christus Psalmus vox de Christo

33 Lectio divina III: Guigo II. der Kartäuser († ca. 1190)

„Sucht im Lesen und ihr werdet finden in der Meditation; klopft an im Gebet und ihr werdet eintreten in der Betrachtung.

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Die Lesung befördert die Nahrung zum Mund, die Meditation kaut und zerkleinert sie, das Gebet bekommt daran Geschmack und die Betrachtung selbst ist dieses Schmecken, das erfreut und erquickt.“ LECTIO: „Die Lesung erforscht“ (bietet die Grundlage, liefert den Stoff; äußeres Tun)

MEDITATIO: „Die Meditation findet“ (vertieft; zeigt, worum es geht; inneres Tun)

ORATIO: „Das Gebet erbittet“ (den Geschmack am Gelesenen und Verstandenen)

CONTEMPLATIO: „Die Kontemplation schmeckt“ (die Süße des Textes und seiner Wahrheit) „Lesung ohne Meditation ist trocken, Meditation ohne Lesung ein zielloses Schweben; Gebet ohne Meditation ist lau, während Meditation ohne Gebet zu nichts führt und Kontemplation ohne Gebet nur als kleines Wunder vom Himmel fällt.“

34 Lectio divina IV: Der mehrfache Schriftsinn

Littera gesta docet, quid credas Allegoria, Moralis, quid agas, quo tendas Anagogia.

LITERARISCHER SINN

(sensus litteralis)

Der Text an und für sich: Analyse, Exegese

GEISTLICHER SINN (sensus spiritualis / sensus mysticus)

GLAUBE

(sensus allegoricus) HOFFNUNG

(sensus anagogicus) LIEBE

(sensus moralis)

Was hat der Text mit meinem Glauben zu tun? Wie ist der Zusammenhang des Textes mit a) der

Offenbarung? b) dem

Christusereignis? c) der Mitte des

Evangeliums?

Welche Perspektiven ergeben sich aus dem Text a) für die Welt? b) für die Kirche? c) für mich? Was treibt uns „hinauf“ (ana-gogicus), nach vorn? Wird die letzte Zukunft schon irgendwo greifbar?

Welche Konsequenzen muß ich ziehen? Was muß ich tun? Wo muß ich zugreifen?

CHRISTUS

REICH GOTTES

ICH

35 Lectio divina V: Hermeneutische Prinzipien

dialogischer Kontext Theologie der Offenbarung gemäß II. Vat.: Gott gibt keine Sachmitteilungen, sondern

eröffnet unmittelbaren Zugang zu sich. – Entdecke das Herz Gottes im Wort Gottes (Gregor der Große).

Für die Lectio divina ist die Bibel ein einziges Buch. Für die Lectio divina ist die Bibel ein Buch, das von Christus her und auf Christus hin

gelesen sein will.

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Die Lectio divina gehört der ganzen Kirche und ist für jeden (jede) Getaufte(n) zugänglich.

Bei der Lektüre der Heiligen Schrift (und geistlicher Texte) wird der Leser (die Leserin) allein das auslegen können, was er (sie) auch zu leben bereit ist. Im Leben wächst die Auslegungskunst des Glaubens, in der Auslegungskunst wächst das Leben der Nachfolge.

Wer lesend immer tiefer in einen Text eindringt, dringt zugleich auch in sich und in das eigene Leben ein; er er-innert sich. Indem der Leser (die Leserin) durch den Text immer tiefer in sich eindringt, dringt er (sie) auch tiefer in den Text ein.

36 Enzo Bianchi:

„Jeder Christ, Priester, König und Prophet – wesentliche und unentbehrliche Eigenschaften, um die Kraft und das Recht zur lectio divina zu haben – wird in Christus dazu befähigt, den Text ins Heute zu übertragen. In der lectio divina erscheint das Prophetentum des Gläubigen darin, daß er vermag, ein Wort zum Erklingen zu bringen, das von Gott stammt und deshalb wirksam ist, ein Wort, das durch den Heiligen Geist dem Herzen des Lesers wie auch am entscheidenden Punkt einer Situation, wo das Wort ertönt, einsichtig wird. Sein Königtum zeigt sich in der Fähigkeit, die Zeitgeschichte zu ‚weihen’, so daß sie zur Heilsgeschichte wird: der König ist der Gesalbte, und die Weihe, die ihm die Salbung verleiht, kommt von nun an dem ganzen Volk zu, da es berufen ist, das Wort in die Geschichte hineinzutragen. Endlich findet das Priestertum des Gläubigen seinen Ausdruck darin, daß er das Geschehen, das er gemäß der Schrift bezeugt, unserem Heute so gleichzeitig machen kann, daß es sakramentalen Charakter gewinnt. In der Kirche gibt es immer ein Heute, denn die Kirche ist ein priesterliches, königliches und prophetisches Volk, dessen erste Aufgabe darin besteht, das Wort Gottes zu verkünden, das heißt, die Schriften ins Leben zu übertragen.“ (E. Bianchi, Dich finden in deinem Wort. Die geistliche Schriftlesung, Freiburg 1988, 35-36) 37 Alfred Delp SJ († 1945)

„Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt uns dies gleichsam entgegen. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen. Wir erleben sie nicht durch bis zu dem Punkt, an dem sie aus Gott hervorströmen. Das gilt für das Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, liebende Antwort.“ (Gefängnistagebuch)

38 Josef Ratzinger

„Das Programm des frühen Augustinus ‚Gott und die Seele - sonst nichts’ ist unrealisierbar, es ist auch unchristlich. Religion gibt es letztlich nicht im Alleingang des Mystikers, sondern nur in der Gemeinsamkeit von Verkündigen und Hören. Gespräch des Menschen mit Gott und Gespräch der Menschen miteinander fordern und bedingen sich gegenseitig ... Das Wir der Glaubenden ist nicht eine sekundäre Zutat für kleine Geister, es ist in gewissem Sinn die Sache selbst.” (J. Ratzinger, Einführung ins Christentum, München 111968, 65.69)

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39 Albert Görres

„Die Kirche ist, wie die Sonne, für alle da. Für Gerechte und Ungerechte, Sympathen und Unsympathen, Dumme und Gescheite; für Sentimentale ebenso wie Unterkühlte, für Neurotiker, Psychopathen, Sonderlinge, für Heuchler und solche wie Natanael, ‚an denen kein Falsch ist’ (Joh 1,47); für Feiglinge und Helden, Großherzige und Kleinliche. Für zwanghafte Legalisten, hysterisch Verwahrloste, Infantile, Süchtige und Perverse. Auch für kopf- und herzlose Bürokraten, für Fanatiker und auch für eine Minderheit von gesunden, ausgeglichenen, reifen, seelisch und geistig begabten, liebesfähigen Naturen. Die lange Liste ist nötig, um klarzumachen, was man eigentlich von einer Kirche, die aus allen Menschensorten ohne Ansehen der Person, von den Gassen und Zäunen wie wahllos zusammengerufen ist und deren Führungspersonal aus diesem bunten Vorrat stammt, erwarten kann - wenn nicht ständig Wunder der Verzauberung stattfinden, die uns niemand versprochen hat. Heilige, Erleuchtete und Leuchtende sind uns versprochen. Wer sie sucht, kann sie finden. Wer sie nicht sucht, wird sie nicht einmal entdecken, wenn sie jahrelang neben ihm gehen, weil er sie vielleicht nicht wahrhaben will oder kann ... Der immer und

überall in ihr = der Kirche anwesende Geist ist ein verborgener Gott, Latens Deitas, sagt Thomas von Aquin, Deus absconditus, sagt Luther. Ein Gott, der sich zeigt, wann und wem er will. Er preist die selig, die nicht sehen und doch glauben. Sie brauchen keine strahlende Kirche, weil sie den Glanz des Heiligen auch durch rußgeschwärzte Scheiben wahrnehmen. Sie sind auch frei von der verbreiteten Neigung, den verdrängten Haß auf den quälenden

Jesus Christus auf die Kirche zu verschieben.“ A. Görres, Erneuerung durch Tiefenpsychologie?, in: A. Görres / W. Kasper (Hg.), Tiefenpsychologische Deutung des

Glaubens? Anfragen an Eugen Drewermann (QD 113), Freiburg 1988, 134

40 Klaus Hemmerle

„Der Schritt wahrhaft über uns hinaus führt immer wieder an die Grenze, an die Mauer. Er führt in die befremdliche Unfaßbarkeit der Geheimnisse Gottes, er führt in die Unverfügbarkeit und Unbekanntheit des menschlichen Du, er führt zumal an die Grenze der eigenen Kraft und der eigenen Sicht. Es geht nicht! - so müssen wir beinahe immer sagen, wenn es wirklich ernst wird gegenüber Gott, gegenüber dem Nächsten und mit uns selbst. Es geht nicht! Einzig der Schritt Jesu durch die verschlossene Tür findet und bahnt den Weg. Der Geist wird nur dort frei, Gemeinschaft wird nur dort gestiftet, wo wir mit Jesus, dem am Kreuz von Gott und den Menschen Verlassenen, die Mauer durchbrechen und dabei die Grenze als Grenze erfahren. Die Bedingung für Geist und Gemeinschaft, für Spiritualität und Communio ist das Kreuz. Hier erst geschieht wahrhaft Beziehung. Nur wer verliert, der findet; wer bewahren will, der verliert. Nur das Samenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, bringt Frucht (vgl. Joh 12,24f.). An dieser Stelle entscheidet sich, ob ich bloß mich selber suche und deswegen auch bloß mich selber finde und mit mir allein bleibe oder ob

