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    Fischer Weltgeschichte

    Band 35

    Das Zwanzigste Jahrhundert IIEuropa nach dem Zweiten Weltkrieg 19451982

    Herausgegeben vonWolfgang Benz und Hermann Gramlunter Mitarbeit von Wolfgang BenzHermann Graml, Klaus-Dietmar Henke

    Wilfried Loth, Heiner RaulffGert Robel, Hans Woller

    Mit dem Band 35 der Fischer Weltgeschichte wird eine Gesamtdarstellung derhistorischen Entwicklung von Europa seit 1945 bis zur Gegenwart wenn man so will:eine Fortsetzung des Bandes 34 vorgelegt. Die Herausgeber sind sich ebenso wie derVerlag darber im klaren, da dieser Band er war wie auch der die FischerWeltgeschichte abschlieende Band 36 in der ursprnglichen Konzeption nichtvorgesehen, gleichwohl notwendig geworden ein Wagnis ist, weil die Methoden der

    Geschichtswissenschaft bei zunehmender Nhe zur Gegenwart nur partiell greifen unddeswegen andere zustzlich in Anspruch genommen wurden.

    In diesem Band wird die europische Geschichte von 1945 bis heute aufgearbeitet. Erbeginnt mit einem Kapitel ber die politischen Blockbildungen im Anschlu an denZweiten Weltkrieg, an das sich je zwei Kapitel ber die Entwicklungen in West- undOsteuropa anschlieen und eines ber den schwierigen Gang der europischenEntspannung bis hin zur Krise dieser Politik.

    Im Ganzen liegt hiermit eine Darstellung vor, wie es sie bislang bei aller Knappheit indiesem Umfang noch nicht gab ein Handbuch fr Leser, die sich wissenschaftlich mitder angebotenen Materie zu befassen haben, und fr solche, die etwa ihre tgliche

    Zeitungslektre mit zustzlichen Informationen ber die groen politischenZusammenhnge ergnzen wollen.Wie alle Bnde derFischer Weltgeschichte ist auch dieser in sich abgeschlossen und

    mit Abbildungen, Anmerkungen und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. EinPersonen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung.Die Herausgeber dieses Buches

    Wolfgang Benz

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    1941 in Ellwangen/Jagst geboren, Dr. phil., Historiker, von 1969 bis 1990wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts fr Zeitgeschichte, jetzt Professorund Leiter des Zentrums fr Antisemitismusforschung an der TU Berlin.

    Zahlreiche Buchverffentlichungen, u.a. Einheit der Nation. Diskussion und

    Konzeptionen zur Deutschlandpolitik der groen Parteien seit 1945 (1978, zusammenmit Gnter Plum und Werner Rder); Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen.Zur Geschichte des Grundgesetzes (1979); Das Exil der kleinen Leute.Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration (1994; Fischer TaschenbuchBd. 12504); Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse,Folgen (berarb. Neuausgabe 1995; Fischer Taschenbuch Bd. 12784); Lexikon desDeutschen Widerstandes (1994; hrsg. zusammen mit Walter H. Pehle; als FischerTaschenbuch [2001], Bd. 15083);Auf dem Weg zum Brgerkrieg? Rechtsextremismusund Gewalt gegen Fremde in Deutschland (2001, Fischer Taschenbuch Bd. 15218)sowie Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration (2003; hrsg. zusammen

    mit Claudia Curio und Andrea Hammel).

    Hermann Graml

    1928 in Miltenberg/Main geboren, Historiker, bis 1993 wissenschaftlicherMitarbeiter des Instituts fr Zeitgeschichte in Mnchen. Zuletzt Chefredakteurder Vierteljahrshefte fr Zeitgeschichte.

    Zahlreiche Verffentlichungen zu den Themen Auenpolitik derZwischenkriegszeit, Widerstand im Dritten Reich, nationalsozialistische

    Judenverfolgung, u.a. Der 9. November 1938. Reichskristallnacht (1953 81962);Europa zwischen den Kriegen (1969, 51982); Europa (1972); als Herausgeber zus. mitWolfgang Benz: Die revolutionre Illusion. Zur Geschichte des linken Flgels derUSPD. Erinnerungen von Curt Geyer(1976); Aspekte deutscher Auenpolitik im 20.Jahrhundert (1976); Sommer 1939. Die Gromchte und der europische Krieg (1979);Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten (1994, FischerTaschenbuch Bd. 12236).

    Beide sind Herausgeber des Bandes 36 der Fischer Weltgeschichte Weltproblemezwischen den Machtblcken (= Das Zwanzigste Jahrhundert III).Die Mitarbeiter dieses Bandes

    Wolfgang Benz/Hermann Graml siehe S. 2

    Klaus-Dietmar Henke, geboren 1947 bei Dresden, studierte Geschichte bei KarlBosl und Helmut Krausnick in Mnchen; 1974 M.A., 1977 Promotion zum Dr.phil. Danach Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Assistent an derHochschule der Bundeswehr in Mnchen. Seit 1979 wissenschaftlicherMitarbeiter des Instituts fr Zeitgeschichte in Mnchen. Verffentlichte neben

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    Aufstzen zur Politik der franzsischen Militrregierung in Deutschland nachdem Zweiten Weltkrieg die Studie: Politische Suberung unter franzsischerBesatzung (Stuttgart 1981).

    Wilfried Loth, geboren 1948, Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie

    und Erziehungswissenschaften in Saarbrcken und Paris, 1974 Promotion zumDr. phil., 19741980 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FachrichtungGeschichte der Universitt Saarbrcken, 19781979 Gastprofessor am Friedrich-Meinecke Institut der Freien Universitt Berlin, Privatdozent fr NeuereGeschichte an der Universitt Saarbrcken.

    Verffentlichungen: Sozialismus und Internationalismus. Die franzsischenSozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 19401950 (Stuttgart 1977); DieTeilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 19411955 (Mnchen 1980,4. Aufl.1983); Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise deswilhelminischen Deutschlands (Dsseldorf 1984); zahlreiche Aufstze zur

    franzsischen Zeitgeschichte und zu Problemen der internationalen Politik im 20.Jahrhundert.

    Heiner Raulff, geboren 1946, studierte Romanistik und Geschichte in Hamburg,Freiburg im Breisgau, Paris. Promotion zum Dr. phil. 1976, im Schuldienst seit1972, Vorsitzender des Arbeitskreises Neuere und Zeitgeschichte imHistorischen Verein fr Mittelbaden. Zwischen Machtpolitik und Imperialismus. Diedeutsche Frankreichpolitik 1904/06 (Dsseldorf 1976). Aufstze zur badischenGeschichte, bersetzungen franzsischsprachiger historischer Literatur.

    Gert Robel, geboren 1927 in Ktzschenbroda, Dr. phil., Historiker,wissenschaftlicher Mitarbeiter des Osteuropa-Institutes Mnchen, Redakteur derVerffentlichungen des Osteuropa-Institutes Mnchen, Reihe Geschichte.Habilitation 1981, Privatdozent der Universitt Innsbruck.

    Arbeiten zur neueren und neuesten Geschichte Ost- und Sdeuropas,besonders Rulands und der Sowjetunion, u.a. Die deutschen Kriegsgefangenen inder Sowjetunion Antifa (Mnchen 1974).

    Hans Woller, 1952 in Aldersbach/Niederbayern geboren, Dr. phil., Historiker,wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts fr Zeitgeschichte.Verffentlichungen u.a.: Die Loritz-Partei. Geschichte, Struktur und Politik derWirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung (WAV) 19451955 (Stuttgart 1982); WrtlicheBerichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes19471949 (Reprint), Bd. 16, Mnchen/ Wien 1977 (Bearbeiter zusammen mitChristoph Weisz).Vorwort

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    Reichlich vier Jahre nahm die Realisierung des Konzepts zum nunmehr endlichvorgelegten Band 35 der Fischer Weltgeschichte in Anspruch. Mehrmals gerietdas Projekt unter ungnstige Sterne: Verabredungen zur Mitarbeit wurden aussehr unterschiedlichen Grnden einige von prsumptiven Autoren, andere vonden Herausgebern mit der steten Folge neuer Verzgerungen annulliert. Wir

    danken den Kollegen, die erhebliche Wartezeiten ertragen (und zurAktualisierung ihrer Manuskripte genutzt) haben, ebenso herzlich wie denen,die whrend verschiedener Phasen des Unternehmens in die Bresche sprangen.

    Die Konzeption blieb dabei unverndert, das zweite Kapitel erhielt allerdingsinfolge der notwendig gewordenen Arbeitsteiligkeit einen noch grerenUmfang, als er ursprnglich geplant war. Das bedarf sicher keinerRechtfertigung, allenfalls des Hinweises, da in der WiederaufbauphaseWesteuropas auch die konstitutiven Entscheidungen zur europischenIntegration fielen; zudem bestand fr die Autoren dieses Kapitels auch diePflicht, Handlungsablufe und Entwicklungslinien von der jeweiligen

    Ausgangssituation des Landes im Zweiten Weltkrieg her zu beschreiben und zuerklren.Seit Ende der 40er Jahre besteht keine Kongruenz mehr zwischen

    Westeuropa als politischem Begriff und Westeuropa als geographischemTerminus. Der politischen Zuordnung nach fiel so das halbe Deutschland nachOsteuropa, und Griechenland wurde zum Nachbarn des in doppelter Beziehungwesteuropischen Staats Portugal: Ironie der Nomenklatur, aber schwervermeidbare Ordnungskategorie fr die Gliederung des Stoffs Europa nachdem Zweiten Weltkrieg in Kapitel.

    Auf Wunsch der Herausgeber und des Verlages wurden fr die Schreibweise

    ost- und sdosteuropischer Eigennamen statt der wissenschaftlichenTransliteration des kyrillischen Alphabets die gngigen Umschreibungen, wie sieauch die Tagespresse benutzt, die also allgemeinverstndlich sind, verwendet.Der Autor des dritten und fnften Kapitels stimmte diesem Oktroi blutendenHerzens zu, wofr ihm aufrichtig gedankt sei.

    Das Register erstellte (wie schon beim Band 36 der Fischer Weltgeschichte)Margit Ketterle.

    Dank gilt wiederum Dr. Walter H. Pehle, dem nimmermden Lektor undversierten Berater, vor allem fr seine Geduld, die erheblich strapaziert werdenmute.

    W.B. H.G.Einleitung

    Abschied vom alten EuropaVon Wolfgang Benz und Hermann Graml

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    Dieser edle Kontinent, der letzten Endes die schnsten und kultiviertestenGebiete der Erde umschliet und sich eines gemigten und ausgeglichenenKlimas erfreut, ist die Heimat aller groen Stammvlker der Welt. Er ist dieQuelle des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Er war in alter undneuer Zeit der Ursprung fast jeglicher Kultur, Kunst, Philosophie und

    Wissenschaft. Wenn Europa einmal eintrchtig sein gemeinsames Erbeverwalten wrde, dann knnten seine drei- oder vierhundert MillionenEinwohner ein Glck, einen Wohlstand und einen Ruhm ohne Grenzengenieen.

    Diese Stze wurden keineswegs von einem idealistischen Visionr imfortschrittsglubigen vorigen Jahrhundert formuliert. Sie stehen am Beginn derRede, die Winston Churchill im September 1946 in der Zrcher Universitt hielt.Angesichts der Tragdie zweier im Herzen Europas entstandener, vonDeutschland ausgelster Weltkriege hielt der ehemalige britische Kriegspremierein Pldoyer fr Vereinigte Staaten von Europa, gegrndet auf der Partnerschaft

    von Frankreich und Deutschland. Grobritannien, das British Commonwealthof Nations, das mchtige Amerika und, ich hoffe es zuversichtlich,Sowjetruland denn dann wre wahrhaftig alles gut mssen die Freunde undFrderer des neuen Europa sein und fr sein Recht auf Leben und Wohlstandeintreten.

