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43 Frühes Deutsch 17/2009 Literalität – Wege in die Welt der Schriftsprache schaffen Maren Elfert Family-Literacy – ein globales Konzept zur generationsüber- greifenden Förderung von Schrift und Sprache Die ersten Jahre im Leben eines Kindes sind entscheidend für seine spätere Sprach- und Schriftkompetenz, für seine Einstellung und Offenheit zum Lernen und für seinen spä- teren Schul- und Bildungserfolg. Eltern bzw. Bezugsperso- nen nehmen in dieser Zeit großen Einfluss auf die (Sprach-) Förderung ihrer Kinder. Unzureichende Erfahrungen mit Sprache und Schrift in der Kindheit gelten nach heutigem Erkenntnisstand als einer der wichtigsten Risikofaktoren für den Schriftspracherwerb. Wenn Kinder in ihrer häuslichen Umgebung zu wenig mit ihren Eltern sprechen und inter- agieren, wenn ihnen keine Bücher vorgelesen werden und niemand in der Familie im Alltag liest oder schreibt, wird Schrift und Sprache für diese Kinder von geringer Bedeu- tung bleiben. Sie werden in der Schule mit großer Wahr- scheinlichkeit Leistungsdefizite aufweisen und nur mühsam lesen und schreiben lernen. Obwohl in Schulen und vor- schulischen Einrichtungen in den letzten Jahren verstärkt Maßnahmen eingeführt wurden, um Kinder mit besonde- rem Förderbedarf besser zu integrieren, ist die Schule allein nicht in der Lage, die Defizite aus dem familiären Umfeld auszugleichen. In den letzten Jahren wird verstärkt über die Notwendigkeit der Einbeziehung der Eltern in diese Maß- nahmen diskutiert. Manche Experten stellen frühkindliche Bildungs- und Sprachförderprogramme ohne Einbeziehung der Eltern grundsätzlich in Frage. Generationsübergreifende Ansätze zur Förderung literaler Kompetenzen, die die Interaktion und Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern in den Mittelpunkt stellt, werden mit dem Begriff „Family-Literacy“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde von Denny Taylor (1983) in den USA geprägt und meinte ursprünglich literale Praktiken in Familien. In den 80er-Jahren wurden „Family-Literacy“-Programme in den USA etabliert, wo sie auch heute noch zur gängigen Praxis gehören. Bis heute haben die Programme des National Cen- ter for Family-Literacy in den Vereinigten Staaten über eine Million Menschen erreicht. Seit 1988 ist Family-Literacy in einem föderalen Gesetz verankert und definiert. In den 90er- Jahren wurde „Family-Literacy“ als Bildungsprogramm auch in Großbritannien eingeführt. Family-Literacy in den USA, © UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL) Family-Literacy kombiniert Elemente aus den Bereichen Erwachsenenbildung, Elternarbeit und Vor- bzw. Grund- schulpädagogik, um die Schriftsprachkompetenz sowohl der Erwachsenen als auch der Kinder zu verbessern und Lehrer wie Eltern darin zu unterstützen, Literalitätskompetenzen bei Kindern zu fördern. Family-Literacy richtet sich also nicht ausschließlich an Kinder, sondern auch an Erwachsene als die Erziehenden ihrer Kinder. Viele Wissenschaftler und Prakti- ker befürworten daher Family-Literacy-Programme, da diese den generationsübergreifenden Transfer von Schrift und Spra- che zwischen Eltern und Kind als bedeutsam anerkennen und den Zyklus des Schulversagens durchbrechen können (Sticht 2006). Family-Literacy eröffnet Erwachsenen und Kindern Perspek- tiven für einen lebenslangen Lernprozess. In der Praxis ist deutlich geworden, dass Eltern selbst motiviert sind, etwas für die eigene Bildung zu tun, wenn ihre Kinder eingeschult werden. Dieser Zeitpunkt kann von entscheidender Bedeu- tung sein, um auch Eltern zu erreichen, die normalerweise nicht bereit sind, eine Bildungseinrichtung aufzusuchen. Der gemeinsame Unterricht mit ihren Kindern in derselben Schu- le lässt die Hemmschwelle dieser Eltern sinken, die oftmals schwierige und zum Teil schmerzliche Erfahrungen in ihrer eigenen Schulzeit erleben mussten. Viele Eltern nehmen nach ihrer Teilnahme an Family-Literacy-Programmen andere Weiterbildungsangebote in Anspruch. Manche werden auch zu „Botschaftern“ für Family-Literacy-Programme und versu- chen, andere Eltern dafür einzunehmen. In einigen Ländern werden spezielle Qualifizierungskurse für Eltern zum „Pa- rent-Leader“ (Malta) oder „Peacher“ (England) angeboten, die in dieser Funktion eine aktive Rolle bei der Verbreitung von Family-Literacy-Programmen übernehmen.

