FaltBlatt Nr 3 25 06 16 · 2016. 6. 30. · N Lorem Itzum EUrE AVANTgArDisTisCHE sCHÜlErZEiTUNg...

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N°3 Lorem Itzum N° 3 | Dienstag, 28. Juni 2016 E URE AVANTGARDISTISCHE S CHÜLERZEITUNG A ls »Seelige Zeit des frühen Diploms« hat Stefan Krankenhagen sein Studium der Kulturwissenschaften im Hildesheim der 90er Jahre charakterisiert. Damals waren Jutebuetel ausschließlich Ac- cessoires der Baumfreunde und die Neuen Bundesländer noch wirk- lich neu. Die Domäne war noch Abenteuerspielplatz, das Hohe Haus lag unter einer Schicht aus Staub und Muku-Eis. Das Burgtheater stand noch in Wien. Heute ist der 90er Jahre Rave ausgeklungen, der Studiengang reformiert. Aus Narrenfreiheit ist Korsettpflicht gewor- den – sei‘s drum. Nur drei atavistische Blankostellen haben sich in den heutigen Mo- dulplan fortgepflanzt: Modul 6, Bachelor Plus und Projektsemester. Unter dem Motto »Aussetzen« wird in letzterem in diversen Aus- formungen am Thema gearbeitet. Gearbeitet? Die neue Freiheit heißt also Arbeit? Aber (wo) wollen wir arbeiten? Am besten auf der Schaukel hinterm Alten Pächterhaus, in einem überheizten Se- minarraum, im Stuhlkreis, in einem dunklen Theater, in dem nach dem Stromausfall nur noch ein rotes Lämpchen glimmt. Arbeiten hinter beschmierten Scheiben, auf Emporen, in Treppenhäusern. Beim Yoga auf der Wiese, zwischen schlemmenden Rentnerinnen und den Abgasen von Kleinwagen, in einem Schrebergarten außer- halb, aber immer an den Projektideen tüftelnd. Im Dachstuhl einer WG oder in den Probezellen, die an Darkrooms erinnern (oder an Dunkelkammern?). Und (aber das ist dann für die advanced laborer) think tank zu zweit in der Badewanne; solitär Home Office. Schluss- endlich, wenn die Arbeit für die Credits beendet ist, noch schnell an einer Performance oder Ausstellungseröffnung feilen. War die prä-Bologna Ära anders? Gab es keinen Druck von Mama, vom BAföG, der Regelstudienzeit? Waren die Arbeitsmärkte noch unumkämpft und das Kreativitätsdispoitiv realitätsfernes Gefasel? War das System der Freund, weil nicht vorhanden? Wollen wir ei- gentlich kollektiv arbeiten, uns der Messbarkeit und den Credits entziehen, abseits karrieristischer Verwertbarkeit und sozialer Reso- nanz? Behauptet nicht ein Großteil, er wäre unter Druck am produk- tivsten? Ist der Lebenslauf immer ein neoliberalistisches Monster? Ich finde, man sollte den Kulturpessimismus von der Speisekar- te streichen. Früher war es anders, heute ist es nicht perfekt. Also Schaufel raus und eine neue Zukunft aufschichten. MIR Freigeister & Ghosting Ein Gespenst geht um an der Domäne – das Gespenst der Distanz. Noch in der Dunkelheit der Nacht uns sicher wähnend, schäkern wir bei Gin und Tonic, verschicken postwendend postsuffig digitale Freundschaſtsanfragen, allein bei Tageslicht gewinnt die dem intel- lektuellen Nachwuchs nachgesagte Men- schenscheu die Oberhand. It‘s time to face it: we‘re all vampires of love. Nur die ganz Mutigen unter den Domänenden wagen es, ihrer durch die Nacht gerettete Zuneigung via Kopfnicken oder gar Lächeln Ausdruck zu verleihen. Ich aber sage euch: Rettet nicht nur die Zuneigung, rettet auch den Mut! Schluss mit Single-Speed! Und berauscht euch am Mohn in den Feldern. Fasst euch bei den Händen und pferdchenspringt in den Sonnenuntergang. Ganz ehrlich: Wo, wenn nicht hier? ky Endlich körperliche Arbeit für Kuwis: Conny sucht Kaffe-Kräſte +++ Einsames Genie adieu: Kollaboratives Schreiben im Modulplan +++ Auenpark soll Domäne verschandeln? +++ Die Schleifspur Freiheit auf Rezept ἄλφα NEWSTICKER: Ein Plädoyer für die kleine Geste KURSKRITIK Ah, Adorno und Horkheimer. Viel gehört, wenig gelesen, nichts verstanden. Aber der Seminar- raum ist voll. Wissensdurst oder Masochismus muss die Studierenden hierher getrieben haben, für Credits allein macht das keiner. Prof. Kran- kenhagen ist als 80er-Jahre Jeff Bridges verklei- det, zäumt das Jahrhundertwerk von vorne auf, vor der Dialektik gibt es Nachhilfe in Sachen Französische Revolution (des Geistes). Dabei graben wir, bis wir auf unseren eigenen, philo- sophischen Bodensatz stoßen. Die Fragezeichen zum Thema offenbaren sich dabei bereits in den Krankenhagen‘schen Ausführungen selbst. Das Frankfurter Duo ist nicht