    Churchills Appell eineinhalb Jahre nach dem alliierten Sieg berGrodeutschland, das Europa im Zeichen der nationalsozialistischen Ideologiezu formieren und hegemonialisieren getrachtet hatte klang mehr nach einemRckgriff in die politische Ideengeschichte als nach einem realisierbarenProgramm. Europa als Einheit existierte seit Jahrhunderten als abstrakte Idee,

    der im Konkreten machtpolitische Interessen der einzelnen europischen Staatenund wechselnde Hegemonien gegenberstanden, die schlielich allenfalls ineinem System des Europischen Gleichgewichts aufgehoben oder dochausbalanciert waren. An seine Stelle war im 19. Jahrhundert, dem Saeculum derNationalstaaten, das Europische Konzert getreten, die gemeinsameHegemonie der Gromchte ber die kleineren Staaten. Europa war keinGegenstand der Auenpolitik, allenfalls eine Formel, die kulturelle undangenommene moralische berlegenheit gegenber der brigen Weltausdrckte.

    Die wichtigsten Instrumente der Auenpolitik waren Bndnisse undAllianzen, notfalls Koalitionskriege zur Aufrechterhaltung einer gewissenBalance. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war diese Ordnung freilich erschttert:Koloniale Expansion wie innereuropische Interessengegenstze zerstrten dasGleichgewicht innerhalb weniger Jahrzehnte. Die europischen Krisen derJahrhundertwende sichtbar im Konflikt zwischen St. Petersburg und Wien umdas trkische Erbe, in Deutschlands Gromachtambitionen, in derentgegengesetzten Entwicklung der Gesellschafts- und Herrschaftssysteme derWestmchte gegenber den Mittelmchten fhrten zum Zerfall des

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    europischen Staatensystems, zum ersten deutschen Hegemonialkrieg, der sichzum Weltkrieg ausweitete, und in der Folge zum Verlust der europischenHegemonie in der Welt.

    Dem Ersten Weltkrieg folgten kein Friede und keine stabile Ordnung inEuropa. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten auf eine Fhrungsrolle

    verzichtet und Europa bald wieder den Rcken gekehrt, sie blieben demVlkerbund fern und ratifizierten den Versailler Vertrag ebensowenig wie denBndnisvertrag mit Frankreich und Grobritannien, der als Garantie derpolitischen Nachkriegsordnung Europas fungieren sollte. Sowjetruland standdem Vlkerbund nicht weniger feindselig gegenber als den Westmchten, dasDeutsche Reich blieb (bis zum Herbst 1926) ohnehin ausgeschlossen. DieVersuche zur Stabilisierung der politischen Verhltnisse in Europa und der Weltdurch die Pariser Friedensvertrge und die Grndung des Vlkerbundsschwankten zwischen dem Experiment einer kollektiven Friedensordnung undherkmmlicher Machtpolitik. Es waren Versuche, die in ihrem Gegeneinander

    verhngnisvolle Konstellationen ergaben: die Isolation Sowjetrulands (diefreilich zum guten Teil auch selbstgewhlt war), vollstndige Unzufriedenheitund totales Unverstndnis fr die neue Ordnung im Deutschen Reich undhnlich starke Revisionsbedrfnisse in Polen, in Ungarn, in Italien, aber auch inMoskau, wo der weltrevolutionre Anspruch mit dem Wunsch nachRckgewinnung des Baltikums und der an Polen verlorenen Territorienkorrespondierte.

    Frankreich, das dem Ordnungsfaktor Vlkerbund weniger Vertrauen schenkteals Grobritannien, setzte aus Sicherheitsbedrfnissen von Anfang an demparlamentarisch organisierten System der kollektiven Friedenssicherung das alte

    Instrumentarium der Allianzvertrge entgegen, mit dem eine franzsischeHegemonie restauriert werden sollte. Ergebnis dieser Politik war die KleineEntente von 1920 (Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumnien), die 1921 durchein rumnisch-polnisches Bndnis und wenig spter durch ein polnisch-tschechoslowakisches Neutralittsabkommen ergnzt wurde. Die Vertrge mitPolen (1921) und mit der Tschechoslowakei (1924) schlssen den Kreis desfranzsischen Sicherheitssystems und isolierten in Verbindung mit denfranzsischen Reparationsforderungen das Deutsche Reich. In der BaltischenEntente, Freundschaftsvertrgen Polens mit Lettland, Estland und Finnland,suchten die Ostsee-Randstaaten Rulands Sicherheit gegenber derSowjetmacht, aber auch vor dem Deutschen Reich. Aus polnischer Sicht dientedas Bndnis gleichzeitig der Verhinderung einer kleinen Fderation der dreibaltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, und der Isolierung Litauens(wegen des Konflikts um das Wilna-Gebiet), das sowohl mit Sowjetruland alsauch mit Deutschland (trotz des Irredenta-problems im Memelland) leidlich guteBeziehungen pflegte. In das Konzept der franzsischen Auenpolitik pate derbaltische Bund als Bestandteil des cordon sanitaire zwischen Deutschland undSowjetruland.

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    Berlin reagierte auf die auenpolitische Isolation durch dieSeparatverstndigung mit Sowjetruland im Rapallovertrag. Jede Auenpolitikin Europa war damit durch den Gegensatz zwischen der reaktionrenRevisionspolitik in Berlin und dem restaurativen Sicherheitsstreben in Pariskonstelliert. Die Konferenz von Locarno erschien vorbergehend als

    Wendepunkt, als Wegstein zur Konsolidierung Europas und zur Annherungzwischen Frankreich und seinem stlichen Nachbarn. DeutschlandsAnerkennung seiner Westgrenze also der deutsche Verzicht auf Elsa undLothringen wurde von Frankreich nicht nur durch die Aufgabe der Politik derFaustpfnder und Pressionen im Rheinland belohnt, die Westmchte nahmenauch stillschweigend die deutsche Weigerung hin, die Grenzen in Osteuropa alsendgltig zu akzeptieren. Damit aber waren die Ergebnisse von Locarno nichtmehr als eine Atempause auf dem Weg zum neuen europischen Krieg, derabermals zum Weltkrieg wurde.

    Zwanzig Jahre nach den Pariser Friedenskonferenzen waren sechs europische

    Staaten schon wieder von der politischen Landkarte verschwunden. Sie warenzerschlagen, annektiert, dem Deutschen Reich als Nebenlnder angegliedertoder als kmmerliche Reste zu Satelliten der neuen HegemonialmachtDeutschland herabgesunken. Im Mrz 1938 war sterreich ans Deutsche Reichangeschlossen worden, im Oktober des gleichen Jahres folgte das Sudetenland,im Mrz 1939 wurde die Rest-Tschechoslowakei vollends zertrmmert: dasProtektorat Bhmen und Mhren kam als quasikoloniales Gebilde unter diedirekte, die Slowakei als scheinbar unabhngiger Staat unter die indirekteHerrschaft Berlins. Im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939mit seinen geheimen Zusatzprotokollen revidierten die beiden Hauptverlierer

    des Ersten Weltkrieges auf ihre Weise die europische Friedensordnung undteilten Ostmitteleuropa in ihre Interessensphren auf. Dem deutschen Blitzkriegfolgte die vierte Teilung Polens, wenig spter die Verwandlung Estlands,Lettlands und Litauens in Sowjetrepubliken eine Neuordnung derVerhltnisse, die wieder nur bis zum deutschen berfall auf die Sowjetunion imSommer 1941 Bestand haben sollte.

    In der Zwischenkriegszeit hatte es aber auch Stimmen gegeben, die nach einerEinigung Europas riefen. Graf Coudenhove-Kalergi grndete 1923 in Wien diePaneuropa-Union, die bald Landesgruppen in zahlreichen Lndern hatte undPaneuropische Kongresse in Wien (1926), Berlin (1930) und Basel (1932)veranstaltete. Die Paneuropa-Bewegung fand viele Anhnger, in Deutschlandvor allem bei den Parteien der brgerlichen Mitte und auf dem rechten Flgelder Sozialdemokratie; ihr Programm war aber mehr leidenschaftlicheDeklamation als politischer Entwurf, der den Realitten entsprochen htte. InCoudenhove- Kalergis Paneuropischem Manifest, einem mit heiem Herzengeschriebenen Dokument, mischten sich alte und neue ngste, die Furcht vorrussischem Imperialismus, amerikanischem Wirtschaftspotential und dasTrauma eines europischen Vernichtungskrieges. Heilmittel sollte der

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    Zusammenschlu der kontinentaleuropischen Staaten zu einem Zweckverbandsein, mit eigener Schiedsgerichtsbarkeit, einer Zollunion und fundamentiertdurch ein Defensivbndnis gegen Ruland: Paneuropa umfat die Halbinselzwischen Ruland, dem Atlantischen und dem Mittellndischen Meer; dazuIsland und die Kolonien der europischen Staaten. Die groe europische

    Kolonie, die zwischen Tripolis und Kongo, Marokko und Angola halb Afrikaumfat, knnte bei rationeller Bewirtschaftung Europa mit Rohstoffen versorgen.Ruland und England sind Paneuropas Nachbarn. Diese beiden Weltreiche sindauch ohne Europa lebensfhig whrend die brigen Staaten dieses Erdteilsdurch ihre geographische Lage zur Schicksalsgemeinschaft verbunden sind;verurteilt, entweder gemeinsam zugrunde zu gehen oder gemeinsamaufzuerstehen.

    Neben der privaten Europapropaganda, wie sie auch vom Bund freuropische Cooperation (unter dem Vorsitz des Franzosen Emile Borel), demEuropischen Kulturbund des Prinzen Rohan in Wien oder der Union

    Douanire Europenne (treibende Kraft war der franzsische LinksrepublikanerYves Le Trocquer) betrieben wurde, gab es namentlich in Frankreich auchAnstze einer offiziellen Europapolitik. Ministerprsident Herriot hatte 1925 vordem franzsischen Parlament fr ein vereintes Europa pldiert. Als AristideBriand 1929 in der 10. Vlkerbundversammlung eine Art fderatives Band dereuropischen Nationen vorschlug, beauftragten ihn immerhin 27 Vertretereuropischer Regierungen, ein Programm auszuarbeiten. Wie gering dieMglichkeiten in der politischen Praxis waren, zeigt die Lektre desMemorandums der franzsischen Regierung ber die Organisation einereuropischen Bundesordnung, das Briand am 1. Mai 1930 vorlegte.

    Die Rcksicht auf den Vlkerbund schien jeden Gedanken an eine politischhandlungsfhige und entsprechend strukturierte Organisation, die ber eineunverbindliche Solidarittserklrung hinausgehen wrde, zu verbieten. Dereuropische Verband wrde weit davon entfernt sein, schrieb Briand, eineneue Instanz fr die Regelung von Rechtsstreitigkeiten zu bilden; er knnte inderlei Angelegenheiten hchstens gebeten werden, in rein beratender Weiseseine guten Dienste zu leisten, wre aber nicht befugt, Einzelfragen sachlich zubehandeln, fr deren Regelung die Vlkerbundsatzung oder die Vertrge einbesonderes Verfahren des Vlkerbundes oder irgendein anderes ausdrcklichbestimmtes Verfahren vorgeschlagen haben. Ebensowenig schien Briand dieBildung von Zollunionen erlaubt, da unvereinbar mit den Grundstzen desVlkerbundes, denn dieser ist eng verknpft mit dem Begriff Universalitt, diesein Ziel und sein Zweck bleibt, auch wenn er Teilfragen betreibt oder frdert.Der Versuch des franzsischen Staatsmanns, ohne Antasten des status quo Wegezur europischen Integration zu finden, hatte allenfalls die Qualitt einesmoralischen Appells, der im gleichen Atemzug smtliche Bedenken und alleHemmnisse hervorhob und als unberwindlich erklrte. Der Weg zu EuropasEinheit msse mit politischen Schritten begangen werden, denn wirtschaftliche

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    Probleme waren nach Briands Vorstellung strikt den politischen unterzuordnen:Da jede Fortschrittsmglichkeit auf dem Wege der wirtschaftlichen Einigungstreng durch die Sicherheitsfragen bestimmt wird und diese Frage selbst eng mitder des erreichbaren Fortschritts auf dem Wege der politischen Einigungzusammenhngt, mte die Aufbaubestrebung, die Europa seine organische

    Struktur geben soll, zunchst auf dem politischen Gebiet einsetzen. Abergenauso entschieden hatte Briand die politischen Hindernisse auf dem Weg nachEuropa als unantastbar erklrt: Endlich mu die uns vorliegende Frage mit allerDeutlichkeit dem leitenden Gedanken unterstellt werden, da die Einfhrungdes erstrebten Bundesverhltnisses zwischen europischen Regierungenkeinesfalls und in keinem Mae irgendwie eins der souvernen Rechtebeeintrchtigen kann, das den Mitgliedstaaten eines solchen Verbandes zusteht.... Die Verstndigung zwischen europischen Staaten mu auf dem Bodenunbedingter Souvernitt und vlliger politischer Unabhngigkeit erfolgen. AlsSubstanz des Briand-Plans blieb so lediglich der Wunsch eines allgemeinen,

    wenn auch noch so elementaren Vertrages zur Aufstellung des Grundsatzes dermoralischen Union Europas und zur feierlichen Bekrftigung der zwischeneuropischen Staaten geschaffenen Solidaritt.