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Literalität – Wege in die Welt der Schriftsprache schaffen

Maren Elfert

Family-Literacy – ein globales Konzept zur generationsüber-greifenden Förderung von Schrift und SpracheDie ersten Jahre im Leben eines Kindes sind entscheidend für seine spätere Sprach- und Schriftkompetenz, für seine Einstellung und Offenheit zum Lernen und für seinen spä-teren Schul- und Bildungserfolg. Eltern bzw. Bezugsperso-nen nehmen in dieser Zeit großen Einfluss auf die (Sprach-)Förderung ihrer Kinder. Unzureichende Erfahrungen mit Sprache und Schrift in der Kindheit gelten nach heutigem Erkenntnisstand als einer der wichtigsten Risikofaktoren für den Schriftspracherwerb. Wenn Kinder in ihrer häus lichen Umgebung zu wenig mit ihren Eltern sprechen und inter-agieren, wenn ihnen keine Bücher vorgelesen werden und niemand in der Familie im Alltag liest oder schreibt, wird Schrift und Sprache für diese Kinder von geringer Bedeu-tung bleiben. Sie werden in der Schule mit großer Wahr-scheinlichkeit Leistungsdefizite aufweisen und nur mühsam lesen und schrei ben lernen. Obwohl in Schulen und vor-schulischen Einrichtungen in den letzten Jahren verstärkt Maßnahmen eingeführt wurden, um Kinder mit besonde-rem Förderbedarf besser zu integrieren, ist die Schule allein nicht in der Lage, die Defizite aus dem familiären Umfeld auszugleichen. In den letzten Jahren wird verstärkt über die Notwendigkeit der Einbeziehung der Eltern in diese Maß-nahmen diskutiert. Manche Experten stellen frühkind liche Bildungs- und Sprachförderprogramme ohne Einbeziehung der Eltern grundsätzlich in Frage.

Generationsübergreifende Ansätze zur Förderung literaler Kompetenzen, die die Interaktion und Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern in den Mittelpunkt stellt, werden mit dem Begriff „Family-Literacy“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde von Denny Taylor (1983) in den USA geprägt und meinte ursprünglich literale Praktiken in Familien. In den 80er-Jahren wurden „Family-Literacy“-Programme in den USA etabliert, wo sie auch heute noch zur gängigen Praxis gehören. Bis heute haben die Programme des National Cen-ter for Family-Literacy in den Vereinigten Staaten über eine Million Menschen erreicht. Seit 1988 ist Family-Literacy in

einem föderalen Gesetz verankert und definiert. In den 90er-Jahren wurde „Family-Literacy“ als Bildungsprogramm auch in Großbritannien eingeführt.

Family-Literacy in den USA, © UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL)

Family-Literacy kombiniert Elemente aus den Bereichen Erwachsenenbildung, Elternarbeit und Vor- bzw. Grund-schulpädagogik, um die Schriftsprachkompetenz sowohl der Erwachsenen als auch der Kinder zu verbessern und Lehrer wie Eltern darin zu unterstützen, Literalitätskompetenzen bei Kindern zu fördern. Family-Literacy richtet sich also nicht ausschließlich an Kinder, sondern auch an Erwachsene als die Erziehenden ihrer Kinder. Viele Wissenschaftler und Prakti-ker befürworten daher Family-Literacy-Programme, da diese den generationsübergreifenden Transfer von Schrift und Spra-che zwischen Eltern und Kind als bedeutsam anerkennen und den Zyklus des Schulversagens durchbrechen können (Sticht 2006).