vermittelbar. Aber wenn, dann mit dem der Hochkultur inne- wohnenden Stachel des Pop. Vom Mythos in die Traufe, während die Wahrheit sich bei 30 Grad Außentemperatur selbst kolportiert. MIR Scheinbar braucht es ein Forschungsprojekt, um sich, immer noch wissenschaftlich distanziert, mit Menschen in Hildesheim zu beschäftigen, die sich nicht in universitären Enklaven tummeln. Herr Krankenhagen und Frau Klocke schicken uns hinaus in die neo-bernwardinischen Gefilde und lassen uns über Menschen schreiben die fernsehen. Genauer gesagt über die Fernseher vor den Menschen. In der Rolle des Reporters, des Wissenschaftlers und der Privatperson wird teilnehmend beobachtet. Jeder der in seiner Kindheit gerne Detektiv gespielt hat, kommt dabei voll auf seine Kosten. Die Auswahl der Seminartexte war, man kann es nicht anders sagen, traumhaft. Der Diskurs auf Augenhöhe setzte sich bei der Besprechung der eigenen Ergebnis fort und gab mir das Gefühl ein halbwegs kredibiler Nach- wuchsforscher zu sein. Hut ab, Chapeau! MSG Mit der obligatorischen Frage zu Beginn jeder Stun- de fängt es an – Auftakt einer Zerreißprobe. Unser Verhalten wirkt einstudiert, wie ein Spiel: einstim- mig wird mit den Füßen gescharrt. Wir befinden uns in einem »Zustand des Post-Logischen« (Walter Höllerer) und »dimmen uns jetzt mal total runter« (Jan Strümpel): Bewegungen zwischen ästhetischem Minimalismus und unangenehmen Schweigen, PowerPoint-Ohrfeigen und monotonen Flüsterper- formances, die uns geradezu unheilvoll ins Koma reißen wollen. Und treu dem Duktus Nachkriegs- deutschlands folgend, stellen wir uns die Frage der Kollektivschuld gar nicht erst. Es scheint, als sei ein Wettbewerb unter den Studierenden entbrannt, wer am längsten die Luft anhalten kann. Und Jan Strüm- pel? Der bekämpft, wie man so schön sagt, Feuer mit Feuer – oder in seinem Fall: mit geradezu brobding- nagischer Ruhe die Stille. LL Die Dialektik der Aulärung. Lesarten eines Klassikers Stefan Krankenhagen »Der Fernseher, mein Hausfreund.« Eine medienanthropologische Untersuchung Vera Klocke & Stefan Krankenhagen Die fünfziger Jahre Jan Strümpel Bourgeois Malinowski Rock & Roll Bonmots Medieneinsatz Intelligibilität Notizbuch Kalter Krieg M it Ansätzen, Hildesheim erträglich zu machen, verhält es sich so, wie die Kommunikation mit Guido Graf auf Glip: immer zum Greifen nah, aber wenn es konkret wird, wird es kompliziert. Deshalb ist es auch verständlich, dass das gefragteste Buch der Edition Paechterhaus den Titel »Hildesheim schön trinken« trägt, während am Hauptcampus die Devise gilt: »Den Weg zum Bahnhof, zur Uni und zum McFit – mehr muss ich nicht kennen.« (Quelle: anonymer Sportstudent). Am weitesten verbreitet unter dem Lehrkörper ist wohl die Methode »Postkoitales Verschwinden«: Kevin Kuhn tut es, Jens Roselt tut es, Stefanie Diekmann tut es auch, ebenso Matthias Rebstock und Birgit Mandel. Kaum dass sie eine tsunamiartige Flutwelle der popkulturel- len Ergüsse in den Köpfen der Studierenden ausgelöst haben, stehen sie mit einem Bein schon im nächsten ICE Sprinter Richtung Hauptstadt. Nur mal kurz Kip- pen holen. Hildesheim wird wohl auf ewig Mätresse, Vorort und Spielwiese Berlins bleiben. Und unter uns Kreativzöglingen? Wir hängen lieber im Spielelabor mit der Nintendo 64 ab, torkeln, mit gro- ßen Pupillen und noch größeren Augenringen, aus der KuFa direkt in die Kulturpolitikvorlesung, mehr kör- perlich als geistig anwesend oder produzieren Content, Content, Content. Drehen kleine, schmutzige Filmchen, in denen die persönlichen Putzfetische ausgelebt wer- den, oder versucht wird, die Objektophilie zu einem Stück Lauch zu erklären. Wir schreiben Texte für Blogs über das Radfahren und bespielen jeden Offspace, den wir kriegen können. Dabei drängen wir uns so sehr in den Vordergrund, pflastern die Domäne mit unseren Flyern, und die Flyer mit unseren Namen und Logos, basteln an einem Branding für uns als Persona (Ge- meinschaft der kuratierten Persönlichkeiten), dass im Gesamtbild kein Platz mehr für einen Hintergrund bleibt, sprich: Problem gelöst, Hildesheim ausgeblen- det. Jedem sein eigener Eskapismusversuch. LL GONZO N’ ROSES Schweigegelübde 1 richtiges Leben im falschen Am weitesten verbreitet ist wohl die Methode »Postkoitales Verschwinden«

