Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF...

25
1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der Tod eines Optimisten Zur Erinnerung an den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski Autoren: György Dalos & Andrea Dunai Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Karin Beindorff Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Dienstag, 12.07.2016 , 19.15 Uhr Erzählerin: Frauke Poolman Sprecher 1 (Majakowski): Mark Zak Sprecherin 1 (Polinskaja): Ela Paul Sprecherin 2 (Studentin): Rebecca Madita Hundt Sprecher 2 (Student, Zitate): Florian Seigerschmidt Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

Transcript of Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF...

Page 1: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

1

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature Der Tod eines Optimisten Zur Erinnerung an den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski Autoren: György Dalos & Andrea Dunai Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Karin Beindorff Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Dienstag, 12.07.2016 , 19.15 Uhr Erzählerin: Frauke Poolman

Sprecher 1 (Majakowski): Mark Zak

Sprecherin 1 (Polinskaja): Ela Paul

Sprecherin 2 (Studentin): Rebecca Madita Hundt

Sprecher 2 (Student, Zitate): Florian Seigerschmidt

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© - unkorrigiertes Exemplar -

Page 2: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

2

Musik

Linker Marsch Interpret: Ernst Busch

„Linker Marsch“ Interpret: Kapelle Vorwärts vom Album „Solidaarisuus“

„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_“

Szene

Sprecher:

Möchtest Du wirklich zu deiner Theaterprobe gehen?

Sprecherin:

Ja! Begleitest Du mich?

Sprecher:

Nein, Mädchen, geh doch alleine... Und mach dir keine Sorgen wegen mir.

Ich rufe dich an. Hast du Geld fürs Taxi?

Sprecherin:

Nein.

Sprecher:

Hier, nimm. Ich rufe an.

Heiner Müller MAJAKOWSKI

Majakowski, warum

Der bleierne Schlußpunkt?

Herzweh, Wladimir?

»Hat sich

Eine Dame

Ihm verschlossen

Oder

Einem andern

Aufgetan?«

Nehmt

Page 3: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

3

Mein Bajonett

Aus den Zähnen

Genossen!

Blut, geronnen

zu Medaillenblech

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt

Im Winde

Klirren die Fahnen

Ansage:

Der Tod eines Optimisten

Zur Erinnerung an den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski

Ein Feature von György Dalos und Andrea Dunai

Erzählerin:

Moskau Lubjanski Passage Nr. 3, 1. Stock. Am 14. April 1930 10 Uhr 15 erschoss

sich in seinem Arbeitzimmer der Dichter Wladimir Majakowski.

Der kleine Raum war schlicht eingerichtet: in der linken Ecke ein Bücherschrank,

davor ein viereckiger Tisch mit Tischdecke und Teekocher. An den Seiten zur Wand

zwei Holzstühle. Daneben ein großer Kachelofen, gegenüber die Couch. Auf dem

Parkettboden lag ein abgenutzter Teppich. In der rechten Ecke der Schreibtisch mit

dem Telefon. Daneben zahlreiche Papierfetzen, Notizblöcke, Bleistifte und Federn.

Alles gut geordnet. Der Bürostuhl mit Blick auf den Schreibtisch.

Veronika Polonskaja erwischte der verhängnisvolle Knall noch im Flur, sie wollte

gerade die Ausgangstür öffnen. Der Schrei der jungen Frau war in den benachbarten

Wohnungen und sogar noch auf dem asphaltierten Hof zu hören. Im Nu versammelte

sich eine kleine Menschenmenge. Zitternd ging die Polonskaja in das Arbeitzimmer

zurück, neugierige Nachbarn hinterher. Der Dichter lag mit ausgestreckten Armen

Page 4: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

4

und Beinen auf dem Boden vor der Couch. Auf seiner Brust, unter dem Herz, war die

blutende Wunde zu sehen. Seine Pistole lag neben ihm.

Musik „UTP_“Ende

Ein Nachbar rief die Rettungskutsche. Der Notarzt traf schon bald ein und stellte den

Tod des 37jährigen fest.

Auf dem Schreibtisch hatte Veronika Polonskaja den Abschiedsbrief entdeckt.

Sprecher: Всем В том, что умираю, не вините никого и, пожалуйста, не сплетничайте. Покойник этого ужасно не любил. Мама, сестры и товарищи, простите - это не способ (другим не советую), но у меня выходов нет.

An Alle. Gebt niemandem die Schuld, dass ich sterbe, und bitte kein Gerede. Der

Verstorbene hat das ganz und gar nicht gemocht.

Mutter, Schwestern und Kollegen, verzeiht mir - das ist keine Methode, (anderen

empfehle ich nicht dies zu tun), ich habe jedoch keinen anderen Ausweg.

Lilja - liebe mich.

Werte Regierung, meine Familie sind: Lilja Brik, Mutter, die Schwestern und Veronika

Polonskaja.

Die angefangenen Gedichte - gebt sie den Briks - sie kennen sich aus.

Wie man so sagt, der Fall ist erledigt, das Boot meiner Liebe am Alltag zerschellt. Bin

quitt mit dem Leben. Es ist nicht nötig, dass man sich Not und Qual entgegenhält.

Den Hinterbliebenen Glück.

Wladimir Majakowski

Historischer O-Ton Majakowski russ/ später deutsch darüber

А вы могли бы?

Я сразу смазал карту будня,

плеснувши краску из стакана;

я показал на блюде студня

косые скулы океана.

Page 5: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

5

На чешуе жестяной рыбы

прочел я зовы новых губ.

А вы

ноктюрн сыграть

могли бы

на флейте водосточных труб?

Sprecher

Mit Farbe spritzte aus dem Glas ich,

daß gleich des Alltags Plan verwischte;

auf einem Teller Sülze las ich

das schiefe Maul der Meeresgischte.

Ein neuer Mund hat mich beschworen,

am Blechfisch konnte ich es spürn:

Ach,

würden Sie

auf Leitungsrohren

mir bitte flöten ein Nocturne?