Family-Literacy eröffnet Erwachsenen und Kindern Perspek-tiven für einen lebenslangen Lernprozess. In der Praxis ist deutlich geworden, dass Eltern selbst motiviert sind, etwas für die eigene Bildung zu tun, wenn ihre Kinder eingeschult werden. Dieser Zeitpunkt kann von entscheidender Bedeu-tung sein, um auch Eltern zu erreichen, die normalerweise nicht bereit sind, eine Bildungseinrichtung aufzusuchen. Der gemeinsame Unterricht mit ihren Kindern in derselben Schu-le lässt die Hemmschwelle dieser Eltern sinken, die oftmals schwierige und zum Teil schmerz liche Erfahrungen in ihrer eigenen Schulzeit erleben mussten. Viele Eltern nehmen nach ihrer Teilnahme an Family-Literacy-Programmen andere Weiterbildungsangebote in Anspruch. Manche werden auch zu „Botschaftern“ für Family-Literacy-Programme und versu-chen, andere Eltern dafür einzunehmen. In einigen Ländern werden spezielle Qualifizierungskurse für Eltern zum „Pa-rent-Leader“ (Malta) oder „Peacher“ (England) angeboten, die in dieser Funktion eine aktive Rolle bei der Verbreitung von Family-Literacy-Programmen übernehmen.

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Literalität – Wege in die Welt der Schriftsprache schaffen

Im Allgemeinen richten sich Family-Literacy-Projekte an Vor- und Grundschulkinder und ihre Eltern und sind in Schulen oder Gemeindezentren situiert. Am meisten bewährt hat sich ein Modell mit drei zentralen Arbeitsformen: Sitzungen mit Eltern, Sitzungen mit Kindern und gemeinsame Treffen mit Eltern und Kindern.

In Europa ist England Vorreiter für Family-Literacy-Program-me. In den 90er-Jahren erhielt die Basic Skills Agency (BSA) Fördermittel für vier Family-Literacy-Demonstrationsprogram-me, die 1993 in England und Wales umgesetzt wurden. Das Modell der BSA stand auf drei Säulen: Elternarbeit ohne Kin-der, bei der Eltern ihre eigene Grundbildung erweitern und lernen konnten, ihre Kinder in der Schule zu unterstützen, parallel laufende Kindersitzungen, in denen ein hochwertiger Vorschulunterricht zu den Bereichen Lesen, Schreiben und Sprechen angeboten wurde, sowie gemeinsame Eltern-Kind-Sitzungen, bei denen die Eltern regelmäßig die zuvor einzeln geübten Aktivitäten mit ihren Kindern ausprobierten. Die Demonstrations programme wurden erfolgreich evaluiert. Ihre Ergebnisse bezeugen eine begrenzte quantitative Ver-besserung der Elternbildung, eine deut liche Verbesserung der elter lichen Kompetenzen, ihre Kinder zu unterstützen, und eine teilweise Verbesserung der Schriftsprachkompetenzen der Kinder (Brooks et al. 1996).

Inzwischen gibt es in England eine Vielfalt an Programmen dieser Art, mit unterschied lichen thematischen Schwerpunk-ten. Nicht nur Literacy-, auch Numeracy-(Rechen-)Programme werden für unterschied liche Altersgruppen von 0 bis 6 ange-boten („Play and Language“, „Early Start“, „Family-Numera-cy“ etc). In den letzten Jahren hat sich im Kontext einer Studie zur Bedeutung der Großeltern für die Literacy-Entwicklung ihrer Enkelkinder ein Trend zu Family-Literacy-Maßnahmen für die Zielgruppe der Großeltern herausgebildet. Im Rahmen der nationalen „Skills for Life“-Initiative – einem Grundbil-dungsprogramm für Erwachsene – wurden allein im Jahr 2006 ca. 55.000.000 Euro in Alphabetisierungs- und Rechen-programme für Familien investiert. 95.000 Familien nahmen in diesem Jahr an Family-Literacy-Programmen teil. Zurzeit läuft eine weitere Evaluierung dieser Programme in England.

