Florenski_Perspektive

10
Die umgekehrte Perspektive Wer sich zum ersten Mal den russischen Ikonen des XIV. und XV. Jahrhunderts, zum Teil noch des XVI. Jahrhunderts zuwendet, ist gew¨ ohnlich ¨ uberrascht von den unerwarteten perspektivischen Verh¨ altnissen, besonders wenn es um die Darstellung von Gegenst¨ anden mit ebenen Fl¨ achen und geraden Kanten geht, wie zum Beispiel bei Geb¨ auden, Tischen, Sitzen, insbesondere bei B¨ uchern, und da wieder in erster Linie bei den Evangelien, mit denen der Erl¨ oser und die Apostel h¨ aufig dargestellt sind. Diese speziellen Verh¨ altnisse stehen in krassem Gegensatz zu den Regeln der linearen Perspektive und k¨ onnen von ihrem Standpunkt aus nur als grobe Verst¨ oße gegen die Zeichnung aufgefaßt werden. Bei einer aufmerksameren Betrachtung der Ikonen wird man unschwer feststellen, daß auch die von gekr ¨ ummten Fl¨ achen begrenzten K¨ orper in einer Sicht wiedergegeben sind, die nach den Regeln perspektivischer Darstellung nicht zul¨ assig ist. Bei K ¨ orpern mit krummen wie auch mit geraden Linien werden auf der Ikone nicht selten Details und Fl¨ achen gezeigt, die man, wie jedem Elementarbuch ¨ uber die Perspektive leicht zu entnehmen ist, nicht gleichzeitig sehen kann. allt der normale Sehstrahl auf die Fassade der dargestellten Geb¨ aude, so zeigen sich beide Seitenw¨ ande gleichzeitig; am Evangelium sind drei oder sogar alle vier Buchkanten zu sehen; das Gesicht wird mit Scheitel, Schl¨ afen, nach vorn gewendeten und gleichsam auf der Ikonenfl¨ ache ausgebreiteten Ohren dargestellt, die Nasenfl¨ ugel und andere Teile des Gesichts, die eigentlich nicht zu sehen sein d¨ urften, sind dem Beschauer zugekehrt, Fl¨ achen hingegen, die nat¨ urlicherweise nach vorn gekehrt sein ußten, sind abgekehrt; charakteristisch auch der Buckel bei den gebeugten Figuren einer Deesis, dann auch die gleichzeitige Darstellung von R¨ ucken und Brust beim hl. Prochor, der unter Anleitung des Apostels Johannes des Theologen schreibt, sowie ein ¨ ahnliches Nebeneinander von Profil und Vorderansicht, von R¨ ucken- und Vorderfl¨ achen usw. Im Zusammenhang mit diesen zus¨ atzlichen Fl¨ achen werden parallele, nicht auf der Ebene der Ikone liegende Linien oder eine parallel zu dieser liegende Fl¨ ache, die perspektivisch auf die Horizontlinie zulaufend dargestellt werden m¨ ußten, auf der Ikone gew¨ ohnlich umgekehrt, auseinanderlaufend dargestellt. Mit einem Wort, diese und ¨ ahnliche Verletzungen der perspektivischen Einheit des Dargestellten auf der Ikone sind so offensichtlich und ausgepr¨ agt, daß selbst ein mittelm¨ aßiger Sch¨ uler, der nur nebenbei und aus dritter Hand etwas von der Perspektive mitbekommen hat, sofort darauf hinweisen w ¨ urde. Doch seltsam: Diese Ungekonntheit“ der Zeichnung, die eigentlich jeden Betrach- ter wegen der offenkundigen Ungereimtheit“ der Darstellung aufbringen m¨ ußte, ruft keinerlei ¨ argerliches Gef¨ uhl hervor, sondern wird im Gegenteil als das Rechte emp- funden, ja findet sogar Gefallen. Damit nicht genug: Wenn man einmal zwei oder drei Ikonen ungef¨ ahr der gleichen Richtung und mehr oder weniger gleichen male- rischen Rangs nebeneinanderh¨ alt, so wird der Betrachter entschieden die gewaltige unstlerische ¨ Uberlegenheit derjenigen Ikone feststellen, die die st¨ arkste Verletzung der perspektivischen Regeln aufweist, w¨ ahrend ihm die Ikonen mit der richtigen Zeichnung“ kalt und leblos erscheinen, bar der nahen Beziehung zu der auf ihnen dargestellten Wirklichkeit. Die Ikonen, die unmittelbar als wahre Kunstsch¨ opfungen

Transcript of Florenski_Perspektive

Page 1: Florenski_Perspektive

Die umgekehrte Perspektive

Wer sich zum ersten Mal den russischen Ikonen des XIV. und XV. Jahrhunderts,zum Teil noch des XVI. Jahrhunderts zuwendet, ist gewohnlich uberrascht von denunerwarteten perspektivischen Verhaltnissen, besonders wenn es um die Darstellungvon Gegenstanden mit ebenen Flachen und geraden Kanten geht, wie zum Beispiel beiGebauden, Tischen, Sitzen, insbesondere bei Buchern, und da wieder in erster Liniebei den Evangelien, mit denen der Erloser und die Apostel haufig dargestellt sind.Diese speziellen Verhaltnisse stehen in krassem Gegensatz zu den Regeln der linearenPerspektive und konnen von ihrem Standpunkt aus nur als grobe Verstoße gegen dieZeichnung aufgefaßt werden.