(Deutsch Alexander Nitzberg)

Erzählerin:

Wer waren die Familienmitglieder? In der von Majakowski beschriebenen

Reihenfolge:

Lilja Brik – sie war Grande Dame der Moskauer Avantgardeszene. Obwohl mit Ossip

Brik verheiratet, war sie jahrelang Geliebte und Muse Majakowskis. Als die Liaison

mit dem Dichter zu Ende ging, blieben sie in der großen Wohnung zusammen, lebten

dort zu dritt. Lilja Brik unterhielt hier ihren literarischen Salon - von den

Sowjetbehörden geduldet.

Page 6: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

6

Die Mutter: eine ungelernte Frau, Witwe eines Försters. Sie versuchte ihrem einzigen

Sohn eine gute Ausbildung zu ermöglichen, doch es gelang ihr nicht, das Schulgeld

für die Mittelschule aufzubringen, 1908 wurde er deshalb von der Schule

ausgeschlossen. Bald begann Majakowski - viele Jahre vor der Oktoberrevolution -

an den Aktionen der Bolschewiki teilzunehmen. Mutter und Sohn hatten ein

liebevolles Verhältnis. Später, als Majakowski bereits ein bekannter Dichter war, griff

er der Mutter regelmäßig mit Geld unter die Arme.

Die Schwestern: Olga und Ludmila - freie Künstlerinnen. Die Geschwister hielten im

Guten wie im Schlechten immer zusammen.

Und zuletzt: Veronika Polonskaja, die 21 jährige Schauspielerin im Ensemble des

Moskauer Künstlertheaters. Sie war bildhübsch und intelligent, verkehrte in den

fortschrittlichen literarischen Kreisen der Hauptstadt. Sie erschien in Majakowskis

Leben erst ein Jahr vor seinem Tod. Sie verliebten sich in einander, doch die

Polonskaja war mit einem Schauspielerkollegen verheiratet.

Majakowski war der Dichter der russischen Revolution. Er war Lyriker und

Theaterschriftsteller, Maler, entwarf Agitprop-Plakate, schrieb für die Sowjetmacht

Oden und politische Propagandatexte.

Musik Linker Marsch Abweichung Sprecher: Da jammern der Alten Brigaden

Das gleiche Jammerlied meist.

Kameraden!

Auf die Barrikaden!

Barrikaden von Herz und Geist.

(Deutsch Hugo Huppert)

Musik Ende

Erzählerin:

Majakowski vertrat eine Dichtung voller Lebensbejahung, Optimismus,

Zukunftsorientierung und verzichtete als Poet des Kollektivismus zunehmend auf

Liebeslyrik. Obwohl er bereits vor der Revolution kommunistische Flugblätter verteilte

und deswegen verhaftet wurde, seine eigentliche revolutionäre Überzeugung reifte in

den zwanziger Jahren. Ohne Mitglied der Partei zu sein, propagierte er die

Page 7: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

7

bolschewistische Diktatur im In- und Ausland, wofür ihm das Regime zunächst

dankbar war.

Musik

Sprecher russ./deutsch

Вот лежу,

уехавший за воды,

ленью

еле двигаю

моей машины части.

Я себя

советским чувствую

заводом,

вырабатывающим счастье.…

Wie ich, jenseits der Wasser, hier müßig lieg -

kann vor Trägheit ich kaum meine Maschinenteile rühren.

Ich betrachte mich, als eine Sowjetfabrik,

erbaut, um Glück zu produzieren.

(Deutsch Hugo Huppert)

Erzählerin:

Majakowskis Lyrik erneuerte die russische poetischen Sprache, ihren Rhythmus und

ihre Reimtechnik. Er erfand seine eigene Versform, die so genannten Treppenzeilen.

Sprecher:

Гражданин фининспектор!

Простите за беспокойство.

Спасибо...

не тревожьтесь...

я постою...

У меня к вам

дело

деликатного свойства:

о месте

Page 8: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

8

поэта

в рабочем строю.

Genosse Steuerinspektor,

wolln Sie die Störung nicht verdenken!

Danke...

ist nicht nötig...

ich kann stehn...

Ich bat,

meiner delikaten

Frage

Ihr Gehör zu schenken:

Wo ist der Platz

des Dichters

im Arbeiterstaat?

(Deutsch Hugo Huppert)

Musikakzent

Erzählerin:

14. April 1930: Der Leichnam wurde zunächst noch in Majakowskis Zimmer

aufgebahrt. Im Theater trafen die Schauspieler allmählich ein, um in ihre Kostüme zu

schlüpfen. Auf dem Spielplan dort stand – ausgerechnet an seinem Todestag -

Majakowskis satirisches Bühnenstück " Das Schwitzbad", ein ‚Drama mit Zirkus und

Feuerwerk‘, inszeniert vom revolutionären Regisseur Wsewolod Meyerhold. Bald

nach der Uraufführung wurde es verboten. Wieder, an einem anderen Ort der

Metropole, an der Kusnetzkij Brücke, im Gebäude der Staatsanwaltschaft der

Moskauer Region, wurde an diesem Abend eine hellbraune Mappe mit dem Titel

"Selbstmord von W. Majakowski - Vorgang Nr. 50" angelegt. Die Aussage der ersten

Zeugin, Veronika Polonskaja wurde ungefähr um 17 Uhr 30 handschriftlich verfasst

und dann mit Schreibmaschine aufgesetzt. Sie musste über ihre letzten 24 Stunden

vor dem Selbstmord Rechenschaft ablegen.

Page 9: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

9

Sprecherin:

Am 13. April, wie ich es mit Majakowski ausgemacht hatte, hat er gegen 11 Uhr

angerufen. Kurz darauf zog ich mich an und verließ meine Wohnung. Majakowski

wartete schon auf der Straße. Er ist mit seinem Auto gekommen - der Fahrer blieb im

Wagen. Wir fuhren zum Theater, meine Probe fing um 12 Uhr an. Während der Fahrt

haben wir uns unterhalten. Er fragte mich, welche Entscheidung ich getroffen habe.