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N°3

Lorem Itzum

N° 3 | Dienstag, 28. Juni 2016Eu r E ava n tg a r d i s t i s c h E sc h ü l E r z E i t u n g

Als »Seelige Zeit des frühen Diploms« hat Stefan Krankenhagen sein Studium der Kulturwissenschaften im Hildesheim der 90er

Jahre charakterisiert. Damals waren Jutebuetel ausschließlich Ac-cessoires der Baumfreunde und die Neuen Bundesländer noch wirk-lich neu. Die Domäne war noch Abenteuerspielplatz, das Hohe Haus lag unter einer Schicht aus Staub und Muku-Eis. Das Burgtheater stand noch in Wien. Heute ist der 90er Jahre Rave ausgeklungen, der Studiengang reformiert. Aus Narrenfreiheit ist Korsettpflicht gewor-den – sei‘s drum. Nur drei atavistische Blankostellen haben sich in den heutigen Mo-dulplan fortgepflanzt: Modul 6, Bachelor Plus und Projektsemester. Unter dem Motto »Aussetzen« wird in letzterem in diversen Aus-formungen am Thema gearbeitet. Gearbeitet? Die neue Freiheit heißt also Arbeit? Aber (wo) wollen wir arbeiten? Am besten auf der Schaukel hinterm Alten Pächterhaus, in einem überheizten Se-minarraum, im Stuhlkreis, in einem dunklen Theater, in dem nach dem Stromausfall nur noch ein rotes Lämpchen glimmt. Arbeiten hinter beschmierten Scheiben, auf Emporen, in Treppenhäusern. Beim Yoga auf der Wiese, zwischen schlemmenden Rentnerinnen