Bei einer aufmerksameren Betrachtung der Ikonen wird man unschwer feststellen,daß auch die von gekrummten Flachen begrenzten Korper in einer Sicht wiedergegebensind, die nach den Regeln perspektivischer Darstellung nicht zulassig ist. Bei Korpernmit krummen wie auch mit geraden Linien werden auf der Ikone nicht selten Detailsund Flachen gezeigt, die man, wie jedem Elementarbuch uber die Perspektive leicht zuentnehmen ist, nicht gleichzeitig sehen kann.

Fallt der normale Sehstrahl auf die Fassade der dargestellten Gebaude, so zeigensich beide Seitenwande gleichzeitig; am Evangelium sind drei oder sogar alle vierBuchkanten zu sehen; das Gesicht wird mit Scheitel, Schlafen, nach vorn gewendetenund gleichsam auf der Ikonenflache ausgebreiteten Ohren dargestellt, die Nasenflugelund andere Teile des Gesichts, die eigentlich nicht zu sehen sein durften, sind demBeschauer zugekehrt, Flachen hingegen, die naturlicherweise nach vorn gekehrt seinmußten, sind abgekehrt; charakteristisch auch der Buckel bei den gebeugten Figureneiner Deesis, dann auch die gleichzeitige Darstellung von Rucken und Brust beim hl.Prochor, der unter Anleitung des Apostels Johannes des Theologen schreibt, sowie einahnliches Nebeneinander von Profil und Vorderansicht, von Rucken­ und Vorderflachenusw. Im Zusammenhang mit diesen zusatzlichen Flachen werden parallele, nicht aufder Ebene der Ikone liegende Linien oder eine parallel zu dieser liegende Flache,die perspektivisch auf die Horizontlinie zulaufend dargestellt werden mußten, auf derIkone gewohnlich umgekehrt, auseinanderlaufend dargestellt. Mit einem Wort, dieseund ahnliche Verletzungen der perspektivischen Einheit des Dargestellten auf der Ikonesind so offensichtlich und ausgepragt, daß selbst ein mittelmaßiger Schuler, der nurnebenbei und aus dritter Hand etwas von der Perspektive mitbekommen hat, sofortdarauf hinweisen wurde.

Doch seltsam: Diese ”Ungekonntheit“ der Zeichnung, die eigentlich jeden Betrach­ter wegen der ”offenkundigen Ungereimtheit“ der Darstellung aufbringen mußte, ruftkeinerlei argerliches Gefuhl hervor, sondern wird im Gegenteil als das Rechte emp­funden, ja findet sogar Gefallen. Damit nicht genug: Wenn man einmal zwei oderdrei Ikonen ungefahr der gleichen Richtung und mehr oder weniger gleichen male­rischen Rangs nebeneinanderhalt, so wird der Betrachter entschieden die gewaltigekunstlerische Uberlegenheit derjenigen Ikone feststellen, die die starkste Verletzungder perspektivischen Regeln aufweist, wahrend ihm die Ikonen mit der ”richtigenZeichnung“ kalt und leblos erscheinen, bar der nahen Beziehung zu der auf ihnendargestellten Wirklichkeit. Die Ikonen, die unmittelbar als wahre Kunstschopfungen

Page 2: Florenski_Perspektive

2 Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive

empfunden werden, erweisen sich stets als perspektivisch ”defekt“. Ikonen, die eherdem Lehrbuch der Perspektive genugen, sind seelenlos und langweilig. Vergißt maneinmal fur einen Augenblick die formalen Anspruche der Perspektive, so fuhrt das un­mittelbare Kunstempfinden allgemein zur Anerkennung der Uberlegenheit der Ikonen,die die Perspektive verletzen.

Hier konnte vermutet werden, daß nicht eigentlich die Darstellungsart als solchegefallt, sondern die Naivitat und Primitivitat einer Kunst, die in kunstlerischer Hinsichtnoch in kindlicher Sorglosigkeit verharrt: Es gibt durchaus Liebhaber, die geneigtsind, die Ikonen fur ein allerliebstes Kinderlallen zu halten. Doch nein: Daß Ikonen mitstarker Verletzung der perspektivischen Regeln von großen Meistern stammen, wahrendIkonen mit geringerer Verletzung der Regeln vor allem bei zweit­ und drittrangigenMeistern zu beobachten sind, wirft die Frage auf, ob nicht die Beurteilung der Ikonenals naiv selbst naiv ist. Außerdem werden diese Regeln mit so großer Hartnackigkeitund so haufig verletzt, ich wurde sagen, systematisch, hartnackig systematisch, daßunwillkurlich der Gedanke aufkommt, diese Verletzungen konnen nicht zufallig sein, esmuß sich da vielmehr um ein besonderes System der Darstellung und der Wahrnehmungder auf den Ikonen dargestellten Wirklichkeit handeln.

Wenn dieser Gedanke erst einmal Eingang gefunden hat, wird sich bei den Be­trachtern der Ikonen bald die Uberzeugung bilden und immer mehr festigen, daß dieseVerletzungen der perspektivischen Regeln ein bewußt angewandtes Verfahren in derIkonenmalerei darstellen und daß die Ikonen, gut oder schlecht, mit voller Absicht sogemalt sind.