Daraufhin antwortete ich, dass ich mit meinem Ehemann gesprochen habe und er

sagte, ich solle aufhören, Majakowski zu treffen.

Sprecher:

Na, und Du?

Sprecherin:

Ich liebe dich nicht, lass mich in Ruhe, fahr einfach irgendwohin, nur für kurze Zeit.

Specher:

Ich werde Dich verlassen, ich will es versuchen.

Sprecherin:

Ich stieg am Theater aus. Während der Proben hat er mehrmals angerufen, ich bin

zweimal zum Telefon gegangen. Ich spürte, dass er in einem erbärmlichen Zustand

war. Ich sagte ihm, er solle keine Dummheiten machen und versprach nach der

Nachmittagsvorstellung zu ihm zu fahren. Nach 16 Uhr bin ich bei ihm angekommen.

Er war gut drauf. Ich bat ihn drei Tage lang mich in Ruhe zu lassen, danach könnten

wir uns wieder sehen. Ich blieb ca 30 Minuten beim ihm. Danach fuhr er mich mit

dem Auto nach Hause. Er fuhr dann zurück. Gegen 19 Uhr rief er an

Sprecher:

Entschuldige, es tut mir leid, ich hatte ja versprochen, nicht anzurufen. Aber mir ist

langweilig, kannst Du nicht herkommen.

Sprecherin:

Das werde ich bestimmt nicht tun.

Sprecher:

Was machst Du heute Abend?

Sprecherin:

Ich gehe zu den Katajews, sie haben mich eingeladen.

Sprecher:

Bis dann.

Er legt den Hörer auf.

Page 10: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

10

Sprecherin:

Um 22 Uhr bin ich mit meinem Mann zu den Katajews gefahren. Majakowski war

schon da, saß im hinteren Zimmer und war angetrunken. In diesem Haus haben wir

uns ein Jahr zuvor kennengelernt. Es kam zu einem Wortwechsel, ich bat ihn zu

gehen. Aber er blieb und begleitete sogar mich und meinen Mann um drei Uhr früh

nach Hause. Beim Abschied sagte er, er habe was mit uns beiden zu besprechen

und deshalb würde er später, am Morgen zu uns kommen. Um 9 Uhr 15 rief er an, er

sagte, er komme, aber ich solle hinunter gehen, um ihn zu empfangen. Er war mit

dem Auto gekommen. Er entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten vom Vortag.

Er wäre krank und nervös gewesen. Er bat mich zu ihm zu fahren. Ich willigte ein.

Das war gegen 10 Uhr. Wir sind in das Zimmer gegangen, ich setzte mich auf die

Couch, er auf den Boden.

Er bat mich, mindestens zwei Wochen zu bleiben. Ich sagte, es gehe nicht, ich liebe

ihn nicht. Woraufhin er sagte: also gut. Wir sind aufgestanden. Er sagte, er rufe mich

später an. Er wollte mich nicht ins Theater begleiten.

Erzählerin::

Veronika Polonskaja hatte den Dichter als Letzte lebend gesehen.

Acht Jahre nach Majakowskis Tod füllte sie ein ganzes Heft über ihre Beziehung zu

Majakowski, ohne an eine Publikation zu denken und deponierte das Manuskript im

Majakowski-Museum. Hier erzählte sie die Geschichte mit verblüffender Offenheit.

Sie schrieb über den Jahresanfang 1930:

Sprecherin:

Ich war zu der Zeit schwanger von ihm, ließ abtreiben. Das hat mich psychisch sehr

belastet. Ich war vom Doppelleben und den Lügen erschöpft. Nach der Operation,

die nicht ganz erfolgreich verlief, litt ich unter einer furchtbaren Apathie und

irgendeinem Widerwillen gegen körperliche Beziehungen. Majakowski konnte sich

damit überhaupt nicht versöhnen. Ihn quälte meine physische Gleichgültigkeit.

Deswegen hatten wir viele schwere, qualvolle und dumme Streitigkeiten. Damals war

ich zu jung, um das alles zu begreifen und Majakowski davon zu überzeugen, dass

dies nur eine vorübergehende Depression sei, und wenn er mich für eine Weile in

Ruhe ließe, dann würde sich alles allmählich legen und wir könnten zu unserem

früheren Verhältnis zurückkehren.

Page 11: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

11

Erzählerin:

Im Frühjahr 1929 hatten sich der Dichter und die Schauspielerin kennenlernt, in den

ersten Monaten trafen sie sich fast jeden Tag.

Sprecher:

Любить -

это с простынь,

бессонницей

рваных,

срываться,

ревнуя к Копернику,

его,

а не мужа Марьи Иванны,

считая

своим

соперником.

Lieben

heißt:

dass man nicht schlafen kann,

gepeinigt nachts

von Eifersuchtsqualen:

ein Kopernikus

(nicht Lieschen Müllers Mann)

erwächst uns

zum wahren

Rivalen.

(Deutsch Hugo Huppert)

Erzählerin:

Majakowski war als Frauenheld bekannt und hatte gerade eine andere Liebeskrise

hinter sich. Auf seiner letzten großen Tournee in Paris im Frühjahr 1928 traf er die

Page 12: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

12

aus Russland stammende Tatjana Jakowlewa, eine Schönheit, fünfzehn Jahre jünger

als er. Sein elegantes Erscheinungsbild, modische Kleidungsstücke und Schuhe,

galante Manieren, imposante Gestalt und nicht zuletzt seine Popularität nahmen

Frauen für ihn ein. Auch bei der Pariser Affäre meinten die Freunde, unter ihnen die

Briks, dass es sich um einen leichten Flirt handelte. Doch der Dichter hielt nach

wenigen um Tatjanas Hand an. Er wollte die junge Frau nach Moskau bringen, nur

wollte Tatjana, auf das Pariser Leben nicht verzichten. Und für Majakowski, den

Dichter der russischen Revolution, kam eine Übersiedlung nach Paris nicht in Frage.