und den Abgasen von Kleinwagen, in einem Schrebergarten außer-halb, aber immer an den Projektideen tüftelnd. Im Dachstuhl einer WG oder in den Probezellen, die an Darkrooms erinnern (oder an Dunkelkammern?). Und (aber das ist dann für die advanced laborer) think tank zu zweit in der Badewanne; solitär Home Office. Schluss-endlich, wenn die Arbeit für die Credits beendet ist, noch schnell an einer Performance oder Ausstellungseröffnung feilen.War die prä-Bologna Ära anders? Gab es keinen Druck von Mama, vom BAföG, der Regelstudienzeit? Waren die Arbeitsmärkte noch unumkämpft und das Kreativitätsdispoitiv realitätsfernes Gefasel? War das System der Freund, weil nicht vorhanden? Wollen wir ei-gentlich kollektiv arbeiten, uns der Messbarkeit und den Credits entziehen, abseits karrieristischer Verwertbarkeit und sozialer Reso-nanz? Behauptet nicht ein Großteil, er wäre unter Druck am produk-tivsten? Ist der Lebenslauf immer ein neoliberalistisches Monster? Ich finde, man sollte den Kulturpessimismus von der Speisekar-te streichen. Früher war es anders, heute ist es nicht perfekt. Also Schaufel raus und eine neue Zukunft aufschichten. mir

Freigeister & Ghosting

Ein Gespenst geht um an der Domäne – das Gespenst der Distanz. Noch in der Dunkelheit der Nacht uns sicher wähnend, schäkern wir bei Gin und Tonic, verschicken postwendend postsuffig digitale Freundschaftsanfragen, allein bei Tageslicht gewinnt die dem intel-lektuellen Nachwuchs nachgesagte Men-schenscheu die Oberhand. It‘s time to face it: we‘re all vampires of love. Nur die ganz Mutigen unter den Domänenden wagen es, ihrer durch die Nacht gerettete Zuneigung via Kopfnicken oder gar Lächeln Ausdruck zu verleihen. Ich aber sage euch: Rettet nicht nur die Zuneigung, rettet auch den Mut! Schluss mit Single-Speed! Und berauscht euch am Mohn in den Feldern. Fasst euch bei den Händen und pferdchenspringt in den Sonnenuntergang. Ganz ehrlich: Wo, wenn nicht hier? ky

Endlich körperliche Arbeit für Kuwis: Conny sucht Kaffe-Kräfte +++ Einsames Genie adieu: Kollaboratives Schreiben im Modulplan +++ Auenpark soll Domäne verschandeln? +++

Die SchleifspurFreiheit auf Rezept

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NEWSTICKER:

Ein Plädoyer für die kleine Geste

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Ah, Adorno und Horkheimer. Viel gehört, wenig gelesen, nichts verstanden. Aber der Seminar-raum ist voll. Wissensdurst oder Masochismus muss die Studierenden hierher getrieben haben, für Credits allein macht das keiner. Prof. Kran-kenhagen ist als 80er-Jahre Jeff Bridges verklei-det, zäumt das Jahrhundertwerk von vorne auf, vor der Dialektik gibt es Nachhilfe in Sachen Französische Revolution (des Geistes). Dabei graben wir, bis wir auf unseren eigenen, philo-sophischen Bodensatz stoßen. Die Fragezeichen zum Thema offenbaren sich dabei bereits in den Krankenhagen‘schen Ausführungen selbst. Das Frankfurter Duo ist nicht vermittelbar. Aber wenn, dann mit dem der Hochkultur inne-wohnenden Stachel des Pop. Vom Mythos in die Traufe, während die Wahrheit sich bei 30 Grad Außentemperatur selbst kolportiert. mir