Dieser Eindruck einer bewußten Verletzung der Perspektive wird dadurch außeror­dentlich verstarkt, daß die erwahnten besonderen Sichtweisen noch durch eine beson­dere Farbgebung unterstrichen werden, die Ikonenmaler sprechen von Raskryschki:Die Besonderheiten der Zeichnung gleiten hier nicht am Bewußtsein vorbei, indeman den entsprechenden Stellen neutrale Farben verwendet werden oder der farblicheGesamteffekt mildernd wirkt, sie haben im Gegenteil etwas Herausforderndes, bei­nahe Schreiendes vor dem allgemeinen Farbhintergrund. So sind zum Beispiel diezusatzlichen Gebaudeflachen keinesfalls im Schatten verborgen, sondern im Gegenteilnicht selten mit starken Farben gemalt, und zwar mit vollig anderen Farben als dieFlachen der Fassaden. Am nachdrucklichsten macht in solchen Fallen der Gegenstandauf sich aufmerksam, der durch verschiedene andere Verfahren ohnehin am meistenhervortritt und das Zentrum der Ikone zu sein anstrebt – das Evangelium; der Schnittdes Buches, gewohnlich zinnoberrot, ist die am meisten ins Auge fallende Stelle derIkone, die zusatzlichen Flachen des Schnitts werden dadurch außerordentlich starkhervorgehoben.

Dies sind die Verfahren der Hervorhebung. Und sie wirken um so bewußter, als sieauch noch im Gegensatz zur gewohnlichen Farbgebung stehen und mithin nicht alsnaturalistische Nachahmung der Vorlagen angesehen werden konnen. Das Evangeliumbesaß gewohnlich keinen zinnoberroten Schnitt, und die Seitenwande eines Gebaudeswaren nicht anders gefarbt als seine Fassade, so daß man in der Eigenart ihrer Farbge­bung auf den Ikonen unbedingt das Bestreben zu erblicken hat, das Zusatzliche dieserFlachen zu betonen und damit zu unterstreichen, daß sie den Verkurzungen der linearenPerspektive nicht unterworfen sind.

Page 3: Florenski_Perspektive

Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive 3

Die genannten Verfahren werden im allgemeinen als umgekehrte oder umgedrehtePerspektive, mitunter auch als entstellte oder falsche Perspektive bezeichnet. Mit derumgekehrten Perspektive sind jedoch die vielerlei Besonderheiten der Zeichnung wieauch der Verteilung von Licht und Schatten auf den Ikonen nicht erschopft. Als nach­stes laßt sich eine Ausdehnung der Verfahren der umgekehrten Perspektive auf dasMultizentrische der Darstellung beobachten: Die Zeichnung ist so angelegt, als blickedas Auge auf die verschiedenen Teile von wechselnden Orten. Einzelne Gebaudeteilesind hier zum Beispiel mehr oder weniger in Ubereinstimmung mit der gewohnlichenlinearen Perspektive gezeichnet, jeder jedoch unter seinem besonderen Gesichtswin­kel, d. h. mit eigenem besonderen perspektivischen Zentrum, gelegentlich sogar miteigenem Horizont, wobei manche Teile daneben in umgekehrter Perspektive darge­stellt sind. Eine differenzierte Ausarbeitung perspektivischer Einstellungen findet sichnicht nur in der Malweise der Gebaude, sondern auch in der der Gesichter, obwohl siehier fur gewohnlich nicht sehr betont wird, sondern eher zuruckhaltend und unauffalligerscheint und daher leicht fur einen ”Fehler“ in der Zeichnung gehalten werden kann,dafur werden in anderen Fallen alle Schulregeln mit einer solchen Kuhnheit uber denHaufen geworfen und so entschieden verletzt, die Ikone sagt dem unmittelbaren kunst­lerischen Geschmack hier so viel uber sich selbst, uber ihren kunstlerischen Rang,daß kein Zweifel besteht: Die ”unrichtigen“, einander widersprechenden Details in derZeichnung weisen auf eine so komplizierte kunstlerische Berechnung hin, daß man sienur kuhn nennen kann, auf keinen Fall aber naiv.

Die Perspektive entstammt nicht der reinen Kunst, ihr ursprungliches Anliegen wares durchaus nicht, die lebendige kunstlerische Wahrnehmung der Wirklichkeit zumAusdruck zu bringen, sie wurde auf dem Gebiet der angewandten Kunst erfunden,genauer gesagt auf dem Gebiet der Theatertechnik, die die Malerei in ihren Dienststellte und sie ihren Aufgaben unterordnete. Daß diese Aufgaben den Aufgaben derreinen Kunst nicht entsprechen, steht außer Frage. Es ist nicht Aufgabe der Malerei, einDoppel der Wirklichkeit zu erzeugen, sondern in die tiefsten Tiefen ihrer Architektonik,ihres Materials, ihres Sinns vorzudringen; die Erkenntnis dieses Sinns, dieses Materialsder Wirklichkeit und ihrer Architektonik wird dem betrachtenden Auge des Kunstlersin der lebendigen Beruhrung mit der Wirklichkeit geoffenbart, indem er sich in dieWirklichkeit einlebt und einfuhlt. Die Theaterdekoration hingegen will die Wirklichkeitsoweit als moglich durch ihren Schein ersetzen: Die Asthetik dieses Scheins beruht aufder Zusammenfugung einzelner Elemente, nicht aber darauf, daß ein mit den Mittelnkunstlerischer Technik verkorpertes Bild symbolisch auf ein Urbild weist. Dekorationist Tauschung, wenn auch eine schone Tauschung, reine Kunst aber ist vor allemLebenswahrheit, eine Wahrheit, die das Leben nicht ersetzt, sondern es einzig und alleinsymbolisch in seiner unergrundlichen Wirklichkeit zeigt, zumindest es versucht. DieDekoration ist eine spanische Wand, die das Licht des Seins verstellt, die reine Kunst istein auf die Wirklichkeit hin weit geoffnetes Fenster. Fur den rationalistischen Verstandeines Anaxagoras und Demokrit1 konnte es, ja brauchte es bildende Kunst als Symbolder Wirklichkeit nicht zu geben: Wie bei jedem ”Wandermalerdenken“ wenn es erlaubtist, aus dieser seichten Erscheinung des russischen Lebens eine historische Kategoriezu machen bedurfte es der Lebenswahrheit nicht, die Erkenntnis gewahrt, sondern