    Trotzdem gab es eine gelinde Europa-Euphorie in jenem Jahr 1930. Diefranzsische Zeitschrift Revue des Vivants veranstaltete einen Wettbewerb, beidem ber 500 Europaplne eingesandt wurden (die fnf schnsten wurden demVlkerbund zugeleitet). Die Internationale Juristische Union prsentierte einenEntwurf fr eine Internationale Europische Union. Im Anschlu an die 11.Versammlung des Vlkerbundes im September 1930 entstand eineStudienkommission fr eine Europische Union anstelle des Europischen

    Rats, den Briand gefordert hatte und der an britischen Bedenken gescheitertwar. Mehr oder weniger unabhngig von den zgernden Regierungen gab esEinigungsbestrebungen, die, konomische Interessen artikulierend,pragmatischere Anstze einer europischen Politik zeigten. Whrend derVerhandlungen ber die 1926 gegrndete Internationale Rohstahlgemeinschafthatte der luxemburgische Industrielle Mayrisch ein Deutsch-FranzsischesStudienkomitee (Comit Franco-Allemand dInformation et deDocumentation) aus der Taufe gehoben, in dem magebliche Wirtschaftsfhrer,Politiker und Wissenschaftler sich zu verstndigen suchten. Im Rahmen derInternationalen Handelskammer gab es unter Leitung des franzsischenIndustriellen Henri de Peyerimhoff ein Europa-Komitee, das sich um dieVerbesserung der internationalen Handelsbedingungen bemhte. DieMitteleuropischen Wirtschaftstagungen, die zwischen 1926 und 1931 alljhrlichstattfanden und von freihndlerischen Politikern und Wirtschaftsfachleuten fastaller europischen Staaten besucht wurden, beschftigten sich mit Handels-,Verkehrs-, Agrarproblemen. Diese Aktivitten, die auf deutscher Seite zuletztvon der deutschen Schwerindustrie und dem Auswrtigen Amt gefrdertwurden, waren in erster Linie der Durchsetzung konomischer Interessen

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    gewidmet; sie fanden aber immerhin in europischem Rahmen statt. DieWeltwirtschaftskrise beendete aber so ziemlich alle Versuche, aufwirtschaftlichem Gebiet dem vagen Fernziel eines einigeren Europanherzukommen.

    In der wohl bedeutendsten kulturphilosophischen Analyse der Zeit zwischen

    den Kriegen, dem 1930 erstmals in Buchform erschienenen Essay Der Aufstandder Massen, zeichnete Jos Ortega y Gasset das Bild einer undisziplinierten undmoralisch desorientierten europischen Vlkerfamilie, vergleichbar einer auerRand und Band geratenen Schulbubenschar: Es ist ein klgliches Schauspiel,das die minderjhrigen europischen Nationen heute bieten. Angesichts vonEuropas sogenanntem Untergang und seiner Abdankung in der Weltwirtschaftmssen Nationen und Natinchen umherspringen, Faxen machen, sich auf denKopf stellen oder sich recken und brsten und als erwachsene Leute aufspielen,die ihr Schicksal selbst in der Hand halten. Daher die Nationalismen, dieberall wie Pilze aus der Erde schieen.

    Aber anders als Oswald Spengler in seinem monstrs-effektvoll betiteltendsteren Historiengemlde glaubte der Spanier nicht an den Untergang desAbendlands, sondern an die Zukunft Europas, an die berwindung derNationalismen in einem europischen Nationalstaat. Zwischen Ortegas Visioneines integrierten Europa und den ersten Schritten ihrer Verwirklichung lag aberdie bislang grte Katastrophe der Weltgeschichte, der Zusammenprall derNationalstaaten und Ideologien im Zweiten Weltkrieg. Ihm folgte die Spaltungder Welt die Ortega nicht fr mglich gehalten hatte entlang einerDemarkationslinie durch die Mitte Europas.

    Die Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland frderte noch

    einmal Plne und Konzepte zu Zusammenschlssen, etwa der Balkanstaatenunter franzsischem Schutz (Donaufderation). Auch die Idee desAuenministers der polnischen Exilregierung, August Zaleski, ein durchOstpreuen erweitertes Polen mit der Slowakei, Ungarn und sterreich zueinem Bund zusammenzuschlieen, fand in Paris Liebhaber, und in Londonwurde Ende 1939 unter dem Eindruck der politischen Emigration aus Mittel-und Ostmitteleuropa ber solche Fderationsplne ebenfalls diskutiert. Whrenddie deutsche Wehrmacht auf dem Weg zu einer pax germanica, derangestrebten Herrschaft ber den ganzen Kontinent, die Reste des europischenOrdnungssystems zertrmmerte, kamen sich Grobritannien und Frankreich imWinter 1939/40 fr eine kurze Spanne nher als je in ihrer neueren Geschichte.Die Notwendigkeit zur Koordinierung der Kriegsanstrengungen hatte sich zurIdee einer politischen anglo-franzsischen Union verdichtet, ber die imFrhjahr 1940 bis zum Zusammenbruch Frankreichs im Juni auf beiden Seitendes Kanals lebhaft debattiert wurde.

    Mit der Ausweitung des europischen Krieges von 1939 zum Weltkrieg ab1941 waren auch die letzten Reste der in Versailles, St. Germain, Trianon, Neuillyund Svres verhandelten europischen Ordnung Makulatur geworden. Unter

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    den Kriegszielen der Anti- Hitler-Koalition war das Problem der Grenzen undKrfteverhltnisse in Europa ein Programmpunkt unter anderen, und je lngerauf den Schlachtfeldern gekmpft wurde, desto deutlicher wurde erkennbar, danach dem Krieg die Europer nicht mehr allein ber ihre Geschicke bestimmenwrden. Ohne nennenswerten Einflu der Rsistance in den von Deutschland

    okkupierten Lndern, der Exilregierungen oder gar irgendwelcherMassenbewegungen machten die drei groen Mchte USA, Sowjetunion undGrobritannien unter sich ab, wie Europa nach Kriegsende aussehen sollte.

    Die Atlantik-Charta, jenes Dokument, das Roosevelt und Churchill im August1941 an Bord eines amerikanischen Kriegsschiffes vor der Kste Neufundlandsausgearbeitet hatten, umschrieb die Absichten und Ziele einer globalenFriedensordnung, wie sie im Frhjahr 1945 in San Francisco mit der Grndungder Vereinten Nationen realisiert werden sollten. Die neue Staatenorganisationtrat zwar formal die Nachfolge des Genfer Vlkerbunds an, aber schon vorGrndung stand fest, da sie nicht von europischen Traditionen bestimmt sein

    und da, anders als im Vlkerbund, Europa nicht das Zentrum ihrer Ttigkeitbilden wrde. Mit welch zweifelhaftem Erfolg auch immer die UNO bisherihrem Auftrag gerecht werden konnte, mit welchen Konstruktionsfehlern sieauch behaftet sein mag, sie ist auf keinen Fall eine europischeInteressenvertretung, wie sie der Vlkerbund der Zwischenkriegszeit imwesentlichen gewesen war.

    Bei allem Mitrauen zwischen Moskau auf der einen und Washington undLondon auf der anderen Seite herrschte auf den Konferenzen der Groen Dreivon Teheran bis Potsdam ber die Aufteilung Europas in Interessensphrengrundstzlich bereinstimmung. Im November 1943 konzedierten Roosevelt

    und Churchill in Teheran Stalin die Curzon- Linie als knftige polnisch-sowjetische Grenze, d.h. man einigte sich im Prinzip auf die Abtretung Ostpolensan die Sowjetunion und eine entsprechende Entschdigung Polens durchdeutsche Territorien im Westen. Anfang 1944 war die Ost-West-Demarkationslinie in Mitteleuropa im Verlauf der Beratungen ber dieAufteilung Deutschlands in Besatzungszonen festgelegt worden. Im Herbst 1944hatten sich Grobritannien und die Sowjetunion ber ihren knftigen Einfluin Sdosteuropa verstndigt. Konkret bedeutete dies, da mit AusnahmeJugoslawiens (wo London und Moskau gleichberechtigt Einflu ausbenwollten) und Griechenlands, das zum britischen Interessengebiet deklariertwurde, ganz Sdosteuropa dem sowjetischen Machtbereich zugesprochenwurde, was immer das spter bedeuten mochte.

    Bei der Konferenz in Jalta im Februar 1945 wurden diese Regeln schonbeachtet, analog dazu machten die beiden Westmchte erste Schritte, die(brgerliche) polnische Exilregierung in London zugunsten des untersowjetischem Einflu stehenden Lubliner Komitees als provisorischerRegierung Polens fallen zu lassen. Einem machtpolitischen Minimalkonsensinnerhalb der Kriegskoalition zuliebe hatten die beiden Westmchte also

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    geraume Zeit vor Kriegsende der Teilung Europas in zwei Interessensphrenzugestimmt, freilich nicht ohne einiges Wenn und Aber. Die PotsdamerKonferenz im Juli und August 1945 brachte gegenber den Vereinbarungen derbeiden letzten Kriegsjahre nichts Neues mehr. Die Zugestndnisse an Stalin, mitwelchen Vorbehalten und wie freudig oder widerwillig sie von den

    Westmchten auch gemacht worden waren, bildeten doch Indizien dafr, dajede Nachkriegsordnung in Europa entscheidend von Faktoren auerhalbEuropas bestimmt sein wrde. Die alliierten Kriegskonferenzen bis hin zumPotsdamer Treffen hatten ohne die ehemalige europische GromachtFrankreich stattgefunden; de Gaulle wurde erst zu spter Stunde und gegen denWiderstand Stalins in den Kreis der Sieger aufgenommen.

    Aber auch die Schwche der britischen Gromacht sollte sich in den erstenNachkriegsjahren bald zeigen. Der neue Begriff Supermacht, mit dem seit demZweiten Weltkrieg das berwltigende Machtpotential der Vereinigten Staatenund der Sowjetunion umschrieben wird, illustriert nicht nur die relative

    Ohnmacht der bisherigen Gromchte, sondern auch den Verlust an Bedeutung,den Europa in der Welt erlitten hat. Der verwstete Kontinent wurde in derzweiten Nachkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts zum Objekt politischer,konomischer und ideologischer Interessen der beiden Weltmchte und fiel beinahe zwangslufig je zur Hlfte einem westlichen und einem stlichenMachtblock zu. Das geschah freilich nicht ber Nacht und in Westeuropa auchnicht unter Zwang. Das Bewutsein der politischen, wirtschaftlichen undmilitrischen Schwche und die Furcht vor kommunistischer Aggression (obdazu realer Anla bestand, ist eine andere Frage) fhrten zur freiwilligenAnlehnung und Schutzsuche bei Amerika. Den Lockungen des Marshall-Plans

    standen der Wunsch und das Bedrfnis der westeuropischen Staaten nach derFhrungsrolle Amerikas mit mindestens gleicher Intensitt gegenber. Das galtauch fr Grobritannien und Frankreich, die ihren traditionellenGromachtanspruch (und zwar mit amerikanischer Untersttzung)aufrechtzuerhalten suchten, nur dauerte es lnger, bis die amerikanischeSuprematie offenbar wurde. Grobritannien war auch in den Nachkriegsjahrenkeineswegs nur Juniorpartner Washingtons gewesen, soweit es um europischeAngelegenheiten ging. Im Gegenteil, manche Entscheidung in derDeutschlandpolitik, die von Washington auszugehen schien, war in Wirklichkeitin London vorbereitet und formuliert worden. Frankreich hatte sich noch beimVersuch, seinen Kolonialbesitz in Sdostasien zu retten, der Hilfe der USAerfreuen knnen, aber sptestens 1956, als Amerika das anachronistische Suez-Abenteuer Grobritanniens und Frankreichs stoppte, war auch in London undParis das bergewicht der amerikanischen Ordnungsmacht erkannt undanerkannt worden.