Das Gespräch über eine gemeinsame Zukunft wurde vertagt. Zurück in Moskau las

er im Kreis der engsten Freunde sein Gedicht an Tatjana vor.

Sprecher:

Ты одна мне ростом вровень.

Стань же рядом сбровью брови,

дай про этот важный вечер

рассказать по человечьи.

Du, im Wuchs allein mir gleichend,

Brauennah den Blick mir reichend,

sollst von diesem ersten Abend

Menschliches zu sagen haben.

(Deutsch Hugo Huppert)

Erzählerin:

Der stürmische Beifall der Freunde wurde nur von Lilja Brik nicht geteilt. Bis dahin

hatte der Lyriker alle seine Liebesgedichte ausschließlich ihr gewidmet.

Majakowskis Verhältnis zu Westeuropa und den USA war mindestens gespalten.

Einerseits verfasste er nach jeder Reise Gedichte, in denen er Niederträchtigkeit und

Scheinheiligkeit der bourgeoisen Welt entlarvte. Andererseits genoss er diese

Auslandsaufenthalte als eine Atempause, die ihn wenigstens zeitweise von dem

anstrengenden sowjetischen Alltag befreiten. Und je schwieriger es wurde, eine

Ausreisegenehmigung zu bekommen, desto mehr wuchs seine Sehnsucht nach dem

Grenzübertritt. Dieses Gefühl verewigte er in einem Gedicht über den sowjetischen

Reisepass – getarnt als Dankbarkeitsgeste. Er erzählt darin, mit welchem Hass

Page 13: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

13

Grenzbeamte der kapitalistischen Staaten seinem „Passeport“ begegnen, während er

doch auf dieses Dokument stolz sei.

Musik

Sprecher (russisch)

Я волком бы

выграз

бюрократизм.

К мандатам

почтения нету.

Mit Wolfszähnen wollte ich den Amtsschimmel fassen,

ich spotte jedes gestempelten Scheins.

Jeden Aktenwisch würd ich dem Teufel überlassen,

jedes Amtsformular. Bis auf eins...

Das will ich aus breitem Hosenbausch ziehn -

meines Daseins unschätzbaren Lohn.

Da, lest, beneidet mich, seht, wer ich bin:

Bürger der Sowjetunion.

(Deutsch Hugo Huppert)

Musik Ende

Erzählerin:

Lilja Brik wusste wohl auch von anderen Gründen für die Ambivalenz ihres Freundes:

Drei Jahre vor der Pariser Liebe lernte Majakowski während einer Lesereise in den

USA 1925 Elli Jones, eine junge Amerikanerin, ebenfalls mit russischen Wurzeln

kennen. Die Geliebte wurde schwanger und brachte ein Mädchen zur Welt. Der

Dichter erkannte die Vaterschaft an und traf seine Tochter Anfang 1928 ein einziges

Mal in Nizza. Lilja Brik begann zu fürchten, dass Majakowski von der nächsten

Westreise vielleicht nicht zurückkehren würde: Der Dichter als Emigrant und damit

Unperson – undenkbar.

Page 14: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

14

Im Frühjahr 1929 kam Majakowski und erst recht Lilja Brik, die Beziehung mit der

Polonskaja also gerade recht.

Sprecher: russ/deutsch

Ich will: die Heimat soll mich verstehn.

Doch wenn sie nicht will, ja nun –

dann heißt’s: an der Heimat vorübergehn,

wie die schrägen Regen es tun…

Erzählerin:

Der Jahresbeginn 1930 war ein Tiefpunkt in Majakowskis Leben. Er machte sich

Sorgen um seinen Ruhm als Poet. Die offizielle Kulturbürokratie widmete ihm zu

wenig Aufmerksamkeit, fand er, und das literarische Milieu ignorierte ihn immer

häufiger. Gerade hatte er die Poeme "Mit aller Stimmkraft" beendet. Darin zog

Majakowski eine Art Bilanz seines Oeuvres:

Sprecher:

"Dichten ist wie Uran gewinnen: Arbeit ein Jahr, Ausbeute ein Gramm."

Erzählerin:

Seine Hoffnungen wurden enttäuscht, das Werk blieb ohne größere Resonanz. Zwar

wurde der Dichter immer noch zu gut besuchten Lesungen eingeladen, aber sein

Missmut war nicht zu überhören.

Die Partei unterstützte nun die Avantgardegruppe Linksfront nicht mehr, zu der

Majakowskij gehörte, sondern förderte den sogenannten "Proletkult", "proletarische

Schriftsteller", für die Majakowskijs Lyrik zu modern und individualistisch war. Zwar

wurde der ‚Dichter der Revolution‘ noch toleriert, aber man brauchte sein

leidenschaftliches und schwer lenkbares Engagement nicht mehr - Speichellecker

kamen in Mode.

Saalatmo

Sprecher:

Genossen! Man verbreitet über mich, dass ich zum Zeitungsdichter wurde, über die

Dinge von höherer Bedeutung wenig schreibe. Jetzt beweise ich Ihnen das

Page 15: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

15

Gegenteil. Ich bin ein entschlossener Mensch, ich will selbst mit den Nachkommen

sprechen, und nicht abwarten, was ihnen meine zukünftigen Kritiker erzählen

werden. Deshalb wende ich mich direkt an die Nachkommen mit meinem Poem, "Mit

aller Stimmkraft", das ich als das Beste unter meinen Werken betrachte. (Von hier

pathetisch, deklamierend.)

Auch mir wächst die Agitpropkunst zum Halse heraus,

auch ich schriebe Goldschnitt und Federstrauss -

das wär was fürs Checkbuch und Seele.