Das Hamburger FLY-Projekt, das im Jahr 2003 vom Lan-desinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung und dem UNESCO-Institut für Lebenslanges Lernen (damals noch UNESCO-Institut für Pädagogik) iniitiert wurde, war Teil des Modellprogramms FörMig (Förderung von Kin-dern und Jugend lichen mit Migrationshintergrund). Dieses Pilotprojekt, das sich stark an dem Modell der englischen Demonstra tionsprogramme orientiert hat, hatte als erstes Family-Literacy-Projekt in Deutschland eine Modellfunk-tion für andere Bundesländer. Es wird mittlerweile seitens

der Hamburger Bildungsbehörde an einer Transferstrategie für dieses Projekt gearbeitet. Es soll zum einen auf weitere Schulen ausgeweitet werden und zum anderen als Sprach-förderprogramm für Kinder im Übergang vom Kindergarten zur Schule eingesetzt werden.

Das UNESCO-Institut für Lebenslanges Lernen interessiert sich seit einigen Jahren für Family-Literacy-Konzepte, weil diese eine Brücke bilden zwischen formaler und non forma-ler Bildung und sich durch ihren generationsübergreifenden Charakter auf unterschied liche Kontexte anwenden lassen. Eine Recherche ergab, dass es familienorientierte Literacy-Programme in vielen Ländern auf allen Kontinenten gibt. Gerade von süd lichen Ländern wurde großes Interesse an Family-Literacy an das Institut herangetragen, andere äußer-ten Kritik an diesem Ansatz, der als Export aus den USA gilt und daher nicht für den Kontext der Entwicklungsländer ge-eignet zu sein scheint. Im November 2007 organisierte das Institut ein Treffen internationaler Family-Literacy-Experten („North-South Exchange on Family-Literacy“), um über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie über die Poten-ziale von Family-Literacy-Programmen zu diskutieren. 20 Pro-jekte aus Afrika, Asien und der Pazifikregion, der arabischen Welt, Lateinamerika, den USA, Kanada und Europa nahmen an dem Treffen teil. Die interessantesten Projekte und ihre unterschied lichen Ausprägungen werden im Folgenden kurz vorgestellt:

Family-Literacy-Projekt Südafrika: Mutter und Sohn lesen, © UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL)

Institutionalisiert sind Family-Literacy-Programme in England, Kanada, der Türkei und den USA. In diesen Ländern gibt es zumindest eine Mitwirkung seitens der nationalen oder föderalen Regierungen an der Förderung und Verbreitung dieser Programme. Auch in Neuseeland und Namibia sind Family-Literacy-Programme von den Regierungen initiiert und finanziert worden. In allen anderen Ländern haben diese Programme allenfalls Pilotprojektcharakter und werden von Nichtregierungsorganisationen durchgeführt.

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In Europa hat die Türkei die längste Erfahrung mit genera-tionsübergreifenden Lernansätzen, obwohl die Aktivitäten dort weniger im Blickfeld stehen als die englischen. Während der vergangenen fünfzehn Jahre hat die 1993 gegründete

Vakfi (AÇEV; englisch: Mother Child Education Foundation) landesweit Family-Literacy-Programme etabliert. Die Einrich-tung dieser Programme geht zurück auf eine Langzeitstudie, die den positiven Effekt der Einbeziehung der Mütter in Bil-dungsprogramme für Kinder nachgewiesen hat (Kagitcibasi et al. 2001). Die Stiftung betreibt Forschungsprojekte und führt Bildungsprogramme zur Förderung von Kleinkindern und Erwachsenen durch. Zielgruppe sind in erster Linie benach-teiligte Vorschulkinder und ihre Familien. Die Programme ha-ben bis heute über 300.000 Menschen und 3.500 Lehrkräfte erreicht. Das bekannteste Programm, das von AÇEV entwi-ckelt und zwischenzeitlich vom türkischen Bildungsministe-rium übernommen wurde, ist das „Mutter-Kind-Bildungspro-gramm“. Es hat eine Dauer von 25 Wochen und beinhaltet Gruppentreffen nur mit Müttern, Übungen, die Mütter mit ihren Kindern zu Hause praktizieren, und Hausbesuche durch das Lehrpersonal.