Scheinbar braucht es ein Forschungsprojekt, um sich, immer noch wissenschaftlich distanziert, mit Menschen in Hildesheim zu beschäftigen, die sich nicht in universitären Enklaven tummeln. Herr Krankenhagen und Frau Klocke schicken uns hinaus in die neo-bernwardinischen Gefilde und lassen uns über Menschen schreiben die fernsehen. Genauer gesagt über die Fernseher vor den Menschen. In der Rolle des Reporters, des Wissenschaftlers und der Privatperson wird teilnehmend beobachtet. Jeder der in seiner Kindheit gerne Detektiv gespielt hat, kommt dabei voll auf seine Kosten. Die Auswahl der Seminartexte war, man kann es nicht anders sagen, traumhaft. Der Diskurs auf Augenhöhe setzte sich bei der Besprechung der eigenen Ergebnis fort und gab mir das Gefühl ein halbwegs kredibiler Nach-wuchsforscher zu sein. Hut ab, Chapeau! msg

Mit der obligatorischen Frage zu Beginn jeder Stun-de fängt es an – Auftakt einer Zerreißprobe. Unser Verhalten wirkt einstudiert, wie ein Spiel: einstim-mig wird mit den Füßen gescharrt. Wir befinden uns in einem »Zustand des Post-Logischen« (Walter Höllerer) und »dimmen uns jetzt mal total runter« (Jan Strümpel): Bewegungen zwischen ästhetischem Minimalismus und unangenehmen Schweigen, PowerPoint-Ohrfeigen und monotonen Flüsterper-formances, die uns geradezu unheilvoll ins Koma reißen wollen. Und treu dem Duktus Nachkriegs-deutschlands folgend, stellen wir uns die Frage der Kollektivschuld gar nicht erst. Es scheint, als sei ein Wettbewerb unter den Studierenden entbrannt, wer am längsten die Luft anhalten kann. Und Jan Strüm-pel? Der bekämpft, wie man so schön sagt, Feuer mit Feuer – oder in seinem Fall: mit geradezu brobding-nagischer Ruhe die Stille. ll

Die Dialektik der Aufklärung. Lesarten eines KlassikersStefan Krankenhagen

»Der Fernseher, mein Hausfreund.« Eine medienanthropologische UntersuchungVera Klocke & Stefan Krankenhagen

Die fünfziger JahreJan Strümpel

Bourgeois MalinowskiRock & Roll Bonmots MedieneinsatzIntelligibilität NotizbuchKalter Krieg

Mit Ansätzen, Hildesheim erträglich zu machen, verhält es sich so, wie die Kommunikation mit

Guido Graf auf Glip: immer zum Greifen nah, aber wenn es konkret wird, wird es kompliziert. Deshalb ist es auch verständlich, dass das gefragteste Buch der Edition Paechterhaus den Titel »Hildesheim schön trinken« trägt, während am Hauptcampus die Devise gilt: »Den Weg zum Bahnhof, zur Uni und zum McFit – mehr muss ich nicht kennen.« (Quelle: anonymer Sportstudent).Am weitesten verbreitet unter dem Lehrkörper ist wohl die Methode »Postkoitales Verschwinden«: Kevin Kuhn tut es, Jens Roselt tut es, Stefanie Diekmann tut es auch, ebenso Matthias Rebstock und Birgit Mandel. Kaum

dass sie eine tsunamiartige Flutwelle der popkulturel-len Ergüsse in den Köpfen der Studierenden ausgelöst haben, stehen sie mit einem Bein schon im nächsten ICE Sprinter Richtung Hauptstadt. Nur mal kurz Kip-pen holen. Hildesheim wird wohl auf ewig Mätresse, Vorort und Spielwiese Berlins bleiben.

Und unter uns Kreativzöglingen? Wir hängen lieber im Spielelabor mit der Nintendo 64 ab, torkeln, mit gro-ßen Pupillen und noch größeren Augenringen, aus der KuFa direkt in die Kulturpolitikvorlesung, mehr kör-

perlich als geistig anwesend oder produzieren Content, Content, Content. Drehen kleine, schmutzige Filmchen, in denen die persönlichen Putzfetische ausgelebt wer-den, oder versucht wird, die Objektophilie zu einem Stück Lauch zu erklären. Wir schreiben Texte für Blogs über das Radfahren und bespielen jeden Offspace, den wir kriegen können. Dabei drängen wir uns so sehr in den Vordergrund, pflastern die Domäne mit unseren Flyern, und die Flyer mit unseren Namen und Logos, basteln an einem Branding für uns als Persona (Ge-meinschaft der kuratierten Persönlichkeiten), dass im Gesamtbild kein Platz mehr für einen Hintergrund bleibt, sprich: Problem gelöst, Hildesheim ausgeblen-det. Jedem sein eigener Eskapismusversuch. ll