    Die Teilung der Welt stimulierte die Integration Europas, freilich auf andereWeise, als dies die Propagandisten der Europaidee zwischen den Kriegen oderauch noch Churchill im Jahre 1946 ertrumt und erhofft hatten. Die Integration

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    vollzieht sich innerhalb zweier suberlich gegeneinander abgegrenzter Systeme,die man oberflchlich genug und immer nur halb richtig als einerseitskapitalistisch, andererseits sozialistisch, als westlich oder stlich, frei oder unfrei,demokratisch oder volksdemokratisch zu bezeichnen sich angewhnt hat undderen Gravitationszentren mehr oder weniger weitab von der geographischen

    Mitte Europas liegen. Die Integrationsprozesse dauern an, es gibt im stlichenwie im westlichen Europa Akzelerationserscheinungen und Stagnationen; derZeit des Kalten Krieges folgte eine Periode der Entspannung. Die dauerndefriedliche Koexistenz beider Hlften Europas bleibt das erstrebenswerte Ziel.1. Europa nach 1945: Die Formation der Blcke

    Von Wilfried Loth

    I. Die Folgen des Krieges

    Kann man nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch von einer GeschichteEuropas sprechen? Zeitgenssische Beobachter der Nachkriegszeit glaubten dieFrage vielfach verneinen zu mssen. Die Lnder des alten Kontinents warennicht in der Lage gewesen, der Expansion des Deutschen Reiches 1939/40Widerstand zu leisten, und sie hatten sich auch nicht mehr aus eigener Kraft vomnationalsozialistischen Imperium zu befreien vermocht; Grobritannien hatteber ein Jahr allein verzweifelt dagegen angekmpft, ein Satellit der deutschenWeltmacht zu werden. Erst nachdem Hitler 1941 die Sowjetunion angegriffenhatte und die USA nach dem japanischen berfall auf Pearl Harbor in den Krieggegen die Achsenmchte eingetreten waren, war das deutsche Imperium ber

    Europa ins Wanken geraten. Die Sowjetunion hatte die Hauptlast des Krieges aufdem Kontinent getragen (und dafr mit 20 Millionen Toten bezahlt), die USAhatten mit Krediten und Materiallieferungen den weitaus grten Teil deralliierten Kriegsanstrengungen finanziert; es war daher ganz unvermeidlich, dadie beiden bisherigen Flgelmchte des alten Kontinents nach dem Sieg berdie Achsenmchte ein weitaus strkeres Gewicht in der Weltpolitik besaen alsdie europischen Lnder die USA freilich noch erheblich strker als dieSowjetunion und da sie insbesondere auch bei der knftigen EntwicklungEuropas entscheidend mitzureden hatten.

    Die Verluste des Krieges hatten bislang unbekannte Dimensionen erreicht1.Nchst der Sowjetunion hatte die ost- und sdosteuropische Region die meistenTodesopfer zu beklagen: 7,5 Millionen, davon allein 4 Millionen ermordeterJuden, insgesamt knapp 9% der Bevlkerung. Deutschland (in den Grenzen von1937 gerechnet) verlor 5,5 Millionen Menschen, etwa 8% der Bevlkerung. Diebrigen Lnder Europas, von den Kriegshandlungen weniger stark betroffen,zhlten zusammen weitere 4 Millionen Tote; insgesamt beliefen sich die Verlustean Menschenleben auf das Drei- bis Vierfache der Opfer des Ersten Weltkrieges.An die 50 Millionen Menschen hatten im kontinentaleuropischen Raum

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    zeitweise oder fr immer ihre Heimat verloren: Soldaten, Kriegsgefangene,Opfer der nationalsozialistischen Entmischungspolitik in Osteuropa,Lothringen und Sdtirol (2,8 Millionen), Evakuierte (allein 6,2 Millionen inDeutschland), bei Kriegsende Flchtlinge und Vertriebene aus den stlich derOder-Neie-Linie und in der Tschechoslowakei gelegenen deutschen

    Siedlungsgebieten (von denen 12 Millionen in die vier BesatzungszonenDeutschlands gelangten), Flchtlinge und Deportierte der baltischen Vlker undin die bis dahin reichsdeutschen Gebiete umgesiedelte Polen (2 Millionen). Wasan menschlichen Bindungen und sozialen Gemeinschaftsformenverlorengegangen war, zhlte keine Statistik.

    Von den neutralen Lndern und Grobritannien abgesehen, waren nahezu alleeuropischen Grostdte zerstrt. Besonders gro waren die Schden imosteuropischen Raum, wo sowohl die russischen wie die deutschen Truppenauf ihren Rckzgen nach dem Prinzip der verbrannten Erde gehandelthatten, in Italien, Jugoslawien und Griechenland, in den Niederlanden, wo man

    Dmme und Deiche gesprengt hatte, in Nordfrankreich, wo nach der alliiertenInvasion vom Juni 1944 erbittert gekmpft worden war, schlielich inDeutschland selbst, dessen Stdte und Industrieanlagen zu Zielpunkten massiverBombenangriffe geworden waren. Volkswirtschaftlich noch weit grer war derSchaden, den die Zerstrung der Verkehrswege angerichtet hatte. In Frankreichwaren Eisenbahnen und Handelsflotte nur noch zu 35% betriebsfhig, inDeutschland war der Eisenbahnverkehr praktisch zum Erliegen gekommen, inBelgien und Holland das Kanalsystem zusammengebrochen. Der Mangel anMenschen, Maschinen und Verkehrsverbindungen fhrte zu einem Rckgangder landwirtschaftlichen Produktion. In ganz Europa (wiederum: ohne die

    Sowjetunion) wurden 1946/47 nur etwa 66% des Vorkriegsvolumens an Fleischund tierischen Fetten produziert, 70% an Getreide, 75% der landwirtschaftlichenErzeugnisse berhaupt; und auch diese Zahlen wurden nur dank der britischenProduktionssteigerung erreicht; in Frankreich und Deutschland war dieGetreideproduktion auf 59 bzw. 64% des Standes von 1938 zurckgegangen.Schtzungsweise 100 Millionen Menschen muten von 1500 und wenigerKalorien pro Tag leben. Hunger, Klte, elementare Not bestimmten den Alltagder europischen Bevlkerung.

    Verlliche Zahlen ber den Stand der industriellen GesamtproduktionEuropas bei Kriegsende gibt es nicht. In Frankreich erreichte die Produktion 1945etwa 35% des Standes von 1938 (der seinerseits noch 20% unter dem Stand von1929, vor Einbruch der Weltwirtschaftskrise, gelegen hatte); die neutralen undweniger zerstrten Lnder erreichten etwas mehr, Deutschland, sterreich undGriechenland weit weniger. Noch Ende 1946 belief sich die industrielleProduktion in Frankreich und den Beneluxlndern auf nur 89% desVorkriegsstandes, in Ost-, Sdost- und Sdeuropa auf rund 60%, in Deutschlandauf 40%. Die Industrieproduktion der USA hatte sich im gleichen Zeitraum 193846 mehr als verdreifacht und bestritt nun mehr als die Hlfte des Welt-

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    Produktionsvolumens. Der Pro-Kopf-Anteil am Nationaleinkommen war von1938 bis 1946 in Sd- und Osteuropa von 120 $ auf 90 $ im Jahr gesunken, inFrankreich und den Beneluxlndern von 290 $ auf 260 $, in Grobritannien, derSchweiz und den skandinavischen Lndern war er von 420 $ auf 580 $ miggestiegen, whrend er sich in den USA von 550 $ auf 1260 $ mehr als verdoppelt

    hatte. Entsprechend hatten sich die terms of trade fr die europische Wirtschaftverschlechtert, und da die europischen Investitionen in bersee unterdessengrtenteils zur Finanzierung des Krieges veruert, die europischenDienstleistungen (insbesondere in der Schiffahrt) eingestellt waren, entstand einDefizit in der europischen Gesamtzahlungsbilanz, das 1947 die stattliche Hhevon 7,5 Milliarden $ erreichte; die USA erzielten im gleichen Jahr einenberschu von 10 Milliarden. Kriegs- und Kriegsfolgekosten hatten dieffentlichen Finanzen zerrttet und inflationre Entwicklungen ausgelst. InDeutschland war siebenmal soviel Geld in Umlauf wie vor dem Krieg, inFrankreich waren die Preise um das Vierfache gestiegen, in Griechenland und

    Ungarn brachen die Whrungen zusammen, Belgien und Norwegen entgingendem Zusammenbruch nur durch eine Abwertung. Nicht nur die Besiegten, auchdie Sieger hatten fr den Krieg empfindlich zu zahlen.

    Der wirtschaftliche und politische Substanzverlust der europischen Nationenbeschleunigte zudem den Emanzipationsproze der bis dahin von Europaabhngigen kolonialen Lnder2. Grobritannien hatte 1941 Indien dieUnabhngigkeit fr die Nachkriegszeit zusichern mssen, um einen bergangdes Subkontinents in das Lager der Achsenmchte zu verhindern; 1947 wurdesie realisiert, ebenso die Unabhngigkeit fr Burma und (schon 1946) Ceylon; dieCommonwealth-Lnder Kanada, Sdafrika, Australien und Neuseeland, die

    schon whrend des Ersten Weltkrieges die Bindungen an das Mutterlandweitgehend gelockert hatten, gingen nun vollends eigene Wege. General deGaulles Komitee des Freien Frankreich hatte 1941 in Konkurrenz zum Vichy-Regime den Mandatsgebieten Syrien und Libanon die Unabhngigkeitversprechen und fr die brigen Kolonialgebiete Reformen ankndigenmssen; in Marokko und Tunesien verlangten 1944 einheimische Bewegungeneinen unabhngigen Status; in Algerien kam es 1945 zu blutigenAuseinandersetzungen; in Indochina erklrte die Vietminh-Bewegung nach derNiederlage der japanischen Besatzungsmacht das Land fr unabhngig vomfranzsischen Imperium. In gleicher Weise nutzte die indonesischeNationalbewegung die japanische Kapitulation dazu, die Unabhngigkeit desInselreiches von den frheren niederlndischen Kolonialherren zu proklamieren.Frankreich und Holland versuchten zwar, irre kolonialen Positionen durchNachbildungen des britischen Commonwealth-Modells zu restaurieren, undauch in Grobritannien fehlte es nicht an Widerstand zumindest gegen dieradikalen Unabhngigkeitsbewegungen; das Ergebnis dieser Versuche, dieimperiale Machtstellung aufrechtzuerhalten, waren jedoch nur langwierigebewaffnete Kmpfe in den Kolonialgebieten, die um so weniger gewonnen

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    werden konnten, als die beiden neuen Weltmchte die USA noch mehr als dieUdSSR ihrerseits die Befreiung der Kolonialgebiete Afrikas und Asiens voneuropischer Vorherrschaft auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Statt, wie man inEuropa gehofft hatte, die europischen Lnder durch das berseeische Potentialwieder zu strken, trug das Beharren auf kolonialen Herrschaftsansprchen so

    dazu bei, Europa weiter zu schwchen wirtschaftlich, militrisch undmoralisch.