1 Sie gelten als Erfinder der Perspektive.

Page 4: Florenski_Perspektive

4 Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive

nur außerer, pragmatisch auf die allernachsten Lebenszwecke gerichteter Ahnlichkeit,nicht der schopferischen Lebensgrunde, sondern der Imitation der Lebensoberflache.Bis dahin war die griechische Buhne lediglich durch ”Bilder und Stoffe“ 2 angedeutet;nun aber regte sich das Bedurfnis nach Illusion. In der Annahme, der Zuschauerbzw. der Buhnenkunstler gleiche dem Gefangenen in der platonischen Hohle undsei gleichsam an die Theaterbank gefesselt, er konne und durfe keine unmittelbarelebendige Beziehung zur Wirklichkeit haben so, als sei er durch eine glaserne Wand vonder Buhne getrennt und nur ein unbeweglich blickendes Auge, ohne die Moglichkeit,in das Wesen des Lebens einzudringen, vor allem aber, als habe er einen paralysiertenWillen, denn das Wesen des sakularisierten Theaters verlangt den willenlosen Blickauf die Buhne wie auf eine bloße Tauschung, wie auf etwas, das ”nicht in Wahrheit“,

”nicht wirklich“ geschieht – , dies alles annehmend, sage ich, formulieren die erstenTheoretiker der Perspektive Regeln fur die perfekte Tauschung des Theaterzuschauers.Anaxagoras und Demokrit ersetzen den lebendigen Menschen durch einen mit Kurarevergifteten Zuschauer und erlautern die Regeln fur die Tauschung dieses Zuschauers.Wir mussen hier nicht dagegen polemisieren; stimmen wir einen Augenblick zu: Fur dieIllusion eines solchen kranken Zuschauers, der des großten Teils seines gewohnlichenmenschlichen Lebens beraubt ist, haben diese Verfahren perspektivischer Darstellungtatsachlich einen Sinn.

Wir mussen demnach als erwiesen ansehen, daß zumindest im Griechenland des V.Jahrhunderts vor Christi Geburt die Perspektive bekannt war; wenn sie in dem einenoder anderen Falle dennoch nicht angewandt wurde, dann offensichtlich nicht deshalb,weil ihre Prinzipien unbekannt waren, sondern aus anderen, tieferen Beweggrunden,Beweggrunden, die mit den hoheren Anspruchen der reinen Kunst zusammenhingen.Zudem ware es hochst unwahrscheinlich und entsprache nicht dem Stand der mathe­matischen Wissenschaften und der ausgepragten geometrischen Beobachtungskunst,dem feinen Auge der Alten, anzunehmen, daß sie die angeblich dem normalen Seheneigene Perspektivitat nicht bemerkt haben sollten oder deren einfache Anwendungenaus den elementaren Theoremen der Geometrie nicht hatten ableiten konnen; es istgar nicht zu bezweifeln, daß, wenn sie die Regeln der Perspektive nicht anwandten, esdeshalb geschah, weil sie sie nicht anwenden wollten, weil sie sie fur uberflussig undunkunstlerisch hielten.

Das Schema der Kunstgeschichte und der Geschichte der Aufklarung allgemein istbekanntlich seit der Renaissance unverandert dasselbe, ein außerordentlich simplesSchema. Ihm liegt der unerschutterliche Glaube zugrunde, daß die burgerliche Zivi­lisation der zweiten Halfte des XIX. Jahrhunderts ein unbedingter Wert sei, ein furallemal abgeschlossen, sozusagen kanonisiert, beinahe eine metaphysische Große einekantische, wenn auch nicht direkt von Kant kommende Orientierung. Und tatsachlich,wenn man irgendwo von einem ideologischen Uberbau uber den okonomischen Le­bensformen sprechen kann, dann hier bei den Kulturhistorikern des XIX. Jahrhunderts,die in blindem Glauben die Kleinbourgeoisie verabsolutieren und die Weltgeschichtedanach beurteilen, inwieweit ihre Erscheinungen denen der zweiten Halfte des XIX.Jahrhunderts nahekommen. So ist es auch in der Kunstgeschichte: Alles, was der Kunst

2 Vgl. Gustav Oehmichcn, Das Buhnenwesen der Griechen und Romer, russische Ubersetzung Moskau1894.

Page 5: Florenski_Perspektive

Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive 5

dieser Zeit ahnelt oder sich auf sie zubewegt, wird positiv bewertet, alles ubrige istVerfall, Unwissenheit, Barbarei. Bei dieser Bewertung wird das enthusiastische Lobverstandlich, das nicht selten aus dem Mund ehrenswerter Historiker kommt: ”Ganzmodern“, ”besser hatten sie es dann und dann auch nicht machen konnen“, wobei einJahr genannt wird, das von der Zeit des Historikers nicht weit entfernt ist. Tatsachlichist fur den Modernitatsglaubigen volles Vertrauen in seine Zeitgenossen unerlaßlich;so sind die Wissenschaftsprovinzler fest davon uberzeugt, daß die Wissenschaft diesesoder jenes Buch als letzte Wahrheit ”anerkennt“ (als gabe es ein Weltkonzil, das dieWissenschaftsdogmen festlegt). Und so wird auch verstandlich, daß die antike Kunstsolchen Historikern als etwas in Entwicklung Begriffenes erscheint – einer Entwicklung,die von den heiligen Archaikern uber das Schone zum Sinnlichen und endlich zum Illu­sionistischen geht. Das Mittelalter, das mit den Aufgabenstellungen des Illusionismusentschieden brach und sich nicht die Schaffung von Abbildern, sondern von Symbolender Wirklichkeit zum Ziel setzte, erscheint ihnen als Verfall. Schließlich die Kunst derNeuzeit, die mit der Renaissance beginnt und von Anfang an mit stummem Augen­zwinkern, von einem Strom gegenseitigen Einverstandnisses getragen, entschlossenwar, die Schaffung von Symbolen durch eine Konstruktion von Abbildern zu ersetzen;die Kunst, die auf breiter Straße ins XIX. Jahrhundert fuhrt, erscheint den Historikernals etwas, das sich, daran besteht fur sie kein Zweifel, standig vervollkommnet hat.