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Schweigegelübde

1 richtiges Leben im falschen

Am weitesten verbreitet ist wohl die Methode »Postkoitales Verschwinden«

Page 2: FaltBlatt Nr 3 25 06 16 · 2016. 6. 30. · N Lorem Itzum EUrE AVANTgArDisTisCHE sCHÜlErZEiTUNg N° 3 | Dienstag, 28. Juni 2016 Als »Seelige Zeit des frühen Diploms« hat Stefan

EU r E AVA N Tg A r D i s T i s C H E sC H Ü l E r Z E i T U N g N° 3 | Dienstag, 28. Juni 2016

Morgens um zehn auf der Domäne. Die ers-ten Gestalten schleppen sich zum Hof. Das Auge zum Spalt verengt, der Mund ständig auf ein Gähnen gefasst. Hier und da ein Wis-pern, vereinzelt Gelächter verirrter Frühauf-steher und verwirrte noch nicht, niemals Nüchterne. Stilles Leid auf den meisten sich nach ihrem Lebenselixier verzehrenden Ge-sichtern. Nur eine kann da helfen. Und diese steht wie immer gut gelaunt, ausgestattet mit Kaffee, Kuchen, Käsebrötchen, einigen Kästen Mate und fetten Sprüchen in ihrem Benz – seit inzwischen ziemlich genau vier Jahren. Damals beschloss »der Himmel« ihr ein unschlagbares Angebot »zu schicken«: Den Mensa-Wagen zu fahren und damit die Belieferung der bis dato vernachlässigten Domäne zu übernehmen. Fröhlich dankend nahm sie an; hatte sie doch bereits überlegt, ihren Job beim Studentenwerk (zu dieser Zeit noch in der Fachhochschule) ganz an den Nagel zu hängen. Dort hatte sie auch am

Tresen gestanden und Essen an Studieren-de verteilt, war aber immer wieder für ihre ausgeprägte Redefreudigkeit gerügt worden. »Dabei kann man ja auch arbeiten und re-den, ne«, Conny jedenfalls kann das – wie sie uns täglich wieder beweist. Und so ist es nicht verwunderlich, dass mitt-lerweile so gut wie jeder auf dem Ponyhof weiß, wer die Conny ist und schon mindestens einmal einen kleinen Schnack mit ihr gehalten hat. »Aber über die-se Kurzgespräche hat mich noch niemand so richtig kennengelernt«, wirft sie ein. Nun, dann wagen wir doch mal einen Versuch, das zu ändern: Geboren in Hildesheim, war Cornelia Müller von Anfang mit dem harten Pflaster vertraut. Mit 13 begann sie mit dem Rauchen, ein paar Zigaretten der Mutter fan-den sich leicht, später kippte sie dann gern mal ein paar Gläschen im Number (heute: Mauerwerk), montags gab es Freibier, »da hab ich richtig zugeschlagen«. Und dann war

da noch dieser unsägliche Trend in der sieb-ten Klasse. Alle haben das gemacht: mehrere Nadeln mit Zwirn umwickelt, ins Tintenfass getaucht und dann rein in die Haut damit. Werkunterricht mal anders. Geblieben sind ein CM mit einem Herz auf dem einen und

ein etwas undeutliches Kreuz auf dem anderen Arm. Was sagt sie heute dazu? »Das gehört zu mir.