Doch ich bezwang mich, trat bebenden Hauchs

dem eigenen Lied auf die Kehle.

(Pause) Nein, ich werde nicht mehr Gedichte vorlesen. Ich kann es nicht machen.

Erzählerin:

Die Lesung im Moskauer Polytechnischen Museum unterbrach er abrupt, stand auf

und verschwand hinter den Kulissen.

Kurz darauf übermannte ihn plötzlich ein Schwächeanfall. Der Winter war kalt und es

regnete viel. Majakowski fiel aus einer schweren Erkältung in die nächste. Als seine

Stimme immer heiserer wurde, dachte er an eine Grippe, befürchtete Schlimmes:

den völligen Verlust der Stimme und damit das Ende der öffentlichen Auftritte. Seine

engsten Freunde, die Briks befanden sich gerade auf einer Westreise und er

verbrachte viele Abende einsam in seinem Arbeitzimmer. Wenn er nicht schrieb, ihn

nicht düstere Gedanken quälten, dann ging er auf und ab in seiner Stube oder stand

unbeweglich vor dem Kaminofen. Er lebte von seinen Rendezvous mit der

Polonskaja.

Sein literarisches Fiasko schien ihm unaufhaltsam. Im Januar 1930 hatte er erfahren,

dass der Klub der Schriftsteller die Ausstellung "20 Jahre Kunsttätigkeit Wladimir

Majakowskis" in sein Programm aufgenommen hatte, und zwar mit Absicht ganz

kurzfristig. Bald stellte sich heraus, dass sich niemand um die Exponate kümmerte.

Der Dichter selbst war gezwungen, die Vorbereitung in die Hand zu nehmen. Für

eine kurze Zeit flackerte sein Enthusiasmus wieder auf: er klebte Poster, bügelte

Revolutionsplakate, deren Texte er seinerzeit verfasst hatte, ordnete Fotos, lief zu

Photographen, um Kopien oder Vergrößerungen machen zu lassen. Die Ausstellung

nahm allmählich Gestalt an, aber zur Vernissage im März kamen nur begeisterte

Page 16: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

16

junge Leute. Die Kollegen und die offiziellen Kulturfunktionäre mieden das Ereignis.

Majakowski hielt die Eröffnungsansprache:

Sprecher:

Genossen! Ich freue mich darüber, dass hier nicht die Übereifrigen und

Speichellecker, diese Ästheten anwesend sind, denen es egal ist, wo sie hingehen

und wen sie begrüßen, Hauptsache, dass es ein Jubiläum gibt. Auch Schriftsteller

sind nicht da. Das ist auch gut. Wir kommen ohne sie klar. Ich freue mich, dass

Moskaus Jugend gekommen ist. Ich grüße Euch.

Erzählerin:

Am 9. April 1930 wurde er dann zu einer Veranstaltung im Institut für Volkswirtschaft

eingeladen. Diesmal war der Saal nur halb voll. Dann las er und wurde beinahe bei

jeder Zeile unterbrochen. Als ob ihn die Studenten provozieren wollten.

Sprecher:

Genosse Majakowski! Sie benutzen vulgäre Ausdrücke.

Sprecherin:

Ich verstehe Ihr Gedicht "Wolke in Hosen" nicht.

Sprecher:

Die Werktätigen verstehen die Gedichte deshalb nicht, weil Sie die Gewohnheit

haben, die Zeilen abzuschlagen.

Sprecherin:

Majakowski muss beweisen, dass man ihn in zwanzig Jahren auch lesen wird. Wenn

er das nicht machen kann, soll er lieber mit dem Schreiben aufhören.

Erzählerin:

Am Theater erging es ihm nicht viel besser. Am 16. März 1930 fand die Uraufführung

seines Bühnenstückes "Das Schwitzbad" statt. In dem satirischen Drama in sechs

Akten mit Zirkus und Feuerwerk geht es um den bürokratischen Alltag des jungen

Sowjetstaates, dem der Dichter eine lichte Zukunft irgendwann in der 2. Hälfte des

Jahrhunderts gegenüberstellt. Die Inszenierung wurde in Meyerholds Moskauer

Avantgardetheater aufgeführt. In den Zeitungen hagelte es Verrisse.

Page 17: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

17

Sprecher:

Man muss offen sagen, es wurde ein schlechtes Stück geschrieben. Der Zuschauer

bleibt emotional unberührt und folgt mit kalter Gleichgültigkeit der Handlung, die

teilweise unklar ist. Regisseur Meyerhold gelang es nur den feuilletonistischen Text

zu retten, welcher sich schwer liest und auf der Bühne farblos anhört. Alles in diesem

Bühnenwerk wirkt kalt und angestrengt. Die Vorstellung ist ein Fiasko. Das

Schwitzbad braucht einen Vorleser und kein Theater.

Erzählerin:

Majakowski erlebte nicht nur einen Tiefpunkt in seiner künstlerischen Arbeit, auch

seine finanzielle Lage war nun bedroht. Mit seinen Gedichtbänden und vor allem den

öffentlichen Auftritten verdiente er mehr als der Durchschnitt der Sowjetbürger, doch

er konnte sein Geld nicht zusammenhalten, lebte verschwenderisch. Wenn er in den

teuersten Restaurants aß, lud er gerne seine Freunde ein. Er trank mit Vorliebe Wein

und Sekt, spielte Billard und Karten. Während seiner letzten Auslandsreise 1929

kaufte er einen Renault. Und weil er selber nicht fahren konnte, beschäftigte er einen

Chauffeur. Er mietete ein Arbeitszimmer in der Lubjanska Passage und wohnte

unweit in einer großen, bürgerlichen Wohnung zusammen mit Lilja Brik und ihrem

Ehemann Ossip.