”Wie kann das schlecht sein, was mit zwingender Logik zu euch, zu mir gefuhrt hat?“Dies ist, unverblumt gesagt, die wahre Meinung unserer Historiker.

Und sie haben durchaus recht, wenn sie einen unmittelbaren Zusammenhang – ubri­gens nicht nur einen außeren historischen, sondern auch einen inneren logischen, einentranszendentalen Zusammenhang – zwischen den Voraussetzungen der Renaissanceund dem Lebensverstandnis der jungsten Vergangenheit feststellen, wie sie ebensovollig recht haben, wenn sie die Voraussetzungen des Mittelalters und die eben ge­kennzeichnete Weltanschauung fur vollig unvereinbar halten. Wollte man aus all dem,was in formaler Hinsicht gegen die Kunst des Mittelalters vorgebracht wird, die Summeziehen, so ergabe sich der Vorwurf: ”Kein Raumverstandnis“; genauer betrachtet heißtdas, es fehlt die Einheit des Raums, es gibt nicht das Schema des euklidisch­kantischenRaums, das im Bereich der Malerei zur linearen Perspektive und zur Proportionalitatfuhrt, besser gesagt, einfach zur Perspektive, denn die Proportionalitat ist nur ein Teilvon ihr.

Dabei wird (unbewußt und das ist das Gefahrliche) als selbstverstandlich bzw.irgendwo von irgendwem als absolut bewiesen angenommen, daß es in der Natur kei­ne Formen gibt (Formen, die jede fur sich eine kleine lebendige Welt sind), denn esgabe uberhaupt keine Wirklichkeiten, die ihr Zentrum in sich haben und daher eigenenGesetzen unterliegen; daß daher alles Sichtbare und Wahrnehmbare lediglich Mate­rial zur Ausfullung eines allgemeinen, von außen ubergestulpten Ordnungsschemasist, als das der kantisch­euklidische Raum dient, und daß folglich alle Naturformennur Scheinformen sind, die durch das Schema des wissenschaftlichen Denkens einemgesichtslosen und gleichgultigen Material aufgepragt wurden, d. h. Kastchen einer Le­bensgraphik sind, nicht mehr. Schließlich noch die logisch gesehen erste Voraussetzungdieses Denkens, namlich die, daß der Raum seiner Qualitat nach homogen, unendlichund unbegrenzt ist, sozusagen formlos und nicht­individuell. Es ist nicht schwer zuverstehen, daß bei solchen Voraussetzungen Natur und Mensch gleichermaßen geleug­

Page 6: Florenski_Perspektive

6 Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive

net werden, obwohl diese Voraussetzungen Ironie der Geschichte – auf den Parolen

”Naturalismus“ und ”Humanismus“ fußen und in einer formalen Verkundigung derRechte des Menschen und der Natur gipfeln.

Hier ist nicht der Ort, den Zusammenhang der sußen Renaissancewurzeln mit denbitteren kantischen Fruchten herzustellen oder gar zu erklaren. Es ist hinlanglichbekannt, daß der Kantianismus in seinem Pathos die Steigerung des humanistisch­naturalistischen Lebensverstandnisses der Renaissance ist und in seinem Umfang undseiner Tiefe das Selbstbewußtsein jenes historischen Aons darstellt, das sich ”neue eu­ropaische Aufklarung“ nennt und sich nicht zu unrecht noch eben seiner Vorherrschaftruhmte. In neuester Zeit ist uns jedoch klargeworden, daß das Letztendliche dieserAufklarung etwas Scheinbares ist; wir haben begriffen ­ wissenschaftlich­philosophischwie auch historisch und insbesondere kunstlerisch – daß alle die Schreckgespenster, mitdenen man uns vor dem Mittelalter Angst eingejagt hat, von den Historikern erfundenworden sind, daß durch das Mittelalter ein reicher, starker Strom wahrer Kultur fließtmit einer eigenen Wissenschaft, eigenen Kunst, eigenen Staatlichkeit, uberhaupt mitallem, was zur Kultur gehort, aber dies eben auf eigene Weise und im Anschluß andie wahre Antike. Die Voraussetzungen, die das Lebensverstandnis der Neuzeit furzwingend halt, werden vom Mittelalter wie auch von der Antike (ja, wie auch von derAntike!) nicht nur nicht fur zwingend gehalten, sondern verworfen, und das nicht auszu geringer Bewußtheit, sondern mit vollem Willen, mit voller Absicht. Das Pathos desneuen Menschen, das ist, sich jeder Wirklichkeit zu entledigen, damit das ”Ich will“in einer neu zu errichtenden phantasmagorischen, freilich in die Kastchen eines Dia­gramms eingesperrten Wirklichkeit zum Gesetzgeber werde. Das Pathos der antikenwie auch des mittelalterlichen Menschen dagegen: Annehmen, dankbares Anerkennenund Bestatigen jeder Wirklichkeit als einer Gnade, denn Sein ist Gnade und Gnade istSein; das Pathos des mittelalterlichen Menschen: Bekraftigen der Wirklichkeit in sichund außer sich und daher Objektivitat. Der Subjektivismus des neuen Menschen zeich­net sich durch Illusionismus aus, den Bestrebungen und Gedanken des mittelalterlichenMenschen dagegen (dessen Wurzeln in die Antike reichen) liegt nichts so fern wie dasSchaffen von Abbildern und das Leben unter Abbildern. Wie die Marburger Schuleoffen eingesteht, existiert Wirklichkeit fur den neuen Menschen nur dann und insoweit,als die Wissenschaft ihr zu existieren erlaubt, wobei sie ihre Erlaubnis in die Gestalteines erdachten Schemas kleidet; dieses Schema soll die Losung des juristischen Ca­sus darstellen, ob auch eine bestimmte Erscheinung in die vorbereitete Lebensgraphikhineinpaßt und also zulassig ist. Solch ein Wirklichkeitspatent wird ausschließlich inder Kanzlei von Hermann Cohen ausgefertigt und ist ohne dessen Unterschrift undStempel ungultig.