    Und doch war die Schwche Europas nur relativ, in vielen Bereichen nur vonvorbergehender Natur. Die Wirtschaft lavierte zwar am Rande desZusammenbruchs, die industriellen Produktionsanlagen waren jedoch beiweitem nicht so zerstrt, wie der Eindruck der Ruinen und Trmmerbergezunchst vermuten lie. Im Ruhrgebiet, dessen Kohlebergwerke nachKriegsende tglich nur noch 25000 Tonnen statt 400000 vor dem Kriegefrderten, waren doch nur 1520% des Maschinenbestandes in einemirreparablen Zustand; der Wert der deutschen Industrieanlagen insgesamt lag

    1946 hher als ein Jahrzehnt zuvor. Die Zerstrung von Anlagen erwies sichsogar vielfach als produktionsfrdernd, erlaubte sie doch, technologischeInnovationen schneller durchzusetzen, als das unter normalen Umstndenmglich gewesen wre. Die Massen der Flchtlinge und Vertriebenen schufenzwar Versorgungs- und Integrationsprobleme, ermglichten aber auch, insofernsie eine Reservearmee oft hochqualifizierter Arbeitskrfte darstellten, hoheInvestitionsraten, auch durch die Aufrechterhaltung eines niedrigenLohnniveaus. Die beiden neuen Weltmchte, die jetzt in Europa mitzuredenhatten, waren an einer raschen Stabilisierung des alten Kontinents interessiert die USA, weil sie befrchteten, ohne potente europische Handelspartner und

    Absatzmrkte nach dem Ende des Krieges in eine massive berproduktionskrisezu geraten, die Sowjetunion, weil sie die geschwchten europischen Staatennicht in Abhngigkeit von der konomischen Fhrungsmacht USA geratenlassen wollte. Die USA suchten daher sogleich nach Kriegsende diewirtschaftlichen Schwierigkeiten der Europer durch Kredite undHilfslieferungen zu berbrcken (wobei sie allerdings zunchst die europischeHilfsbedrftigkeit noch zu gering einschtzten); die Sowjetfhrung bemhte sich anders als dies westliche Beobachter erwartet hatten und vielfach bis heutebehaupten , die europische Bevlkerung, soweit sie ber die kommunistischenParteien beeinflubar war, zu Konsumverzicht und raschem Wiederaufbau zumobilisieren3. Waren erst einmal die Verkehrsverbindungen wiederhergestelltund die politischen Organisationsprobleme einigermaen bereinigt, so mute dieProduktion relativ schnell wieder in Gang kommen. In der Tat erlebten dieeuropischen Volkswirtschaften dann in der zweiten Hlfte der 40er Jahreberall einen ziemlich gleichmigen Wiederaufstieg nahezu unabhngigdavon, welche ordnungspolitischen Konzepte in den einzelnen Lndern verfolgtwurden.

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    Tatschlich war mit dem Zweiten Weltkrieg nicht die europische Geschichtean ihren Endpunkt gelangt, sondern die Geschichte des Gleichgewichtssystemseuropischer Mchte, wie es sich seit der Renaissance herausgebildet und beiallen Modifikationen im einzelnen grundstzlich immer wieder durchgesetzthatte. Dieses System war brchig geworden, seit die zunehmende wirtschaftliche

    Interdependenz und die Entwicklung der Waffentechnik die Autonomie derbisherigen Gromchte in Frage gestellt hatte, und der deutsche Versuch, demwachsenden Dilemma einer halbhegemonialen Stellung durch Gewinnung einerWeltmachtstellung auf Kosten der brigen europischen Mchte zu entkommen,hatte es zerstrt; Versuche, es nach dem Kriege wiederzubeleben amspektakulrsten die Auenpolitik de Gaulles, beginnend mit dem franzsisch-sowjetischen Pakt vom Dezember 19444 , waren aufgrund der relativenSchwche der europischen Nationen zum Scheitern verurteilt. Ein neuesinternationales System mute an seine Stelle treten, von dem zunchst nur sovielklar war, da die USA aufgrund ihres gewaltigen wirtschaftlichen Aufstiegs und

    ihres Atomwaffenmonopols eine fhrende Rolle spielen wrden, dieSowjetunion aufgrund der im Kriege gewonnenen militrischen Strke eineeigenstndige Position behaupten wrde und die europischen Staaten aufgrundihrer strategischen Bedeutung fr die beiden neuen Weltmchte einMitspracherecht behalten wrden. Die Zukunft Europas war damit von derEntwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen abhngig geworden;zugleich konnten aber die Europer auf diese Entwicklung einwirken.

    Soweit unter den Europern Alternativen zu dem zusammengebrochenenGleichgewichtssystem diskutiert wurden, bewegten sie sich im Rahmen der Ideeeines Vereinten Europas. Durch Assoziation, Integration oder Fderation der

    europischen Staaten ber das Wie des Zusammenschlusses gingen dieVorstellungen vielfach auseinander sollten selbstmrderische Konflikte, wieman sie jetzt innerhalb einer Generation zweimal erlebt hatte, knftigausgeschlossen werden; insbesondere sollte Deutschland durch die Integrationeiner Form von dauerhafter Kontrolle unterzogen werden, die nicht wiederneuen Revanchismus produzieren wrde. Darber hinaus sollte derZusammenschlu die Europer davor bewahren, in Abhngigkeit von derSowjetunion und/oder den USA zu geraten, und es ihnen ermglichen,zwischen den offensichtlich rivalisierenden neuen Weltmchten einevermittelnde Rolle zu spielen. Winston Churchill, der britische Premierminister,setzte sich im Mrz 1943 ffentlich fr einen Europarat der kontinentalenStaaten ein, der neben den Gromchten USA, Sowjetunion und Grobritannienknftig den vierten Stabilisierungsfaktor der Weltpolitik bilden sollte.Widerstandsgruppen in allen von deutschen Truppen besetzten Lndern, vonFrankreich bis Polen, formulierten unabhngig voneinander hnliche Konzeptefr Vereinigte Staaten von Europa. Der belgische Auenminister Paul-HenriSpaak schlug der britischen und der franzsischen Regierung im Herbst 1944 dieIntegration Westeuropas unter britischer Fhrung vor, und sein italienischer

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    Kollege Alcide de Gasperi prsentierte sich im September 1945 demAuenministerrat der Siegermchte als Vorkmpfer fr ein fderiertes Europa5.

    Eine vermittelnde Rolle Europas als Dritter Kraft schien sich um so eheranzubahnen, als in den europischen Lndern eine allgemeineGewichtsverlagerung nach links, vom liberalkapitalistischen Modell der USA

    und des alten Europa weg, zu beobachten war. Konservative Machteliten hattensich durch ihre Zusammenarbeit mit den Faschisten diskreditiert, dieKommunisten hatten durch ihren Einsatz in der Rsistance und durch den hohenAnteil der Sowjetarmee am Sieg der Alliierten an Ansehen gewonnen, generellwaren infolge der Opfer, die der Krieg gefordert hatte, diePartizipationsansprche gestiegen. In den ersten Nachkriegswahlen erhielten dieKommunisten in Frankreich 26% der Stimmen, in Italien 19%, in derTschechoslowakei sogar 38%. In Griechenland kmpfte eine vonkommunistischen Fhrungskrften wesentlich mitgetrageneAufstandsbewegung gegen das autoritre Athener Regime; in Jugoslawien

    errang die kommunistische Partisanenbewegung unter Tito einen vollstndigenSieg. In Grobritannien schickte eine breite Mehrheit von Labour-Whlern denkonservativen Kriegspremier Winston Churchill unmittelbar nach seinemTriumph ber Hitlerdeutschland in die Opposition. In Italien, Frankreich undDeutschland erzielten christdemokratische Parteien mit betont progressistischen,zum Teil offen antikapitalistischen Programmen auerordentliche Erfolge.Antifaschistische Koalitionen aus Kommunisten, Sozialisten,Christdemokraten und anderen brgerlichen Gruppierungen prgten das Bildder ersten Nachkriegsregierungen.

    Indessen standen der Entwicklung zu einem Europa der Dritten Kraft auch

    betrchtliche Hindernisse entgegen: Wenn auch traditionelleHerrschaftspositionen erschttert waren, so bestanden doch diesoziokonomischen Verhltnisse ber die Wendemarke der Befreiung bzw. desZusammenbruchs von 1945 hinweg ziemlich unverndert fort, und dieaugenblickliche Mangellage begnstigte im Interesse einer raschenRekonstruktion den Rckgriff auf die hergebrachten Brokratien inVerwaltung und Wirtschaft. Das Erlebnis von Zusammenbruch und Besetzunghatte zwar das Denken in strikt nationalstaatlichen Kategorien in Frage gestellt,zugleich aber auch die Notwendigkeit verstrkt, sich der eigenen nationalenIdentitt zu versichern. Grobritannien, das von der europischen Linkenvielfach als Fhrungsmacht eines vereinten Europas angesehen wurde, hatte dasZusammenbruchserlebnis des Kontinents nicht geteilt und stand denForderungen nach Integration des eigenen Landes in das kontinentale Europadaher weithin verstndnislos gegenber. Angesichts der weltpolitischenKrfteverschiebungen blieben die Einigungsbemhungen, sollten sie nicht zurbloen Wiederholung nationalstaatlicher Machtkmpfe auf kontinentaler Ebenefhren, von der gleichzeitigen Verstndigung mit den Weltmchten abhngig,und da die Sowjetfhrung nicht nur die ostmitteleuropischen Fderationsplne

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    als gegen ihre Interessen gerichtete Unternehmen ansah, sondern auch jeglicheArt von Staatenassoziierung auf dem europischen Kontinent, waren zunchstnur sehr vorsichtige, auf Modifizierung der sowjetischen Haltung setzendeSchritte mglich, whrend eine faktische Allianz nationalistischer undsowjetischer Krfte unterdessen fr die Restauration des nationalstaatlichen

    Ordnungssystems arbeitete.Was aus Europa werden wrde, war also in dreierlei Hinsicht offen:

    Ordnungspolitisch war zu entscheiden, ob und in welchem Mae dieliberalkapitalistischen Verhltnisse wieder befestigt werden konntenbeziehungsweise wieweit sie sozialistischen Gesellschaftsmodellen weichenmuten; im Verhltnis der europischen Nationen untereinander stand dasBemhen um die Behauptung absoluter nationalstaatlicher Souvernitt gegenden Versuch, die einzelstaatlichen Interessen durch Integration zu relativieren;weltpolitisch konnte Europa zum Stabilisierungsfaktor zwischen Sowjetunionund USA oder zum Objekt und Opfer ihrer Konfrontation werden. Die

    Entwicklungen in den drei Bereichen hingen voneinander ab, wobei entsprechend der relativen Schwchung der europischen Staaten gegenberden neuen Weltmchten den Entscheidungen auf weltpolitischem Gebiet dasgrte Gewicht zukam. Sie bestimmen darum auch die Periodisierung dereuropischen Nachkriegsgeschichte.

    II. Die Anfnge des Kalten Krieges

    Eine erste Phase der Nachkriegsentwicklung Europas, schon im Kriegebeginnend und bis 1947/48 dauernd, war dadurch gekennzeichnet, da die

    europische Region mehr und mehr zum Objekt gegenstzlicher Befrchtungenund Plne der Weltmchte wurde, ohne da die Ost-West-Spaltung Europasbereits unabnderliche Realitt war. Die Sowjetfhrung frchtete seit 1943/44mehr und mehr die Expansion des amerikanischen Kapitalismus in dasgeschwchte Europa und damit langfristig in Verbindung mit denantisowjetischen Krften des alten Kontinents, insbesondere der osteuropischenNachbarlnder eine neue Bedrohung des eigenen Imperiums; in deramerikanischen Fhrung setzte sich 1945/46 die berzeugung durch, derSowjetkommunismus sei wie der Faschismus expansiver Natur und er werde wie jener die Weltwirtschaftskrise die wirtschaftliche Notlage Europas dazuzu nutzen versuchen, die gesamte europische Region in seine Einflusphre zubringen, und damit nicht nur den Wohlstand, sondern auch die Sicherheit derUSA bedrohen. Die Spannungen zwischen den Weltmchten, die aus diesenBefrchtungen resultierten, erreichten bereits unmittelbar nach Kriegsende einsolches Ausma, da eine Verstndigung ber die Probleme derNachkriegsordnung Europas nur noch in Randfragen mglich war. DieSowjetfhrung konzentrierte daher ihre Anstrengungen auf die dauerhafteSicherung ihres Einflusses in den von der Roten Armee besetzten Gebieten Ost-

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    und Mitteleuropas; die amerikanische Regierung rumte ab Anfang 1946 derImmunisierung der nicht von der Roten Armee besetzten Teile Europas vorsowjetischem Zugriff Prioritt ein; beide nahmen damit die Teilung Europas inKauf und arbeiteten de facto auf sie hin6.