Da steh’ ich auch zu.« Halb so wild also, und außerdem hat es sie längst nicht so schlimm erwischt wie ihre Schwester. Dieser hat Conny am selben Tag ein Tattoo gestochen, das fast über den gesamten Unterarm ging: »Geschwisterscherze sind das. Ich denk’ da gar nicht mehr drüber nach«. Ja ja, die Ju-gendsünden eben. Nach der Schule dann die Ausbildung zur Verkäuferin, ihr Ding war das aber eigentlich nicht. »Und dann musste ich nur noch Geld verdienen. Zack zack zack. Viel, viel Geld«. Das ging zuerst ganz gut in der Produktion bei Bosch Blaupunkt, wo da-

mals noch Radios hergestellt wurden, und später noch besser bei VW in der Kabelabtei-lung: 20 zu einem Strang zusammengefügte Kabel brauchte man für einen VW-Trans-porter. Na ja, und dann kamen die Kinder. »Schreib mal zwei auf. Ich wollte schon immer zwei und die hab’ ich auch gekriegt – und fertig aus die Maus. Zwei. Was für ’ne Art war mir auch egal.« Eine Tochter gab es also, und einen Sohn. Und heute? Heute hat sie sogar zwei Enkel (Ole und Lotta), bietet Kinderturnen an, lebt mit ihrem Mann in Borsum und teilt sich nur noch ab und zu ein gut gekühltes Bier mit ihm. Sie liebt Ap-felgelee und ihren Job und freut sich über jeden neuen Namen von Studierenden, den sie lernt. Wie sie das macht? Einfach eine Person mit einem spontan ausgedachten Na-men ansprechen, in der Hoffnung, dass sie sich wundert und den richtigen Namen ver-rät. »Ist eben schon mein Ding hier, ne«. Wir mögen dich auch, Conny.

DIE SÄULEN DER UNIVERSTÄT ALLE LIEBEN MÜLLERMareike Köhler

Wissen, wer die Conny ist oder Gegessen wird zuhause

Schuhe wie aus einer Zeitma-schine. Back to the future. Kinder hier wird Modegeschichte ge-schrieben während in die Grund-begriff e des Theaters eingeführt wird. Noch einen Coff e to go und dann ab aufs Hoverboard, Faster than light.

Layout: Formvollendet, nicht nur in der Welt der Pixel zeigt sie uns wie der Wolpertinger läuft . Lockere modische Schnitte kombiniert mit strenger Frisur, der Hauch von Mystery der sich in ihrer blond/grauen Strähne verbirgt.

Die Frau, die beweist, dass der Hosenanzug gleichzeitig Stilett und hippes Fashion-Statement sein kann. Nichts vereint Flexi-bilität und eine 24/7 Work-men-tality wie dieses Outfi t. Passt zu Sektempfang und Projekt-Pitch.

Das irdene Braun der Lederschu-he verspricht Erdung in den Geis-teswissenschaft en. Beinkleider mit Bügelfalten, der letzte Schrei im Institutsvorstand, brechen sich in einem brachialen Rosarot. Das Krokodil, als Stellvertreterin des unstillbaren Wissenshungers.

ITZUMSTREET/STYLE

Du bist so jung, wie

du dich anziehst. Auch

mit Arbeitsvertrag

bleibt das freshe Out-

fi t nicht auf Strecke.

MSG

follow us @falt_blatt ENLIGHTENMENT

PRINCE OF WALESSKANDINAVIEN

»Es gibt keine dematerialisierte Freiheit.«

»Tom Hanks ist die maximale Vari-abilität der Viktimisierungsfi gur.«

»Der Kohlekeller des Biografi schen ist schnell ausgeschaufelt.«

»EPUB ist quasi eine geZIPte Datei aus einzelnen HTMLs.«

»Sag das bloß nicht so laut, sonst hört das das Faltblatt!«

»Rendezvous mit der Zukunft und ich komme zu spät.«

»Gaddfi war so etwas wie der Grenzmeister der EU.«

»Wir sind keine Masterminds, wir haben ein Anti-Ödipus-Projekt.«

»Da fi el mir sozusagen ein ganzer Kronleuchter vor die Füße.«

»Wir haben in Europa die nackte Wahrheit und eine lange Tradition der Aktmalerei.«

QUID PRO

QUOTA?Wir haben ernste Informationen.

Aber keine klare Quellenlage. Ihr müsste die Schlüsse ziehen.