Wozu sich die Marburger hier offen bekennen, das ist der Geist des Renaissanceden­kens; die ganze Geschichte der Aufklarung ist im Grunde ein Krieg gegen das Lebenmit dem Ziel, es in einem System von Schemata zu ersticken. Merkwurdig und imhochsten Grade komisch ist, daß der neue Mensch diese Entstellung, diese Verderbnisder naturlichen menschlichen Fahigkeit zu denken und zu fuhlen, diese Umerziehungim Geiste des Nihilismus mit so viel Entschiedenheit fur die Ruckkehr zur Naturlichkeiterklart und meint, er entledige sich irgendwelcher, von irgendwem angelegter Fesseln,wobei er in Wirklichkeit bei dem Versuch, die Schriftzeichen der Geschichte von dermenschlichen Seele abzukratzen, die Seele durchlochert.

Page 7: Florenski_Perspektive

Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive 7

Der Mensch der Antike und des Mittelalters hingegen weiß, daß er um zu wollenvor allem sein muß, Wirklichkeit sein und unter Wirklichkeiten sein muß, auf die ersich stutzt: Er ist durch und durch realistisch und steht fest auf der Erde; ganz andersder neue Mensch, der nur mit seinen Wunschen und also notwendigerweise mit dennachstliegenden Mitteln zu ihrer Verwirklichung und Befriedigung rechnet. Von daherwird begreiflich, welches die Voraussetzungen eines realistischen Lebensverstandnis­ses waren und immer sein werden: Es gibt Wirklichkeiten, d. h. Zentren des Seins,Verdichtungen des Seins, die ihren eigenen Gesetzen folgen und deshalb ihre eigeneForm haben; daher kann nicht, was existiert, als gleichgultiges und passives Materialzur Ausfullung irgendwelcher Schemata betrachtet werden, schon gar nicht des Sche­mas des euklidisch­kantischen Raums; und daher mussen die Formen aufgrund ihreseigenen Lebens erkannt und entsprechend dieser Erkenntnis aus sich selbst dargestelltwerden, nicht aufgrund vorher festgelegter perspektivischer Einstellungen. Schließ­lich ist der Raum als solcher nicht einfach ein durchgangig strukturloser Ort, keingraphisches Schema, sondern eine Wirklichkeit fur sich, hoch organisiert, nirgendsununterschieden, von innerer Ordnung und Struktur.

Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive, in: Pawel Florenski: Leben und Denken,hrsg. von Fritz und Sieglinde Mierau, Band II, 1996, S. 126 – 136.

Auf Empfehlung des bedeutenden russischen Grafikers Wladimir Faworski (1886 –1964), Professor an der Kunsthochschule WCHUTEMAS3 und ab 1923 deren Rektor,begann Florenski an dieser Schule im Herbst 1921 seine Vorlesungen uber Raumana­lyse. Dabei stutzte er sich auf den im Oktober 1919 fur die Kommission zum Schutzeder Altertumer des Dreifaltigkeits­Sergi­Klosters geschriebenen Text ”Die umgekehrtePerspektive“, den er dann allerdings nicht vor der Kommission, sondern erst ein Jahrspater an der Akademie fur Geschichte der materiellen Kultur in Moskau vorgetragenhat. Es ging Florenski nicht darum, eine neue Theorie der Perspektive zu schaffen,sondern auf die besondere Stelle des Raumverstandnisses fur das Weltverstandnisuberhaupt hinzuweisen – ein zentraler Gedanke bei Florenski.

In seiner Einfuhrungsvorlesung am 13. Oktober 1921 skizzierte Florenski seineAufgabe: Der Kunstler ist ”das naive reine Auge der Menschheit, mit dem sie dieWirklichkeit betrachtet. Ihre reinen Linien studierend, zeigt uns der Kunstler die Wirk­lichkeit, und erst da beginnen wir sie zu sehen.“ Es konne verwegen erscheinen, den

3 Wchutemas (zu deutsch: Hohere Kunstlerisch­Technische Werkstatten; russisch: Вхутемас, Lang­form: Высшие художественно-техническиемастерские) war eine von 1920 bis 1927 bestehendestaatliche Kunsthochschule in Moskau. [http://de.wikipedia.org/wiki/WChUTEMAS]Vkhutemas (Russian:Вхутемас, acronym forВысшиехудожественно-техническиемастерскиеVysshiye Khudozhestvenno­Tekhnicheskiye Masterskiye (Higher Art and Technical Studios)) was theRussian state art and technical school founded in 1920 in Moscow, replacing the Moscow Svomas.[http://en.wikipedia.org/wiki/Vkhutemas]Svomas (Russian: Свомас), an abbreviation for Svobodnye gosudarstvennye khudozhestvennye ma­sterskiye (Russian: Свободные Государственные художественные мастерские) (Free State ArtStudios), was the name of a series of art schools founded in several Russian cities after the OctoberRevolution. [http://en.wikipedia.org/wiki/Svomas]Svomas (zu deutsch: Freie Kunstwerkstätten; russisch: Свободные художественные мастерские)