    Hinsichtlich der osteuropischen Lnder zielte die sowjetische Politik darauf,

    die 1918 vom Deutschen Reich und 1921 von Polen erzwungenenGebietsabtretungen Rulands rckgngig zu machen, soweit das nicht schon1939/40 erfolgt war, die zahlreichen Minorittenprobleme durch gewaltigeUmsiedlungsaktionen zu bereinigen und vor allem durch die Zerstrung dersozialen und politischen Basis potentiell antisowjetischer Krfte die Mglichkeiteiner die Sicherheit der Sowjetunion bedrohenden Ausrichtung derosteuropischen Lnder zu verhindern. Wie die sowjetfreundliche OrientierungOsteuropas erreicht werden sollte, stand zunchst (anders als dies eineweitverbreitete expost-Interpretation behauptet) keineswegs eindeutig fest;sicher war nur, da sie angesichts der weiten Verbreitung antirussischer und

    antikommunistischer Einstellungen in den osteuropischen Lndern in der Regelnicht mit der Verwirklichung liberaler Demokratievorstellungen westlicherPrgung in Einklang zu bringen war7. Eben diese hatte jedoch die amerikanischeRegierung zu einem vordringlichen Kriegsziel proklamieren mssen, um denKriegseintritt der USA innenpolitisch berhaupt erst zu ermglichen; aus Furchtvor einem Rckfall des amerikanischen Volkes in den Isolationismus und unterdem wachsenden Druck von Whlern osteuropischer Herkunft sah sie sichauerstande, die sowjetischen Sicherheitsforderungen offen anzuerkennen obwohl die realen Interessen der USA an Osteuropa gering waren undinsbesondere Prsident Roosevelt die Notwendigkeit eingesehen hatte, der

    Sowjetunion eine Vormachtstellung im osteuropischen Raum einzurumen. Dieoffizielle amerikanische Forderung nach Durchsetzung demokratischerPrinzipien bestrkte die sowjetfeindlichen Krfte in Osteuropa in ihremWiderstand gegen den sowjetischen Zugriff und trieb folglich die Sowjetfhrungzu verstrkter Repression; dies fhrte, da den amerikanischen Wortenkeineswegs eine substantielle Untersttzung nichtkommunistischer Krfte folgte,zur allmhlichen Ausrichtung der osteuropischen Lnder auf das sowjetischeVorbild einer kommunistischen Einparteiendiktatur8.

    So war zwar das stliche Polen bis zur Linie der Flsse Narew, Weichsel undSan im Herbst 1939 von sowjetischen Truppen fr den Sowjetstaat in Besitzgenommen worden, und im Frhjahr 1940 hatte die Sowjetfhrung fast 15000kriegsgefangene polnische Offiziere ermorden lassen; eine Machtbernahmedurch polnische Kommunisten schien Stalin jedoch lange Zeit kein geeignetesMittel zu sein, eine erneute antisowjetische Orientierung Polens zu verhindern,vielmehr suchte er bis zum Sommer 1944 nach abtretungs- undkooperationsbereiten Krften in den Kreisen der polnischen Exilregierung inLondon. Erst als endgltig feststand, da solche nicht zu finden waren, gab eroffenbar dem Drngen der polnischen Kommunisten auf Vorbereitung eines

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    kommunistisch dominierten Regimes nach. Dem Warschauer Aufstand dernichtkommunistischen Rsistance im August 1944 verweigerte er die mglicheHilfe; Rsistancefhrer, die nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen imWinter 1944/45 ber ihren Anteil an der Macht verhandeln wollten, lie erverhaften. Unter amerikanischem Druck muten dann Ende Juni 1945 der

    Bauernpartei als potentiell strkster Kraft des Landes vier Kabinettssitze in dervon den kommunistischen Krften etablierten Regierung eingerumt werden,ebenso ein weiterer Sitz den Sozialisten. Als sich die Bauernpartei-Mehrheitjedoch weigerte, in die von Kommunisten und Sozialisten dominierteDemokratische Front einzutreten und zudem Teile der nichtkommunistischenHeimatarmee ihren Partisanenkampf fortsetzten, verschoben die Kommunisten,nun von einer wachsenden Gruppe nichtkommunistischer Reformkrfteuntersttzt, die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung bis zum Januar1947 und manipulierten sie dann noch (unntigerweise) soweit, da dieDemokratische Front 394 von 444 Parlamentssitzen erhielt. Die Kommunisten

    konnten nun ihren Fhrungsanspruch ungehindert durchsetzen, steuertenfreilich zunchst einen Kurs des vom sowjetischen Vorbild unabhngigeneigenen Weges zum Sozialismus, der darum bemht war, die buerlichenMassen wie den Klerus der katholischen Kirche fr die Mitarbeit amsozialistischen Staatsaufbau zu gewinnen.

    In der tschechoslowakischen Exilregierung fand Stalin jeneKooperationsbereitschaft, die er bei der polnischen vergeblich suchte.Staatsprsident Bene und eine Mehrheit demokratischer Krfte des Landeszogen aus der Erfahrung des Mnchner Abkommens und der Verschiebung derMachtverhltnisse auf dem Kontinent von sich aus den Schlu, die

    Tschechoslowakei msse die Sowjetunion als Schutzmacht gewinnen, um ihreUnabhngigkeit zu sichern. Bereitwillig gab er den Plan einertschechoslowakisch-polnischen Fderation auf sowjetischen Einspruch hin auf,trug er dem sowjetischen Wunsch nach Angliederung der bis 1939 zumtschechoslowakischen Staatsverband gehrenden Karpato-Ukraine an dieSowjetunion Rechnung und vertrat er in der internationalen Politik diesowjetischen Positionen. Folglich ging die politische Macht nach der Befreiungdurch sowjetische und (zu geringerem Teil) amerikanische Truppen an eineNationale Front aus Kommunisten, Sozialdemokraten, Nationalsozialisten,Katholischer Volkspartei und Slowakischer Demokratischer Partei ber,innerhalb derer die Kommunisten zwar infolge der Unachtsamkeit von Beneeine unverhltnismig starke Schlsselstellung einnehmen konnten, derenProgramm sozialer Umgestaltung (einschlielich der Ausweisung derSudetendeutschen) jedoch von einem breiten Konsens aller Koalitionspartnergetragen wurde. Spannungen unter den Regierungsparteien, die den Fortbestanddes parlamentarischen Regimes bedrohten, traten erst 1947 auf, nachdemWiederaufbau und Sozialisierungsprogramm nicht zuletzt infolge desAusbleibens amerikanischer Hilfsgelder in eine Krise geraten waren.

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    In Ungarn lie Stalin unter dem Schutz der sowjetischen Truppen Ende 1944eine Koalitionsregierung aus Kommunisten, Sozialisten undKleinlandwirtepartei errichten und in vorsichtigen Schritten soziale Reformendes bis dahin von einer schmalen Oberschicht konstitutionell-autoritr regiertenund mit Deutschland verbndeten Landes in die Wege leiten. Eine Massenbasis

    fr eine sowjetfreundliche Politik fand sich jedoch nicht; vielmehr erlitten dieKommunisten in den Wahlen vom Oktober 1945 mit 17% der Stimmen (gegen57% fr die Kleinlandwirtepartei und 17,4% fr die Sozialisten) eine deutlicheNiederlage. Der Kleinlandwirtefhrer Ferenc Nagy wurde nun von den Sowjetsals Ministerprsident akzeptiert, geriet aber unter zunehmenden Druck seinerkommunistischen Kabinettskollegen. Im Januar 1947 wurden einige fhrendeMitglieder der Kleinlandwirtepartei der Verwicklung in einen Putschversuchbeschuldigt und verhaftet, Ende Mai 1947 die wichtigsten Kleinlandwirte-Minister aus dem Kabinett ausgeschlossen; danach war der Weg zumkommunistischen Machtmonopol frei.

    In Rumnien suchte sich die Sowjetfhrung zunchst mit derVerschwrergruppe oppositioneller Generle und Politiker zu arrangieren, dieim August 1944 das mit Hitler verbndete Regime Marschall Antonescus strzte;Forderungen rumnischer Kommunistenfhrer nach grerem Anteil an derMacht wurden von Stalin abschlgig beschieden. Unter dem Eindruckallgemeiner Unruhe unter der antibolschewistisch eingestellten lndlichenBevlkerung erzwangen die sowjetischen Besatzer dann aber Ende Februar 1945von Knig Michael die Berufung eines kommunistisch kontrollierten Kabinetts.Die Opposition gegen das neue Regime blieb betrchtlich und nahm sogar weiterzu, konnte sich aber nicht mehr durchsetzen: Im August 1945 versuchte Knig

    Michael vergeblich, die neue Regierung zu strzen; im Januar 1946 wurden aufamerikanischen Druck hin zwei Vertreter der Oppositionsparteien in dasKabinett aufgenommen, ohne da sie dort tatschlichen Einflu erlangenkonnten; im November 1946 bereiteten die Whler der kommunistischen Parteieine vernichtende Niederlage, die jedoch von dieser in einen Sieg des von ihrkontrollierten Blocks demokratischer Parteien umgeflscht wurde. Im Laufedes Jahres 1947 wurden die oppositionellen Fhrungskrfte verhaftet, ihrAnhang durch eine Whrungsreform seiner materiellen Grundlage beraubt, dieselbstndigen Elemente innerhalb des Demokratischen Blocks ausgeschaltet,schlielich die Abdankung des Knigs erzwungen.

    In Bulgarien organisierte eine Vaterlndische Front aus Zveno-Gruppe derMilitrs, Bauernpartei, Kommunisten und Sozialisten im September 1944 beimHerannahen der sowjetischen Truppen einen Putsch gegen das bisherigeautoritre, mit Hitler verbndete Regime; ber 2500 Vertreter der alten Ordnungwurden im Laufe des Winters 1944/45 zum Tode verurteilt, weitere 2000 inlebenslange Zwangsarbeit geschickt. Innerhalb der Regierungskoalition gewanndie kommunistische Partei, hier mit rasch wachsendem Massenanhang unddurch die Prsenz der sowjetischen Besatzer abgesichert, alsbald die fhrende

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    Position. Durch das Vorgehen britischer Truppen gegen die prokommunistischePartisanenbewegung im benachbarten Griechenland ermutigt, wagte derstellvertretende Ministerprsident Nikola Petkow im Juli 1945 die Kraftprobe mitden Kommunisten, indem er mit einem Teil seiner Bauernpartei dieVaterlndische Front verlie. Zu den Wahlen vom November 1945 wurde

    jedoch nur eine Einheitsliste der Front zugelassen und diese mit 88% bei einerWahlbeteiligung von 80% besttigt; Verhandlungen ber die Wiederaufnahmezweier Oppositionspolitiker in die Regierung (wie sie die Sowjetregierung denUSA schlielich zugestanden hatte) scheiterten an der Weigerung derKommunisten, der Opposition realen Einflu zuzubilligen. Nach dem Abschludes Friedensvertrags im April 1947 und der Auflsung der AlliiertenKontrollkommission, deren Prsenz der Opposition noch einen gewissen Schutzgewhrt hatte, wurde Petkoff verhaftet und zum Tode verurteilt, seine ohnehinschon angeschlagene Bauernpartei definitiv zerschlagen.