ZEITUMKEHRER

JETSET

IT1.21 GIGAWATTS

EINFAMLIENHAUS

FLORIOGRPAHIE

THE THIRD MAN

INDESIGN

NYMPHADORA TONKS

„Das hat mir der Himmel geschickt!“

Claudius Nießen

Stefan Krankenhagen

Niko Paech

Nanna Heidenreich

Guido Graf

Rolf Elberfeld

NannaHeidenreich

Simon Roloff

Annette Treibel

Christian Schärf

Am 1. Juni veröffentlichte das Julius-Hans-Spiegel-Zent-rum einen von Studierenden und Dozierenden der Uni Hildesheim geschriebenen offenen Brief und reagierte damit auf einen Open Call der Mittsommernacht zum Thema »Fiesta Latina«. Besucher, die sich als ›typisch‹ mexikanische Figur verkleiden (wie Speedy Gonzales, Montezuma II. oder Zorro) verkleideten, erhielten freien Eintritt. Obwohl dies bereits bei der vorletzten Mittsom-mernacht zum Thema England so gehandhabt wurde, sei, so argumentierte der Brief, die Kostümierung Raub-bau, also Cultural Appropriation, an der Kultur Mexikos.

Die diesjährige Mittsommernacht entstand unter einer Kooperation mit der mexikanischen Univer-sität aus Toluca. Eine Mitarbeiterin der Uni Hildes-heim aus Mexiko hatte die Kooperation hergestellt, Hildesheimer mit mexikanischem Wurzeln erhiel-ten einen Stand vor Ort. Man könnte meinen, dass

die Beteiligten einer Bloßstellung ihrer Kultur am heftigsten widersprochen hätten. Kostümierte gab es dann allerdings eher weniger, man sah mehr Menschen mit Wild-Geese-Hüten als mit Sombreros.Woher kommt der Ehrgeiz der Briefschreiber sich für die mexikanische Kultur einzusetzen? Es drängt sich der Verdacht auf, dass es nicht nur um Rassismus an Mexikaner geht, sondern um die Missrepräsentation der Hildesheimer Studie-renden auf ihrem eigenen Campus. Der Eintritt für die Mittsommernacht ist teuer; das Programm verspricht wenig Überraschendes. Was für einen Hildesheimer Einwohner aufregend ist, kann ei-nen Hildesheimer KuWi nicht befriedigen. Man kann die Aufforderung zu Verkleidung als »Profa-nierung einer Kultur« begreifen. Es kommt darauf, welchen Bräuchen man Heiligkeit zuschreibt. Mit welchem Recht bestimmen wir, was heilig ist oder

was profaniert werden darf? Gilt das nur für Me-xikos? Kritisiert man den Umgang mit ›fremden‹ Bräuchen, exotisiert man sie in dem gleichen Maße, wie es die Ausschreibung der Mittsommernacht tut.Alltagsrassismus ist ein sehr spezifi sches Phäno-men, weil es für Menschen unsichtbar bleibt, die nicht davon betroffen sind, meiner selbst einge-schlossen. Studierende glauben gerne, dass sie sol-che Erfahrungen antizipieren können. Weil sie Blogs lesen und mal ein Seminar zu Postcolonial Studies oder Critical Whiteness belegt haben. Aber durch diese vorschnelle Reaktion, setzt man bestimmten Gruppen unreflektiert einen Opferstatus vor. Man nimmt Menschen die Möglichkeit ihre Erfahrung auszudrücken und bringt sie so zum Schweigen. Das deckt sich mit einer anderen rassistischen Tradition: Über Rassismus reden, am liebsten mit Menschen, die nicht davon betroffen sind. EDU

DER ERNSTE ARTIKEL Kein Mittsommernachtsraum?Impressum

Redaktion und LektoratMarvin Dreiwes, Maximilian Gallo, Mareike Köhler, Luca Lienemann,

Magnus Rust

GastbeiträgeKyra Mevert, Eduard Schreiber

LayoutMarvin Dreiwes

V.i.S.d.P.Magnus Rust

Aufl agepro Ausgabe 150/300 Stück,

gesetzt in der Andada und der Enscode Sans

Das FALTBLATT kehrt mit drei Extraausgaben zum

STATE OF THE ART 8 im September 2016 zurück.

Nach wie vor Gruß an den Graf