Page 8: Florenski_Perspektive

8 Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive

Kunstler das Sehen lehren zu wollen, sagte er, diese ”Verwegenheit wird jedoch inIhren Augen geringer sein, wenn wir unseren Vergleich des Kunstlers mit dem Augefortfuhren. Nie hat eine Kinderfrau oder ein Arzt ein Kind sehend gemacht. Aber dieKinderfrau muß auf die Augen ihres Zoglings achtgeben, daß kein Staub und keinSchmutz in sie eindringe, daß nichts Fremdes das Sehen verstelle und das Auge ver­derbe. Ihr obliegt es, die Augen zu waschen. Was unseren Vergleich angeht, kann mansagen, weder ich noch irgendein anderer kann Sie sehend machen. Aber worum mansich kummern kann und kummern muß, ist, daß die kunstlerische Wahrnehmung nichtdurch Tendenz, falsche Ansichten und Theorien verschmutzt werde, die bewußt wieunbewußt mehr oder weniger spontan aus der Umgebung aufgenommen werden, dennTheorien liegen in der Luft, und wir atmen ihr Gift ein, haufig ohne es zu merken undzu wissen. Sie vor diesen Gefahren zu warnen, konnte meine Pflicht sein, und diesist nicht der Wunsch, Sie etwas zu lehren, sondern Sie vor etwas zu bewahren; denKunstler philosophisch zu beschutzen, ist dann vielleicht nicht mehr so verwegen.“ 4

Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive, in: Pawel Florenski: Leben und Denken,hrsg. von Fritz und Sieglinde Mierau, Band II, 1996, S. 96f.

Bibliographie

• Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive. Texte zur Kunst, mit den Texten: Dieumgekehrte Perspektive; Auf dem Makowez; Das Dreieinigkeits­Sergij­Kloster undRußland; Die kirchliche Liturgie als Synthese der Kunst; Die Gebetsikonen des Hl.Dergij, aus dem Russischen ubersetzt und mit einem Nachwort von Andre Sikojev,Munchen 1989.

• Pawel Florenski, An den Wasserscheiden des Denkens. Ein Lesebuch, mit den Tex­ten: Das Puppentheater der Jefimows; Wege und Mittelpunkte; Brief an WladimirWernadski vom 21. September 1929; Homo faber; Vorwort zum Symbolarium;Bilanz; Mit Auszugen aus: Meinen Kindern; Der Pfeiler und die Grundfeste derWahrheit; Empyrie und Empirie; Die Dreifaltigkeits­Sergi­Lawra und Rußland;Die Ikonostase; Die umgekehrte Perspektive; Der Kultakt als Synthese der Kunste;Makrokosmos und Mikrokosmos; Organprojektion; Die pythagoraischen Zahlen;Imaginare Grußen in der Geometrie; Das Gesetz der Illusion; Die Magie des Wor­tes; Einleitung zu Namen sowie mit einer Chronik, aus dem Russischen von Nicolaiv. Bubnoff, Michael Hagemeister, Fritz Mierau, Jorg Milbradt, Andre Sikojev, Mi­chael Silberer und Ulrich Werner, Berlin 2. Aufl. 1994.

4 Dekorativnoe iskusstvo 1982, Nr. 1, S. 26.

Page 9: Florenski_Perspektive

Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive 9

Das Vorlesungsprogramm Florenskijs an der Geistlichen Akademie laßt erkennen,daß das spannungsvolle Verhaltnis zwischen westlichem und ostlichem Denken einenBrennpunkt seiner Weltanschauung darstellte. Der Gegensatz zweier Arten des Phi­losophierens, deren Exponenten Kant und Platon sind, ist auch der Ausgangspunktseiner Kulturtypologie und damit gleichsam die Matrix seiner spateren kunsttheore­tischen Schriften (»Die umgekehrte Perspektive«, »Die Ikonostase« u. a.). PlatonsPhilosophie, die noch in einem kultisch­religiosen Weltverstandnis wurzele, bezeich­net Florenskij als Realismus, insofern sie dem Menschen zeige, wie er am Sein derIdeen als dem eigentlich Realen teilhaben konne; platonisch ist nicht nur die mittelal­terliche Philosophie, Platon gilt Florenskij auch als Vater der russischen Philosophieund Theologie. Das westliche Denken seit der Renaissance unterzieht Florenskij einergrundsatzlichen Kritik: Es befordere durch Subjektivismus und Individualismus dieAblosung von den geistigen Hierarchien, die allem Sein zugrundeliegen, und gipfeleim »Illusionismus« Kants, der die Grenzen der Erkenntnis als Dogma festschreibe.Konsequent ubertragt Florenskij diesen Dualismus auf Erscheinungen der Kultur:

Das Leitthema der kulturhistorischen Anschauungen Florenskijs ist die Negation der Kultur als eines inRaum und Zeit kontinuierlichen Prozesses sowie die daraus resultierende Negation der Evolution und desFortschritts der Kultur. Was das Leben einzelner Kulturen betrifft, so entwickelt Florenskij die Idee, daßsie rhythmisch einander ablosenden Kulturtypen untergeordnet sind, einer mittelalterlichen und einerRenaissance­Kultur. Der erste Typ ist charakterisiert durch Beschrankung, Objektivitat, Konkretheit,Konzentration auf sich selbst, der zweite dagegen durch Zerstuckelung, Subjektivitat, Abstraktheit undOberflachlichkeit. Die Renaissance­Kultur Europas hat – davon ist Florenskij uberzeugt – um die Wendezum 2o. Jahrhundert ihr Dasein beendet, und seit den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts sind auf allenGebieten der Kultur erste Keime einer Kultur des anderen Typs zu beobachten.18

Nach dieser Auffassung ist der kulturelle Prozeß nichts anderes als eine »großeAnamnese« (Averincev):19 Der Zuwachs an Wissen besteht im zunehmenden Innewer­den der Urbilder, der platonischen Ideen, die das Gedachtnis bewahrt, ohne sich dessenbewußt zu sein.