    In Jugoslawien setzte sich die kommunistische Partisanenbewegung unter

    Josip Broz-Tito im Kampf gegen die Achsenmchte weitgehend aus eigener Kraftgegen rivalisierende Widerstandsgruppen durch; Stalin, der die Bewegungwhrend des Krieges nicht hatte untersttzen knnen, drngte Tito auch nachdem militrischen Sieg ber die Besatzer im Herbst 1944, mit den brgerlichenKrften und dem exilierten Knig zusammenzuarbeiten. Tito rumte dennichtkommunistischen Krften jedoch nur eine untergeordnete Rolle in der vonder Bevlkerung im November 1945 mit 90% gebilligten Volksfront ein, triebdie Enteignung von Grogrundbesitz und Industrie nach sowjetischem Vorbildenergisch voran und lie die aktiven Anhnger der vordem rivalisierendenFormationen (insbesondere der serbischen etnik- Kampfbewegung und der

    kroatischen Ustaa-Separatisten) strafrechtlich verfolgen. Sein Regime kam sokommunistischen Ordnungsvorstellungen noch am ehesten nahe, geriet aberalsbald in Spannungen mit Stalin, dem der revolutionre Elan derjugoslawischen Genossen vielfach so in ihrem Versuch, das Gebiet von Triestzu vereinnahmen, und in ihrer Untersttzung der griechischenAufstandsbewegung zu unbedacht erschien. Unter umgekehrten Vorzeichenblieb auch in Finnland der sowjetische Einflu begrenzt: Die finnische Armeebrachte den sowjetischen Vormarsch zweimal, im finnisch-sowjetischenWinterkrieg 1939/40 und bei der sowjetischen Karelien-Offensive im Sommer1944, zum Stillstand; die USA bekundeten whrend des gesamten Krieges einaktives Interesse an der Erhaltung der demokratischen Ordnung des Landes,und die nach dem Kriege gebildete Regierung Paasikivi nahm mit einer betontsowjetfreundlichen Auenpolitik der Sowjetfhrung jeden Anla zu einemerneuten Interventionsversuch.

    In den auerhalb des Einflubereichs der Roten Armee verbliebenen Lndern,besonders in Frankreich und in Italien, mobilisierten die Kommunistenunterdessen auf Stalins Anweisung alle verfgbaren Reserven fr denWiederaufbau in Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten. Aus der

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    Rsistance hervorgegangene Selbstverwaltungsorgane, die als Keimzellenrevolutionrer Gegengewalt dienen konnten, wurden mit Hilfe kommunistischerMinister entmachtet; gesellschaftliche Reformbewegungen wurden soweitgefrdert, wie sie zur Effektivierung des Produktionsprozesses beitragenkonnten, aber immer dann gestoppt, wenn sie die Produktivitt auch nur

    kurzfristig zu beeintrchtigen drohten; wirtschaftliche Verteilungskmpfewurden zugunsten einer ausgesprochen unternehmerfreundlichen Politikrigoroser Produktions- und Ertragsratensteigerung zurckgestellt.

    In Frankreich boykottierten die Kommunisten die Forderungen ihressozialistischen Koalitionspartners nach Nationalisierung aller Groindustrien,nach Wirtschaftsplanung und Partizipation; in Italien versagten sie sich denradikalen Umgestaltungsplnen der Sozialisten und der aus der Rsistancehervorgegangenen Aktionspartei zugunsten einer Zusammenarbeit auch mit denLiberalen und vor allem mit der christdemokratischen Massenpartei.9.

    Die amerikanische Fhrung nahm diese bis zur Selbstverleugnung gehende

    kommunistische Stabilisierungspolitik im westlichen Europa freilich nicht zurKenntnis, setzte vielmehr ihre Wirtschaftshilfe gezielt gegen denkommunistischen Einflu ein und drngte die Sozialisten und Christdemokratenin Europa auf Ausschlu der Kommunisten aus der Regierungsverantwortung.Die Regierungspartner der Kommunisten zeigten, da sie zur Durchsetzung ihrereigenen Reformplne auf kommunistische Untersttzung angewiesen waren,zunchst wenig Neigung, den amerikanischen Forderungen nachzukommen,gerieten aber bald auch im eigenen Land unter den Druck antikommunistischerKrfte, die im Zeichen der beginnenden Ost-West-Konfrontation an Gewichtzunahmen. In Frankreich entstand den Christdemokraten mit der gaullistischen

    Sammlungsbewegung eine rechte Konkurrenz, die sie zwang, mehr und mehrvon ihren linken Koalitionspartnern abzurcken; in Italien arbeitetentraditionelle Honoratioren und der Vatikan auf einen Bruch derChristdemokraten mit den Kommunisten hin. Deren Position innerhalb derRegierungen wurde folglich immer schwcher, und die Unzufriedenheit ihrerAnhngerschaft mit der von Moskau verfgten Opferpolitik wuchs. Im Frhjahr1947 waren der Unmut der kommunistischen Basis einerseits und der Druck derKommunistengegner andererseits so weit angewachsen, da dieRegierungskoalitionen mit den Kommunisten auseinanderbrachen, sowohl inBelgien (11. Mrz) als auch in Frankreich (4. Mai) und in Italien (13. Mai). Nochrechnete freilich in Europa kaum jemand damit, da der Bruch derantifaschistischen Bndnisse von Dauer sein wrde, und die kommunistischenParteifhrungen versuchten auch von der Opposition aus, die Mitarbeit amnationalen Wiederaufbau fortzusetzen.

    Noch strker als auf Ost- und Westeuropa wirkte sich die beginnende Ost-West-Konfrontation auf Deutschland aus, das von den Weltmchten nurgemeinsam hatte besiegt werden knnen und fr dessen Zukunft sie darum auchgemeinsam verantwortlich waren10. Die Alliierten hatten zwar alle ein

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    erhebliches Interesse daran, Deutschland anders als nach dem Ersten Weltkriegjede Mglichkeit zu einer neuen Aggression zu nehmen, befrchteten von einerEntmachtung Deutschlands zugleich aber auch negative Folgen fr die eigeneSicherheit: In den USA zeigte sich ein deutliches Interesse daran, den deutschenMarkt als potenten Partner fr die amerikanische Wirtschaft zu erhalten, in der

    Sowjetfhrung wuchs, je lnger der Krieg dauerte, die Befrchtung, einzerstrtes Deutschland knne leicht zum Opfer des amerikanischenImperialismus werden, in Grobritannien wuchs parallel dazu die Furcht, einMachtvakuum in Deutschland werde der sowjetischen Expansion Vorschubleisten. Unter den Westmchten nahm darber hinaus die Einsicht zu, daSicherheit vor Deutschland nicht durch Repression, sondern nur durchIntegration der Deutschen in ein kollektives Sicherheitssystem erreicht werdenkonnte. So kam es, da die alliierten Regierungen auf ihren Treffen whrend desKrieges zwar alle mehr oder weniger deutlich Plne zur AufteilungDeutschlands in selbstndige Teilstaaten ventilierten am radikalsten Roosevelt,

    vergleichsweise zurckhaltend, nur an einer Westverschiebung der polnischenGrenzen definitiv interessiert, Stalin , eine genaue Festlegung jedoch unterbliebund nach Kriegsende nur die Franzosen, die auf Betreiben Churchills im letztenMoment in den Kreis der knftigen Besatzungsmchte Deutschlandsaufgenommen worden waren, an diesen Plnen festhielten.

    In der European Advisory Commission (ab Januar 1944 in London) sowieauf den Konferenzen der Groen Drei in Jalta (Februar 1945) und Potsdam(Juli/August 1945) vermochten sich die Alliierten folglich fast nur aufprovisorisch gemeinte Regelungen zu verstndigen: Von den Teilungsplnenwurde lediglich die Abtretung ostdeutscher Gebiete an Polen bzw. die

    Sowjetunion konkretisiert; infolge britischen Einspruchs gegen die von derpolnischen Regierung bei Stalin durchgesetzte Abtrennung ganz Schlesiens (biszur Oder-Neie-Linie) erfolgte die bertragung der Regierungsgewalt an Polenbzw. die Sowjetunion jedoch nur vorbehaltlich einer endgltigen Regelung ineinem Friedensvertrag. Das brige Reichsgebiet (natrlich ohne die seit 1938annektierten Territorien) wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt, dieHauptstadt Berlin einer gesonderten Viermchte-Verantwortung unterstellt,doch hatten die vier Besatzungsmchte die Verantwortung fr die VerwaltungDeutschlands in einem Alliierten Kontrollrat gemeinsam zu tragen, und dasLand sollte unter dem Besatzungsregime als wirtschaftliche Einheit behandeltwerden. Die sowjetische Forderung nach Festlegung der von Deutschland alsEinheit zu leistenden Reparationen auf 20 Milliarden Dollar (davon die Hlftefr die Sowjetunion) wurde von Roosevelt entgegenkommend behandelt; imZuge der Verhrtung der amerikanischen Position gegenber der Sowjetunionsetzte sich dann aber das Prinzip der Selbstbedienung der Besatzungsmchtein ihrer jeweiligen Zone durch; nur 10% der unntigen Industriegter derWestzonen sollten ohne Gegenleistung Polen und Russen zur Verfgung gestelltwerden. Hinsichtlich der Entnazifizierung und Demokratisierung Deutschlands

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    wurden eine Reihe von Grundsatzbeschlssen gefat; ber den Weg zu ihrerVerwirklichung gingen die Vorstellungen jedoch sehr bald auseinander11.

    Damit waren fr die Lsung der deutschen Frage nur noch zweiMglichkeiten verblieben: Festhalten am Deutschen Reich in einer Form, diebeiden Weltmchten hinreichend Garantien bot, da nicht das ganze

    Deutschland dem Potential der jeweiligen Gegenseite zufallen wrde, oder,wenn diese Garantien nicht erreichbar waren, Einbeziehung derBesatzungszonen in die jeweils eigene Hemisphre. Die Groen Drei suchtendie Lsung nach Kriegsende zunchst in Richtung der ersten Alternative,tatschlich lief die Entwicklung jedoch seit Herbst 1945 auf die zweite hin, da diefranzsische Regierung im Sinne der obsolet gewordenen Zerstckelungsplnedie Realisierung der in Potsdam beschlossenen Wirtschafts- undVerwaltungseinheit blockierte. In Ermangelung gemeinsamer Regelungen nahmdie von den Besatzungsmchten eingeleitete Entnazifizierung der deutschenGesellschaft in Ost und West einen unterschiedlichen, am jeweiligen

    Demokratieverstndnis ausgerichteten Verlauf, und das Mitrauen hinsichtlichder wechselseitigen Absichten in Deutschland wuchs. Plne fr einegesamtdeutsche Regelung, so das amerikanische Angebot eines Viermchte-Garantiepakts zur Entmilitarisierung Deutschlands oder der britische Vorschlagzum schrittweisen Aufbau einer provisorischen Regierung, wurden zwar nochbis zur Moskauer Auenministertagung im Mrz/April 1947 ernsthaft diskutiert,scheiterten aber regelmig am sowjetisch-amerikanischen Gegensatz, der sich inder Reparationsfrage konkretisierte. Seit Mitte 1946 war die amerikanischeRegierung nicht mehr zu Kompromissen bereit, die den hohen sowjetischenForderungen entgegengekommen wren, und arbeitete statt dessen auf den

    wirtschaftlichen Wiederaufbau und die staatliche Organisation der dreiwestlichen Besatzungszonen ohne sowjetische Beteiligung hin, immer mehrdavon berzeugt, da ihr langfristiges Interesse an einem potenten deutschenMarkt nur noch auf diese Weise zu verwirklichen war und ansonsten dieSowjetisierung ganz Deutschlands drohte. Die Sowjetregierung hieltdemgegenber an der gesamtdeutschen Alternative fest, um eben dieseAmerikanisierung Westdeutschlands zu verhindern, fhrte aber zugleich denTransformationsproze in der eigenen Besatzungszone in einer Weise fort, diepotentielle Bundesgenossen in den westlichen Zonen abschreckte12.