Überschritt, Leben, Gleichzeitigkeit der Ursprünge gelingt.“ K. Hemmerle, Spiritualität und

Gemeinschaft, in: J. Sauer (Hg.), Lebenswege des Glaubens, Freiburg 1978, 87

41 II. Vaticanum, Unitatis redintegratio

Die „Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet für die Einheit der Christen als die Seele der ganzen

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ökumenischen Bewegung anzusehen; sie kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden“. (UR 8)

42 Johannes Klimakos (6. Jh.)

„Niemand lernt sehen. Man sieht von Natur immer schon. So ist es mit dem Gebet. Das `schöne Gebet` erlernt man von keinem andern. Es ist in sich selbst sein eigener Lehrer. Gott schenkt die Gabe des Gebetes dem, der betet.“ (Johannes Klimakos, Leiter, 28)

43 Spiritualität der Befreiung

„Die Kirche auf dem amerikanischen Kontinent hat über den Menschen viel zu sagen. Vor allem, wenn sie den Menschen in diesem traurigen Defilee ... vorüberziehen läßt: Gesichter von Bauern ohne Boden, von den Streitkräften und der Macht mit Füßen getreten und getö-tet. Gesichter von grundlos entlassenen Arbeitern, von Arbeitern, deren Lohn für die Bedürf-nisse ihrer Familie nicht reicht. Gesichter von Alten, Gesichter von Benachteiligten, Gesichter von Slumbewohnern, Gesichter armer Kinder, die von Kindheit an die grausamen Wunden der sozialen Ungerechtigkeit verspüren ... Mit welchem Recht haben wir die Menschen in Menschen erster Klasse und Menschen zweiter Klasse eingeteilt, während es in der Theolo-gie vom Menschen nur eine Klasse gibt: die der Söhne Gottes?“ (O. A. Romero)

„Die politische Dimension des Glaubens ist nichts anderes als die Antwort der Kirche auf die Forderung der realen sozio-politischen Umgebung, in der sie lebt. Wir haben wiederentdeckt, daß diese Forderungen zunächst an den Glauben gerichtet sind, und daß die Kirche sich ihnen nicht entziehen darf. Es geht nicht darum, daß die Kirche sich als politische Institution versteht und in Konkurrenz zu anderen politischen Instanzen tritt, auch nicht darum, daß sie über eigene politische Mechanismen verfügt; es geht noch weniger darum, daß unsere Kirche eine politische Führungsrolle anstrebt. Es geht um etwas viel Wesentlicheres und Evangelischeres: Es geht um die Option der Kirche, für die Armen dazusein, sich in ihre Welt hineinzubegeben, ihnen eine gute Botschaft zu bringen, ihnen eine Hoffnung zu geben, sie zur Befreiungspraxis zu ermutigen, ihr Recht zu verteidigen und an ihrem Schicksal teilzuhaben. Diese Option der Kirche für die Armen bedingt die politische Dimension des Glaubens. Weil sie sich für die wirklich Ausgebeuteten und Unterdrückten entschieden hat, lebt die Kirche im Bereich des Politischen, und sie verwirklicht sich als Kir-che im Bereich des Politischen. Das kann nicht anders sein, wenn sie sich wie Jesus an die Armen wendet.“ (O. A. Romero)

„Unsere Methode, d.h. die Unterscheidung zwischen dem ersten Akt der Kontemplation und Praxis und dem zweiten Akt des Sprechens von Gott, ist unsere Spiritualität. Es ist unser Weg, Jesus Christus nachzufolgen. Und wir glauben, daß man, um Theologie treiben zu können, ebenfalls den ersten Akt leben muß. Theologie kommt danach, abends - aber um abends präsent zu sein, müssen wir den ganzen Tag über präsent sein. Es gibt Leute, die nur am Abend kommen. Aber wir müssen mitten im Leben der Menschen engagiert sein, um dort zu beten, um dort das Evangelium zu verkündigen, um dort im Bündnis mit den Armen zu handeln.“ (Gustavo Gutiérrez)