Lilja Brik war die erste Leserin und Kritikerin von Majakowskis Gedichten. In das

Leben zu dritt investierte Majakowski viel Kraft. Eine Haushaltshilfe wurde von der

Gewerkschaft zur Verfügung gestellt. Majakowski musste dafür einen Antrag stellen

und führende Genossen von der Notwendigkeit dieses häuslichen Beistands

überzeugen. Die Dreiecksidylle musste von den Tantiemen des Dichters gesichert

werden und die Ansprüche waren keine geringen. Als Majakowski 1928 nach Berlin

und Paris reiste, wurde ihm von Lilja Brik eine Einkaufsliste mitgegeben.

Sprecherin:

In Berlin: Gestrickte Kostüme, Größe 44, dunkelblau, dazu Wollschal für die

Schultern, Bluse, die ich mit Krawatte trage, dünne Strümpfe, nicht sehr hell,

Strumpfhalter, siehe das mitgegebene Muster, Luster, einen roten und einen blauen.

In Paris: Zwei lustige Wollkleider aus weichem Textil, das eine soll exzentrisch sein

aus Krepp-Georgette, wenn möglich, blumig und bunt. Wenn es geht, mit langen

Ärmeln, kann aber auch ohne sein - zum Neujahrsfest. Strümpfe, Halsketten, wenn

Page 18: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

18

noch in Mode sind, blaue Handschuhe. Sehr modische Nichtigkeiten. Taschentücher.

Handtasche - kann man auch im KDW preisgünstig kaufen. Eine schöne Uhr, die

man für eine Woche aufziehen kann.

Parfum Rue de la Paix, mon Boudoir, zwei Dosenpuder, Augenstift Brun.

Zum Auto: Spielzeug für die hintere Fensterscheibe, Autohandschuhe, alle mögliche

Kleider zum Autofahren.

Musik Ende

Erzählerin:

In der Sowjetunion der 20er Jahre konnten Künstler, die die Mittel dazu hatten, noch

relativ leicht ins kapitalistische Ausland reisen, dort auch ihre Werke publizieren.

Doch der Pass musste im zuständigen Polizeirevier beantragt werden, der

Geheimdienst sprach ein Wörtchen mit. Majakowski veröffentlichte seine Lyrik in

vielen Ländern und das Regime förderte seine Reisen, weil seine Auftritte

propagandistische Pluspunkte einbrachten. Seine Honorare erhielt er bar ausbezahlt

und musste darüber auch keine Rechenschaft ablegen. Die inländischen Einkünfte

wurden hingegen rigide versteuert. Sie lagen bei Majakowski 1929 höher als

gewöhnlich. In dem Jahr erschienen von ihm drei Bücher, seine Gedichte wurden in

Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Ignorieren konnte man ihn aufgrund seiner

enormen Popularität nicht, und die Bücher hatten damals in der Sowjetunion sehr

hohe Auflagen - bis in die Hunderttausend.

Anfang 1930 forderte das Finanzamt die ausstehende Einkommensteuer in Höhe

von 20.000 Rubel und Majakowski verfügte über so gut wie gar keine Reserven. In

seiner Schreibtischschublade lagen gerade 2.000 Rubel.

Musik „attack/transition“, Alva Noto & Ryuichi Sakamoto, Album „UTP_“

Erzählerin:

Die Ermittlungen setzten sich fort. In der hellbraunen Mappe "Vorgang Nr. 50" hat der

Staatsanwalt die Zeugenaussagen und Expertenberichte abgeheftet, es waren

immer mehr geworden. In den Unterlagen befand sich auch die auf Majakowskis

Namen ausgestellte Erlaubnis eine Waffe zu besitzen. Der Browning-Revolver, die

Page 19: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

19

Lederhülle und die abgefeuerte Kugel gehörten ebenfalls zu den Beweismitteln.

Soweit handelten die offiziellen Behörden korrekt. Gleichzeitig wurde eine andere,

geheime Untersuchung in die Wege geleitet: Die GPU, Vorläuferin des KGB,

studierte den für die Staatsmacht äußerst prekären Fall – den Suizid des Optimisten

Nr. 1. - sondierte die Stimmung und schickte ihre Geheimagenten unters Volk.

Sprecher:

Sein Tod löste eine Welle von Rätselraten aus, die ich zusammenzufassen versuche:

a.) Eine ziemlich große Gruppe von Menschen ist davon überzeugt, dass hinter

diesem Tod ein politischer Grund steckt, also nicht die "Liebesgeschichte", sondern

die Enttäuschung über das sowjetische Regime.

b.) Es wird behauptet, dass im Abschiedsbrief in der Zeile der "Familienangehörigen"

der Name V. Polonskaja ursprünglich nicht stand, sondern dass dieser vom Ermittler

hineingeschrieben wurde, um "den politischen Grund der Sache" zu vertuschen und

die Liebesaffäre in den Vordergrund zu stellen. Dies wird sogar von vielen ernsthaft

wiederholt.

c.) Man klatscht viel darüber, dass es schwer ist, in der Sowjetunion zu leben und die

Menschen deshalb in den Freitod flüchten.

d.) Die allgemeine Stimme: der Verstorbene war ein Schuft - er habe zwei

verheiratete Frauen geschändet.

e.) Man behauptet, dass Majakowski an Syphilis erkrankt war. Diese Information

sollten angeblich die Ärzte bestätigen, welche die Obduktion durchführten.

f.) Ich habe gehört, dass eine Gruppe von Dichtern sich entschlossen hat,

gemeinsam Selbstmord zu begehen, um dem Ausland zu beweisen, dass die

Schriftsteller in der Sowjetunion schlecht leben und die Zensur sie erdrosselt.

g.) Als Anekdote wird herumerzählt, dass der Verstorbene vor dem Tod die

Literaturzeitung las, welche die Selbstauflösung einiger Künstlergruppen publizierte.

Daraufhin jagte er sich die Kugel ins Herz.