    Die Plne fr eine europische Dritte Kraft kamen unter diesen Umstndenkaum voran. Die Wiedererrichtung einer Internationale sozialistischer ParteienOst- und Westeuropas, potentielles Sammelbecken einigungswilliger Krfte,scheiterte an der Furcht der Osteuroper wie der britischen Labour Party voreiner Einschrnkung ihrer Bewegungsfreiheit. Versuche, die Beziehungenzwischen west- und osteuropischen Staaten zu intensivieren, so der Plan einesfranzsisch-tschechoslowakischen Bndnisses, blieben in ersten Anstzenstecken. Initiativen fr eine westeuropische Assoziation unter britisch-franzsischer Fhrung fhrten infolge britischen Zgerns und franzsischer

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    Konzentration auf eine unrealistisch gewordene Deutschlandpolitik nur zumfranzsisch-britischen Pakt von Dnkirchen (4. Mrz 1947), der ber dengegenseitigen Beistand gegen eine neue deutsche Aggression hinaus noch keinesubstantiellen Kooperationsbestimmungen enthielt. Andererseits hatten aberauch Bemhungen, Westeuropa mit den USA zu einem Block gegen sowjetische

    Expansion zusammenzuschweien, wenig Erfolg. Churchill sprach im Mrz 1946ffentlich vom Eisernen Vorhang zwischen Ost und West und derNotwendigkeit atlantischer Solidaritt, im September 1946 rief er Franzosen undDeutsche auf, sich zu einer Art Vereinigter Staaten von Europa im Westen zuverstndigen, und beide Male stie er in Europa auf mehr Ablehnung alsZustimmung. Noch war die Blockbildung in Europa nicht vollzogen13.

    III. Die Teilung Europas

    Die Wende zur dauerhaften Zweiteilung des europischen Kontinents begann,

    als die amerikanische Regierung im Frhjahr 1947 versuchte, ihreStabilisierungspolitik fr Westeuropa einschlielich des westlichen Deutschlandzu intensivieren. Dieser Versuch war in amerikanischer Sicht notwendig, da dieursprnglich an Lnder auerhalb des sowjetischen Einflubereichs gewhrtenHilfen, 1946 immerhin schon 5,7 Milliarden Dollar, sich als zu gering erwiesen,ein harter Winter und Verkehrsengpsse die Wirtschaftskrise Europas immenserscheinen lieen, und die europischen Lnder zum Protektionismuszurckzukehren drohten; er war aber auch auerordentlich schwierig, da sichder amerikanische Kongre, seit Anfang des Jahres mit republikanischerMehrheit, wenig geneigt zeigte, neue Kredite fr Europa zu bewilligen, und die

    franzsische Regierung sich weigerte, dem raschen Wiederaufbau derwestdeutschen Industrie, wie er fr die dauerhafte Gesundung der europischenWirtschaft unerllich war, zuzustimmen. Den Widerstand des Kongressesberwand die Truman-Administration, indem sie die sowjetische Bedrohung(von deren Realitt sie freilich berzeugt war) bewut berdimensioniertdarstellte: In der Truman-Doktrin, am 12. Mrz 1947 dem Kongre aus Anlader Bitte um Hilfsgelder fr Griechenland und die Trkei prsentiert, erschiender Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA nun als globaler Kampfzwischen einem Regime von Terror und Unterdrckung und der Freiheit;letztere wurden die USA aufgefordert, weltweit zu untersttzen. Denfranzsischen Widerstand suchten George F. Kennan, Chef des PolitischenPlanungsstabes im State Department, und der amerikanische AuenministerGeorge C. Marshall zu berwinden, indem sie die geplanten Hilfen fr dieeuropischen Lnder zu einem multilateralen Wiederaufbauprogrammzusammenfaten, das zugleich den Weg zur Integration der beteiligten Lndererffnete und damit Frankreich eine neue Form der Kontrolle des deutschenWiederaufstiegs anbot. Um dieses Programm, seit seiner Vorstellung durch denAuenminister am 5. Juni 1947 als Marshall- Plan bekannt, in den

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    westeuropischen Lndern mit ihren starken kommunistischen undsozialistischen Krften durchzusetzen, offerierten sie es (ohne groe Hoffnungauf eine positive Antwort) auch den osteuropischen Lndern einschlielich derSowjetunion; damit ergab sich, auch wenn dies nicht das Hauptanliegen derInitiatoren des Plans war, noch einmal eine Chance, die begonnene Spaltung

    Europas rckgngig zu machen14.Die Ankndigung des Marshall-Plans lste denn auch in Ost- und Westeuropa

    betrchtliche Hoffnungen auf eine Verwirklichung der Dritten Kraft aus, unddie Sowjetfhrung schwankte eine Zeitlang zwischen der Furcht vor derWestblockbildung im Falle einer Absage an den Plan und der Furcht vor einerAuflockerung oder gar Auflsung ihres osteuropischen Herrschaftsbereichs imFalle ihrer Beteiligung. Als sich aber die Auenminister Grobritanniens undFrankreichs, Bevin und Bidault, die ihrerseits eine Torpedierung des Plans durchdie Sowjetunion befrchteten, den sowjetischen Vorstellungen von derVerwirklichung des Wiederaufbauprogramms gegenber wenig

    entgegenkommend zeigten, entschied sich Stalin am 30. Juni 1947, die Nachteileeiner Absage geringer einzuschtzen als die Gefahren im Falle einer Teilnahme.Die osteuropischen Regierungen, die ausnahmslos ihr Interesse an einerBeteiligung am Marshall-Plan bekundet hatten und mit Ausnahme Jugoslawiensselbst nach der sowjetischen Absage noch zur Teilnahme entschlossen waren,wurden von der Sowjetfhrung gezwungen, ihre Zusagen zurckzunehmen;Finnland entschied sich, um einer sowjetischen Intervention zuvorzukommen,selbst zur Nichtteilnahme. Im Laufe des Sommers 1947 setzte sich in dersowjetischen Fhrung die berzeugung durch, da ihre Stabilisierungsstrategiefr das westliche Europa gescheitert sei und die Dynamik des amerikanischen

    Kapitalismus sogar auf die sowjetische Sicherheitszone in Osteuropaberzugreifen drohe. Eine Eindmmung der amerikanischen Vormachtstellungin Westeuropa schien nun, wenn berhaupt, nur noch mglich, wenn man diewestlichen kommunistischen Parteien zum Bruch mit der Volksfront-Politik undzur Sabotage des Marshall-Plans aufforderte, whrend der Bestand derosteuropischen Sicherheitsregion nur durch eine strkere Ausrichtung derosteuropischen Regime auf das sowjetische Vorbild und durch eineVerschrfung der Kontrolle durch Moskau gesichert schien. Ende Septemberwurden die Fhrer der wichtigsten kommunistischen Parteien auf einerKonferenz im schlesischen Schreiberhau (Sklarska Porba) mit dem Kurswechselder sowjetischen Politik vertraut gemacht und zur Zusammenarbeit in einemKommunistischen Informationsbro (Kominform) verpflichtet; der sowjetischeDelegationsleiter Shdanow definierte den Ost-West-Konflikt analog zur Truman-Doktrin als globale, auf Sieg oder Untergang angelegte Auseinandersetzungzwischen dem imperialistischen und antidemokratischen Lager unter Fhrungder USA einerseits und den antiimperialistischen und antifaschistischenKrften unter sowjetischer Fhrung andererseits15.

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    In den osteuropischen Lndern wirkten jetzt der Moskauer Druck und eineallgemeine Krise des Wiederaufbaus, auch infolge des Ausbleibens deramerikanischen Hilfsgelder, dahingehend zusammen, da die bis dahin nochverbliebenen Freirume autonomer politischer Krfte beseitigt wurden. In derTschechoslowakei endete eine dramatische Kraftprobe zwischen der

    kommunistischen Partei und ihren demokratischen Koalitionspartnern mit derEtablierung einer absolut moskautreuen Regierung (29. Februar 1948) und dervollstndigen Entmachtung der Nichtkommunisten16. Wie hier wurden auch inden brigen osteuropischen Lndern noch verbliebene organisierteOppositionsgruppen ausgeschaltet, die sozialdemokratischen Parteien nachausgiebigen Suberungen mit den Kommunisten verschmolzen, alleArbeiterorganisationen der kommunistischen Kontrolle unterworfen und dieKP-Fhrungen nach und nach von Krften gesubert, die im Verdacht standen,sich Stalin gegenber nicht jederzeit absolut loyal zu verhalten also sowohl vonrevolutionren Parteifhrern, die sich eher am leninistischen Dogma als an

    den Interessen der Sowjetunion orientierten, als auch von Rechtsabweichlern,die fr ihre jeweiligen Lnder das Recht auf einen eigenen Weg zumSozialismus beanspruchten. Die gesellschaftliche Transformation wurde striktnach dem Vorbild der Sowjetunion ausgerichtet, an die Stelle pragmatischerBndnisse mit partiell reformbereiten Gruppen trat der polizeistaatliche Terroreiner Minderheit. Nach sowjetischem Muster wurden dem Aufbau derSchwerindustrie berall Vorrang eingerumt, zentralistische Planungsmethodeneingefhrt und gegen erhebliche Widerstnde auch die Kollektivierung desflachen Landes vorangetrieben; die Wirtschaftsproduktion wurde mehr undmehr auf die Bedrfnisse des sowjetischen Wiederaufbaus hin abgestellt,

    Bindungen an die westlichen Mrkte gewaltsam reduziert. Aus dem vielfltigeninformal empire der Sowjetunion in Osteuropa wurde ein geschlossenerSowjetblock17.

    Allein die jugoslawischen Kommunisten vermochten sich dieser Entwicklungzu widersetzen: In ihrem Selbstverstndnis treue Verbndete der KPdSU, warensie doch keineswegs bereit, vitale Interessen ihres Landes sowjetischen Befehlenzu opfern, und da sie infolge ihrer breiten Massenbasis nicht auf den Rckhaltder Sowjetarmee angewiesen waren, konnten sie sich gegen den MoskauerZugriff behaupten. Als sich Tito weigerte, die jugoslawische Wirtschaft einseitignach sowjetischen Bedrfnissen auszurichten und auf eigene Initiativen zusdosteuropischer Fderationsbildung zu verzichten, versuchte Stalin ihn imFrhjahr 1948 zu strzen. Freilich fhrten weder der Abzug der sowjetischenBerater (18. Mrz) noch der Ausschlu aus dem Kominform (28. Juni), dieVerhngung einer Wirtschaftsblockade oder die Aufrufe zum Sturz derfaschistischen Tito-Clique zum Erfolg. Eine kleine Gruppe potentiellerAgenten Moskaus in der jugoslawischen Parteifhrung wurde rasch entmachtet,und im brigen halfen dann westliche Kredite und amerikanische Militrhilfe,dem sowjetischen Druck, der bis zum Tode Stalins im Mrz 1953 andauerte,

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    standzuhalten. So blieb ausgerechnet jenes osteuropische Land, desseninnenpolitische Entwicklung traditionellen kommunistischenRevolutionsvorstellungen noch am weitesten entgegengekommen war,auerhalb des von der Sowjetunion dominierten Ostblocks18.

    In Westeuropa lieen die kommunistischen Parteifhrungen nach der Kritik

    ihrer bisherigen Stabilisierungspolitik durch die Kominform-Grndungskonferenz dem seit Kriegsende angestauten sozialen Unmut ihrerKlientel freien Lauf; in Frankreich und Italien entstanden daraufhin im Winter1947/48 massive Streikbewegungen, die bisweilen den Charakter einesallgemeinen Aufruhrs annahmen. Als Arbeitskampf, wie sie die groe Masse derbeteiligten Arbeiter verstand, war diese Streikwelle ein vlliger Fehlschlag, alsVersuch der kommunistischen Parteifhrungen, ihre Massenbasis wieder in denGriff zu bekommen, dagegen ein voller Erfolg; die Durchsetzung deramerikanischen Ziele in Westeuropa wurde durch sie indes nicht verhindert,eher gefrdert: Die groe Mehrheit der Westeuroper, die die Furcht der

    Amerikaner vor einer Ausdehnung des sowjetischen Einflusses auf das westlicheEuropa bisher immer als unbe