Ein von AÇEV durchgeführtes weltweit einzigartiges Projekt ist das „Förderprogramm für Väter“. Ziel dieses Programms ist, Vätern ein Bewusstsein für die Entwicklung und Erzie-hung ihrer Kinder zu vermitteln. In Gruppensitzungen, die einmal wöchentlich (ohne die Kinder) stattfinden, lernen Vä-ter, die Entwicklung ihrer Kinder besser zu verstehen, ihre kommunikativen Kompetenzen zu verbessern und einen demokratischeren Erziehungsstil anzunehmen. Sie werden außerdem dazu ermutigt, mehr Zeit mit ihren Kindern zu

verbringen und mit ihnen zu lesen und zu schrei ben. Das Programm richtet sich an Väter, die Kinder im Alter zwischen zwei und zehn Jahren haben. Das Förderprogramm für Väter hat bisher mehr als 13.000 Väter und ihre Kinder in 25 tür-kischen Provinzen erreicht. Die Evaluation des Programms zeigte deutlich, dass Väter, die am Programm teilgenommen hatten, ihre Einstellungen geändert hatten. Alle vier Faktoren des Testinstruments änderten sich signifikant: nicht traditio-nelles Rollenverhalten, nicht autoritäre Einstellungen, weni-ger kontrollierendes Verhalten und offene Kommunikations-formen. Väter wurden als weniger traditionell und weniger autoritär in ihrer Vaterrolle wahrgenommen. Darüber hinaus verbesserte sich auch die Kommunikation zwischen Vater und Kind (Koçak 2004).

Eine vorbild liche Arbeit mit Family-Literacy-Programmen wurde in Europa auch auf Malta geleistet. Im Jahr 2001 wurde in Anbindung an das Bildungsministerium Maltas die „Foundation for Educational Services“ (FES) gegründet, um eine Reihe innovativer Bildungsprojekte und Family-Literacy-Programme zu starten. Ein von der FES auf Malta durchge-führtes Programm ist „Nwar“, das als einziges Programm für

ältere Kinder mit hohem literalen Förderbedarf nachweislich sehr erfolgreich arbeitet. In England getestete Programme für ältere Kinder wurden mangels Erfolg wieder eingestellt.

Die Teilnahme an „Nwar“ ist auf zwei Familien pro Tutor be-schränkt. Die Mitwirkung der Eltern ist obligatorisch, um ei-nen kontinuier lichen Lernpro-zess zwi schen den einzelnen Sitzungen sicherzustellen. Die Sitzungen dauern eine Stunde und finden zweimal wöchentlich über einen Zeitraum von mindes-tens vier Monaten statt, der – je nach Bedürfnislage des Kindes – verlängert werden kann. Jedes Kind erhält nach seiner Einstu-

fung ein individuelles Lernprogramm, und die Familie be-stimmt selbst die Lernziele, die erreicht werden sollen. Das Nwar-Projekt ist 2002 angelaufen und stellt sieben im ganzen Land verteilte regionale Zentren mit 49 Tutoren, die jeweils ca. 180 Familien betreuen. Bis heute haben ca. 500 Fami-lien das Nwar-Programm durchlaufen, davon haben 40 % ihr Lernziel erreicht.

Programm zur Unterstützung von Vätern, Türkei, © UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL)

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Die 2004 durchgeführte externe Evaluation des Nwar-Pro-gramms bestätigte, dass das Programm eine sinnvolle Lern-erfahrung für Kinder und ihre Eltern darstellt. Signifikante Verbesserungen der Buchstabenerkennung, des Hör- und Sprechvermögens und – in geringerem Maße – der Deko-dierungsleistung konnten nachgewiesen werden (Wolfendale 2004).