Musik Ende

Erzählerin:

Die Behörden waren in der Tat besorgt. Majakowski genoss eine außerordentliche

Popularität im Lande. Eine Selbstmordstatistik gab es nicht und über dem Thema lag

Page 20: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

20

ein Tabu. Jeder Tod einer bekannten Person, die freiwillig aus dem Leben schied,

erregte höchste Aufmerksamkeit. Verzweiflung, Depression, Enttäuschung passte

nicht in das dynamisch-propagandistische Konzept der Sowjetmacht. Nicht jeder Fall

ließ sich verheimlichen und dann beschränkten sich die offiziellen Tonangeber auf

die bloße sachliche Information. Die Nachrufe behaupteten, der Auslöser von

Majakowskis Selbstmord sei von rein persönlicher Naturgewesen, habe mit seiner

politischen und literarischen Tätigkeit nichts zu tun. Nur glaubte das kaum jemand.

Zu frisch war noch die Erinnerung an eines der erschütternsten Abschiedsgedichte

der russischen Poesie, aus der Feder von Majakowskij Kollegen, Sergej Jessenin.

Jessenin erhängte sich 1925 in einem Leningrader Hotel und hinterließ dort seine

Abschiedszeilen.

Sprecher russ/deutsch

До свиданья, друг мой, без руки, без слова,

Не грусти и не печаль бровей,—

В этой жизни умирать не ново,

Но и жить, конечно, не новей.

Hand und Wort? Nein, laß – wozu noch reden?

Gräm dich nicht und werd mir nicht so fahl.

Sterben –, nun, ich weiß, das hat es schon gegeben;

doch: auch Leben gabs ja schon einmal.

Erzählerin:

Der "offizielle Optimist" Majakowski reagierte prompt, er verurteilte Jessenins Suizid

und paraphrasierte sein Abschiedsgedicht.

Sprecher:

Unser Erdplanet erweist den Lustbarkeiten wenig Gunst.

Jede Freude muß dem Kommenden entrissen werden.

Sterben ist hienieden keine Kunst.

Schwerer ists: das Leben baun auf Erden.

В этой жизни помереть не трудно.

Сделать жизнь значительно трудней.

Page 21: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

21

Erzählerin:

Vier Jahre später brachte sich auch Majakowskij um. Man fürchtete, dass sein Tod

eine Selbstmordwelle nach sich ziehen könnte.

Ein Polizeispitzel hat ausgekundschaftet, dass auch der Zustand von Michail

Bulgakow, Autor des damals verbotenen Romans "Der Meister und Margarita"

besorgniserregend sei.

Sprecher:

Es wird in allem Ernste erzählt, dass jetzt Bulgakows Selbstmord an der Reihe sei.

Man sah ihn mit düsterem Gesicht auf der Strasse. Er würde nicht aus dem Land

gelassen, man demütige ihn. Seine letzten Werke wurden nicht genehmigt,

gleichzeitig fürchteten die Theaterleute seinen Schatten, wichen ihm aus, damit sie

nicht verdächtig wurden.

Erzählerin:

Absurderweise kam dieses Gerücht Bulgakow gerade gelegen. Die Sektion

Dramaturgie des Theaterverbands entschied sich, offensichtlich auf die Intervention

höherer Parteiinstanzen, Bulgakow eine Sofortbeihilfe in Höhe von 500 Rubel zu

gewähren.

Die Panik war dermaßen groß, dass über den potenziellen Selbstmordkandidaten

sogar Stalin in Kenntnis gesetzt wurde. Der Diktator nahm die Agenteninformationen

ernst, sodass er Bulgakow persönlich anrief und sich nach seiner Gesundheit

erkundigte.

Musik Linker Marsch-Abweichung

Erzählerin:

Die offizielle Trauerzeremonie für Wladimir Majakowski fand im Hof des Hauses der

Schriftsteller statt. Zehn Oratoren hielten auf der Terrasse Reden. Führende Literaten

trugen dann den mit rotem und schwarzem Tuch verhüllten Sarg auf der Worowskij

Straße auf einen Lastwagen. Tausende folgten der Zeremonie, selbst die

Hausdächer waren schwarz vor Menschen. Und es wimmelte von Spitzeln.

Musik Ende

Page 22: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

22

Sprecher:

Die Beerdigung bot ein ziemlich skandalöses Bild. Beim Krematorium musste die

Polizei in die Luft schießen, da die Menschenmenge das Tor zertrümmerte. Eine

Viertelstunde lang konnte man den Verstorbenen nicht hineinbringen. Dann fuhr der

Lastwagen mit dem Sarg auf das Gelände. Die Anhänger des Dichters randalierten.

An seinem Grab defilierten Massen vorbei, viele Menschen, die nie eine Zeile von

Majakowski gelesen hatten: Alte Frauen noch älterer Zeiten, pensionierte

Armeeangehörige, Melkerinnen, Weiber mit Säuglingen auf dem Arm und sogar

Pfarrer.

Erzählerin:

Obwohl die Partei mit ihrem Dichter nicht sehr pietätvoll umging, wusste man sehr

wohl, wer da bestattet wurde. Der leitende Nervenarzt und Psychologe des Moskauer

Instituts zur Gehirnforschung hatte auf Majakowskis Gehirn Anspruch angemeldet -

eine Ehre, die bisher nur Lenin vor dessen Einbalsamierung zuteil geworden war.

Man fand heraus, dass das Gehirn des Lyrikers 360 Gramm schwerer wog, als das

des Revolutionsführers. Im selben Institut wurde eine mehrseitige Expertise

angefertigt mit denkwürdigen Unterkapiteln wie "Mangelndes Gleichgewicht bei

Äußerungen des emotional-affektiven Bereichs und Fehlen der bewusst

willensmäßigen Kontrolle", "Überreiztheit des emotional-affektiven Bereichs" sowie

"Instabilität der Stimmung".