Als 1918 die Geistliche Akademie geschlossen wurde und auch alle Versuche, sie inanderer Form weiterzufuhren, gescheitert waren, begann ein neuer Abschnitt im LebenFlorenskijs. Zwar konnte er einige Jahre noch zu theologischen und philosophischenFragen offentlich Stellung nehmen, doch verlagerte sich seine Tatigkeit nun mehr aufandere Gebiete. Einen Schwerpunkt bildeten zunachst die Kunstwissenschaften imweiteren Sinn. Im Oktober 1918 wurde Florenskij zum wissenschaftlichen Sekretareiner Kommission ernannt, die mit der Erhaltung des Dreifaltigkeit­SergiusKlosters inSergiev Posad beauftragt war. Im Zusammenhang mit der Kampagne zur Bewahrungder Bauten und Kunstschatze des Klosters verfaßte er eine Anzahl detaillierter wissen­schaftlicher Beschreibungen von Ikonen und anderen Altertumern. Von grundlegendemtheoretischen Interesse sind insbesondere zwei Aufsatze dieser Zeit: In »Die kirchliche

18 Zitiert nach IERODIAKON ANDRONIK (TRUBACEV): »Osnovnye certy licnosti«, S. 55. In Florenskijs Kul­turtypologie zeigt sich ein deutlicher Einfluß des Slavophilentums; vgl. etwa IVAN KIREEVSKIJS »Briefan den Grafen Komarovskij (Uber das Wesen der europaischen Kultur und ihr Verhaltnis zur rus­sischen [1852])«, in: D. TSCHIZEWSKIJ/D. GROH (Hg.): »Europa und Rußland. Texte zum Problem deswesteuropaischen und russischen Selbstverstandnisses«, Darmstadt 1959, S. 248 – 298.

19 S. S. Averincev am 10. 1. 1988 in seiner Ansprache zur Eroffnung des internationalen Symposiums»Pavel Florenskij und die Kultur seiner Zeit«, das vom 10. – 14. 1. 1988 in der Universitat Bergamostattfand. Zum Begriff der Anamnese vgl. Platons »Menon«, 81.

Page 10: Florenski_Perspektive

10 Pawel Florenski, Die umgekehrte Perspektive

Liturgie als Synthese der Kunste« betrachtet er Bauwerk, Liturgie, Ikone in ihremfunktionalen Zusammenhang als Gesamtkunstwerk und warnt davor, ihm einzelnes zuentnehmen, etwa indem man Ikonen im Museum aufstellt; schon aus dem einfachenGrund, weil deren Farbigkeit nicht fur elektrisches Licht ausgelegt ist. In dem zwei­ten bedeutenden Aufsatz, »Das Dreifaltigkeit­Sergius­Kloster und Rußland«, fordertFlorenskij, das Kloster als geistiges Zentrum Rußlands anzuerkennen und zu einem»neuen Athen« umzugestalten. Hier wird deutlich, in welchem Maße sich sein Idealan der Vergangenheit orientiert.

Hatten indes die Zeitgenossen Florenskijs Arbeitsweise lediglich als anachroni­stisch und restaurativ empfunden, so ware er wohl kaum an eine der damals fuhren­den avantgardistischen Kunsthochschulen berufen worden. An den Moskauer Hoherenkunstlerisch­technischen Werkstatten (VChUTEMAS) wurde auf Betreiben des bekann­ten Graphikers und spateren Rektors der Hochschule, Vladimir Favorskij, fur Florenskijein Lehrstuhl fur Raumanalyse in Kunstwerken geschaffen, den dieser von 1921 bis1924 innehielt. Seine von zahlreichen Horern besuchten Vorlesungen behandelten un­ter anderem die Neubewertung der Zentralperspektive der Renaissance, der er die»umgekehrte Perspektive« der mittelalterlichen und byzantinischen Kunst gegenuber­stellte. Daß er hier und in anderen Studien die »Grammatik« von Kunstwerken alsZeichensystem beschrieb, in dem unterschiedliche Weltsichten zum Ausdruck kom­men, fuhrte seit den 60er Jahren zu einer lebhaften Rezeption seiner Schriften in denKreisen der sowjetischen Semiotiker. Nicht zufallig erschien der erste Text von Flo­renskij in der UdSSR, »Die umgekehrte Perspektive«, nach einer mehr als 30jahrigenPause in der von Jurij Lotman herausgegebenen Zeitschrift Arbeiten uber Zeichensyste­me (Tartu 1967). Die Bewertung und Deutung der unterschiedlichen Zeichensystemevollzog Florenskij jedoch immer innerhalb der Frage nach dem Maß, mit dem eine kul­turelle »Sprache« in der Lage ist, dem Betrachter den Weg in das Reich der Urbilderzu bahnen.

Pavel Florenskij, Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionaren Rußland. Einfuhrung vonUlrich Werner, 21990, S. 15 – 18.