Mutter und Sohn aus dem Nwar-Programm, Malta, © UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL)

In Südafrika gibt es das „Family-Literacy-Project“, das in der länd lichen Region Kwa Zulu-Natal durchgeführt wird. Die Vermittlung von Literacy-Kompetenzen in dieser Region wird dadurch erschwert, dass es an einem literalen Umfeld fehlt wie Büchern, Zeitschriften, Straßenschildern usw. Um den Teilnehmerinnen Zugang zu Lesematerial zu ermög lichen, hat das Projekt kleine länd liche Gemeindebibliotheken und auch mobile Bibliotheken eingerichtet. Um die gelernten Fä-higkeiten nicht wieder zu verlernen, werden die Mütter er-mutigt, Artikel für den Projekt-Newsletter zu schrei ben, Brief-freundschaften zu pflegen und mit ihren Kindern Tagebücher

Family-Literacy-Projekt Südafrika, © UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL)

zu führen. Um die Teilnehmerinnen zu motivieren, werden in den Kursen Themen angesprochen, die für das täg liche Le-ben der Familien relevant sind, wie Ernährung, Kindererzie-hung und HIV/Aids.

In Guatemala führt die Nationale Kommission für die Alpha-betisierung Erwachsener (CONALFA) ein Projekt durch, in dem Schulkinder ihren Eltern und Familienmitgliedern hel-fen, ihre schriftsprach lichen und Rechenkompetenzen zu verbessern. Diese Methode hat sich bewährt bei Menschen, die von herkömm lichen Alphabetisierungskursen aufgrund sozialer und gesellschaft licher Bedingungen schwer erreicht werden. Sie richtet sich vor allem an die indigene Bevölke-rung, die von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen ist.

In den palästinensischen Autonomiegebieten bietet die Nicht-regierungsorganisation „The Trust of Programs for Early Child-hood, Family and Community Education“ zahlreiche soziale und Bildungsprogramme für Familien an. Insbesondere das „Learn by Play“-Programm hat einen starken Literacy-Aspekt. Es wurde eingeführt, um der hohen Quote von Schulabbre-chern und Schülern mit mangelnden Lese- und Schreibkennt-nissen entgegenzuwirken. Zusätzlich zu der Ohnmacht der Schulen, die den zahlreichen sozialen Problemen in dieser Region nicht gewachsen sind, kommt die Ohnmacht vieler Eltern, die nicht in der Lage sind, ihre Kinder in der Schule zu unterstützen. Das „Learn by Play“-Programm arbeitet mit Schülern, ihren Eltern und Lehrern, um eine Zusammenar-beit zwischen Familien und Schule herzustellen, von der alle profitieren. Die Lehrer erhalten Fortbildungen, die sie bes-ser in die Lage versetzen, mit den Lerndefiziten der Kinder umzugehen. Weitere Akteure in diesem Programm sind junge

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hen ist aber teuer und findet nicht immer die Zustimmung der Lernenden, die sich größere Arbeitschancen erhoffen, wenn sie die offizielle Landessprache beherrschen (wie z. B. Fran-zösisch in Westafrika, Spanisch in Lateinamerika). Auch in Europa ist die Frage der Sprache, in der gearbeitet wird, ein Thema bei der Arbeit mit Migranten. Das Hamburger FLY-Projekt hat in diesem Zusammenhang zahlreiche vielsprachi-ge Materialien entwickelt.

Lehrerfortbildung ist ein weiterer wichtiger Aspekt, der für die Qualität von Family-Literacy-Programmen von vorrangiger Bedeutung ist. Die Qualifikationen des Lehrpersonals, das in diesen Programmen arbeitet, sind sehr unterschiedlich. Ideal wäre ein Team, das aus einem Experten der Erwachsenenbil-dung und einem Primarschullehrer besteht. Zusätzlich sind interkulturelle Kompetenzen von entscheidender Bedeutung. Die Einbeziehung der Eltern als „Botschafter“ und Schlüssel-personen ist immer eine zusätz liche wertvolle Ergänzung für den Erfolg dieser Programme. In einer gemeinsamen Erklä-rung wurde empfohlen, dass Family-Literacy-Programme ein integraler Bestandteil des Bildungsangebots jedes Landes sein sollten. Mehr Investitionen sind nötig, um den Forschungs-stand sowie die Nachhaltigkeit und Qualität dieser Angebote zu verbessern.