Sprecher:

Man kann sagen, dass Majakowski besser sah. Er nahm mehr wahr, begriff tiefer, als

die durchschnittlichen, gewöhnlichen Menschen. Schließlich muss man noch eine

spezifische Seite seiner psychischen Aktivität betonen, welche von herausragender

Bedeutung für die Eigenart seines Schaffensprozesses war. Es ist ein

ungewöhnliches rhythmisches Talent bei einem völligen Fehlen jedweder Musikalität

vorhanden.

Erzählerin:

Die zwei wichtigsten Frauen seines Lebens bewahrten die Erinnerung. Lilja Brik.

Page 23: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

23

Sprecherin:

In all den Jahren nach Majakowskis Tod, als wir noch in der Gendrikowa Straße

wohnten, hörte ich immer wieder, wie er nach Hause kommt, mit seinen Schlüsseln

die Tür öffnet, seinen Mantel im Vorzimmer auf den Haken hängt, wie er in das

Zimmer kommt, sein Sakko auszieht, den Hund streichelt. In den Morgenstunden

sitzt er neben mir am Tisch, schlürft Tee und liest Zeitungen. Und ich sehe ihn immer

wieder auf den Straßen in Moskau und Leningrad; und Menschen, die ihm nahe

stehen, nenne ich häufig Wladimir.

Seit seinem Tod sind viele Jahre vergangen. Lilja - liebe mich - stand im

Abschiedsbrief. Ich liebe ihn.

Erzählerin:

Und Veronika Polonskaja:

Sprecherin:

Natürlich darf man nicht vergessen, dass ich in diesem Drama keine Zeugin, sondern

Handlungsperson war. Und wenn ich ihm Schmerz und Beleidigungen verursachte,

dann musste ich von ihm noch mehr Schmerz und Beleidigungen erdulden. Das

Leben kannte ich noch nicht. In dieser Zeit gab es keine nahen Menschen um mich.

Ich habe alle gemieden. Erstens weil mein Leben mit Majakowski gefüllt war.

Zweitens, weil ich wegen der verlogenen Situation mit niemandem über unsere

Beziehung sprechen konnte. Selbstverständlich weiß ich heute genau, dass ich

neben der riesigen Gestalt von Majakowski völlig unbedeutend war. Ich liebte

Majakowski, er liebte mich und darauf möchte ich niemals verzichten.

Erzählerin:

Nach Majakowskis Tod veränderte sich die literarische Situation der UdSSR

gravierend. Die autonomen Gruppen, unter ihnen die Linksfront wurden aufgelöst,

ein einheitlicher Schriftstellerverband gegründet, die zentrale Kontrolle der Literatur

verschärft. Die Doktrin des "sozialistischen Realismus" wurde ins Statut des

Verbandes aufgenommen. Man forderte "Optimismus" in den Werken, eine Qualität,

die Majakowski ganz uneigennützig vertreten hatte.

Lilja Brik verwaltete den Nachlass des Dichters und entschloss sich zu einem

riskanten Schritt: im November 1935 schrieb sie einen persönlichen Brief:

Page 24: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

24

Sprecherin:

Lieber Genosse Stalin! Es sind bald sechs Jahre seit Majakowskis Tod vergangen

und erst die Hälfte seiner gesammelten Werke sind erschienen und selbst die nur in

zehntausend Exemplaren. Seit einem Jahr laufen die Verhandlungen über den Band

der Ausgewählten Werke, zu dem ich das Material längst eingereicht habe. Seine

Kinderbücher werden überhaupt nicht mehr veröffentlicht, seine Bücher sind in den

Buchläden nicht zu finden, man kann sie nicht erwerben. Einige seiner Gedichte sind

in den Schulbüchern für moderne Literatur nicht mehr enthalten. Bis jetzt gibt kein

Museum für Majakowski, die Dokumente seines Schaffens sind zerstreut, ein Teil

befindet sich im Literaturmuseum, das absolut kein Interesse an ihm zeigt. Ein

Umbau seiner Wohnung zur Bezirksbibliothek scheiterte an einem Moskauer

Stadtrat, der das Geld dafür ablehnte, obwohl es sich um einen kleinen Betrag

handelte. Ich allein kann diese von den Bürokraten verursachte Situation nicht

ändern, deswegen wende ich mich nach sechs Jahren Arbeit an Sie, denn ich sehe

keinen anderen Weg, um den enormen revolutionären Nachlass von Majakowski

sichtbar zu machen.

Erzählerin:

An den Rand dieses Briefes schrieb darauf der Kremlherr:

Sprecher:

"Wladimir Majakowski war, ist und wird der beste und talentierteste größte Dichter

der sowjetischen Epoche bleiben".

Erzählerin:

Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion forderte nun die

staatliche Verlagsbehörde auf, Majakowskis Werke neu zu verlegen, sein Porträt zu

vervielfältigen und landesweit in Schulen, Klubs und Bibliotheken zu verteilen.

Plätze- und Straßennamen wurden nach Majakowski benannt, die Kanonisierung

war die Folge. Seine Werke erschienen in Millionenauflagen, in den Schulen galten

sie als Pflichtlektüre. Veronika Polonskaja wurde in den Kreml zitiert, man legte ihr

nahe, sie solle es doch einsehen, dass sie kein Familienmitglied sei und deshalb

auch keinen Anspruch auf Tantiemen erheben dürfe.

Page 25: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der ... · PDF file„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_

25

Die Akte "Nr. 50" wurde 1958 geschlossen und ist erst seit 2005 im Archiv des

Präsidenten der Russischen Föderation zugänglich.

Musik Linker Marsch

Absage:

Der Tod eines Optimisten

Zur Erinnerung an den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski

Ein Feature von György Dalos und Andrea Dunai

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.

Es sprachen: Frauke Poolman, Mark Zak, Ela Paul, Rebecca Madita Hundt

und Florian Seigerschmidt

Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus

Regie: Wolfgang Rindfleisch

Redaktion: Karin Beindorff