Weiterführende Literatur

Brooks, G., Gorman, T., Harman, D., und Wilkin, A. (1996) Family-Literacy works: the NFER evaluation of the Basic Skills Agency’s family literacy demonstration programmes. London: Basic Skills Agency

Brooks, G., Pahl, K., Pollard, A. und Rees, F. (2007) Effective and in-clusive practices in family literacy, language and numeracy: a review of programmes and practice in the UK and internationally. Reading, UK: CfBT

Elfert, M. und Rabkin, G. (Hrsg.) (2007) Gemeinsam in der Sprache baden: Family-Literacy. Internationale Konzepte zur familienorien-tierten Schriftsprachförderung. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen

Foundation for Educational Services (2004) Report on the Evalua-tion of the Nwar Programme carried out by Prof Sheila Wolfendale. Unveröffentlichter Bericht

Kagitcibasi, C., Sunar, D. und Bekman, S. (2001) Long-term effects of early intervention: Turkish low-income mothers and children. In: Applied Developmental Psychology 22, 333–361

Koçak, A. (2004) Evaluation report of the Father Support Program verfügbar auf der AÇEV website unter www.acev.org

Nickel, S. (2004) Family-Literacy – Familienorientierte Zugänge zur Schrift. In: ALFA-Forum 54–55

Sticht, T. (2006) Toward a Life Cycles Education Policy Online-Artikel verfügbar unter http://www.nald.ca/library/research/sticht/06dec/06dec.pdf

Taylor, D. (1983) Family literacy: young children learning to read and write. Exeter, NH: Heinemann

Frauen („große Schwestern“), die nach einer Fortbildung als Tutorinnen mit den Kindern Hausaufgaben machen.

Dieser kurze Überblick über verschiedene Family-Literacy-Programme soll zeigen, dass diese sehr stark abgestimmt sind auf die unterschied lichen kulturellen und sozialen Kontexte, in denen sie stattfinden. Das Grundprinzip ist jedoch überall das gleiche: Eltern und Kinder arbeiten gemeinsam, gleich-zeitig steht oft die Zusammenarbeit mit der Schule im Vor-dergrund.

In der Tat wurden von den Teilnehmern des „North-South Exchange on Family-Literacy“ viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede herausgestellt. Als „Mehrwert“ von Fami-ly-Literacy-Programmen wurden die folgenden Merkmale identifiziert: Diese Programme führen dazu, dass Eltern ihr Potenzial erkennen – oftmals werden sie zu Botschaftern für Bildung in ihrer sozialen Gruppe. Die Methoden aus der Erwachsenen- und aus der Primarbildung können sich gegen-seitig befruchten, und die Programme sind methodisch meist vieldimensional und modular. Family-Literacy-Programme haben breitere (Neben-)Effekte als „normale“ Alphabetisie-rungs- oder Grundbildungsprogramme. Neben den verbes-serten literalen Kompetenzen bewirken sie eine Verbesserung der Fähigkeiten der Eltern, die Lernprozesse ihrer Kinder zu Hause zu fördern, und ein erhöhtes Selbstbewusstsein der El-tern. Weitere Effekte sind die Verbesserung der Atmosphäre an Schulen, an denen diese Programme durchgeführt werden, sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule. Insgesamt wurde festgestellt, dass ein Family-Li-teracy-Element jedes Alphabetisierungs- oder Grundbildungs-programm verbessern kann.

Die Einbeziehung von Vätern ist eine große Herausforderung. Im Durchschnitt stellen die Väter nur 5 % der Teilnehmer. Der Umgang mit Vielsprachigkeit ist ein weiteres wichtiges Thema, das alle Länder betrifft. Studien haben gezeigt, dass Alphabetisierung zunächst in der Muttersprache stattfinden sollte, bevor die offizielle Sprache erlernt wird. Dieses Vorge-

„Learn by Play“-Programm in den palästinensischen Gebieten, © UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL)