Forschungsbericht: Bürgerdelphi Keimbahntherapie · 2020. 6. 24. · Empfohlene Zitierweise:...

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KIT – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft Forschungsbericht: Bürgerdelphi Keimbahntherapie Institut für Technikzukünfte (ITZ) Institutsteil Wissenschaftskommunikation Juli 2019 KIT – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft www.kit.edu

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KIT – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft

Forschungsbericht:Bürgerdelphi Keimbahntherapie

Institut für Technikzukünfte (ITZ)Institutsteil Wissenschaftskommunikation

Juli 2019

KIT – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft www.kit.edu

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KIT – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft

Herausgeberin: Prof. Dr. Annette Leßmöllmann, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Autor: Sebastian Cacean, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Redaktionsassistenz: Stefanie Lomuscio, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Grafik: Martin Karcher

Projektbeteiligte: Prof. Dr. Annette Leßmöllmann, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)(Projektleitung)

Dr. Ralf Grötker, Explorat Forschung & Kommunikation(Konzept und Durchführung)

Sebastian Cacean, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)(Projektmanagement, Begleitforschung)

Karola Klatt, Explorat Forschung & Kommunikation(Moderation, Text Stellungnahmen und Zusammenfassungen)

Sascha Karberg, Der Tagesspiegel(Fachliche Beratung)

Carla Jakobowsky, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)(Organisation und Begleitforschung)

Theresa Jentsch, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)(Recherche und Organisation)

Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben „Bürger-Delphi Keimbahntherapie (BueDeKa): Sollen gezielte Veränderungendes menschlichen Erbgutes zugelassen werden?“ wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmendes Programms zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten (ELSA) der modernen Lebenswissenschaften gefördert(Förderkennzeichen 01GP1776). Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Herausgeberin.

Empfohlene Zitierweise: Cacean, Sebastian: Forschungsbericht Bürgerdelphi Keimbahntherapie. Hrsg. von Annette Leßmöllmann. Karlsruhe: 2019. DOI: 10.5445/IR/1000096790

Der vorliegende Bericht kann bei Nennung des Urhebers unter den gleichen Lizenzbedingungen genutzt und weitergegeben werden (CC-BY-SA 4.0).

DOI: 10.5445/IR/1000096790https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000096790

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INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung 1

2 Das Beteiligungsformat Bürgerdelphi 32.1 Beteiligungsformate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

2.1.1 Deliberative Beteiligungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.1.2 Die Delphi-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2.2 Das Bürgerdelphi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82.3 Das Bürgerdelphi Keimbahntherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3 Die Begleitforschung im Bürgerdelphi Keimbahntherapie 173.1 Partizipationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173.2 Forschungsfragen & Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193.3 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213.4 Evaluation der Auftaktveranstaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3.4.1 Die Prozessvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243.4.2 Die Themeneinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243.4.3 Die Themenfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3.5 Evaluation des gesamten Beteiligungsprozesses anhand der Kriterien Effektivität, Effizi-enz, Fairness, Transparenz, Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293.5.1 Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293.5.2 Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303.5.3 Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313.5.4 Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323.5.5 Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

3.6 Evaluation der spezifischen Elemente des Bürgerdelphis . . . . . . . . . . . . . . . . . 373.6.1 Aggregationsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373.6.2 Denkhüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383.6.3 Direkter Meinungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

3.7 Evaluation der Kompetenzsteigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403.7.1 Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403.7.2 Auswertung der standardisierten Evaluationsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . 413.7.3 Meinungsbildung und Informiertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

3.7.3.1 Meinungsbildung und Informiertheit – Methoden . . . . . . . . . . . 433.7.3.2 Meinungsbildung und Informiertheit – Auswertung . . . . . . . . . . 463.7.3.3 Meinungsbildung und Informiertheit – Reflektion der Forschungsme-

thoden & Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

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EINLEITUNG

Dürfen Gendefekte durch einen Eingriff in Samen-oder Eizelle oder sogar in den menschlichen Em-bryo behoben werden? Nachdem im November2018 der chinesische Wissenschaftler He Jiankuiverkündet hat, dass im Rahmen seiner Forschungein mit CRISPR/Cas9 genmanipuliertes Baby zurWelt gebracht wurde, war der Aufschrei in der Wis-senschaftsgemeinschaft groß und rückte das Themains Zentrum des medialen Interesses. Zum erstenMal wurden damit Veränderungen des menschli-chen Erbguts herbeigeführt, die an die Nachkom-men weitervererbt werden.

Noch 2015 haben sich namenhafte Wissenschaft-ler*innen in der Fachzeitschrift Science für ein Mo-ratorium der Anwendung solcher Biotechnologienam menschlichen Genom ausgesprochen, weil siedie damit verbundenen Risiken und die möglichenNebenfolgen für schwer abschätzbar hielten (vgl.Baltimore et al. 2015). Über den Umgang mit derErforschung von Keimbahneingriffen gab es jedochkeinen umfassenden Konsens. So sprach sich bei-spielsweise in Deutschland die Nationale Akademieder Wissenschaften 2017 noch für eine Anpassungdes deutschen Embryonengesetzes aus, um eine Er-forschung an Embryonen für medizinische Zweckeunter eng gesteckten Grenzen zu ermöglichen (vgl.Bonas et al. 2017). Dennoch wurde der Vorstoß deschinesischen Wissenschaftlers auf breiter Front alsunverantwortlich eingeschätzt. Der deutsche Ethi-krat verurteilte das Vorgehen von He Jiankui ineiner Pressemitteilung als “ernste Verletzung ethi-scher Verpflichtungen” (Deutscher Ethikrat 2018)und erarbeitete im Anschluss eine Stellungnahme,in der die Chancen und Risiken von Keimbahnein-griffen unter ethischer Perspektive untersucht wur-den (vgl. Deutscher Ethikrat 2019). Dort kommendie Autor*innen zum Schluss, dass “Keimbahnein-griffe derzeit wegen ihrer unabsehbaren Risiken[...] ethisch unverantwortlich” sind. Sie fordern einAnwendungsmoratorium und empfehlen der “Bun-

desregierung und [dem] Bundestag, sich für eineverbindliche internationale Vereinbarung dazu ein-zusetzen.”

Zu ganz ähnlichen Ansichten kamen Bürgerinnenund Bürger in einem Bürgergutachten (vgl. Gröt-ker und Klatt 2018) im Rahmen des Beteiligungs-projekts Bürgerdelphi Keimbahntherapie, noch be-vor die Welt von He Jiankuis unverantwortlicherForschung erfuhr. Der von April bis Juni 2018durchgeführte Beteiligungsprozess wurde von Dr.Ralf Grötker in Zusammenarbeit mit dem Institutfür Technikzukünfte (ITZ) am Karlsruher Institutfür Technologie (KIT) unter Leitung von AnnetteLeßmöllmann (Institutsteil Wissenschaftskommuni-kation) entwickelt und durchgeführt. Im vom Bun-desministerium für Bildung und Forschung (BMBF)geförderten Projekt befassten sich 26 Bürgerinnenund Bürger mit den ethisch relevanten individu-ellen und gesellschaftlichen Aspekten von Keim-bahneingriffen. Das BMBF fördert schon seit 1997die ELSA-Forschung (“Ethical, Legal and SocialAspects”) programmatisch und will damit dazu bei-tragen, die Chancen und Risiken der Lebenswissen-schaften zu bewerten. In partizipativen Formatensoll die kritische Auseinandersetzung mit diesenThemen durch eine gut informierte Öffentlichkeitmitgestaltet werden.

Das Partizipationsformat Bürgerdelphi knüpft ge-nau an dieser Idee an und hat es sich zum Ziel ge-macht, Bürgerinnen und Bürger in die Lage zu ver-setzen, reflektierte Meinungen zu Fragestellungenauszubilden, die aus Laienperspektive als schwerzugänglich oder alltagsfern erscheinen. Hierfür ver-eint das neue Format Elemente der bekannten Del-phibefragungsmethode mit der eines Bürgergutach-tens. Anstatt die Teilnehmenden in sich wiederho-lenden Treffen direkt miteinander diskutieren zulassen, findet die Diskussion die meiste Zeit ver-mittelt und moderiert statt. Nach einer initiierendenAuftaktveranstaltung findet der Informations- und

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EINLEITUNG

Meinungsaustausch in unterschiedlichen sich wie-derholenden Themenrunden über Telefongesprächeund eine Online-Plattform statt. Jede Runde star-tet mit einem schriftlichen Diskussionsinput. Aufdessen Grundlage führen die Prozessdurchführen-den mit den einzelnen Teilnehmenden Telefonge-spräche durch, um deren Meinungen zu erhebenund den Teilnehmenden weitere Informationen zu-gänglich zu machen. Die Ergebnisse dieser Tele-fongespräche werden in aggregierter Form den an-deren Teilnehmenden über die Online-Plattformzurück gespielt und in Form von Abschlussplädo-yers zusammengefasst. Auf Grundlage der in denunterschiedlichen Themenrunden gesammelten An-sichten und Meinungen wird in Zusammenarbeitmit den Teilnehmenden ein Ergebnisbericht erstellt,der die Positionen und Empfehlungen der Teilneh-menden darstellt und Eingang in den politischenEntscheidungsprozess finden kann.

Der vorliegende Forschungsbericht ist das Ergeb-nis der vom KIT durchgeführten begleitenden Eva-luation des Beteiligungsprozesses. Die Begleitfor-schung sollte analysieren, ob das Bürgerdelphi an-erkannten Gütekriterien von Partizipation gerechtwird. Beteiligungsprozesse sollten möglichst trans-parent und fair sein, den Teilnehmenden genügendGestaltungs- und Entfaltungsraum bieten, hinrei-chend viele Informationen anbieten und sinnvollorganisiert sein. Zur Evaluation dieser Aspekte wur-den standardisierte Fragebögen von den Teilneh-menden ausgefüllt und anschließend ausgewertet.Insgesamt kann man sagen, dass die Teilnehmen-den die Kriterien als erfüllt ansahen, auch wennvereinzelt Optimierungspotentiale identifiziert wur-den (eine ausführlichere Zusammenfassung findetsich in Abschnitt 3.3).

Neben der Erfassung subjektiver Teilnehmerein-drücke zum Prozess sollte die Begleitforschung her-ausfinden, ob das Beteiligungsformat eines seinerwichtigsten Ziele erreicht hat. So wurde untersucht,ob das Bürgerdelphi Keimbahntherapie die Beteilig-ten erfolgreich darin unterstützt hat, sich einen hin-reichend adäquaten Wissensstand anzueignen, umsich eine informierte und reflektierte Meinung aus-bilden zu können. Dazu wurden die Meinungen undAnsichten der Teilnehmenden in drei sich wieder-holenden Befragungsrunden erhoben, um Aussagenüber die Veränderungen ihrer Positionen ableiten zu

können. Die schriftlich erhobenen Antworten aufdie offen formulierten Fragen wurden mit inhalts-analytischen Methoden quantitativ ausgewertet. Eskonnte festgestellt werden, dass sich die Ansich-ten der Teilnehmenden über den Prozesszeitraumhinweg verändert haben und in allen drei Befra-gungsrunden ein heterogenes Spektrum abdeckten.Darüber hinaus fiel auf, dass die Befragten in denunterschiedlichen Befragungswellen selten Argu-mente der vorherigen Befragungen wiederholten.Das kann als Indikator dafür interpretiert werden,dass die Informiertheit ihrer Meinungen über denProzesszeitraum hinweg stieg.

Ausgewertet wurde ein singulärer Prozess, der auf-grund seiner Komplexität und einer fehlenden Re-präsentativität der Teilnehmenden nicht ohne wei-tere Forschung auf das Beteiligungsformat selbstverallgemeinert werden kann. Die durchgeführteEvaluation explorativ: Sie zeigt, dass Partizipationmit dem untersuchten Format gelingen kann unddeckt weiterführende Forschungshypothesen auf.

Der vorliegende Forschungsbericht ist wie folgtaufgebaut: In Kapitel 2 wird der Beteiligungspro-zess beschrieben und eingeordnet. Dafür wird dasBeteiligungsformat Bürgerdelphi in Abschnitt 2.2anhand von im Abschnitt 2.1 dargestellten Kriterienspezifiziert, die eine Einordnung und Abgrenzungzu anderen deliberativen Formaten und delphiba-sierten Formaten ermöglichen. Diese Beschreibungdes Formats ist eine Ergänzung der Darstellung desFormats von Grötker (2017). Abschließend wer-den in Abschnitt 2.3 die Spezifika des durchgeführ-ten Beteiligungsprozesses Bürgerdelphi Keimbahn-therapie kurz vorgestellt. In Kapitel 3 werden dieBegleitforschung und deren Ergebnisse dargestellt.Nach einer Vorstellung der Forschungsfragen undMethoden (Abschnitt 3.2) werden die Ergebnisse inAbschnitt 3.3 zusammengefasst. Die Auswertungder Auftaktveranstaltung wird in Abschnitt 3.4 un-abhängig von der Evaluation des Gesamtprozessesdargestellt. Nach einer Auswertung des Gesamtpro-zesses anhand anerkannter Kriterien über die stan-dardisierten Fragebögen in Abschnitt 3.5 werdenin Abschnitt 3.6 zentrale Besonderheiten des Be-teiligungsformats gesondert ausgewertet. Die Ana-lyse der wiederholten Meinungserhebungen wirdin Abschnitt 3.7 dargestellt und in einem Ausblickkritisch reflektiert.

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

2.1 BETEILIGUNGSFORMATE

Der durch Beteiligungsverfahren entstehende Bei-trag von Bürgerinnen und Bürgern an politischenund gesellschaftlichen Prozessen spielt in demokra-tischen Gesellschaften eine wichtige Rolle. Betei-ligung kann dabei ganz unterschiedliche Formenannehmen, die sich bezüglich der Ziele und Ver-fahrensmerkmale stark unterscheiden. Fuhrmann(2014) gibt beispielsweise eine Übersicht über 200Formate, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeitzu erheben. Es gibt bisher auch keine etablierte sys-tematisierende Taxonomie, sondern lediglich un-terschiedliche Vorschläge zur Systematisierung derFormate. Fuhrmann bemerkt kritisch, dass “Anzahlan Dimensionen und Kriterien, in die Verfahren ein-geordnet werden sollen, [...] dschungelhafte Umfän-ge angenommen [hat], mit der Folge, dass die ge-samte Kategorisierung so ausdifferenziert ist, dasssie kaum noch einen praktischen Nutzen hat” (vgl.Fuhrmann 2014, S. 11). Die folgende Beschrei-bung und Einordnung des PartizipationsformatsBürgerdelphi orientiert sich an der von Goldschmidt(2014) formulierten Taxonomie. Diese eignet sichvor allem darum, weil sie vor dem Hintergrund derEvaluierung von Beteiligungsverfahren formuliertworden ist.

Unter Partizipation beziehungsweise Beteiligungversteht man Verfahren und Instrumente, um dieBevölkerung in die Klärung gesellschaftlicher Ent-scheidungsprobleme mit einzubeziehen (vgl. Gold-schmidt 2014, S. 45). Beteiligungsprozesse unter-scheiden sich von selbstorganisierten Formen despolitischen Engagements, sei es beispielsweise inForm von Demonstrationen und Lobbyismus, da-durch, dass sie von politischen Entscheidungsträ-ger*innen initiiert oder aktiv mitgestaltet und ge-fördert werden. Im Gegensatz zu Verfahren, dieauf wissenschaftliche Politikberatung abzielen, sol-len in Beteiligungsverfahren Laien eingebunden

werden. Angesprochen werden hier Bürgerinnenund Bürger in ihrer Rolle als Privatpersonen undnicht etwa Expert*innen oder Vertreter*innen spe-zifischer Interessengruppen. Beteiligungsprozessewerden mit expliziten Zielen durchgeführt und sol-len, so die Intention, einen beitragenden Einflussauf die politische Entscheidungsfindung haben (vgl.Goldschmidt 2014, S. 46). Ob solche über denProzess hinausgehenden Wirkpotentiale entfaltetwerden und es im besten Fall gar zu einer Verbes-serung politischer Entscheidungen kommt, hängtunter anderem davon ab, wie konkret die Problem-stellung ist und wie der Beteiligungsprozess in diepolitische Entscheidungsfindung eingebunden wird.Bei konventionellen Beteiligungsformaten ist dieEinbettung in den Entscheidungsprozess gesetzlichfestgelegt. Der Beitrag unkonventioneller Verfahrenist nicht so explizit geregelt und kann zum Beispieldazu dienen, Handlungsempfehlungen in Form ei-nes Bürgergutachtens zu formulieren oder Meinun-gen und Haltungen der Bevölkerung zu erheben,um potenzielle Akzeptanzprobleme politischer Ent-scheidungen abschätzen zu können oder die Akzep-tanz derselben zu erhöhen (vgl. Goldschmidt 2014,S. 67).

2.1.1 DELIBERATIVEBETEILIGUNGSVERFAHREN

Deliberative Beteiligungsverfahren zeichnen sichdurch eine gleichberechtigte Kommunikation zwi-schen den Teilnehmenden aus. Konstitutiver Be-standteil solcher Verfahren ist die Möglichkeit, An-sichten und Meinungen untereinander auszutau-schen, um so möglichst viele Perspektiven und Ar-gumente bei der Klärung des Entscheidungspro-blems zu berücksichtigen. Der intensive Dialog, beidenen die Teilnehmenden als gleichberechtigte Ge-sprächspartner ihre Gründe und Perspektiven reflek-tieren, soll dazu dienen, zu möglichst informierten

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

Meinungen zu gelangen. Mit der kollektiven Erör-terung und Reflexion des Entscheidungsproblemssoll ein von allen Teilnehmenden getragenes undaussagekräftiges Ergebnis erarbeitet werden (vgl.Goldschmidt 2014, S. 73). Dabei muss nicht unbe-dingt ein vollständiger Konsens unter den Beteilig-ten angestrebt werden. So kann das Ergebnis auchdarin bestehen, wichtige Dissenspunkte und wei-ter zu klärende Fragen zu identifizieren. Selbst miteiner abschließenden Abstimmung über zentraleHandlungsempfehlungen kann ein solches Betei-ligungsverfahren noch als deliberativ bezeichnetwerden, solange der Austausch von Meinungen undAnsichten ein wichtiger Bestandteil des Prozessesist. Während die Art des Ergebnisses durch externeVerfahrensmerkmale festgelegt werden kann, ist eswichtig, dass die Inhalte der Ergebnisse nicht vor-gegeben werden. Die individuellen und kollektivaggregierten Meinungen sollen sich in deliberativenVerfahren ohne den Einfluss externer Interessen freivon Manipulation und Zwang entwickeln können(vgl. Goldschmidt 2014, S. 70).

Auch wenn man sich auf deliberative Beteiligungs-verfahren beschränkt, können sich diese in viel-fältiger Weise unterscheiden. Die folgende Taxo-nomie folgt im Wesentlichen der Darstellung vonGoldschmidt (2014) und stellt eine Möglichkeitdar, verschiedene Formate und ihre spezifischenAusgestaltungen zu vergleichen und einzuordnen.Unterschieden werden 3 Zielkategorien:

• Prozessinterne Ziele sind Ergebnisse (clos-ures) oder Wirkungen auf die Teilnehmen-den, die mit dem Abschluss des Beteiligungs-verfahrens angestrebt beziehungsweise er-reicht werden. Bei deliberativen Verfahrenkönnen das beispielsweise gemeinsam er-arbeitete Handlungsempfehlungen sein, diedann an Entscheidungsträger*innen weiter-gegeben werden. Eine zentrale Herausforde-rung gelingender Beteiligung besteht darin,den Prozess so zu gestalten, dass die pro-zessinternen Ziele erreicht werden können.

• Mit den prozessexternen Zielen wird nachder Wirkung und Einbindung der Prozesser-gebnisse in den gesellschaftlichen Entschei-dungsprozess gefragt; also welche Wirkun-gen mit dem Ergebnis angestrebt werden.

• Durch den intensiven Austausch eignen sichdeliberative Verfahren vor allem zur Klä-rung von Fragen, die eine gewisse Komple-xität besitzen und den Teilnehmenden einentsprechendes Sachstandwissen abverlan-gen. Welchen Beitrag können Laien aberzur Klärung voraussetzungsreicher gesell-schaftlicher Problemstellungen leisten? Die-sem kritischen Einwand kann man begeg-nen, indem Beteiligungsprozesse bewusstso gestaltet werden, dass die Teilnehmen-den in die Lage versetzt werden, informierteMeinungen auszubilden. Die Erreichung be-stimmter Lerneffekte und die Ausbildungnotwendiger Kompetenzen sind damit zen-trale abgeleitete Ziele deliberativer Forma-te. Eine zentrale Herausforderung solcherVerfahren ist damit eine adressatengerechteErmittlung der zu vermittelnden Wissens-bestände und die adäquate Gestaltung derWissens- und Kompetenzvermittlung.

Die prozessinternen Ziele dienen dazu, die prozess-externen Ziele zu erreichen, weshalb es notwendigist, diese möglichst explizit und konkret anzugeben.Welche Wirkung Bürgerbeteiligung auf die Klärungder adressierten gesellschaftlichen Fragen entfaltet,hängt maßgeblich von vielen prozessexternen Fak-toren ab, die man nicht immer kennt und die invielen Fällen nicht mehr unter der Kontrolle derTeilnehmenden und Prozessdurchführenden liegen.

In ähnlicher Weise dienen Wissens- und Kompe-tenzzuwächse dazu, die ergebnisorientierten pro-zessinternen Ziele zu erreichen. Durch die Ausge-staltung des Beteiligungsprozesses haben Prozess-durchführende Kontrolle darüber, ob die notwendi-gen Lerneffekte und die prozessinternen Ziele er-reicht werden. Diese Ausgestaltung für das FormatBürgerdelphi soll mit Hilfe der folgenden Dimen-sionen beschrieben werden:

• Die Interaktionsintensität bezeichnet dieIntensität der Kommunikation und den zeitli-chen Aufwand für die Teilnehmenden. Dasbetrifft die angelegten deliberativen Phasenaber auch den Aufwand, den Teilnehmendeauf sich nehmen, um überhaupt am Prozessteilnehmen zu können. Da die Teilnahme inder Regel in keiner dem Aufwand entspre-chenden Art entlohnt wird, ist es für das

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

Gelingen von Beteiligungsprozessen wich-tig, den Aufwand möglichst gering zu haltenbei gleichzeitiger Berücksichtigung der Pro-zessziele (vgl. Goldschmidt 2014, S. 61).

• Unter dem deliberativen Interaktionsmo-dus soll die Spezifizierung des deliberativenProzesses verstanden werden. Dazu muss be-schrieben werden, wie Teilnehmende unter-einander und mit den Prozessdurchführen-den kommunizieren und in welcher Art undWeise die unterschiedlichen Kommunikati-onsprozesse durch das Beteiligungsformatstrukturiert werden. Hier kann beispielswei-se danach gefragt werden, wie stark der Mei-nungsaustausch moderiert ist.

• Die Auswahl der Teilnehmenden ist abhän-gig vom Entscheidungsproblem und den an-visierten Zielen. In der Regel wird versucht,eine möglichst große Heterogenität sicher-zustellen, was durch eine hinreichend großeAnzahl von Teilnehmenden und adäquaterRekrutierungsmechanismen erreicht werdenkann. Die Anzahl von Teilnehmenden ist je-doch unter anderem begrenzt durch den In-teraktionsmodus. Bei stark deliberativen Ver-fahren steigt die Interaktionsintensität häu-fig mit der Anzahl der Teilnehmenden (vgl.Goldschmidt 2014, S. 61).

• Die Form der Ergebnisfindung beschreibt,wie die Prozessergebnisse erreicht werden.In der Regel sollen die Teilnehmenden einenmaßgeblichen Anteil am Ergebnis haben. ImIdealfall sollen sie dieses Prozessergebnisselbst produzieren, mindestens jedoch mit-tragen. Entscheidend ist damit der Grad derMitbestimmung der Teilnehmenden in derGestaltung des Ergebnisses.

• Neben der Rolle der Teilnehmenden für dieErgebnisfindung sind ihre Mitgestaltungs-möglichkeiten an den Verfahrensabläufenselbst von zentraler Bedeutung. Verfahrenkönnen sich darin unterscheiden, ob Teilneh-mende bei der Wahl der Themen oder derZuordnung ihrer eigenen Rollen einen Ein-fluss haben.

• Die Gestaltung des Wissensmanagementsist für viele deliberative Verfahren von Wich-

tigkeit. Teilnehmende müssen nicht nur intransparenter Weise über die Verfahrensab-läufe der Beteiligung informiert werden, son-dern häufig Wissens- und Kompetenzzuwäch-se erreichen, damit eine gewisse Qualität derProzessergebnisse sichergestellt werden kann.So muss oft ein bestimmtes Fach- und Kau-salwissen vermittelt werden, aber auch derUmgang mit komplexen Entscheidungssitua-tionen thematisiert werden, die sich dadurchauszeichnen, dass Risiken und Unsicherhei-ten berücksichtigt werden müssen und unteranderem moralische, juristische, instrumen-telle und strategische Aspekte gleichermaßenrelevant für das Entscheidungsproblem sind.Verfahren können sich darin unterscheiden,welche Rolle Expert*innen für den Wissens-erwerb spielen, ob Wissensbestände monodi-rektional vermittelt werden oder die Beteilig-ten Wissenszuwächse selbst steuern können.

2.1.2 DIE DELPHI-METHODE

Neben dem Einbezug von Bürgerinnen und Bür-gern in politische Entscheidungsprozesse spielt vorallem technisch-wissenschaftliche Expertise einewichtige Rolle. Auch der Beitrag von Expert*innenwird je nach Zielsetzung und Entscheidungspro-blem im Rahmen spezifischer Formate durchge-führt. Neben Expert*inneninterviews und Fokus-gruppen wird dabei vielfach die Delphi-Technik alsBefragungsmethode verwendet.

Der mit dem Bürgerdelphi verfolgte Ansatz geht da-von aus, dass viele Elemente der Delphi-Methodegewinnbringend für partizipative Beteiligungsfor-mate übertragen werden können (vgl. Häder 2009,S. 68). Für die Einordnung und den Vergleich desBürgerdelphiformats mit anderen Beteiligungsfor-men sollen daher die wesentlichen Merkmale derDelphi-Methode beschrieben werden und das mit-tlerweile entstandene Spektrum unterschiedlicherDelphiformate zumindest angedeutet werden (füreinen Überblick vgl. Häder 2009).

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

Die klassische Delphi-Methode ist eine stan-dardisierte quantitative Befragung von Ex-pert*innen. Die Ergebnisse der statistischenAuswertung werden in anonymisierter Forman die Teilnehmenden zurückgespielt und dieBefragung wiederholt sich bis eine vorher fest-gelegte Abbruchbedingung erfüllt ist.

Die Durchführung von Delphi-Befragungen dientin seiner klassischen Form der Prognose zukünfti-ger Entwicklungen durch Einschätzungen von Ex-pert*innen. Dazu wird in einem ersten Schritt einstandardisierter Fragebogen entwickelt, der in schrift-licher Form den Expert*innen zur Beantwortungzugeschickt wird. Der Fragebogen enthält in derRegel quantifizierende Fragen, wie beispielsweiseFragen nach der Einschätzung von Eintrittswahr-scheinlichkeiten bestimmter Entwicklungen unddem Zeitpunkt des Eintretens. Häufig wird auchdie Einschätzung der eigenen Urteilssicherheit er-hoben. Der Vorteil quantitativer Fragebögen ist dieMöglichkeit einer sehr einfachen Auswertung mitMethoden der deskriptiven Statistik. Die Ergebnissekönnen über einfache Häufigkeitsaussagen, Mittel-werte und Streuungsmaße zusammengefasst wer-den (vgl. Niederberger und Renn 2017, S. 13–15).Der Prozess endet jedoch nicht mit der Auswer-tung der ersten Befragung. Vielmehr werden dieEinschätzungen der Expert*innen in anonymisier-ter Form in die gesamte Gruppe zurückgespielt mitder Bitte, den Fragebogen unter Berücksichtigungder Ergebnisse der letzten Befragung erneut auszu-füllen. Dieser Prozess wird solange wiederholt, biseine als hinreichend hoch befundene Übereinstim-mung hergestellt ist oder eine festgelegte Anzahlvon Runden absolviert ist. Die stark strukturierteGruppenkommunikation und die Anonymität derTeilnehmenden untereinander soll die Ergebnisfin-dung effizient gestalten und einen Einfluss sozialerFaktoren wie Prestige und Status möglichst vermei-den (vgl. Niederberger und Renn 2017, S. 13). Diemehrfache Befragung soll dazu dienen, die Streu-ung in den Antworten der Expert*innen zu redu-zieren, was oft als Indikator für die Qualität derErgebnisse gedeutet wird (vgl. Häder 2009, S. 40–42). Von der rundenbasierten Befragung wird al-so eine Verbesserung der Expertenurteile erwartet.Einem bescheidenen Anspruch nach soll die itera-

tive Befragung dazu dienen, die Streuung in denAntworten der ersten Befragung von Effekten zureinigen, die lediglich auf Missverständnissen undMehrdeutigkeiten in den Fragestellungen beruhen,um so “die tatsächlichen Differenzen in der Beur-teilung [des] Sachverhaltes oder [der] Zielsetzung”zu erheben (Niederberger und Renn 2017, S. 7).Die Tatsache, dass die Methode häufig ins Spielgebracht wird, wenn es um die Klärung von Fra-gen geht, für deren Beantwortung kein vollständi-ges und sicheres Wissen vorliegt (vgl. Häder 2009,S. 21), deutet jedoch darauf hin, dass der Delphi-Methode in der Praxis ein darüber hinausgehenderMehrwert zugesprochen wird. Hier sollen die durchbegrenzte Wissensbestände bedingten Unsicherhei-ten kompensiert werden. Ob und wie man diesemAnspruch gerecht werden kann, ist Gegenstand ei-ner lang geführten Debatte (vgl. Häder 2009, S. 39–42).

Neben diesem klassischen Format gibt es mittler-weile eine ganze Fülle von Varianten, die das klas-sische Format erweitern und anpassen.

Als Problem beim klassischen Delphi-Format wirddas Fehlen von inhaltlichen Begründungen der Ant-worten gesehen. Auch wenn es auf den Fragebögenhäufig entsprechende offene Fragen zur Erläute-rung der Antworten gibt, werden diese selten be-nutzt (vgl. Niederberger und Renn 2017, S. 27).Solche Begründungen können in den unterschied-lichen Wellen der Befragung relevant für die Be-fragten sein, da sie Erklärungen für Abweichungenliefern. Das Gruppendelphi gibt vor diesem Hin-tergrund die Anonymität unter den Teilnehmendenauf und ergänzt das klassische Delphi um Dialog-und Austauschformate. Auf einem ein- bis zwei-tägigen Workshop werden immer noch standardi-sierte quantitative Fragebögen in mehreren Wellenvon den Expert*innen beantwortet. Aber im Unter-schied zum klassischen Delphi kann die statistischeAuswertung der Antwortbögen in der ganzen Grup-pe und in Kleingruppen vor der nächsten Befragunggemeinsam besprochen werden (vgl. Niederbergerund Renn 2017, S. 27–30).

Noch größere Abweichungen vom klassischen Del-phi besitzen die sogenannten Delphi-Befragungenzur Ideenfindung, die quantitative Befragungendurch rein qualitative Elemente ersetzen (vgl. Hä-der 2009, S. 31–32). Im Rahmen solcher Delphi-

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

Methoden sollen möglichst viele Ideen und Lö-sungsvorschläge für vorgegebene Fragestellungenerarbeitet werden, die weit offener formuliert sindals beim klassischen Delphi. Anstatt quantitativerFragen wird mit offenen Fragen oder leitfadenge-steuerten Interviews gearbeitet, deren Ergebnissein geeigneter Form in die Gruppe zurückgespieltwerden müssen. Da auf quantitative Befragungenverzichtet wird, können die Antwortbögen auchnicht mehr durch statistische Kenngrößen zusam-mengefasst werden. An dessen Stelle müssen inhalt-liche Zusammenfassungen der formulierten Argu-mentationsketten und Informationen geliefert wer-den. Dadurch entsteht allerdings die Gefahr, dassProzessdurchführende einen Einfluss auf den Pro-zessverlauf haben, zumal im Rahmen drittmittelge-förderter Projekte selten die Ressourcen für einesystematische inhaltsanalytische Aufbereitung derAntwortbögen vorhanden sind (vgl. Niederbergerund Renn 2017, S. 91).

Insgesamt lassen sich die unterschiedlichen Delphi-Methoden anhand der folgenden Dimensionen dif-ferenzieren (vgl. Häder 2009, S. 25):

• Direktes Prozessziel: Während beim klassi-schen Delphi die Expertengruppe zu einemmöglichst übereinstimmenden Urteil bezüg-lich zukünftiger Entwicklungen kommen sol-len, können in anderen Formaten ganz ande-re Ergebnisse angestrebt werden (für einenÜberblick vgl. Häder 2009, S. 30–33).

• Auswahl & Anzahl der Teilnehmenden:Beim klassischen Delphi möchte man einemöglichst repräsentative Menge von Expert*-innen auf dem jeweiligen Fachgebiet befra-gen. Geht es um andere Prozessziele und wer-den aufwendigere Befragungs- und Auswer-tungsmethoden verwendet, beschränkt mansich auf kleinere Gruppen.

• Befragungsmodus: Standardisierte quantita-tive Fragebögen finden sich bei klassischenFormaten, die in anderen Formaten durch of-fene Fragen und deliberative Komponentenergänzt oder ersetzt werden können.

• Aggregationsmodus: Bei quantitativen Be-fragungen können die Antwortbögen mit ein-fachen statistischen Kenngrößen ausgewer-tet werden, die für die Befragung der nächs-

ten Welle in die Gruppe zurückgespielt wer-den. Bei offenen Fragen oder der Auswertungvon Gruppendiskussionen müssen die inhalt-lichen Argumentationsketten und Informatio-nen mit qualitativen Methoden in geeigneterWeise zusammengefasst werden.

• Abbruchkriterium/Konsenskriterium: Beiallen Delphi-Methoden muss festgelegt wer-den, wie viele Befragungsrunden durchge-führt werden sollen.

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

2.2 DAS BÜRGERDELPHI

Der partizipative Ansatz geht davon aus, dass Laienim Rahmen von Beteiligungsprozessen einen wich-tigen Beitrag für gesellschaftliche Entscheidungenleisten können und die technisch-wissenschaftlicheExpertise allein nicht ausreicht. Dabei geht es nichtum die Verdrängung wissenschaftlicher Expertise,sondern um deren Ergänzung. Argumente für dieseThese verweisen darauf, dass in die Begründungvon Handlungsempfehlungen auch immer ethischeFragen der Moral, der gesellschaftlichen Wünsch-barkeit sowie die Bewertung und Abwägung vonHandlungsfolgen eine zentrale Rolle spielen (vgl.Goldschmidt 2014, S. 39–42). Ob und wie dieserAnspruch des Mehrwerts von Partizipation durchBeteiligungsverfahren eingelöst werden kann, hängtmaßgeblich von der Ausgestaltung der Beteiligungund der Art des Entscheidungsproblems ab. Beson-dere Herausforderungen stellen komplexe gesamt-gesellschaftliche Entscheidungsprobleme dar, diemit starken Unsicherheiten und begrenztem Wis-sen um zukünftige Entwicklungen verbunden sind.Nicht nur müssen bei gesamtgesellschaftlichen Ent-scheidungsproblemen vielfach miteinander in Kon-flikt stehende Werte und Perspektiven berücksich-tigt werden, sondern auch die entscheidende Frage,wie man bei Entscheidungsproblemen mit unsiche-rem Wissen zu gut begründeten Lösungsvorschlä-gen kommen kann, ist Gegenstand eigener Fachdis-ziplinen wie die der rationalen Entscheidungstheo-rie. Diese komplexen Entscheidungsprobleme stel-len Beteiligungsprozesse damit vor besonders hoheHerausforderungen, weil sie eine vergleichsweisestarke Informiertheit der Beteiligten verlangen, umeinen Mehrwert produzieren zu können.

Das Beteiligungsformat Bürgerdelphi ist konzipiert,um in diesen Kontexten komplexer Entscheidungs-probleme angewendet zu werden. Es verbindet Ele-mente der bekannten Delphi-Methode mit denen ei-nes BürgerForums beziehungsweise der sogenann-ten Planungszelle. Ein Bürgerdelphi begleitet dieBeteiligten über einen längeren Zeitraum von bis zumehreren Monaten und soll sie dabei unterstützen,informierte und reflektierte Meinungen im Kontextkomplexer gesamtgesellschaftlicher Entscheidungs-probleme auszubilden. Das Bürgerdelphi ist daraufausgerichtet, die Meinungsbildung selbst dann ef-

fektiv zu unterstützen, wenn bereits das Verständ-nis der Problematik technisch-wissenschaftlichesFachwissen voraussetzt, daher auch keine intuiti-ven Ausgangsmeinungen der Beteiligten zu erwar-ten sind und das Thema keinen aktuellen alltags-relevanten Bezug für die Beteiligten besitzt. Dasprozessinterne Ziel ist die Erstellung eines Ergeb-nisberichts, der die Meinungen und Ansichten derBeteiligten darstellt und Eingang in die politischeWillensbildung finden kann. Dabei wird nicht zwin-gend ein Konsens oder die Formulierung konkreterHandlungsempfehlungen angestrebt. Der Ergebnis-bericht kann in Abhängigkeit der Fragestellungenauch lediglich

• ein Überblick über zentrale Gründe und Ein-wände bestimmter Handlungsoptionen ge-ben,

• wichtige Konsens- und Dissenspunkte dar-stellen und erklären,

• Lösungsvorschläge unterbreiten,

• relevante Wert-, Ziel- und Interessenkonflikteaufdecken oder

• offene und im Entscheidungsprozess weiterzu beachtende Fragestellungen identifizieren.

Die Durchführung eines Bürgerdelphis gliedert sichin drei unterschiedliche Phasen: eine initiierendeAuftaktveranstaltung, eine über mehrere Wochen inthematischen Runden stattfindende Diskussionspha-se, die sich vieler Elemente der Delphi-Befragungbedient, und eine abschließende Phase in der derErgebnisbericht erstellt wird.

Die Phasen eines Bürgerdelphis

1. Auftaktveranstaltung: Prozessvorstellung,Gruppenbildung, Themenfindung.

2. Diskussionsphase: Delpi-basierte themati-sche Runden mit individuellen Telefonge-sprächen sowie Meinungs- und Informati-onsaustausch auf einer Internettplatform.

3. Ergebnisphase: Erstellung des Ergebnisbe-richts und Abschlussveranstaltung.

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Während der Auftaktveranstaltung, die als ein-oder halbtägiger Workshop geplant werden kann,werden die Teilnehmenden mit der Prozessstruk-tur und dem Thema vertraut gemacht. Da ein Bür-gerdelphi einen ähnlich stark strukturierten Kom-munikationsprozess durchläuft wie andere Delphi-Methoden und noch zusätzliche Elemente enthält,muss genügend Zeit eingeräumt werden, um denBeteiligten den Prozessablauf, ihre Rolle im Pro-zess und ihre Gestaltungsmöglichkeiten transparentdarzustellen. Auf der Auftaktveranstaltung sollendie Beteiligten darüber hinaus erste Informationenzur behandelnden Fragestellung erhalten und nachMöglichkeit in ersten Diskussionsrunden ihre vor-läufigen Ansichten austauschen können. Je nachKomplexität des Themas können Fachexpert*inneneingeladen werden, um ein notwendiges erstes Sach-wissen zu vermitteln. Da der Informations- undMeinungsaustausch während der Diskussionsphaseim Wesentlichen in Kleingruppen von etwa fünfPersonen stattfindet, kann auf der Auftaktveran-staltung die Gruppenaufteilung organisiert werden.Von zentraler Bedeutung ist die Auswahl von Un-terthemen der Fragestellung. Die einzelnen Befra-gungsrunden der Diskussionsphase dienen beimBürgerdelphi nicht einer wiederholten Erhebungzur gleichen Fragestellung. Anders als bei üblichenDelphi-Methoden, soll die komplexe Fragestellungin relevante Teilfragen zerlegt werden, die nachein-ander in den unterschiedlichen Runden behandeltwerden können.

Nach der Auftaktveranstaltung findet der eigentli-che Beteiligungsprozess in der sogenannten Dis-kussionsphase über leitfadengesteuerte Telefonge-spräche und den Meinungsaustausch über eine On-lineplattform in mehreren thematischen Rundenstatt. Die notwendigen Sachinformationen werdenebenso über die Onlineplattform zur Verfügunggestellt. Ähnlich wie bei anderen Delphiformatenist die Kommunikation zwischen den Teilnehmen-den stark vorstruktiert. Über die einzelnen Befra-gungen von Teilnehmenden sollen individuelle An-sichten und Meinungen erhoben werden, die dannzusammenfassend in die jeweiligen Gruppen zu-rückgespielt werden. Die vermittelte Deliberationund der Verzicht auf weitere Präsenzveranstaltun-gen soll den Beteiligungsprozess effizient gestal-ten. Darüber hinaus sollen wie bei anderen Delphi-Methoden bestimmte gruppenspezifische Dynami-

ken, die durch Dominanzstrukturen, Ansehen undStatusgebaren verursacht werden können, vermie-den werden. Das dialogische Element der Telefon-gespräche soll sicherstellen, dass alle Teilnehmen-den möglichst stark involviert werden. Da delibera-tive Elemente zum Kern vieler Beteiligungsformategehören, soll den Teilnehmenden weiterhin der di-rekte Meinungsaustausch ermöglicht werden. DieMitglieder der einzelnen Teilgruppen können dafürein moderiertes Forum auf einer Onlineplattformbenutzen.

Auch das Bürgerdelphi ist rundenbasiert, wobei dieeinzelnen Runden eine andere Funktion besitzenals bei üblichen Delphi-Formaten. Die im Bürger-delphi durchgeführten Runden widmen sich jeweilseinem Teilaspekt oder einer Teilfrage der adressier-ten Problemstellung. Dadurch soll das komplexeGesamtproblem in Teilprobleme zerlegt werden,um die Meinungsbildung und damit verbundeneWissens- und Kompetenzsteigerungen nach Mög-lichkeit kleinteilig gestalten zu können. Wie gutdas gelingen kann, hängt maßgeblich vom Themaund der gewählten Einteilung ab. Die Anzahl undLänge einer thematischen Runde kann sich dem-nach neben vorhandenen zeitlichen und finanziellenRessourcen auch danach richten, in wie viele rele-vante Unterthemen die Fragestellung während derAuftaktveranstaltung aufgeteilt worden ist.

Die Diskussionsphase

Die in thematischen Runden sich wiederholen-den Schritte:

1. Pro- und Kontra-Diskussionsinput durchDebatteur*innen auf dem Online-Portal

2. Informations- und Meinungsaustauschüber Telefongespräche und Online-Foren

3. Aggregierte Darstellung der Ergebnisseder Telefongespräche auf dem Online-Portal

4. Abschlussplädoyer durch die Debat-teur*innen

5. Abstimmung der Teilnehmenden zurAusgangsthese der Themenrunde

Die einzelnen thematischen Runden laufen nach

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einem sich wiederholenden Schema ab. Zu jedemThemenblock gibt es einen initialen Informations-und Diskussionsinput auf dem Portal. Der Diskus-sionsinput und die Hintergrundinformationen wer-den vorab durch Debatteur*innen recherchiert undadressatengerecht in Form von Pro-Kontra-Stel-lungnahmen zur Verfügung gestellt. Dabei sollenalso nicht nur wertneutrale Sachstandsinformatio-nen aufbereitet werden, sondern zugleich wichti-ge und relevante Argumente aufgegriffen werden,die dann zur Diskussion gestellt werden. Durch dieForm des Pro-Kontra-Inputs soll ein ausgeglichenesMeinungsfeld dargestellt werden und eine einseiti-ge Beeinflussung durch die Prozessdurchführendenvermieden werden.

Die zur Verfügung gestellten Informationen sollenvon den Teilnehmenden gelesen, um dann in Formleitfadengesteuerter Telefongespräche individuellbesprochen zu werden. Die Telefongespräche, dieeine halbe bis eine Stunde in Anspruch nehmenkönnen, dienen sowohl der Meinungserhebung alsauch der aktiven und individuellen Gestaltung desWissenserwerbs. Anhand eines Leitfadens, der pri-mär an inhaltliche Punkte des Diskussionsinputsanknüpft, werden individuelle Einstellungen, An-sichten und Argumente erhoben, die dann in dieTeilgruppe zurückgespielt werden sollen. Der Fra-gemodus dieser Telefongespräche ist jedoch be-wusst nicht monodirektional gestaltet. Vielmehrwerden Teilnehmende dazu angehalten zu klären-de Fragen anzusprechen und Rechercheaufträge andie Prozessdurchführenden zu verteilen, die dannan entsprechende Expert*innen zur Klärung weiter-geleitet werden. Damit soll gewährleistet werden,dass technisch-wissenschaftliche oder allgemeinereFragen, die während der Themenrunden auftauchenund deren Klärung Expertise erfordert, zu jeder Zeitkompetent beantwortet werden können. Die Ergeb-nisse dieser Recherchen werden dann in die ganzeGruppe über das Online-Portal zurückgespielt. Da-mit können Teilnehmende den Wissenserwerb aktivsteuern, ohne selbst aufwendige Recherchen zu tä-tigen.

Die Inputs der einzelnen Telefongespräche und derMeinungsaustausch auf dem Online-Portal sollenin einem nächsten Schritt inhaltlich zusammenge-fasst und den anderen Teilnehmenden in geeigneterForm zur Verfügung gestellt werden. Hier sollen

insbesondere die von den Beteiligten identifizier-ten Gründe, Einwände, Ansichten und Bedenkenzusammenfassend dargestellt werden. In Abhängig-keit der Ressourcenkapazitäten stehen dafür unter-schiedliche qualitative Methoden zur Verfügung.Die aufwendigste Form bestünde in einer Transkri-bierung der Telefongespräche und einer systemati-schen Auswertung mit Methoden der qualitativenInhaltsanalyse (vgl. Mayring 2015), was im Rah-men üblicher Beteiligungsformate jedoch nicht ge-leistet werden kann. In weniger aufwendiger Weisekönnen diese Zusammenfassungen auf Grundlagegemachter Notizen und vorher festgelegter Rele-vanzkriterien angefertigt werden.

Ergänzend zu den offen gestellten Fragen der Te-lefongespräche werden Einstellungen und inhalt-liche Meinungen zu Kernfragen in Form standar-disierter Fragebögen erhoben. Diese Befragungenkönnen im Zuge der Telefongespräche oder überOnline-Formulare durchgeführt werden. Diese kön-nen dann wie bei klassischen Delphi-Befragungenstatistisch ausgewertet und in Form geeigneter Ab-bildungen in die Gesamtgruppe zurückgespielt wer-den.

Im Vergleich zum klassischen Delphi besitzt dasBürgerdelphi weitere Elemente, die einerseits dafürsorgen sollen, dass ein direkter deliberativer Aus-tausch zwischen den Beteiligten möglich ist undandererseits die notwendigen Wissenszuwächse er-reicht werden können. Aufgrund der damit verbun-denen Vielfalt der Kommunikationskanäle ist dasBürgerdelphi nur für eine begrenzte Anzahl vonTeilnehmenden in einer Größenordnung von bis zuvierzig Personen geeignet. Selbst bei diesen Zahlenwird die Gesamtgruppe für die Themenrunden inkleinere Teilgruppen von fünf bis sieben Personenaufgeteilt. Damit soll sichergestellt werden, dass diein die Kleingruppen zurückgespielten Zusammen-fassungen der Themenrunden auf einer adäquatenAggregationsstufe erfolgen können. Einerseits sol-len sie nämlich so übersichtlich und knapp gestaltetwerden, dass der Aufnahmeaufwand für die übri-gen der Kleingruppe gering ausfällt. Andererseitssollen die Zusammenfassungen so ausführlich sein,dass keine relevanten Punkte verloren gehen unddie Teilnehmenden sich in den Zusammenfassun-gen wiederfinden.

In der abschließenden Phase der Ergebnisfindung

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wird der Ergebnisbericht in Absprache mit denTeilnehmenden erstellt. Auf dieser abschließendenAggregationsstufe werden die Ergebnisse und Vor-schläge der einzelnen Teilgruppen in Form eines Be-richts zusammengefasst. Welche Inhalte im Berichtdargestellt werden, wird sowohl von der Fragestel-lung als auch von den Deliberationsergebnissen ab-hängen. Eine kollaborative Erstellung des Berichtsdurch die Teilnehmenden ist bei der anvisierten Teil-nehmendenzahl nicht sinnvoll. Der Aufwand wärefür die Teilnehmenden zu groß, und es bestündedie Gefahr, dass sich nur wenige an der Erstellungaktiv beteiligen. Der Bericht könnte als Folge vonden übrigen Teilnehmenden als zu einseitig wahrge-nommen werden. Der Ergebnisbericht sollte jedochnach Möglichkeit von allen Teilnehmenden getra-gen werden. Daher wird der Bericht von einer alsneutral wahrgenommenen Instanz erstellt. Den Teil-nehmenden sollen jedoch Einflussmöglichkeitenauf die Inhalte des Textes gegeben werden. Hierfürkann eine erste Version von den Prozessdurchfüh-renden oder Externen erstellt werden, die dann überRückmeldungen von den Teilnehmenden überarbei-tet wird, um schließlich final autorisiert zu werden.Diese Überarbeitungsschleifen können entwederauf digitalem Wege erfolgen oder im Rahmen einerweiteren Präsenzveranstaltung durchgeführt wer-den.

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

Kategorie Bürgerdelphi

prozessinterne Ziele inhaltlich informativer Ergebnisbericht: Zusammen-fassung von Ansichten, Meinungen, Konsens, Dis-sens und ggf. Handlungsempfehlungen

prozessexterne Ziele Berücksichtigung des Berichts in der politischen Wil-lensbildung

Wissens-/Kompetenzsteigerung selbstgesteuert und interaktiv über Rechercheaufträ-ge, Diskussions- und Informationsinput während derAuftaktveranstaltung und über eine Onlineplattform

Interaktionsintensität hoch: hoher Zeitaufwand über Telefongespräche undzu lesende Informationsmaterialien auf der Online-plattform

deliberativer Interaktionsmodus vermittelt über Telefongespräche und direkte Diskus-sion über ein Online-Diskussionsforum

Auswahl der Teilnehmenden nach Möglichkeit heterogen und repräsentativ, 20-40Personen

Form der Ergebnisfindung nicht zwingend auf Konsens ausgerichtete Aggrega-tion von Ansichten, Meinungen und Argumenten;Mitgestaltung des Ergebnisberichts

Mitgestaltungsmöglichkeiten (des Prozesses) Auswahl der Unterthemen durch die Teilnehmenden;ansonsten gering: festgelegte Abläufe und stark struk-turierte Kommunikation zwischen den Teilnehmen-den

Befragungsmodus leitfadengesteuerte Interviews (Telefongespräche)und standardisierte Fragebögen

Aggregationsmodus qualitative Zusammenfassungen und deskriptiv sta-tistisch

Abbruchkriterium auf der Auftaktveranstaltung festgelegte Auswahl anThemenrunden

TABELLE 2.1Zusammenfassung des Bürgerdelphiformats anhand der Kriterien.

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

2.3 DAS BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Die erste Durchführung eines Bürgerdelphis fandim Rahmen des Projekts Bürgerdelphi Keimbahn-therapie von April bis November 2019 statt undwurde von dem Kommunikationsberater Dr. RalfGrötker (Explorat Forschung & Kommunikation)maßgeblich konzipiert und durchgeführt. Der Pro-zess wurde vom Karlsruher Institut für Technolo-gie wissenschaftlich begleitet und evaluiert. DieAusgestaltung des Formats weist einige spezifischeBesonderheiten auf, die insbesondere bei der wis-senschaftlichen Evaluation des Projekts beachtetwerden mussten. Diese betreffen die Auswahl derTeilnehmenden, den thematischen Kontext, die Ver-wendung von sogenannten “Denkhüten”, die ge-wählten Aggregationsmodi und die Rolle der Ab-schlussveranstaltung.1

Buedeka Bürgerdelphi Keimbahntherapie

Durch den verhältnismäßig hohen zu erwartendenZeitaufwand für die Teilnahme war es nicht ein-fach Teilnehmende zu rekrutieren. Als zusätzlichenAnreiz wurden den Teilnehmenden Gutscheine inAussicht gestellt. Die Teilnehmenden des Prozes-ses wurden über unterschiedliche Kanäle im Um-kreis um Berlin rekrutiert. Ein inhaltlicher Beitragim Tagesspiegel enthielt einen Hinweis und die

1Eine ausführlichere Beschreibung der Projektziele und derDurchführung findet man in der Projektzusammenfassung (vgl.Leßmöllmann und Cacean 2019).

Kontaktinformationen für das Bürgerdelphi. Dar-über hinaus wurden Kleinanzeigen im Online- undPrint-Bereich genutzt (Zitty, taz am Wochenende,nebenan.de, Online Campus Adlershof, Craigslist)und persönliche Anschreiben über unterschiedli-che Netzwerke versendet (Xing-Gruppe “Berlin”,Bosch-Alumni-Netzwerk).

Insgesamt konnten 26 Teilnehmende für das Bürger-delphi gewonnen werden, wobei von 21 der Teilneh-menden sozio-demografische Daten erhoben wer-den konnten. Das Durchschnittsalter der Befragtenlag bei 42 Jahren (Standardabweichung: 10 Jahre).Auffallend ist das hohe Bildungsniveau der Befrag-ten. 17 der Befragten haben einen Hochschulab-schluss und eine/r einen Fachhochschulabschluss.Sieben der Befragten sind darüber hinaus promo-viert.

Besonderheiten des BürgerdelphisKeimbahntherapie:1. Hohes Bildungsniveau der 26

Teilnehmenden2. Ergebnisoffenheit: kein konkretes

Entscheidungsproblem3. Verwendung von Denkhüten4. Aggregationsmodi: Tagebucheinträge &

Abschlussplädoyers5. Abschlussveranstaltung: Vorstellung des

Ergebnisberichts

Das Thema “Keimbahneingriffe” hat aufgrund vie-ler Fortschritte mit der CRISPR/Cas9-Technologieeinen stetigen Zuwachs an Aufmerksamkeit ver-zeichnen können. Die Aussicht durch gentechni-sche Eingriffe in die Keimbahn, monogenetischeErbkrankheiten heilen zu können, hat in Deutsch-land noch vor dem Vorstoß des chinesischen Wis-senschaftlers im November 2018 eine Debatte vorallem um die Möglichkeiten der Erforschung sol-cher Bio-Technologien ausgelöst. So sprach sichbeispielsweise Schöne-Seifert (2017) dafür aus, ei-ne offene Diskussion zu den Möglichkeiten undGefahren zu führen. Die Nationale Akademie derWissenschaften (Leopoldina) argumentierte für ei-ne “eng begrenzte Weiterentwicklung des geltenden

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

Rechts [Embryonenschutzgesetz]”, um eine Erfor-schung dieser Technologien an verwaisten Embryo-nen unter bestimmten Bedingungen zuzulassen (vgl.Bonas et al. 2017, S. 20). Dennoch gab es zum Zeit-punkt des Beteiligungsprozesses keine konkrete po-litische Entscheidungssituation. Weder wurde aufpolitischer Ebene explizit über eine Veränderungdes Embryonen-Schutzgesetzes in Deutschland de-battiert noch darüber, wie man sich gegenüber Ent-wicklungen der CRISPR/Cas9-Technologie im Aus-land verhalten soll. Es gab also gar keinen spezifi-schen Entscheidungskontext, weil keine konkretepolitische Entscheidung anstand. Von diesem Bür-gerdelphi ist daher kein Beitrag zu einer konkretenpolitischen Willensbildung zu erwarten. Der gesell-schaftsrelevante Beitrag dieses Bürgerdelphis mussdamit anders verstanden werden. Erhofft wird einwertvoller Beitrag, der Eingang in die nun entste-henden Diskurse rund um das Thema “Keimbahn-eingriffe” findet.

Zur inhaltlichen Zusammenfassung der Teilneh-mendenbeiträge während der Telefongespräche wur-den unterschiedliche Aggregationsmethoden ver-wendet. Tagebucheinträge fassten die wesentlichenAnsichten und Meinungen der einzelnen Teilneh-menden zusammen und wurden auf dem Online-Portal den anderen Beteiligten der jeweiligen Klein-gruppe zur Verfügung gestellt. Einen inhaltlichenAbschluss der einzelnen Themenrunden bildeten so-genannte Abschlussplädoyers. Hier wurden die Bei-träge der jeweiligen Kleingruppen zusammenfas-send, ähnlich wie beim Diskussionsinput in Formvon zwei unterschiedlichen Texten, einmal befür-wortend und einmal ablehnend dargestellt. Darüberhinaus wurden die Abschlussplädoyers benutzt, umdie Kleingruppen mit zusätzlichen Informationenzu versorgen und um den gruppenübergreifendenDiskussionsstand darzustellen. Mit den Abschluss-plädoyers wurde also nicht nur innerhalb der Grup-pen aggregiert, sondern der Diskussionsstand allerTeilnehmenden dargestellt. Dieses Vorgehen ist vorallem dadurch motiviert, dass der abschließendeErgebnisbericht des Bürgerdelphis die Ansichtenund Meinungen aller Teilnehmenden widerspiegelnsoll und es keine anderen Kommunikationskanä-le zwischen den unterschiedlichen Gruppen gab.Die Abschlussplädoyers bildeten somit die einzigeGelegenheit einer gegenseitigen Beeinflussung derMeinungsbildung zwischen den unterschiedlichen

Gruppen.

FAKULTÄT FÜRGEISTES- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN

www.kit.eduKIT – Universität des Landes Baden-Württemberg und nationales Forschungszentrum in der Helmholtz-Gemeinschaft

Ergebnisbericht:Bürgerdelphi Keimbahntherapie

Im Auftrag des Karlsruher Institut für Technologie

Abteilung WissenschaftskommunikationInstitut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien

November 2018

Forschung & Kommunikation

ABBILDUNG 2.1Ergebnisbericht Bürgerdelphi Keimbahntherapie

Eine weitere Besonderheit in der Ausgestaltungdes Bürgerdelphis bestand in der Verwendung so-genannter “Denkhüte”. Die Beteiligten hatten wäh-rend der Telefongespräche die Möglichkeit, zurAuswahl stehende Rollen anzunehmen und wurdenin Abhängigkeit der Gesprächssituation gebeten,aus der Perspektive einer bestimmten Rolle zu ant-worten. Diese aufzusetzenden “Denkhüte” solltendie Teilnehmenden motivieren, sich mit Perspek-tiven und Positionen auseinanderzusetzen, die sieselbst nicht vertreten, und sollten darüber hinausbestimmten kognitiven Verzerrungen entgegenwir-ken. So kann beispielsweise der Bestätigungsfehler(confirmation bias) dazu führen, dass man neue In-formationen so interpretiert, dass sie vorhandeneMeinungen bestätigen. Je stärker solche kognitivenVerzerrungen wirken, desto unwahrscheinlicher istes, dass sich ein Konsens in einer Gruppe einstellt,wenn die Ausgangsmeinungen bereits stark ausein-ander liegen.

Die Abschlussveranstaltung wurde im BürgerdelphiKeimbahntherapie dazu genutzt, den Ergebnisbe-richt einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. DieAbschlussveranstaltung fand am 6. November 2018im Rahmen der Berlin Science Week im STATEStudio Berlin statt. Auf der Veranstaltung wurden

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DAS BETEILIGUNGSFORMAT BÜRGERDELPHI

ABBILDUNG 2.2Podiumsdiskussion der Abschlussveranstaltung (Foto: Alena

Schmick)

die Ergebnisse des Bürgerdelphis vorgestellt undmit politischen Entscheidungsträger*innen und Ex-pert*innen im Rahmen einer Podiumsdiskussiondiskutiert. Die vorausgehende inhaltliche Abstim-mung des Berichts fand nicht in Form einer Prä-senzveranstaltung statt. In einem ersten Schritt wur-de eine vorläufige Version des Berichts von denProzessdurchführenden erstellt, die allen Teilneh-menden mit der Möglichkeit der Kommentierungund der Äußerung von Änderungswünschen zuge-schickt worden ist. Die eingeholten Rückmeldun-gen wurden in der Überarbeitung des Berichts be-rücksichtigt, um sicherzustellen, dass sich die Teil-nehmenden mit der finalen Version des Berichtshinreichend identifizieren konnten.

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHIKEIMBAHNTHERAPIE

3.1 PARTIZIPATIONSFORSCHUNG

Mit Hilfe der Evaluation von Beteiligungsprozes-sen – verstanden als die Anwendung wissenschaftli-cher Forschungsmethoden, um Beteiligungsprozes-se systematisch auf Grundlage erhobener empiri-scher Daten auszuwerten – kann die Ausgestaltungeines einzelnen Formats untersucht werden, umfestzustellen, ob der durchgeführte Prozess seineZiele erreicht hat. Im Rahmen einer ambitionier-ten Partizipationsforschung würde man versuchen,allgemeine Aussagen zu begründen und sich nichtauf Aussagen über einen spezifischen Prozess be-schränken. Vielmehr würde man untersuchen, wel-che Formate sich unter welchen Bedingungen fürwelche Ziele eignen, indem man beispielsweiseunterschiedliche Formate miteinander vergleicht(vgl. Goldschmidt 2014; Goldschmidt, Scheel undRenn 2012; Rowe und Frewer 2000). Diese aufverallgemeinernde Resultate abzielende Forschungist jedoch mit grundlegenden und praktischen Her-ausforderungen konfrontiert (vgl. Chess und Pur-cell 1999; National Research Council 2008). Dafürmüsste nämlich untersucht werden, welche spezi-fischen Faktoren eines durchgeführten Prozesseszu welchen Wirkungen geführt haben (vgl. Rose-ner 1978, S. 458). Solche Kausalaussagen lassensich jedoch nur dann wissenschaftlich fundiert be-gründen, wenn Prozesse unter systematischer Va-riation von Verfahrensmerkmalen wiederholt durch-geführt werden. Diese Forderung verschärft sichin der Partizipationsforschung, da Beteiligungsver-fahren sehr komplexe Prozesse sind und häufig ausebenso komplexen Teilprozessen bestehen. Darüberhinaus kann man Beteiligungsprozesse selten unterLaborbedingungen untersuchen. Sowohl die Kon-trolle als auch die Erfassung der Verfahrensmerk-male sind häufig stark beschränkt, da Beteiligungs-prozesse selten nur zum Zwecke ihrer Erforschung

durchgeführt werden und die verfolgten Ziele bezie-hungsweise die gesamtgesellschaftliche Einbettungdieser Prozesse im Konflikt mit den Forschungszie-len stehen können.

Auch wenn man mit der Evaluation von Einzel-verfahren keine generellen Aussagen über Beteili-gungsformate fundiert begründen kann, erfüllt siedennoch wichtige Funktionen der Erkenntnis- undWissensgewinnung. So können zum einen im Rah-men einer explorativen Forschung zumindest inter-essante allgemeine Forschungshypothesen gewon-nen werden, selbst wenn diese nicht systematischbegründet werden können. Gerade im Zusammen-hang mit neuen Formaten wie dem Bürgerdelphilohnt es sich, erste Erfahrungen und Vermutungenüber Wirkzusammenhänge zu erfassen, um sie einerspäteren systematischen Untersuchung zugänglichzu machen.

Besonders wichtig ist die Evaluation von Einzel-verfahren im Sinne einer Qualitätskontrolle anhandbekannter Bewertungskriterien guter Beteiligung,deren folgende Darstellung vor allem der von Gold-schmidt (2014) vorgeschlagenen Systematisierungfolgt. Damit können Stärken und Schwächen desProzesses identifiziert werden und Hinweise zurVerbesserung abgeleitet werden (vgl. Goldschmidt2014, S. 74).

Bei der Effektivitätsbewertung überprüft man, obdie prozessinternen und prozessexternen Ziele desProzesses erreicht werden, sofern diese Ziele ex-plizit gemacht worden sind und einer Evaluationzugänglich sind. Bei der Effektivitätsfrage unter-scheidet man häufig eine ergebnisorientierte und ei-ne wirkungsorientierte Evaluation, die sich jedochnicht ausschließen. Die ergebnisorientierte Evalua-tion untersucht, ob das im Prozess intendierte Er-gebnis erreicht wird und den gewünschten Eingangin Entscheidungsprozesse findet. So könnte man im

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Falle von Bürgergutachten die Qualität und den Ein-fluss des Gutachtens auf den Entscheidungsprozessuntersuchen, um beispielsweise den Mehrwert vonBeteiligungsverfahren transparent zu machen. Diewirkungsorientierte Evaluation untersucht den Ein-fluss des Prozesses auf die Beteiligten selbst. Wirdbeispielsweise eine bestimmte Akzeptanz gegen-über politischen Entscheidungen angestrebt, kannman untersuchen, ob diese Akzeptanzsteigerungwirklich erreicht worden ist.

Da bei fast allen Beteiligungsverfahren eine ge-wisse Kompetenzsteigerung auf Seiten der Teilneh-menden als abgeleitetes Ziel angestrebt wird, soll-te evaluiert werden, ob die für die Erreichung derprozessinternen Ziele erreichten Wissens- und Ver-ständniszuwächse erreicht worden sind. Hier fragtman, ob die Teilnehmenden ein hinreichend großesVerständnis der Sachstandsproblematik entwickelthaben, um sich in informierter Weise mit dem Ent-scheidungsproblem auseinandersetzen zu können.

In der Effizienzbewertung strebt man eine Abschät-zung der aufgebrachten zeitlichen und finanziellenRessourcen in Abwägung zum erbrachten Nutzenan.

Da deliberative Verfahren auf eine gleichberechtig-te Beteiligung der Teilnehmenden ausgelegt sind,soll in der Bewertung der Fairness analysiert wer-den, ob die entsprechenden Gerechtigkeitsbedin-gungen auch wirklich erfüllt wurden.

Deliberative Verfahren gelingen nur, wenn sich dieTeilnehmenden über ihre Rolle im Prozess und überdie Verfahrensabläufe im Klaren sind. Mit der Be-wertung der Transparenz überprüft man, ob dieseInformationen transparent, vollständig und in adres-satengerechter Form vermittelt worden sind.

Mit dem Kriterium der Legitimität untersucht man,ob der Prozess in rechtmäßiger Weise abgelaufenist und keine konstitutiven Legitimitätsbedingun-gen verletzt worden sind. So soll ein deliberativerBeteiligungsprozess frei von Zwängen und äußerenEinflüssen sein, realistische Chancen haben, Ein-gang in den Entscheidungsprozess zu finden undnach Möglichkeit ein heterogenes Teilnehmerfeldabdecken.

Bewertungskriterien

• Effektivität: Wurden die intendierten Zieledes Beteiligungsprozesses erreicht?

• Kompetenzentwicklung: Wurden die Teil-nehmenden hinreichend stark informiert?Wurden sie in die Lage versetzt, sich infor-miert und fundiert in die Ergebnisfindungeinzubringen?

• Effizienz: Stehen der zeitliche Aufwandund die Kosten des Prozesses in einem an-gemessenen Verhältnis zu den intendiertenZielen?

• Fairness: Konnten sich alle Teilnehmendenin gleichberechtigter Weise in den Prozesseinbringen?

• Transparenz: Wurden die Ziele des Prozes-ses als auch die Struktur der Abläufe ver-ständlich und nachvollziehbar dargestellt?

• Legitimität: Verletzt der Prozess keinefür ihn konstitutiven Legitimitätsbedingun-gen?

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3.2 FORSCHUNGSFRAGEN & METHODEN

Die im Rahmen des Projekts Bürgerdelphi Keim-bahntherapie durchgeführte Begleitforschung be-schränkte sich aufgrund der beschriebenen Heraus-forderungen auf die Evaluation eines Einzelverfah-rens. Untersucht wurde eine spezifische Ausgestal-tung des Bürgerdelphis, die nur sehr eingeschränktRückschlüsse auf das Format selbst zulässt. Spezi-fisch waren in diesem Fall unter anderem die Aus-wahl der Teilnehmenden, das Thema und die Ag-gregationsmodi, also die Art und Weise, wie dieindividuellen Beiträge der Teilnehmenden in dieGruppen zurückgespielt wurden.

Ausgewertet wurde das Bürgerdelphi anhand aner-kannter Kriterien der Kompetenzentwicklung, Fair-ness, Transparenz, Effizienz und Effektivität (vgl.Goldschmidt 2014). Häufig ist es schwer, den Ein-fluss von Partizipationsprozessen auf die Entschei-dungsfindung über eine evaluierende Forschung zuerfassen. Im Falle des Bürgerdelphis Keimbahnthe-rapie verschärft sich dieser Umstand, weil es garkeinen spezifischen Entscheidungskontext gibt; al-so keine konkrete Entscheidung anstand. Der Fokusder wissenschaftlichen Begleitung lag daher auf ei-ner wirkungsorientierten Evaluation. Gegenstandder Untersuchung war nicht die Qualität des ent-standenen Ergebnisberichts oder sein Einfluss aufgesellschaftliche und politische Prozesse, sonderndie Wirkung des Prozesses auf die Beteiligten. Ins-besondere stellten sich die folgenden Fragen:

1. Kompetenzentwicklung: Hat das Bürgerdel-phi Keimbahntherapie die Beteiligten erfolg-reich darin unterstützt, sich einen hinreichendadäquaten Wissensstand anzueignen, um sicheine informierte Meinung bilden zu können?

2. Wie gut eigneten sich die durch die Delphi-Methode inspirierten Prozesselemente desBürgerdelphis Keimbahntherapie im Kontexteiner deliberativen Beteiligung, um einen fürdie Teilnehmenden akzeptablen Raum zumMeinungsaustausch zu ermöglichen und umgleichzeitig die anvisierten Kompetenzsteige-rungsziele zu erreichen?

3. Wie hat das Bürgerdelphi Keimbahntherapiebezüglich anerkannter Kriterien guter Betei-

ligung abgeschnitten (Fairness, Transparenz,Akzeptanz, Involviertheit etc.)?

Um diese Fragen zu beantworten, wurden in derwissenschaftlichen Begleitung des Prozesses unter-schiedliche Methoden verwendet:

1. Standardisierte Fragebögen wurden benutzt,um die Auftaktveranstaltung und den Pro-zess im Ganzen aus Sicht der Teilnehmen-den zu bewerten. Hierfür wurde der in Gold-schmidt (2014) entwickelte Evaluationsfrage-bogen als Ausgangspunkt genommen und aufdie Spezifika des Bürgerdelphis angepasst.Der für die Auftaktveranstaltung benutzteFragebogen umfasste 18 Fragen und wurdezum Ende der Veranstaltung von den Teil-nehmenden schriftlich ausgefüllt. Der Frage-bogen zur Evaluation des gesamten Prozes-ses umfasste 6 Fragen zur Erhebung sozio-demografischer Daten sowie 50 Evaluations-fragen und wurde von den Teilnehmendennach der Abschlussveranstaltung über einOnline-Befragungsportal ausgefüllt.

2. Die Auftaktveranstaltung wurde unter teil-nehmender Beobachtung begleitet und aus-gewertet. Eine ergänzende schriftliche Befra-gung diente dazu, die Veranstaltung aus derSicht der Moderator*innen anhand offenerFragen zu bewerten.

3. Ein informelles Auswertungstreffen mit Teil-nehmenden nach Beendigung der Beteiligungs-phase diente dazu, die Sicht der Teilnehmen-den auf den Prozess anhand von Leitfragenzu erheben.

4. Eine wiederholte schriftliche Befragung überein Online-Befragungsportal erhob die An-sichten und Meinungen der Teilnehmendenzum Thema Keimbahneingriffe über die Be-antwortung offen formulierter Fragen, diemit inhaltsanalytischen Methoden ausgewer-tet wurden. Die Befragung erfolgte ein erstesMal direkt im Anschluss der Auftaktveran-staltung, also bevor die Diskussionsphase be-gann, ein zweites Mal direkt im Anschlussder Diskussionsphase und ein drittes Mal

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

nach der Abschlussveranstaltung.

5. Um in explorativer Weise den Einfluss derTelefongespräche einzuschätzen, wurde dieGesamtgruppe nicht nur dem Format entspre-chend in unterschiedliche Kleingruppen ein-geteilt, sondern eine Vergleichsgruppe gebil-det, die den Prozess unter Hinwegnahme ei-nes wesentlichen Prozesselements durchlief.So gab es drei sogenannte Telefongruppen,die am Prozess gemäß der Formatbeschrei-bung des Bürgerdelphis teilnahmen und einesogenannte Digitalgruppe. Die Teilnehmen-den dieser Gruppe konnten sich zwar überdas Onlineforum austauschen und darüberRechercheaufträge erteilen, hatten aber nichtdie Möglichkeit, ihre Ansichten und Meinun-gen über die Telefongespräche mitzuteilen.Sie erhielten wie die Teilnehmenden der Te-lefongruppen einen initiierenden Diskussi-onsinput. Die gesamte Interaktion mit undinnerhalb dieser Gruppe verlief damit überdie digitale Plattform, was auch die Bezeich-nung dieser Gruppe motiviert.

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3.3 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

Die folgenden Punkte fassen die wesentlichen Er-gebnisse der evaluierenden Begleitforschung zu-sammen:

• Über die inhaltsanalytische Auswertung derMeinungserhebungen konnte gezeigt werden,dass sich die Ansichten der Teilnehmendenüber den Prozesszeitraum hinweg veränderthaben und in allen drei Befragungsrundenein heterogenes Spektrum abdeckten. Es wur-de außerdem festgestellt, dass die Befragtenin den unterschiedlichen Befragungswellenselten Argumente der vorherigen Befragun-gen wiederholten und vielmehr immer wie-der neue Argumente formulierten. Dies kannals Indikator dafür interpretiert werden, dassdie Informiertheit ihrer Meinungen über denProzesszeitraum hinweg stieg. Einen signi-fikanten Unterschied zwischen der Digital-gruppe und den Telefongruppen gab es je-doch nicht.

• Ein zentrales Ziel der Auftaktveranstaltungwar die Wahl adäquater Themen für die unter-schiedlichen Themenrunden der Diskussions-phase (leitfadengesteuerte Telefongesprächeund Meinungsaustausch über die Onlineplatt-form) durch die Beteiligten. Um dieses Zielzu erreichen, wurden die Kommunikations-prozesse und Informationsflüsse durch eineModeration stark strukturiert. Die anvisier-ten Ziele der Auftaktveranstaltung wurdenerreicht und die Beteiligten waren mit derVeranstaltung und ihren Ergebnissen insge-samt zufrieden.

• Die Auswertung der standardisierten Fragenzum gesamten Beteiligungsprozess zeigte,dass das Bürgerdelphi Keimbahntherapie ausSicht der Teilnehmenden bezüglich der Eva-luationskriterien Fairness, Transparenz, Ak-zeptanz und Involviertheit gut abschnitt. Je-doch wiesen die Beteiligten auf die fehlendeHeterogenität in der Zusammensetzung desTeilnehmendenfelds hin.

• Die unterschiedlichen Prozessspezifika desdurchgeführten Bürgerdelphis müssen diffe-

renziert betrachtet werden:

– Die Bereitstellung von Diskussionsin-puts, die anschließenden Telefongesprä-che sowie die gewählten Aggregations-modi über Zusammenfassungen der Te-lefongespräche und der Themenrundenwurden gut angenommen und als posi-tiv bewertet.

– Die in einem Bürgerdelphi vergleichs-weise beschränkten Möglichkeiten desdirekten Meinungsaustausches wurdenzum Teil als zu einschränkend wahrge-nommen. In den Telefongruppen wur-de das Online-Forum praktisch nichtbenutzt und viele der Befragten hättensich einen intensiveren direkten Mei-nungsaustausch gewünscht.

– Die Gestaltung und Umsetzung der On-lineplattform wurden mehrfach kritisiert.Hier besteht aufgrund der zentralen Rol-le der Onlinekommunikation ein Ver-besserungspotential.

– Die Möglichkeit, unter einer zur Aus-wahl stehenden Menge von Rollen zuagieren (durch die sogenannten “Denk-hüte”), wurde im Bürgerdelphi Keim-bahntherapie kaum benutzt und zumTeil als kontraproduktiv empfunden.

• Die Äußerungen einiger Beteiligter weisendarauf hin, dass die fehlenden Telefongesprä-che mit Teilnehmenden der Digitalgruppeden Meinungsbildungsprozess erschwerten.In der Auswertung der standardisierten Eva-luationsfragebögen und der Meinungserhe-bungen lassen sich jedoch keine signifikan-ten Unterschiede feststellen. Aufgrund derfehlenden Repräsentativität und der kleinenStichprobe lässt sich daraus allerdings nichtsweiter ableiten.

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3.4 EVALUATION DER AUFTAKTVERANSTALTUNG

Die Auftaktveranstaltung des Bürgerdelphis Keim-bahntherapie stellte ein zentrales und kritischesElement des Beteiligungsprozesses dar. Sieht maneinmal von der abschließenden Veranstaltung ab,war die Auftaktveranstaltung für die Teilnehmen-den die einzige Möglichkeit, in einen direkten undpersönlichen Austausch mit den Prozessdurchfüh-renden und den übrigen Teilnehmenden zu treten.Insgesamt wurden mit der Veranstaltung drei Zieleanvisiert, deren Erreichung entscheidend für dasGelingen des gesamten Beteiligungsprozesses war.

1. Prozessvorstellung: Die Abläufe und Zieledes Bürgerdelphis sollten motiviert und ver-ständlich dargestellt werden, damit den Teil-nehmenden ihre Rolle im Prozess klar wird,die an sie gerichteten Anforderungen ver-standen werden und realistische Erwartungenüber die prozessinternen und prozessexternenZiele ausgebildet werden.

2. Thematische Einführung: Ein Überblick überdas Thema Keimbahneingriffe sollte eine ers-te Sensibilität der moralischen Relevanz schaf-fen und die Teilnehmenden in die Lage ver-setzen, die Themen der einzelnen Themen-runden selbstbestimmt zu setzen.

3. Themenfindung: Zentrales Ziel der Auftakt-veranstaltung war die Auswahl von Themenfür die einzelnen Themenrunden der Diskus-sionsphase durch die Teilnehmenden.

Die Auftaktveranstaltung wurde als eintägiger Work-shop geplant und entlang der Ziele in drei Arbeits-phasen eingeteilt. Selbst dieser Zeitrahmen ist fürdie Erreichung dieser Ziele knapp bemessen, sodass eine zentrale Herausforderung darin bestand,die Veranstaltung zeiteffizient zu gestalten. Insbe-sondere musste genau abgewogen werden, wel-che Gestaltungselemente wirklich notwendig wa-ren, um diese Ziele zu erreichen. So sollte die Auf-taktveranstaltung den in der Diskussionsphase statt-findenden Meinungsaustausch und die Meinungs-bildung ermöglichen und vorbereiten, ohne einensolchen schon ausgiebig integrieren zu müssen. Na-heliegend war es daher, einem Meinungsaustauschzum Thema Keimbahneingriffe keinen großen Raum

zu geben. Diese Priorisierung sollte sicherstellen,dass der im Anschluss stattfindende Meinungsaus-tausch möglichst informiert und fokussiert stattfin-den kann. Um die Ziele der Auftaktveranstaltungzu erreichen, wurden die Kommunikations- undEntscheidungsprozesse während der Veranstaltungdurchweg moderiert und stark strukturiert.

Die Begleitforschung untersuchte, ob die beschrie-benen Ziele erreicht wurden und die angedeutetenHerausforderungen durch die Wahl der Gestaltungs-merkmale bewältigt werden konnten. Insbesonderestellte sich die Frage, ob die starke Strukturierungder Kommunikationsprozesse zu Akzeptanzproble-men bei den Teilnehmenden führt. Dafür wurdedie Veranstaltung mit einer teilnehmenden Beob-achtung begleitet. Ein standardisierter Fragebogenerhob die relevanten Eindrücke und Meinungen derTeilnehmenden und eine schriftliche Befragung er-hob die Perspektive der Moderation mit Hilfe offe-ner Fragen.

“ Unerwartet war eher, dass wir am Kon-zept so stark festhalten konnten. Norma-lerweise passieren viel mehr unerwarteteDinge – und man muss den Plan danntotal umschmeißen. ”

Ralf Grötker, Leitung & Mode-ration (in Beantwortung der schriftlichenBefragung der Moderator*innen)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dassdie Auftaktveranstaltung von den Teilnehmendenals überwiegend gelungen bewertet wurde und dieanvisierten Ziele erreicht wurden. Im Anschluss derVeranstaltung sprachen 21 der 22 Befragten demProjekt ihre volle Unterstützung zu.

Die Herausforderungen und zu treffenden Abwä-gungen einer zeiteffizienten Strukturierung fass-te ein/e Teilnehmende/r treffend zusammen: “DieVeranstaltung als Blockseminar ist einerseits gut(= komprimiert), andererseits zu wenig (= mehrAustausch wäre schön) bzw. zu viel (= zu langeZeit am Stück) → ich habe keine Idee, wie man

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Mittelwert: 1.5±0.6Anzahl: 22

2

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1 Trifft völlig zu

2 Trifft

weitgehend zu

3 Neutral

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weitgehend nicht zu

5 Trifft überhaupt

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ABBILDUNG 3.1Das Projekt hat meine volle Unterstützung.

das lösen könnte ...” Auch wenn vereinzelt “mehrRaum für Diskussion” gewünscht worden ist, wur-de die starke Strukturierung der Kommunikationangenommen. Zusammengenommen deuten die Be-antwortung der Evaluationsfragen und die gesam-melten Eindrücke der teilnehmenden Beobachtungdarauf hin, dass die Teilnehmenden nicht den Ein-druck hatten, durch die Moderation zu stark in ihrenAusdrucksmöglichkeiten eingeschränkt zu werden.Nur eine/r der Teilnehmenden befand, ihr oder ihmwichtige Beiträge nicht einbringen zu können. Inder Mehrheit hatten die Teilnehmenden den Ein-druck, dass die Moderation die Kommunikation gutanleitete (20 von 23 Befragten) und einen produkti-ven Gedankenaustausch zwischen den Teilnehmen-den unterstützte (17 von 23 Befragten).

Mittelwert: 2.0±0.8Anzahl: 23

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1 Trifft völlig zu

2 Trifft

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3 Neutral

4 Trifft

weitgehend nicht zu

5 Trifft überhaupt

nicht zu

ABBILDUNG 3.2Ich konnte die Beiträge in die Dialoge einbringen, die mir wich-

tig waren.

Es lässt sich vermuten, dass vor allem das adäquateErwartungsmanagement entscheidend für den Er-folg der Veranstaltung war. Nur wenn den Teilneh-menden klar und verständlich kommuniziert wird,auf welche Ergebnisse im Rahmen der Veranstal-tung hingearbeitet werden soll, welche Rolle sie indiesem Prozess spielen und sie den Eindruck ge-

Mittelwert: 1.7±0.6Anzahl: 23

2

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1 Trifft völlig zu

2 Trifft

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3 Neutral

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5 Trifft überhaupt

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ABBILDUNG 3.3Die Ziele der Veranstaltung waren mir klar.

winnen, dass die Veranstaltung einen diesen Zielenzuträglichen und nachvollziehbaren Aufbau besitzt,werden sie eine stark moderierte und strukturierteKommunikation akzeptieren. Das schließt natürlichnicht aus, dass eine Veranstaltung aufgrund andererGründe scheitern kann. Die Befragung zeigte, dassdiese notwendigen Bedingungen zum Gelingen derVeranstaltung erfüllt worden sind: Die Ziele derVeranstaltung waren der überwiegenden Mehrheitklar, ebenso wie die in den einzelnen Arbeitsphasengestellten Aufgaben (21 von 23 Befragten). 20 derBefragten empfanden die Veranstaltung als hinrei-chend gut durchstrukturiert.

Mittelwert: 1.7±0.7Anzahl: 23

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1 Trifft völlig zu

2 Trifft

weitgehend zu

3 Neutral

4 Trifft

weitgehend nicht zu

5 Trifft überhaupt

nicht zu

ABBILDUNG 3.4Die Veranstaltung war gut durchstrukturiert.

Der Erfolg einer solchen Veranstaltung hängt je-doch von vielen Faktoren ab und kann auch durchkleinere Fehler in der Moderation gefährdet wer-den. Die nun folgende Auswertung der einzelnenArbeitsphasen deutet darauf hin, dass die Akzep-tanz von Teilnehmenden anfällig für Störungen istund sehr leicht kippen kann. Teilnehmende reagie-ren sehr feinfühlig, sobald die Moderation von denselbst gesetzten Regeln abweicht. Das kann vor al-lem dann passieren, wenn sich Situationen in uner-

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

wartete oder unerwünschte Richtungen entwickelnund die Moderation sich gezwungen sieht, stärkereinzugreifen oder aus selbst gesetzten Grenzen aus-zubrechen.

3.4.1 DIE PROZESSVORSTELLUNG

Am Vormittag wurden in einer ersten zweistündi-gen Arbeitsphase die Struktur und die Arbeitsabläu-fe des Bürgerdelphis vorgestellt. Den Teilnehmen-den wurden zwar im Rahmen der Teilnehmerak-quise der ungefähr auf sie zukommende Aufwandund der grobe Ablauf des Prozesses erläutert, aberdie genauen Details der Ausgestaltung waren ih-nen vor Beginn der Veranstaltung nicht bekannt.Den Teilnehmenden mussten damit auf der Veran-staltung ihre Rollen und Gestaltungsmöglichkeitenim Beteiligungsprozess transparent und nachvoll-ziehbar erläutert werden. Ebenso wichtig war es,den Teilnehmenden die Ziele und Elemente derevaluierenden Begleitforschung vorzustellen, umMissverständnissen bezüglich der Abgrenzung derBegleitforschung vom eigentlichen Beteiligungs-prozess vorzubeugen. Dabei musste vor allem dieRolle der Telefongespräche in Abgrenzung zu denMeinungserhebungen der Begleitforschung erklärtwerden.

Mittelwert: 1.6±0.7Anzahl: 23

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1 Trifft völlig zu

2 Trifft

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3 Neutral

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ABBILDUNG 3.5Während der Veranstaltung wurden bestehende Unklarheitenund offene Fragen zum Ablauf des gesamten Beteiligungspro-

zesses hinreichend ausführlich besprochen.

Bevor die eigentlichen Informationen in Form vonPräsentationen aufbereitet und vorgestellt wurden,sollte eine Aufwärmübung die Atmosphäre auflo-ckern und dafür sorgen, dass sich die Teilnehmen-den untereinander kennenlernen. Dazu wurden siegebeten, sich selbstorganisiert im Raum in Grup-pen zu verteilen. Die einzelnen Gruppen sollten

Mittelwert: 2.6±1.1Anzahl: 23

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1 Trifft völlig zu

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ABBILDUNG 3.6Welche Wirkungen durch den Beteiligungsprozess erreicht

werden können, ist mir klar.

in ihrer Anordnung zueinander und ihrer Zusam-mensetzung der Wohnorte den Stadtteilen Berlinsentsprechen. Dann sollten sich die Teilnehmendenwiederholt in Paaren finden, um sich, und ihre Mo-tivation am Prozess teilzunehmen, kurz vorzustel-len. Nach dieser Auflockerungsphase wurden dieeigentlichen Informationen zum Beteiligungspro-zess in Form von Präsentationen vorgestellt unddurch Rückfragen vertieft und ergänzt. Dieses klas-sische Format war für die Ziele der ersten Arbeits-phase völlig adäquat. Gemäß der Teilnehmendengab das gegebene Informationsmaterial einen gutenÜberblick über den Ablauf des Beteiligungsprozes-ses (16 von 23 Befragten). Darüber hinaus konntenbestehende Unklarheiten und offene Fragen zumAblauf des gesamten Beteiligungsprozesses hinrei-chend ausführlich besprochen werden (20 von 23Befragten). Zum Gelingen eines Beteiligungspro-zesses ist es nicht nur wichtig, die Struktur des Be-teiligungsprozesses möglichst klar darzustellen. Esdürfen darüber hinaus auch keine unrealistischenErwartungen der zu erzielenden Ergebnisse undWirkungen des Prozesses geweckt werden. Wäh-rend der Mehrzahl die intendierte Verwendung derErgebnisse klar war (16 von 23 Befragten), war dasBild bezüglich der möglichen prozessexternen Wir-kungen etwas verteilter. 12 der Befragten war esklar, welche Wirkungen durch den Beteiligungspro-zess erreicht werden können und 5 der Befragtenwar es nicht klar.

3.4.2 DIE THEMENEINFÜHRUNG

In der zweiten Phase der Auftaktveranstaltung soll-te den Teilnehmenden ein hinreichend großer Sach-

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

stand zum Thema Keimbahneingriffe vermittelt wer-den, um sie für die moralischen Aspekte des The-mas zu sensibilisieren und damit die Themenaus-wahl vorzubereiten. Bewusst wurde dafür auf Fa-chexpert*innen für die ethischen und bio-techno-logischen Aspekte als Vortragende verzichtet undstattdessen ein Wissenschaftsjournalist eingeladen,der durch jahrelange Erfahrung und Arbeit im The-mengebiet der Bio-Technologien ein hinreichendgroßes Überblickswissen vorweisen kann. Wissen-schaftsjournalist*innen können im Vergleich zu Fa-chexpert*innen in der Regel Informationen gut kon-textualisieren und adressatengerecht darstellen. Dasheißt, es gelingt ihnen üblicherweise, die benötig-ten Fachinformationen in größere Zusammenhängeeinzuordnen, die benötigte Detailtiefe in Abhängig-keit der Fragen und Fragenden abzuschätzen unddie Informationen entsprechend transparent undverständlich darzustellen. Demgegenüber stand dieBefürchtung, dass Fachexpertise mit einer entspre-chenden Reputation von Teilnehmenden gewünschtund erwartet wird.

Mittelwert: 2.7±1.2Anzahl: 23

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5 Trifft überhaupt

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ABBILDUNG 3.7Ich hätte auf der Veranstaltung gern mehr Input von Ex-pert*innen zu bestimmten wissenschaftlichen Perspektiven

oder Disziplinen gehabt.

Sowohl die Rückmeldungen auf der internen evalu-ierenden Abschlussveranstaltung als auch der Eva-luationsfragebogen geben ein gemischtes Bild, wasdiese Erwartungen betrifft. So haben sich zwar vie-le äußerst positiv über die thematische Einführungdurch den Wissenschaftsjournalisten geäußert, abervereinzelt wurde ebenso ein größerer Einbezug vonFachexpertise gewünscht. 10 von 23 Befragten hät-ten sich auf der Veranstaltung mehr Input von Ex-pert*innen zu bestimmten wissenschaftlichen Per-spektiven oder Disziplinen gewünscht, 7 stimmtendem nicht zu.

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5 Trifft überhaupt

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ABBILDUNG 3.8Die gegebenen Informationen gaben einen guten Überblick

über das Thema.

Demgegenüber steht jedoch eine weitgehende Zu-friedenheit der Teilnehmenden mit dem gegebenenthematischen Überblick. So wurden für die Mehr-heit der Beteiligten die wichtigen inhaltlichen Fra-gen geklärt (16 von 23 Befragten) und die darge-stellten Sachinformationen klar und verständlichkommuniziert (19 von 23 Befragten). Insgesamtfühlten sich die meisten der Beteiligten hinreichendgut informiert (19 von 23 Befragten). Nur ein/e Teil-nehmende/r hatte den Eindruck, dass der Wissen-schaftsjournalist die Diskussion zu stark beeinfluss-te. Somit kann nicht abschließend geklärt werden,ob den Erwartungen nach mehr Fachexpertise wirk-lich ein Defizit der Veranstaltung zugrunde liegt,das für eine Anpassung des Konzepts berücksichtigtwerden sollte.

Mittelwert: 2.0±0.8Anzahl: 23

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1 Trifft völlig zu

2 Trifft

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4 Trifft

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5 Trifft überhaupt

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ABBILDUNG 3.9Sachinformationen zum Thema wurden in der Veranstaltung

klar und verständlich kommuniziert.

Zu beobachten war außerdem, dass die Teilneh-menden sehr interessiert am Austausch mit demWissenschaftsjournalisten waren und es ihnen nichtschwerfiel, mit ihm in einen engeren inhaltlichenAustausch zu treten. In der anschließenden Pausehatte sich eine Guppe von ungefähr 15 Teilneh-

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

menden um ihn gebildet, um in diesem informellenRahmen weitere inhaltliche Fragen zu stellen undMeinungen auszutauschen. Es schien also keinekommunikative Grenze zwischen Teilnehmendenund Experten zu bestehen, die in deliberativen Pro-zessen von Nachteil sein kann.

Für diese zweite Arbeitsphase wurden zwei Stun-den veranschlagt, die in drei unterschiedliche Unter-abschnitte unterteilt wurden. Ein erstes einführen-des Briefing sollte den Teilnehmenden Initialinfor-mationen zu Keimbahntherapien geben. Rückfra-gen durch die Teilnehmenden waren in dieser Pha-se nicht vorgesehen. Diese sollten in einer zweitenPhase erst gesammelt und priorisiert werden, bevorsie in der dritten Phase dem Wissenschaftsjourna-listen zur Beantwortung gestellt wurden. Das sollteeinen fairen und breiten Einbezug aller Teilnehmen-den sicherstellen. Dazu wurden die Teilnehmendenin drei moderierten Kleingruppen eingeteilt. DieModeration der Kleingruppen wurde aufgrund be-grenzter personaler Ressourcen in zwei Gruppendurch die Prozessdurchführenden (Ralf Grötker undKarola Klatt) und in einer Gruppe sogar durch einePerson aus dem Kreis der evaluierenden Begleit-forschung (Sebastian Cacean) durchgeführt. DieMöglichkeit einer manipulativen Beeinflussung aufdie Beteiligten und einer verzerrten Evaluation imRahmen der Begleitforschung kann dadurch nichtmehr völlig ausgeschlossen werden. Die Auswer-tung der Antworten auf entsprechende Fragen desEvaluationsfragebogens deuten darauf allerdingsnicht hin (siehe unten).

In den Kleingruppen sollten die TeilnehmendenFragen identifizieren und priorisieren. Zur Priorisie-rung wurde jedem/r der Teilnehmenden ein festesKontingent an Klebepunkten gegeben, die auf dieformulierten Fragen verteilt werden konnten. DieSumme der für jede Frage vergebenen Punkte ergabdann die Priorisierung der Fragen.

Die Arbeit in den Kleingruppen fand in moderierterForm statt, um zu gewährleisten, dass die Fragenmöglichst relevant im folgenden Sinne sind. Diespäter noch aufzustellenden Themen sollten vor al-lem normative Fragen aufwerfen – seien es soziale,moralische, ethische, politische oder juristische –zu den individuellen und gesamtgesellschaftlichenAspekten von Keimbahneingriffen. Eine Heraus-forderung der Fragenfindungsrunde bestand darin,

ABBILDUNG 3.10Flipchart mit über Klebepunkte priorisierten Fragen (Foto:

Theresa Jentsch).

diese normativen Fragen nicht vorwegzunehmen.Für die Befragung des Experten sind damit nurFragen relevant, die Sachfragen oder Verständnis-fragen darstellen, die sich direkt oder indirekt aufden Themenbereich Keimbahneingriffe beziehen.Relevant sind in diesem Sinne vor allem deskriptiveFragen, die sich allerdings auch auf normative oderintentionale Dinge beziehen können. So sind bei-spielsweise Fragen nach Interessen oder Wertvor-stellungen von Stakeholdern genauso relevant wieFragen, die biologische und medizinische Aspektevon Keimbahneingriffen betreffen. Als irrelevantzählten dagegen Fragen, die sich nicht auf den The-menbereich Keimbahneingriffe bezogen oder pri-mär nach normativen Stellungnahmen des Adres-saten zu Keimbahneingriffen fragten. So sind zumBeispiel Sach- und Verständnisfragen zum Betei-ligungsprozess irrelevant. Ebenso unpassend wärees zu fragen, ob der Experte der Meinung ist, dassKeimbahntherapien moralisch unzulässig sind.

Dass es dafür sinnvoll sein kann, Rückfragen aneinen Experten derart stark moderierend zu struktu-rieren, zeigt der folgende Eindruck:

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

“ Zum Anfang war anscheinend doch nichtganz klar, worum es in der Fragenfin-dungsrunde ging (obwohl ich das einlei-tend nochmal gesagt habe und RG [RalfGrötker] das vor Beginn der Kleingrup-penrunde ganz explizit gesagt hat). Aberselbst als das geklärt worden ist, drif-tete die Runde sehr schnell ab und hatFragen aufgeworfen, die viel eher in dieThemenfindung-Kleingruppen-Runde ge-hörten. (Also Fragen, die auf normativeAspekte abzielten und weniger auf inhalt-liche/fachliche Fragen an einen Experten,der einen informieren soll.) ”Moderator/in einer Kleingruppe (in Be-

antwortung der schriftlichen Befragungder Moderator*innen)

Eine Auswertung zeigte, dass das Ziel, möglichst indiesem Sinne relevante Fragen zu formulieren, ge-lungen ist. Dafür wurden die obigen Erläuterungenhinreichend präzisiert und die auf Flipcharts fest-gehaltenen Fragen entsprechend als relevant bezie-hungsweise irrelevant codiert. Von den insgesamt29 formulierten Fragen waren 28 relevant und eineirrelevant.

3.4.3 DIE THEMENFINDUNG

In der letzten Teilphase der inhaltlichen Vorberei-tung zur Themenfindung wurden die gesammeltenFragen dem anwesenden Wissenschaftsjournalistendurch jeweils einer Repräsentantin beziehungswei-se einen Repräsentanten aus jeder Gruppe gestellt.Die Herausforderung der Moderation bestand darin,den Prozess so zu gestalten, dass er nicht doch ineine offene Frage-und-Antwort-Runde ausufert. Da-für wurden weitere Rückfragen zu den gemachtenErläuterungen des Journalisten zugelassen, sofernsie von der Person gestellt worden sind, die die Fra-gen vorgestellt hat, jedoch keine Fragen aus demPublikum. Erst als alle identifizierten Fragen ab-gearbeitet worden sind, öffnete der Moderator dieFragenrunde für die übrig gebliebene Zeit.

Die abschließende entscheidende Phase der The-menfindung wurde wiederum in zwei Runden ein-

geteilt. In einer ersten Runde sollten die Teilneh-menden in drei moderierten Kleingruppen frei The-men auf Flipcharts sammeln und wie in der vorhe-rigen Runde über Klebepunkte priorisieren. In deranschließenden Zusammenführung im Plenum soll-ten thematische Überschneidungen identifiziert unddie drei Hauptthemen für die Themenrunden derDiskussionsphase per Mehrheitsprinzip ausgesuchtwerden. Diese für den gesamten Beteiligungspro-zess entscheidende Phase erforderte eine anspruchs-volle Moderation und illustrierte an einer Stelle,wie sensibel Teilnehmende in moderierten Prozes-sen reagieren können, wenn die Moderation keinetransparenten Erwartungen formuliert oder selbstgesetzte Regeln verletzt.

Mittelwert: 1.9±0.8Anzahl: 23

2

4

6

8

10

12

1 Trifft völlig zu

2 Trifft

weitgehend zu

3 Neutral

4 Trifft

weitgehend nicht zu

5 Trifft überhaupt

nicht zu

ABBILDUNG 3.11Die Ergebnisse der Veranstaltung konnten sich frei von Erwar-

tungsdruck entwickeln.

Nach einer kurzen Vorstellung der in den Klein-gruppen formulierten Themenvorschläge fragte derModerator offen, wie man die Vorschläge zusam-menführen könne. Auf einem neuen Flipchart refor-mulierte er dann die im Plenum diskutierten The-menvorschläge und ergänzte diese durch eigene In-terpretationsvorschläge. Einige der Teilnehmendenwirkten sichtlich irritiert und unsicher hinsichtlichder an sie gerichteten Anforderungen und äußer-ten explizit ihren Unmut: “Ich verstehe jetzt nicht,warum wir jetzt neue Fragen formulieren.” oderauch: “Wir zerfasern gerade.” Der Moderator pass-te daraufhin seine Strategie an. Anstatt vorhandeneFormulierungen zu reformulieren, sollten nun nahbeieinanderliegende Formulierungen identifiziertwerden, um zu entscheiden, welche Formulierungs-varianten als redundant ausgesiebt werden können.Dieses Vorgehen wurde von den Teilnehmendenakzeptiert und führte zu drei übrig gebliebenen The-menvorschlägen, so dass sich eine weitere Abstim-mung erübrigte.

27

Page 32: Forschungsbericht: Bürgerdelphi Keimbahntherapie · 2020. 6. 24. · Empfohlene Zitierweise: Cacean, Sebastian: Forschungsbericht Bürgerdelphi Keimbahntherapie. Hrsg . von Annette

DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Insgesamt führte diese kritische Situation zu kei-nem relevanten Legitimationsverlust der Prozesser-gebnisse. Die Mehrzahl der Befragten (16 von 23)hatte den Eindruck, dass sich die Ergebnisse derVeranstaltung frei von Erwartungsdruck entwickelnkonnten.

Die folgenden vereinbarten Themen stellten dasErgebnis der Veranstaltung dar und bildeten dieGrundlage für die einzelnen Themenrunden der Dis-kussionsphase:

1. Sollte/dürfte die Keimbahntherapie (KBT)eingesetzt werden, obwohl man die Folgennicht kennt? (Unbekannte Risiken, unbekann-te Chancen, mögliche Existenz besserer Al-ternativen, Problematik der Unterlassung vonKBT)

2. Kann ein Missbrauch der Keimbahntherapieeffektiv verhindert werden? (Designerbaby,Dammbruch, Optimierung)

3. Lässt sich die Keimbahntherapie wirklich re-gulieren? Und wenn ja, von wem? (Länder,Institutionen, Worst-Case-Szenarien)

ABBILDUNG 3.12Vereinbarte Themen für die Themenrunden der Diskussions-

phase (Foto: Theresa Jentsch).

28

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3.5 EVALUATION DES GESAMTEN BETEILIGUNGSPROZESSES ANHANDDER KRITERIEN EFFEKTIVITÄT, EFFIZIENZ, FAIRNESS,TRANSPARENZ, LEGITIMITÄT

Die Beteiligten bewerteten den Beteiligungsprozessinsgesamt als positiv. Die Mehrheit der Befragtensind mit dem Projektverlauf insgesamt zufrieden(18 von 21) und würden an einem solchen Prozessnochmal teilnehmen (17 von 21). 16 der 21 Befrag-ten denken, dass Bürgerdelphis in Zukunft häufigerdurchgeführt werden sollten und 17 sichern demdurchgeführten Projekt ihre volle Unterstützung zu.

Mittelwert: 1.8±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.13Das Projekt hat meine volle Unterstützung.

Mittelwert: 2.2±0.6

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.14Das Projekt hat seine Ziele erreicht.

3.5.1 EFFEKTIVITÄT

Zentral für die Bewertung von Beteiligungsverfah-ren ist die Frage, ob die prozessinternen und pro-zessexternen Ziele erreicht werden. Fundierte empi-rische Untersuchungen gibt es für Beteiligungsver-fahren nur in begrenzter Form (vgl. Goldschmidt2014, S. 277), was unter anderem daran liegt, dassdie intendierten Ziele in der Regel mehrschichtig

sind und die fundierte Untersuchung prozessexter-ner Wirkungen häufig vor praktischen Herausforde-rungen steht. So ist die Verbreitung der gewonnenenErgebnisse nur langfristig und aufwendig feststell-bar und der substanzielle Einfluss auf Entscheidun-gen schwer von weiteren Einflüssen trennbar.

Mittelwert: 2.1±0.7

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.15Der erarbeitete Abschlussbericht ist relevant.

Sieht man einmal von den prozessinternen Wirkun-gen – vor allem die Wissens- und Kompetenzzu-wächse, die gesondert betrachtet werden – auf dieBeteiligten ab, kann die Qualität des Prozessergeb-nisses abgeschätzt werden. Auch wenn von Betei-ligungsverfahren sicherlich keine finalen Lösungs-vorschläge erwartet werden, sollen die Prozesser-gebnisse zumindest irgendeine Art von Mehrwertproduzieren. Zur Auswertung kann man also versu-chen, die Aussagekraft, Innovationskraft und Rele-vanz der Ergebnisse zu bewerten (vgl. Goldschmidt2014, S. 281).

Mittelwert: 2.3±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.16Der erarbeitete Abschlussbericht ist innovativ.

29

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Im Bürgerdelphi Keimbahntherapie wurde die Qua-lität des Ergebnisberichts nicht durch Gutachtenbewertet, aber zumindest die subjektiven Einschät-zungen der Teilnehmenden dazu erhoben. 14 der 21Befragten sind der Meinung, dass das Projekt seineZiele erreicht hat und der gewonnene Ergebnisbe-richt relevant ist. 10 Befragte halten den Berichtsogar für innovativ. Die überwiegende Mehrzahlder Teilnehmenden ist mit den gewonnenen Ergeb-nissen insgesamt zufrieden (15 von 21 Befragten).

Mittelwert: 2.1±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.17Ich bin mit den Projektergebnissen insgesamt zufrieden.

3.5.2 EFFIZIENZ

Über das Kriterium der Effizienz sollen die in ei-nem Verfahren eingesetzten zeitlichen und finan-ziellen Ressourcen bewertet werden in Abwägungzu den Zielen des Verfahrens und möglicher Al-ternativen, diese Ziele zu erreichen. Eine fundier-te Abschätzung der Effizienz des durchgeführtenBürgerdelphis im Vergleich zu alternativen Beteili-gungsformaten ist aufgrund fehlender Vergleichs-fälle ebenso wenig möglich wie eine Bewertungin Relation zur Relevanz der prozessexternen Zie-le. Im Rahmen der Evaluation wurden lediglichsubjektive Einschätzungen der Teilnehmenden zurEffizienz erhoben.

Unterschieden werden können zwei Dimensionen:die der Prozessbewertung und die der Kosteneffi-zienz (vgl. Goldschmidt 2014, S. 245). Bei Fra-gen der Prozessbewertung wird untersucht, ob dasVerfahren in seinen Abläufen relativ zu den Ziel-setzungen optimiert werden kann. So kann mansich beispielsweise fragen, ob der Prozessablaufbesser strukturiert werden kann. 16 der Befragtenbewerteten den Ablauf des Bürgerdelphis als gutstrukturiert.

Mittelwert: 2.0±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.18Der Ablauf des Beteiligungsprozesses war gut durchstruktu-

riert.

Ein Prozess kann natürlich nur dann weiter opti-miert werden, wenn dadurch nicht die Zielerrei-chung gefährdet wird. Im Bürgerdelphi muss si-chergestellt werden, dass genug Raum und Zeit zurMeinungsbildung zur Verfügung stehen. Hier gaben16 der 21 Befragten an, genug Zeit für die thema-tische Erschließung des Themas und die eigeneMeinungsbildung gehabt zu haben.

Mittelwert: 2.2±0.9Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.19In den einzelnen Themenrunden gab es ausreichend Zeit, umdas Thema zu erschließen und um sich eine eigene Meinung

zu bilden.

Die Effizienzbewertung ist darüber hinaus an dieBewertung der Relevanz der intendierten Ziele ge-knüpft. Wie hoch der vertretbare zeitliche Aufwandist, hängt maßgeblich von der Wichtigkeit der Zieleab (vgl. Goldschmidt 2014, S. 243). Die Mehrheitder Befragten sahen den individuell erbrachten Auf-wand als wertvoll im Verhältnis der erarbeitetenErgebnisse an (15 von 21 Befragten).

Neben dieser Abwägung des Aufwandes zu denZielen ist auch die Abwägung zu alternativen Maß-nahmen zu beachten. Gibt es effizientere Alterna-tiven einer Maßnahme, so sind diese zu wählen,wenn keine anderen Gründe gegen sie sprechen. 12

30

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Mittelwert: 2.0±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.20Die Ergebnisse sind im Verhältnis zu meinem eigenen Aufwand

(Zeit, Mühe) wertvoll.

von 21 Befragten attestierten dem Prozess Vorteilegegenüber anderen Formen der Entscheidungsfin-dung. Fundierte Schlussfolgerungen können ausdiesen subjektiven Einschätzungen allerdings nichtabgeleitet werden, da davon auszugehen ist, dassden Teilnehmenden ein systematisches Vergleichs-wissen über andere Beteiligungsformate fehlte.

Mittelwert: 2.3±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.21Das Verfahren besitzt gegenüber anderen Formen von Ent-

scheidungsprozessen klare Vorteile.

Mit der Kosteneffizienz oder Wirtschaftlichkeit wer-den vor allem die finanziellen Kosten in ein Verhält-nis zum Nutzen gebracht. Dabei sollten genügendRessourcen eingesetzt werden, ohne diese jedochzu verschwenden. Die Mehrzahl der Befragten hatteden Eindruck eines in dieser Hinsicht angemesse-nen Einsatzes finanzieller Ressourcen. Auch diessind rein subjektive Einschätzungen, da den Teil-nehmenden keine Informationen über die tatsächli-chen finanziellen Kosten vorlagen.

Mittelwert: 2.1±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.22Bei der Durchführung des Beteiligungsprozesses wurden aus-reichende finanzielle Mittel und Kapazitäten eingesetzt (keine

Sparfassung).

Mittelwert: 4.1±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.23Bei der Durchführung des Beteiligungsprozesses wurden Res-

sourcen (Geld, Zeit) vergeudet.

3.5.3 FAIRNESS

Deliberative Beteiligungsverfahren zeichnen sichdadurch aus, dass sich alle Teilnehmenden in gleich-berechtigter Weise einbringen können. Das davonabgeleitete Kriterium der Fairness verlangt, dassTeilnehmende die gleichen Möglichkeiten haben,ihre inhaltlichen Ansichten und Meinungen einzu-bringen und es ebenso keine Unterschiede zwischenden Teilnehmenden bei Möglichkeiten der Mitge-staltung des Prozessablaufs gibt. Ein Beteiligungs-prozess muss also so gestaltet werden, dass es kei-ne Bevorzugung Einzelner gibt (vgl. Goldschmidt2014, S. 184). Fairness wird von Teilnehmendenals wichtig befunden und kann bei Nichterfüllungzu Irritationen führen, die die Effektivität und Ef-fizienz eines Verfahrens erheblich gefährden (vgl.Goldschmidt 2014, S. 183).

Im Bürgerdelphi Keimbahntherapie konnten derMehrheitsmeinung nach die Teilnehmenden die ih-nen wichtigen Beiträge einbringen (16 von 21 Be-

31

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Mittelwert: 2.1±1.0

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.24Die Möglichkeiten, die eigene Meinung einzubringen, waren für

die Teilnehmenden meiner Gruppe gleich

fragten) und es hatten nach eigener Einschätzungauch alle die gleichen Möglichkeiten, ihre Meinun-gen einzubringen (12 von 21 Befragten). Auch derrespektvolle Umgang aller Beteiligten untereinan-der, der eine wichtige Voraussetzung für Fairnessdarstellt, wurde von den Befragten in der Mehrheitbestätigt (20 von 21 Befragten).

Mittelwert: 2.1±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.25Ich konnte die Beiträge einbringen, die mir wichtig waren.

Mittelwert: 1.9±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.26Die Ziele des Projekts waren mir klar.

3.5.4 TRANSPARENZ

Für das Gelingen eines Beteiligungsverfahrens istes wichtig, dass die Teilnehmenden hinreichend in-formiert sind über die Ziele des Verfahrens und wiedie Ergebnisse in politische Entscheidungsprozesseeingehen. Nur so entwickeln Teilnehmende einerealistische Erwartungshaltung, was ihnen wieder-um hilft, die Legitimität des Verfahrens angemes-sen zu beurteilen (vgl. Goldschmidt 2014, S. 239).Ebenso relevant ist die Klarheit über die Struktur,die Vorgehensweisen und die Regeln des Prozesses(vgl. Goldschmidt 2014, S. 239). Das Kriterium derTransparenz verlangt, dass diese Informationen denTeilnehmenden in klarer und verständlicher Weisekommuniziert werden. Dabei müssen die Informa-tionen in zielgruppengerechter Weise und zu pas-senden Zeitpunkten verfügbar gemacht werden. UmÜberschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit sicher-zustellen müssen dafür relevante von irrelevantenInformationen gefiltert werden und Informationenauf einer angemessenen Aggregationsstufe darge-stellt werden (vgl. Goldschmidt 2014, S. 237).

Mittelwert: 2.2±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.27Wie die Ergebnisse später verwendet und welche Wirkungen

erreicht werden können, ist mir klar.

Im Bürgerdelphi Keimbahntherapie waren sowohldie Ziele des Projekts (16 von 21 Befragten) alsauch die weitere Einbindung der Projektergebnisse(14 von 21 Befragten) der Mehrzahl der Teilneh-menden klar. Auch der Ablauf und die Rolle derBeteiligten war für die Mehrzahl der Beteiligtennachvollziehbar (16 von 21 Befragten). Auf demAuswertungstreffen wurde insbesondere die rück-sichtsvolle und gute Terminabsprache der Telefon-gespräche hervorgehoben.

Ein Verbesserungspotential besteht jedoch im Auf-bau der Webseite. Hier wünschen sich 7 der 21

32

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Mittelwert: 2.0±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.28Der Ablauf des Projekts und die Rolle aller Beteiligten waren

mir klar.

Befragten Verbesserungen. Auch beim abschlie-ßenden Auswertungstreffen äußerten Teilnehmendeden Wunsch nach einer “einfacher zu handhaben-de[n] Webseite” und machten konstruktive Verbes-serungsvorschläge: Neben einer Vereinfachung desAufbaus, sollte die Webseite für mobile Endgerä-te angepasst werden und der passwortgeschützteZugang vereinfacht werden. Darüber hinaus wurdekritisiert, dass der Meinungsaustausch über das Dis-kussionsforum zu stark zeitverzögert war, was ver-bessert werden könne, indem Beiträge über Push-Funktionen an die anderen Mitglieder verschicktwerden.

Mittelwert: 2.7±1.5

Anzahl: 20

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.29Der Aufbau der Webseite war mir klar und das dort zur Verfü-gung gestellte Material (Stellungnahmen, Recherchebeiträge

etc.) war unkompliziert zu finden und leicht zugänglich.

3.5.5 LEGITIMITÄT

Ein Beteiligungsverfahren erfüllt das Kriterium derLegitimität, wenn es in Bezug auf unterschiedli-che Aspekte nicht als ungültig erklärt werden muss.Legitimität ist vielschichtig und steht in enger Be-ziehung zu anderen Kriterien ohne mit ihnen zu-

sammenzufallen. Insofern ein Verfahren aus unter-schiedlichen Gründen für ungültig erklärt werdenkann, kann das Kriterium der Legitimität als ein zu-sammenfassendes Beurteilungskriterium aufgefasstwerden. Entscheidend für das Gelingen eines Betei-ligungsprozesses ist es vor allem, dass die Teilneh-menden den Prozess als legitim beurteilen, weshalbTransparenz und das Vertrauen in die Organisato-ren eine so wichtige Rolle spielt (vgl. Goldschmidt2014, S. 219). Neben den schon genannten Aspek-ten der Fairness und Transparenz spielen weitereAspekte eine entscheidende Rolle für die Legitimi-tät von Beteiligungsprozessen (zusammenfassendin Goldschmidt 2014, S. 228–230).

Mittelwert: 2.3±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.30Wir Teilnehmenden hatten ausreichende Möglichkeiten, dieThemensetzung und inhaltliche Schwerpunkte der Diskussion

mitzubestimmen.

Mittelwert: 2.6±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.31Wir Teilnehmenden hatten ausreichende Möglichkeiten, denVerlauf des Projekts und der Diskussionen mitzubestimmen.

So müssen den Teilnehmenden ausreichend vieleMöglichkeiten gegeben werden, die inhaltliche Aus-richtung und die Verfahrensabläufe mitzubestim-men (vgl. National Research Council 2008, S. 231).Die Mehrzahl der Befragten befand, ausreichendMöglichkeiten bei der Themensetzung und inhalt-lichen Mitgestaltung gehabt zu haben (13 von 21Befragten). Die Möglichkeiten zur Mitbestimmung

33

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

der Verfahrensabläufe waren durch die stark vorge-gebene Struktur des Beteiligungsprozesses etwaseingeschränkt. Hier wünschen sich einige der Be-fragten (3 von 21 Befragten) mehr Möglichkeitender Mitgestaltung.

Mittelwert: 3.8±0.8

Anzahl: 12

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.32In den Telefongesprächen wurde meine Meinung zu stark be-

einflusst.

Mittelwert: 3.9±0.6

Anzahl: 9

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.33In der Forumsdiskussion wurde meine Meinung zu stark beein-

flusst.

Mindestens ebenso wichtig ist die Unabhängigkeitder Teilnehmenden in ihren Entscheidungen undVerständigungsprozessen von externen Einflüssenund Interessen (vgl. Goldschmidt 2014, S. 229).Hier bestätigte die überwiegende Mehrheit der Be-fragten ihre Unabhängigkeit in der Meinungsent-wicklung (15 von 21 Befragten). Neben dem Ein-fluss prozessexterner Faktoren darf es ebenso wenigeinen Einfluss durch Prozessdurchführende oderModerator*innen geben. Den Teilnehmenden indieser Hinsicht ihre Souveränität in der Meinungs-bildung zu ermöglichen, ist für ein Bürgerdelphieine nicht zu unterschätzende Herausforderung, dadie inhaltliche Kommunikation zwischen Teilneh-menden vermittelt über die Prozessdurchführendenstattfindet. So muss in der Moderation des Online-Forums, bei der Formulierung der Diskussionsin-

puts und während der Telefongespräche sicherge-stellt werden, dass nicht der Eindruck entsteht, dassbestimmte Meinungen vorgegeben werden. Durchdie Verwendung von ausgeglichenen Pro-Kontra-Stellungnahmen ist das für den Diskussionsinputgelungen: Nur 2 der 21 Befragten empfanden dieStellungnahmen für ihre Meinungsbildung als zubeeinflussend. Auch die Gestaltung der Telefon-gespräche war in dieser Hinsicht erfolgreich. Dieüberwiegende Mehrzahl der Befragten nahm keinezu starke Beeinflussung wahr (9 von 12 Befragten).

Mittelwert: 3.5±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.34Die Debatteur*innen haben mit den Stellungnahmen die Mei-

nungsbildung zu stark beeinflusst.

Ein weiterer Aspekt von Legitimität ist eng mit derEffektivität von Beteiligungsverfahren verknüpft.Den Teilnehmenden muss nicht nur klar sein, wiedie Ergebnisse des Prozesses in politische Entschei-dungen eingehen sollen, sie müssen auch angemes-sene Erwartungen zu den Chancen und Grenzeneiner solchen Wirkentfaltung ausbilden. Dazu mussklar sein, wie mit den Prozessergebnissen umgegan-gen wird und welche Mittel die Prozessdurchfüh-renden ergreifen, um die Ergebnisse zu verbreiten(vgl. Goldschmidt 2014, S. 225).

Im Bürgerdelphi Keimbahntherapie wurde die Ab-schlussveranstaltung benutzt, um den Ergebnisbe-richt einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. DerBericht wurde darüber hinaus deutschlandweit anrelevante Interessengruppen und den Abgeordnetendes Deutschen Bundestags geschickt. Auch wenndamit keine Wirkentfaltung sichergestellt werdenkann und es auch gar keine konkrete Entscheidungs-situation gibt, in der die Ergebnisse des Bürgerdel-phis eingebunden werden könnten, wurden damitzumindest im Rahmen der ProjektmöglichkeitenMittel ergriffen, um den erarbeiteten Ansichten undMeinungen Gehör zu verschaffen.

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Mittelwert: 3.4±0.9

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.35Ich gehe davon aus, dass das Projekt beziehungsweise der Ab-schlussbericht deutliche Wirkungen erzielen wird, zum Beispiel

auf politische Entscheidungen.

Nur 3 der Befragten gingen davon aus, dass derErgebnisbericht deutliche Wirkungen auf politischeEntscheidungen erzielen wird und 10 der Befrag-ten äußerten sich in dieser Hinsicht kritisch. DieseNegativbeurteilung des Wirkpotentials wurde vonden Teilnehmenden allerdings nicht dem Verfahrenselbst angelastet. Die Mehrheit der Befragten (14von 21) empfinden die zu erwartende Einbindungder Ergebnisse in politische Entscheidungsprozesseals akzeptabel.

Mittelwert: 2.1±1.0

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.36Das Mandat des Projekts (die Einbindung des Projekts in po-litische Entscheidungsprozesse und das in Aussicht stehende

Wirkpotential der Ergebnisse) finde ich akzeptabel.

Ein letzter zu nennender Punkt im Zusammenhangmit der Legitimität des Prozesses betrifft die Aus-wahl der Teilnehmenden. So betonen viele Autorendie Wichtigkeit einer angemessenen Zusammenset-zung der Teilnehmenden (vgl. Beierle 2010; Gold-schmidt 2014; Rowe und Frewer 2000). Diese For-derung kann unterschiedlich interpretiert werden:Eine Minimalanforderung an den Rekrutierungs-prozess verlangt, dass die Teilnehmenden von denProzessdurchführenden nicht so ausgewählt wer-

den dürfen, dass eine bestimmte Richtung in denErgebnissen zu erwarten ist. Die Rekrutierung vonTeilnehmenden war aufgrund des zu erwartendenhohen Zeitaufwands für die Teilnehmenden eineHerausforderung. So war es schwierig, überhauptgenug Teilnehmende zu gewinnen. Das einzige Kri-terium der Teilnehmerauswahl war damit deren Ver-fügbarkeit. Wie weiter oben gezeigt, war eine Auf-fälligkeit das hohe Bildungsniveau der Teilnehmen-den, das allein genommen aber keine bestimmteRichtung in den Ergebnissen erwarten ließ.

Neben dieser Minimalanforderung einer angemes-senen Teilnehmerzusammensetzung spielen der Ein-bezug von Betroffenen und die Forderung nach ei-ner hinreichend starken Heterogenität eine beson-dere Rolle. So sollen insbesondere Betroffene oderpotentiell Betroffene mit einbezogen werden; alsoPersonen, die direkt oder indirekt von den Folgender zu treffenden Entscheidung betroffen sind (vgl.Goldschmidt 2014, S. 159). Im Falle des Bürgerdel-phis Keimbahntherapie kann nur sehr eingeschränktvon Betroffenen gesprochen werden, weil es, wiebereits ausgeführt, keine konkrete Entscheidungs-situation gibt. In einem engen Sinne können alsBetroffene Personen gelten, für die Keimbahnein-griffe eine therapeutische Option darstellen würden,um gesunde Nachkommen zu bekommen. In einemweiten Sinne betrifft die Regulierung von Keim-bahnforschung und der Einsatz von Keimbahnthe-rapien die gesamte Gesellschaft und damit jede undjeden.

Einer zentralen Forderung gemäß sollte das Teil-nehmendenfeld möglichst heterogen sein. Das darfim Falle von deliberativen Beteiligungsverfahrenallerdings nicht als repräsentativ im statistischenSinne missverstanden werden. Einer solchen For-derung können deliberative Verfahren nicht gerechtwerden, da die Anzahl der Teilnehmenden bei denmeisten Formaten zu gering ist, um die Bevölke-rung statistisch repräsentativ abzubilden und dieErfolgsraten in der Rekrutierung sehr niedrig sind(vgl. Goldschmidt 2014, S. 160). Unabhängig da-von gilt eine möglichst hohe Heterogenität unterden Teilnehmenden als angemessene Anforderungan den Rekrutierungsprozess (vgl. Goldschmidt2014; Goldschmidt, Scheel und Renn 2012; Na-tional Research Council 2008). Die Teilnehmendensollen also nach Möglichkeit einen unterschiedli-

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

chen gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen undethnischen Hintergrund besitzen. Motiviert wirddiese Forderung durch die angestrebten Ziele derBeteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. SollenBeteiligungsprozesse dazu dienen, möglichst vie-le relevante Argumente, Interessen und Perspekti-ven im Kontext eines gesellschaftlichen Problemsaufzudecken, wird das durch ein heterogenes Feldvon Teilnehmenden eher gelingen, so die Idee (vgl.Goldschmidt 2014, S. 161).

“ Mehr Diversität in der Gruppe der Be-teiligten. Meines Wissens gibt es in denUSA schon länger entsprechende Bürger-beteiligungsprojekte, bei denen dies einewesentliche Rolle spielt. ”

Teilnehmende/r

Im Bürgerdelphi Keimbahntherapie wurde die ge-ringe Heterogenität von den Teilnehmenden selbstan mehreren Stellen thematisiert. Schon auf derAuftaktveranstaltung wurde von Teilnehmendenauf das vergleichsweise hohe Bildungsniveau hin-gewiesen und die damit verbundenen Einschränkun-gen bezüglich verallgemeinernder Resultate in derBegleitforschung. Auch auf dem abschließendenAuswertungstreffen wurde die fehlende Heteroge-nität noch einmal angesprochen. So war allen klar,dass die Beteiligten in keinem Sinne repräsentativfür die Gesamtbevölkerung stehen können. Aller-dings wurde der Einbezug von Personen mit einemanderen sozialen und kulturellen Hintergrund alsVerbesserungspotential identifiziert, um so vor al-lem die Legitimität des Ergebnisberichts zu stärken.

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3.6 EVALUATION DER SPEZIFISCHEN ELEMENTE DESBÜRGERDELPHIS

Von besonderem Interesse waren in der Begleitfor-schung die innovativen Elemente des Bürgerdelphis.Auch wenn Delphi-Formate in unterschiedlichenKontexten Anwendung finden, ist es eine offeneFrage, wie gut die adaptierten Elemente im Kontexteines deliberativen Beteiligungsformats funktionie-ren. Im Bürgerdelphi Keimbahntherapie betrifft dasdie Art und Weise wie einzelne Beiträge der Teil-nehmenden für die anderen Teilnehmenden aufbe-reitet worden sind, die Verwendung der Denkhüteund die Frage, ob die stark vermittelte Deliberationnicht als zu einschränkend empfunden wird.

3.6.1 AGGREGATIONSMODI

Die durch die vermittelte Kommunikation stattge-fundene Aggregation der Ansichten und Meinun-gen der Teilnehmenden fand auf drei unterschied-lichen Ebenen statt. In den einzelnen Themenrun-den mussten die Telefongespräche für die anderenMitglieder der jeweiligen Kleingruppen zusammen-gefasst werden. Neben diesen Tagebucheinträgenwurden die Themenrunden in Form von Pro-Kontra-Abschlussplädoyers zusammengefasst. Zur Erstel-lung des Ergebnisberichts wurden dann die Ergeb-nisse der einzelnen Themenrunden gruppenüber-greifend dargestellt.

Mittelwert: 3.7±0.9

Anzahl: 12

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.37Die Tagebucheinträge gaben meine Meinungen und Ansichten

nur verzerrt wieder. (Telefongruppen)

Die starke Verdichtung der Informationen kann aufmindestens zwei Weisen misslingen und so die Le-gitimität des ganzen Verfahrens gefährden. So musssichergestellt werden, dass keine relevanten Inhalte

Mittelwert: 2.3±0.9

Anzahl: 12

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.38Ich habe auch die Tagebucheinträge anderer Teilnehmender

gelesen. (Telefongruppen)

verloren gehen und dass die verdichtende Darstel-lung die ursprünglich geäußerten Ansichten nichtverzerren.

Für die zusammenfassenden Tagebucheinträge istdas im Bürgerdelphi Keimbahntherapie gelungen.Die Mehrzahl der Teilnehmenden hatte nicht denEindruck, dass ihre Ansichten verzerrt dargestelltwürden (7 von 12 Befragten der Telefongruppen).Der Anspruch, dass keine relevanten Inhalte ver-loren gehen, stellt vor allem deshalb eine Heraus-forderung dar, weil die Zusammenfassungen nachMöglichkeit kurz ausfallen sollen, damit es wahr-scheinlicher wird, dass die anderen Teilnehmendendie Tagebucheinträge auch lesen. 7 von 12 Befrag-ten gaben an, die Tagebucheinträge gelesen zu ha-ben.

Mittelwert: 2.5±0.7

Anzahl: 12

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.39Bei den Zusammenfassungen der Themenrunden und der In-terviews gingen keine relevanten Inhalte verloren. (Telefongrup-

pen)

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Die Mehrzahl der Teilnehmenden in den Telefon-gruppen vermissten keine relevanten Informationenin den Zusammenfassungen der Interviews und derThemenrunden (7 von 12 Befragten). Ein etwasanderes Bild ergibt sich für die Gruppe, die nichtan Telefongesprächen teilnahmen und ihren Mei-nungsaustausch auf das Online-Forum beschränkenmussten. Hier vermissten zwar 4 der 9 Befragtenkeine relevanten Inhalte in den Rundenzusammen-fassungen, aber eine fast ebenso große Zahl von 3Befragten hatte den Eindruck, dass relevante Inhal-te verloren gegangen sind.

Mittelwert: 2.7±1.2

Anzahl: 9

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.40Bei den Zusammenfassungen der Themenrunden gingen kei-

ne relevanten Inhalte verloren. (Digitalgruppe)

Mittelwert: 2.5±1.0

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.41In den erarbeiteten Ergebnissen finde ich meine eigene Mei-

nung voll wieder.

Die Beurteilung des finalen Ergebnisberichts warbezüglich der Aggregationsleistungen neutral bispositiv. 10 der 21 Befragten fanden ihre eigene Mei-nung voll wieder und 14 vermissten keine der erar-beiteten relevanten Ansichten und Meinungen imErgebnisbericht.

Mittelwert: 2.1±0.7

Anzahl: 20

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.42Die von allen Teilnehmenden erarbeiteten wichtigen und rele-vanten Ansichten, Meinungen und Fragestellungen sind im Ab-

schlussbericht enthalten.

3.6.2 DENKHÜTE

Die Verwendung der “Denkhüte” (die Möglichkeitunter einer zu wählenden Rolle zu agieren) soll-te zum einen bestimmten kognitiven Verzerrungenwie zum Beispiel den Bestätigungsfehler entgegen-wirken und zum anderen Personen eine Hilfestel-lung anbieten, die sich schwertun, eine eigene Mei-nung zu entwickeln oder nach außen zu äußern.Mit Hilfe der “Denkhüte” kann man Gründe undArgumente durchdenken, ohne sich selbst auf ei-ne bestimmte Meinung festlegen zu müssen, sodie Idee. Die entsprechenden Rollen anzunehmenwurde während der Telefongespräche in passendenSituationen als Angebot formuliert. Insgesamt wur-de dieses Angebot allerdings kaum angenommenund führte zum Teil eher zu Verwirrung. Ein/e Teil-nehmende/r schreibt dazu: “Verwirrend war dieZuteilung von Hüten. Wenn es um eine Bürgerent-scheidung ging, dann war die Meinungsbildung zu-sammen mit den Hütchen kontraintuitiv. Denn ichkann mir keine eigene Meinung bilden, wenn ichmich unter einen Hut ‘denken’ soll.” Andere Teil-nehmende berichten, dass sie sich mit den “Denk-hüten” “schwer getan” hätten und die “Denkhü-te” “kaum Verwendung gefunden” haben. Im Bür-gerdelphi Keimbahntherapie hat sich die Verwen-dung der “Denkhüte” also nicht bewährt. Damit istallerdings nicht ausgeschlossen, dass in anderenAusgestaltungskontexten eines Bürgerdelphis dieMethode der “Denkhüte” nicht sinnvoll eingesetztwerden könnte. Zu bedenken ist dann allerdingsder entsprechende Aufwand, den Teilnehmendendiese Methode und ihren Zweck zu erläutern, undder zu erwartende Nutzen. Kognitive Verzerrungen

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

wie der Bestätigungsfehler machen es wahrscheinli-cher, dass sich Initialmeinungen festfahren. Damitwird die Konsensfindung unter Umständen unwahr-scheinlicher. Wenn die Ausgestaltung des Formatsjedoch nicht auf Konsens abzielt – wie im Bürger-delphi Keimbahntherapie – ist die Verwendung von“Denkhüten” unter Umständen nicht zielführend.

3.6.3 DIREKTERMEINUNGSAUSTAUSCH

“ Die Telefoninterviews fand ich gut. Ichhätte es nur passend für das Projekt ge-funden, tatsächlich echte Diskussionsrun-den stattfinden zu lassen. ”

Teilnehmende/r

Der Anteil des direkten Meinungsaustausches in-nerhalb der einzelnen Gruppen ist im Vergleich zuanderen Beteiligungsformaten bei einem Bürger-delphi gering. Ein großer Teil der Kommunikati-on findet vermittelt über die Zusammenfassungender Telefongespräche statt. In eine direkte Kom-munikation können die Teilnehmenden währendder Auftakt- und Abschlussveranstaltung treten unddurch die Nutzung des Online-Forums.

Mittelwert: 3.4±1.3

Anzahl: 12

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.43Ich hatte ausreichend Möglichkeiten zum Meinungsaustausch

mit den Teilnehmenden in meiner Gruppe. (Telefongruppen)

Ein direkter Meinungsaustausch während der Re-motephase über das Online-Forum fand innerhalbder Telefongruppen praktisch nicht statt. Die Beiträ-ge beschränkten sich auf die Vergabe von Recher-cheaufträgen. Da die Abschlussveranstaltung derVorstellung des Ergebnisberichts diente, fand eine

direkte Kommunikation im durchgeführten Bürger-delphi nur während der Auftaktveranstaltung statt.Im Rahmen der Evaluationsfragebögen wurde derWunsch nach einem direkten Meinungsaustauschdurch mehrere Teilnehmende explizit ausgedrückt.Ein/e Teilnehmende/r schreibt: “Obwohl es zeitlichwohl wirklich schwierig zu realisieren wäre, fän-de ich mehr direkte Diskussion der Teilnehmendenschön.” Ein/e andere/r bemerkt: “Der Austausch inder Gruppe hat deutlich gefehlt, dadurch konntenVerständnisfragen immer nur mit dem Interviewerbehandelt und nicht diskutiert werden.” Diese expli-ziten Äußerungen spiegeln sich ebenso in der Beant-wortung der entsprechenden Fragen wider. Unterden Teilnehmenden der Telefongruppen befandenlediglich 3 der 12 Befragten ausreichend Möglich-keiten eines direkten Meinungsaustausches gehabtzu haben. 7 der Befragten wünschten sich einenintensiveren direkten Meinungsaustausch innerhalbder Gruppen.

Mittelwert: 2.2±0.8

Anzahl: 12

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.44Ich hätte mir einen intensiveren direkten Meinungsaustauschmit und zwischen den Teilnehmenden meiner Gruppe ge-

wünscht. (Telefongruppen)

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3.7 EVALUATION DER KOMPETENZSTEIGERUNG

3.7.1 FORSCHUNGSFRAGEN

Das Beteiligungsformat Bürgerdelphi ist spezielldarauf ausgerichtet, die Ausbildung informierterMeinungen in Kontexten komplexer Entscheidungs-probleme zu ermöglichen. Bürgerinnen und Bürgersollen in die Lage versetzt werden, sich mit kom-plexen Themen gesamtgesellschaftlicher Relevanzauseinanderzusetzen, die sich nicht ohne die Be-rücksichtigung von Fachwissen und den verbun-denen Unsicherheiten bearbeiten lassen. Die starkstrukturierte und vermittelte Kommunikation sollsicherstellen, dass die erforderlichen Kompetenz-und Wissenszuwächse durch die Teilnehmendenselbstgesteuert erreicht werden können.

Eine zentrale zu adressierende Herausforderung istdamit die Erreichung einer angemessenen Informa-tions- bzw. Sachstandstiefe. Was als angemessengilt, wird vom Entscheidungsproblem und den pro-zessinternen und prozessexternen Zielen abhängen.Ganz allgemein gilt zweierlei zu beachten. Sind dieKompetenzsteigerungsziele selbst nur ein abgelei-tetes Ziel, beispielsweise um eine gewisse Qualitätim Prozessoutput sicherzustellen, muss die Infor-miertheit der Teilnehmenden mindestens so starkausgeprägt werden, um diese Ziele zu erreichen.Es sollte allerdings auch kein darüber hinausgehen-des Niveau von Informiertheit angestrebt werden.Nicht nur können zu ambitionierte Kompetenzstei-gerungsziele die Teilnehmenden überfordern, es istallein schon aufgrund von Effizienzüberlegungenratsam, den Grad der anvisierten Informiertheit soniedrig wie möglich anzusetzen, da Kompetenz-steigerungen entsprechende monetäre und zeitli-che Ressourcen erfordern. Als Daumenregel könnteman daher formulieren: So viel wie nötig, so wenigwie möglich. Ist das prozessexterne Ziel die Gene-rierung eines für die politische Entscheidungsfin-dung relevanten Bürgergutachten, bemisst sich dieAngemessenheit der anzuvisierenden Kompetenz-steigerung an der Relevanz des Bürgergutachtens.Für die evaluierende Begleitforschung des Bürger-delphis Keimbahntherapie konnte diese Art der an-gemessenen Kompetenzsteigerung nicht näher be-stimmt werden, da die Relevanz des Bürgergutach-tens einer Auswertung nicht zugänglich war. Viel-

mehr wurde in bescheidenerer Weise untersucht, obdas Bürgerdelphi die Beteiligten erfolgreich darinunterstützt hat, sich eine informierte Meinung aus-bilden zu können. Diese zentrale Forschungsfrage,lässt sich in zwei Unterfragen aufteilen:

1. Haben die Teilnehmenden über den Zeitraumdes Beteiligungsprozesses informierte Mei-nungen ausgebildet?

2. Inwiefern haben die Verfahrensmerkmale desBürgerdelphis dazu beigetragen, dass sichinformierte Meinungen ausgebildet haben?

Die beiden Forschungsfragen wurden zum Teil un-abhängig mit unterschiedlichen Methoden bearbei-tet. Zur Beantwortung der Frage nach der Infor-miertheit diente ein schriftlicher Fragebogen, deres den Teilnehmenden ermöglichte entlang offenformulierter Fragen, ihre Positionen zu Keimbahn-eingriffen auszudrücken. Die entsprechenden Ant-wortbögen wurden mit inhaltsanalytischen Metho-den quantitativ ausgewertet, um Rückschlüsse aufdie Kompetenzsteigerung zuzulassen.

Über den Vergleich der Digitalgruppe mit den Tele-fongruppen in der Auswertung der Meinungserhe-bungen konnte explorativ untersucht werden, ob dieTelefongespräche ein relevantes Prozesselement fürdie Meinungsbildung darstellten. Darüber hinauswurde der Beitrag des Bürgerdelphis zur Meinungs-bildung nur indirekt erfasst über die Beantwortungentsprechender Fragen im schon besprochenen Eva-luationsfragebogen. Über standardisierte Fragenkonnten die Teilnehmenden selbst einschätzen, obdie zur Verfügung gestellten Informationen hilf-reich für den Meinungsbildungsprozess waren.

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3.7.2 AUSWERTUNG DERSTANDARDISIERTENEVALUATIONSFRAGEN

“ Für die Tiefe, die wir brauchten, hattenwir jederzeit Fakten, die wir nachlesenkonnten oder Rechercheaufträge, die wirvergeben konnten. ”

Teilnehmende/r

Mittelwert: 2.0±0.6Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

14

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.45Durch die Teilnahme am Projekt bin ich in der Lage mich kom-petent und informiert in die Debatte um Keimbahneingriffe ein-

zubringen.

Durch ein angemessenes Wissensmanagement musssichergestellt werden, dass die Teilnehmenden rele-vante Informationen erhalten und den Informations-fluss bedarfsabhängig selbst steuern können (vgl.Goldschmidt 2014, S. 92). Ob dies gelungen ist undinwiefern die einzelnen Prozesselemente des Bür-gerdelphis dazu beigetragen haben, wurde über dieAuswertung eines standardisierten Fragebogens be-antwortet. Insgesamt kann man sagen, dass die Teil-nehmenden überwiegend zufrieden mit dem Wis-sensmanagement im Bürgerdelphi waren. Die durchdie Gespräche und über das Internetforum geteiltenInformationen waren für die Teilnehmenden hilf-reich im Prozess der Meinungsbildung. So fühltsich die überwiegende Mehrzahl der Teilnehmen-den (17 von 21 Befragten) durch die Teilnahme amBeteiligungsprozess befähigt, sich kompetent undinformiert in die Debatte um Keimbahneingriffeeinbringen zu können. Die zum Thema relevantenArgumente und Interessen wurden in den einzelnenThemenrunden laut Auskunft der Teilnehmendenberücksichtigt (19 von 21 Befragten).

Mittelwert: 1.9±0.6Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

14

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.46Die im Internet zur Verfügung gestellten Informationen (Stel-lungnahmen, Rechercheergebnisse, Abschlussplädoyers etc.)

gaben einen guten Überblick über das jeweilige Thema.

Die Breite der Informationen erschien den meistenTeilnehmenden als angemessen und ausreichend.So gaben die über das Internetportal zur Verfügunggestellten Informationen über die Stellungnahmen,die Rechercheergebnisse und Abschlussplädoyerslaut Auskunft einen guten Überblick über das jewei-lige Thema in den Themenrunden (19 von 21 Be-fragten). Wichtige Informationen aus wissenschaft-licher Perspektive haben den meisten Teilnehmen-den nicht gefehlt (12 von 21 Befragten).

“ Sehr viele wichtige Aspekte, die relevantfür die Entscheidungsfindung sind, wur-den genannt. ”

Teilnehmende/r

Nur bei der Frage nach der Klärung offener Fra-gen ist das Meinungsbild nicht mehrheitlich positiv.Hier hatten nur 8 von insgesamt 21 Befragten denEindruck, dass bestehende Unklarheiten und offe-ne Fragen ausführlich beantwortet und diskutiertworden sind. Offen bleibt, wie sich dieser Eindruckerklären lässt. Zumindest das dafür vorgeseheneInstrument der Rechercheaufträge wurde mehrheit-lich positiv wahrgenommen. Nur ein/e Befragte/rhatte den Eindruck, dass durch die Rechercheaufträ-ge die wichtigen Fragen nicht geklärt wurden. Auchder Diskussionsinput über die die Themenrundeninitiierenden Stellungnahmen wurden mehrheitlichpositiv eingeschätzt. 17 der 21 Befragten empfanddie Stellungnahmen als hilfreich bei der Vorberei-tung für die Telefongespräche beziehungsweise dieForumsdiskussionen.

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Mittelwert: 2.1±0.8

Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.47Durch die Rechercheaufträge wurden die wichtigen Fragen ge-

klärt.

Die Angemessenheit der zur Verfügung gestelltenInformationen erschöpft sich nicht nur in einer hin-reichenden Breite. Vielmehr muss auch die notwen-dige Tiefe bedarfsgerecht bestimmt und zugeschnit-ten werden. So dürfen die Informationen wederunter- noch überfordern. Lediglich 2 der 21 Befrag-ten empfand die Diskussionen und Stellungnahmenals oberflächlich und nur 5 fühlten sich zeitweisedurch die zur Verfügung gestellten Informationsma-terialien überfordert.

Mittelwert: 2.7±0.7Anzahl: 21

2

4

6

8

10

12

1 Trifft voll zu

2 Trifft zu

3 Neutral

4 Trifft nicht zu

5 Trifft gar nicht zu

ABBILDUNG 3.48Die Teilnehmenden in meiner Gruppe waren motiviert und aktiv

beteiligt.

Ein angemessenes Wissensmanagement muss ne-ben einer adressatengerechten Darstellung der In-formationen auch dafür sorgen, dass die Teilneh-menden den Informationsfluss möglichst eigenini-tiativ steuern und möglichst stark involviert werden.Laut Selbstauskunft haben sich die Teilnehmendendurch die Teilnahme am Projekt intensiv mit demThema beschäftigt (16 von 21 Befragten) und habeninsbesondere die Ergebnisse der Auftragsrecher-chen auch gelesen (18 von 21 Befragten). Was dieEigeninitiative und Motivation angeht, ist das Bildetwas gemischter: 11 der 21 Befragten geben an,

selbst intensiv nach Informationen zum Thema ge-sucht zu haben und nur 7 hatten den Eindruck, dasssich die Teilnehmenden in den jeweiligen Gruppenmotiviert und aktiv beteiligt haben.

3.7.3 MEINUNGSBILDUNG UNDINFORMIERTHEIT

Wie weiter oben beschrieben ist das primäre pro-zessinterne Ziel eines Bürgerdelphis die Ausbil-dung informierter Meinungen in Kontexten kom-plexer Entscheidungsprobleme. Nimmt man dieSelbstauskunft der Beteiligten allein zum Maßstab,könnte man festhalten, dass dieses Ziel im Bür-gerdelphi Keimbahntherapie erreicht worden ist.Wie aussagekräftig solche Selbstauskünfte sind, istrecht unsicher. Vor allem Phänomene der sozialenErwünschtheit müssten für solche Befragungssitua-tionen kritisch berücksichtigt werden. Aus diesemGrund sollten Wissen- und Kompetenzzuwächseunabhängig von Selbstauskünften der Teilnehmen-den untersucht werden. Im Kontext partizipativerFormate ist es allerdings aufgrund von Akzeptanz-überlegungen nicht unbedingt ratsam, Wissens- undKompetenzzuwächse unter Rückgriff auf Testfra-gen zu analysieren. Investieren Bürger und Bürge-rinnen auf freiwilliger Basis einen nicht unerheb-lichen Aufwand in Form privater Zeit für einenBeteiligungsprozess, erscheinen Befragungen, diewomöglich wie Prüfungen wahrgenommen werden,als nicht zumutbar (vgl. ähnliche Überlegungen inGoldschmidt, Scheel und Renn 2012, S. 18). Wis-senszuwächse sollten daher höchstens indirekt er-hoben werden.

Im Rahmen der Begleitforschung des Bürgerdel-phis wurden zu diesem Zweck die Meinungen undAnsichten der Beteiligten zu Keimbahneingriffenzu drei unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben. Da-mit sollte untersucht werden, welche Positionendie Teilnehmenden während des Prozesses einneh-men und wie sich diese über den Prozesszeitraumhinweg verändern. Die Teilnehmenden wurden ineiner ersten Runde direkt im Anschluss der Auftakt-veranstaltung befragt, ein zweites Mal direkt nachdem Ende der Diskussionsphase und ein letztesMal nach der abschließenden Veranstaltung. Be-schränkt man sich auf Analysen von Einstellungs-und Meinungsdynamiken von Teilnehmenden sind

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

standardisierte Befragungen sicherlich ausreichendund haben den Vorteil einer vergleichsweise ein-fachen Möglichkeit zur Auswertung. Um jedochRückschlüsse auf die Informiertheit der Meinungenzu ermöglichen, wurde zur Auswertung des Bür-gerdelphis Keimbahntherapie auf schriftliche Be-fragungen mit offen formulierten Fragen zurückge-griffen. Den Teilnehmenden sollte die Möglichkeitgegeben werden, Meinungen und Gründe für ihrePositionen offen zu formulieren. Die Beschränkungauf schriftliche Befragungen hatte zwei pragma-tische Gründe. Zum einen gab es schon im Rah-men des Beteiligungsprozesses selbst Meinungser-hebungen in Form der Telefongespräche. Um hiereine möglichst transparente Abgrenzung des Betei-ligungsprozesses zur Begleitforschung sicherzustel-len, sollten die Meinungserhebungen der Begleit-forschung schriftlich erfolgen. Zum anderen wärees aufgrund der begrenzten zeitlichen und finanziel-len Ressourcen im Projekt nicht möglich gewesen,mündliche Befragungen durch eine Transkriptioneiner systematischen Auswertung zugänglich zumachen. Die mit dieser Entscheidung verbundenenEinschränkungen sollen weiter unten kritisch be-trachtet werden.

3.7.3.1 MEINUNGSBILDUNG UNDINFORMIERTHEIT – METHODEN

Um über eine quantitative Auswertung der aus-gedrückten Meinungen die Ableitung gehaltvollerAussagen über die Informiertheit der Meinungenzuzulassen, müssen die Fragen des Fragebogenssinnvoll gewählt werden. Was genau sind also in-formierte Meinungen und wie drücken sie sich aus?Als uninformiert ist eine Meinung zu bezeichnen,wenn sie sich im Ausdruck einer Einstellung oderMeinung erschöpft – wenn also derjenige, der dieMeinung vertritt, nicht in der Lage ist, seine Mei-nung zu begründen. Informierte Meinungen zeich-nen sich hingegen dadurch aus, dass Gründe fürsie herangezogen werden können und Sachinfor-mationen über das Themengebiet beachtet werden.Informierte Meinungen sind weniger pauschalisie-rend und berücksichtigen in ihrer Begründung Ge-genargumente, die abgewogen oder entkräftet wer-den. Diese sehr grobe Beschreibung deutet bereitsan, dass es sich bei dem Begriff der Informiertheitvon Meinungen eher um ein graduelles Konzept

handelt als um eine einfache dichotome Einteilungin informierte und uninformierte Meinungen. Ei-ne das Konzept erschöpfende Operationalisierungkonnte im Rahmen des Projekts nicht entwickeltwerden. Vielmehr wurden Indikatoren identifiziert,die das Konzept zumindest partiell erfassen. Klarscheint zu sein, dass man erheben muss, ob dieTeilnehmenden in der Lage sind, ihre Meinungenzu begründen und ob ihnen darüber hinaus mögli-che Einwände bewusst sind. Der im Bürgerdelphi

“Keimbahntherapie” benutzte Meinungsfragebogenzielte auf genau diese Aspekte ab und bestand ausden folgenden vier Fragen:

1. Was ist Ihre Position zur Erforschung undAnwendung von Keimbahntherapien?

2. Fallen Ihnen Gründe für Ihre Position ein?Nennen und beschreiben Sie sie!

3. Fallen Ihnen Einwände gegen Ihre Positionein? Nennen und beschreiben Sie sie!

4. Fallen Ihnen Gründe ein, aus denen Sie dieseEinwände zurückweisen würden? Das heißt,wie würden Sie diese Einwände entkräften?

Die Fragen sind bewusst inhaltlich allgemein undneutral formuliert. Lediglich die erste Frage greifteine Differenzierung auf, deren Relevanz in derFachdebatte unumstritten ist. Die übrigen Fragenzielen auf die Formulierung von Gründen und Ar-gumenten auf unterschiedlichen “Stufen” ab. Wäh-rend die zweite Frage nach Gründen für die eigeneMeinung fragt, gibt die dritte Frage den Teilneh-menden die Möglichkeit, Einwände zu antizipieren,um sie in der Beantwortung der vierten Frage zuentkräften.

Die Auswertung der gegebenen Antworten erfolgteüber eine inhaltsanalytische Auswertung

(i) der Positionen und

(ii) der formulierten Gründe und argumentativenBezüge zwischen den Gründen und der Posi-tion.

Eine Codierung der Positionen diente der Analy-se der Meinungsdynamik über die drei durchge-führten Befragungsrunden. Dazu wurden insgesamtacht mögliche Positionen über eine Codierung deneinzelnen Antwortbögen zugeordnet. Unterschie-den wurde die Positionierung zur Erforschung von

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

Keimbahntherapien (KBF) und zur Anwendungvon Keimbahntherapien (KBT) mit jeweils viermöglichen Ausprägungen:

1. Kontra KBF/KBT: Der oder die Teilnehmen-de spricht sich explizit gegen die Erforschungvon Keimbahntherapien beziehungsweise ge-gen den Einsatz von Keimbahntherapien aus.

2. Neutral KBF/KBT: Der oder die Teilnehmen-de äußert keine explizite Positionierung füroder gegen die Erforschung von Keimbahn-therapien beziehungsweise für oder gegenden Einsatz von Keimbahntherapien oder for-muliert explizit, dass er oder sie indifferentgegenüber dem Einsatz beziehungsweise derErforschung von Keimbahntherapien ist.

3. Bedingt Pro KBF/KBT: Der oder die Teilneh-mende äußert sich befürwortend für die Erfor-schung von Keimbahntherapien beziehungs-weise für den Einsatz von Keimbahntherapi-en und formuliert darüber hinaus expliziteBedingungen, die an die Erforschung oderden Einsatz geknüpft sind – beispielsweisein Form notwendiger gesetzlicher Regulie-rungen für die Forschung und den Einsatz.

4. Pro KBF/KBT: Der oder die Teilnehmendeäußert sich befürwortend für die Erforschungvon Keimbahntherapien beziehungsweise fürden Einsatz von Keimbahntherapien ohnespezifizierende Bedingungen zu nennen.

Die Codierung der in den Antwortbögen formu-lierten Argumente und Gründe für die Positionenerfolgte über eine Textanalyse mit Argumentkar-ten. Mit dieser aus der angewandten Argumentati-onstheorie stammenden Methode können im Textformulierte Argumente identifiziert und deren ar-gumentative Funktionen bestimmt werden, um sieüber Methoden rekonstruktiver Argumentanalysezu evaluieren (vgl. Betz 2010, 2016; Betz und Brun2016; Brun 2016). Für die Auswertung der Antwort-bögen reichte es aus, formulierte Argumente undderen intendierte argumentative Bezüge zu identifi-zieren. Der zugrunde liegende Argumentbegriff istdem umgangssprachlichen sehr nahe und zum Teilsogar weniger voraussetzungsreich. Ein Textseg-ment zählt dabei bereits als Argument, wenn es alsBegründung für – oder als Einwand gegen – ein an-deres herangezogen wird. Entscheidend ist hierbei

nicht die inhaltliche Güte eines formulierten Argu-ments, sondern die von den Befragten intendierteBegründungsfunktion. Die Analyse über Argument-karten hat einen in diesem Kontext wesentlichenVorteil gegenüber einer Analyse formulierter Argu-mente, die sich auf die Einteilung in Pro-Kontra-Argumentation beschränkt. So kann der Bezug zuunterschiedlichen Hauptthesen einer Position expli-zit gemacht werden, ebenso wie die argumentati-ven Bezüge zwischen Argumenten. Entkräftungenvon Einwänden gegen eine These sind zwar imdichotomen Bild von Pro-Kontra-Argumenten alsPro-Argument zu identifizieren, aber sie sollen ge-rade nicht explizit die These begründen, sondernvielmehr begründen, inwiefern ein formulierter Ein-wand falsch beziehungsweise unplausibel ist. Willman also analysieren, ob Befragte in der Lage sind,sich mit Einwänden kritisch auseinanderzusetzen,ist es hilfreich, Argumente und deren Bezüge zuein-ander über die Methode der Argumentkartierung zuanalysieren.

T

A1

A3

A5

A2

A4

A6

ABBILDUNG 3.49Beispiel einer Argumentkarte.

Die Ergebnisse einer solchen Analyse können überArgumentkarten visualisiert werden. In Argument-karten werden zentrale Thesen oder Behauptungen

44

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

und Argumente als Knoten eines Graphen repräsen-tiert und argumentative Beziehungen über Angriffs-und Stützungsrelationen zwischen diesen Knoten.

Die in Abbildung 3.49 dargestellte Argumentkarteillustriert einige mögliche argumentative Beziehun-gen: Die durch den Knoten T repräsentierte The-se wird durch das Argument A1 begründet, wasüber eine durch einen grünen Pfeil dargestellte Stüt-zungsrelation repräsentiert wird. Einen Einwandbildet Argument A2, dargestellt durch einen rotenAngriffspfeil. Über den Knoten A3 wird ebensoein Einwand repräsentiert. Dieser begründet abernicht die Falschheit der These T selbst, sondern dieFalschheit oder fehlende Plausibilität der durch A1repräsentierten Begründung für T. Das ArgumentA4 wiederum stellt einen Angriff auf das ArgumentA2 dar, begründet also die Falschheit oder fehlendePlausibilität der in A2 ausgedrückten Begründungfür die Falschheit von T und kann somit als Entkräf-tung des Einwandes A2 interpretiert werden.1

Die Einteilung identifizierter Argumente in Grün-de für die Position, Einwände gegen die Positionund Entkräftung derselben kann auch nicht alleinaufgrund deren Vorkommnis in einer bestimmtenAntwortkategorie des Fragebogens erfolgen. Obbeispielsweise in Beantwortung der vierten Fragewirklich Entkräftungen formulierter Einwände zufinden sind, hängt vom Verständnis der Befragtenab. Damit ist die inhaltsanalytisch aufwendige Me-thode der Argumentkartierung notwendig, um dieAntwortbögen hinsichtlich dieser komplexeren ar-gumentativen Zusammenhänge zu analysieren.

Mit einer Inhaltsanalyse über Argumentkarten ist esmöglich, die Antwortbögen quantitativ über die Er-hebungswellen hinweg auszuwerten. So kann manArgumente auf den unterschiedlichen Ebenen zäh-len und versuchen, Unterschiede zwischen den Run-den und unterschiedlichen Gruppen auszumachen.Zwei Vorbemerkungen sollen jedoch auf die Gren-zen der durchgeführten quantitativen Auswertungaufmerksam machen. Zum einen beschränkte sichdie Analyse auf die Identifizierung intendierter Be-gründungsansprüche. Es wurden also keine quali-tativen Merkmale der inhaltlichen Güte der iden-

1Der Erstellung einer konkreten Argumentkarte beschreibtBetz (2016) anhand des Beispiels der Pazifismusdebatte. DieArgumentkartierung komplexerer Debatten findet man in Betzund Cacean (2012) und Cacean (2012).

tifizierten Argumente ausgewertet, wie beispiels-weise die Differenziertheit oder Plausibilität derArgumente. Dafür müsste man zu einer rekonstruk-tiven Argumentanalyse übergehen, die nicht nureinen erheblichen Interpretationsspielraum zulässt,sondern auch wesentlich aufwendiger ist. Darüberhinaus verlangt eine rekonstruktive Analyse Vor-wissen und Erfahrung auf Seiten der Codierenden,was im Rahmen des Projekts nicht geleistet werdenkonnte. Zum anderen sind Rückschlüsse von derAuswertung der schriftlichen Befragung auf die In-formiertheit der zugrunde liegenden Meinungen mitgroßer Unsicherheit verknüpft. Ausgewertet wirddemnach die argumentative Fülle in den Antwor-ten auf die vier Fragen. Wird diese argumentativeFülle über die Auswertung als gering eingeschätzt,ist das nicht unbedingt ein starker Indikator füreine fehlende Informiertheit der zugrunde liegen-den Meinung. Es gibt in diesen Fällen eine Füllemöglicher Erklärungen – angefangen von fehlenderZeit, die eigene Meinung auszuformulieren, überUnterschiede in persönlichen Präferenzen zwischeneiner schriftlichen und mündlichen Äußerung vonAnsichten und Meinungen bis hin zu einem schlich-ten Desinteresse, an einer schriftlichen Befragungernsthaft teilzunehmen. Wesentlich aussagekräfti-ger wäre hier sicherlich eine mündliche Befragung,die über einen differenzierten Leitfragenkatalog ge-zielter nach Gründen für formulierte Meinungenfragen kann.

Die folgenden Indikatoren wurden für die Auswer-tung der Antwortbögen herangezogen:

1. Meinungsveränderung: Über die Codierungder Positionen konnte untersucht werden, in-wiefern sich die individuellen Meinungenund das gesamte Meinungsbild über die dreiBefragungsrunden hinweg verändert haben.Die Veränderung von Meinungen ist für sichgenommen weder hinreichend noch notwen-dig für die Informiertheit von Meinungen,aber unter Hinzufügung einer Analyse derjeweiligen Begründungen für die Meinungenein schwacher Indikator für Informiertheit.

2. Anzahl von Argumenten: Durch die Argu-mentkartenanalyse konnten die vorgebrach-ten Argumente in den einzelnen Befragungs-runden gezählt und miteinander verglichenwerden. Gemäß einer einfachen Hypothese

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

sollten den Befragten mit einem steigendenGrad ihrer Informiertheit immer mehr Ar-gumente, Einwände und deren Entkräftun-gen bewusst werden. Steigt also die Anzahlvon formulierten Argumenten über die Be-fragungsrunden hinweg, kann das als Indika-tor für eine Steigerung der Informiertheit derMeinung interpretiert werden.

3. Anzahl von neuen Argumenten: Neben dereigentlichen Codierung jedes Antwortbogensüber eine Argumentkartierung wurde für je-de Teilnehmende und jeden Teilnehmendencodiert, ob er oder sie in den unterschiedli-chen Runden zueinander gleiche Argumenteformuliert hat, also Argumente wiederholthat. Zwei Argumente können dabei, etwasvereinfacht ausgedrückt, als gleich identifi-ziert werden, wenn sie das Gleiche begrün-den und auch in ihrer Begründung in etwabedeutungsgleich sind. Mit dieser Argument-identifizierung über die Runden hinweg konn-te ermittelt werden, wie viele neue Argumen-te in jeder Runde von den Teilnehmendenformuliert worden sind. Hier gilt wieder eineähnlich einfache Hypothese: Je informiertereine Meinung ist, desto eher die Kenntnisunbekannter Argumente im Vergleich zur un-informierten Meinung.

4. Anzahl von Argumenten auf den unterschied-lichen Stufen: Die Codierung der Argumen-te und ihrer argumentativen Beziehungen er-möglichte es außerdem, die identifiziertenArgumente unterschiedlichen Begründungs-stufen zuzuordnen – nämlich jenen, die schondurch die Fragen suggeriert werden:

• Zur ersten Begründungsstufe gehörenArgumente, die die eigene Position di-rekt begründen beziehungsweise Argu-mente stützen, die die eigene Positiondirekt begründen (A1 im obigen Bei-spiel).

• Zur zweiten Begründungsstufe gehö-ren Argumente, die direkte Einwändegegen die eigene Position oder direk-te Einwände gegen Argumente auf derersten Stufe darstellen sowie Argumen-te, die diese Einwände stützen (A2, A3und A5 im obigen Beispiel).

• Zur dritten Begründungsstufe gehö-

ren Einwände gegen Argumente auf derzweiten Begründungsstufe und Argu-mente, die diese Einwände stützen. Dassind also dem Verständnis nach Entkräf-tungen von Einwänden gegen die eige-ne Position (A4 und A6 im obigen Bei-spiel).

Diese Stufen lassen sich beliebig fortsetzen.Als Indikator für die Informiertheit von Mei-nungen dient die Hypothese, dass sich infor-mierte Meinungen nicht nur durch die Kennt-nis möglichst vieler die eigene Position un-termauernder Argumente auszeichnet, son-dern auch die Kenntnis möglicher Einwän-de und derer Entkräftungen. Die Fähigkeit,Argumente auf höheren Stufen formulierenzu können, kann daher als Indikator für dieInformiertheit von Meinungen interpretiertwerden.

3.7.3.2 MEINUNGSBILDUNG UNDINFORMIERTHEIT – AUSWERTUNG

Die Antwortbögen wurden durch zwei Codieren-de unabhängig voneinander über eine Argument-kartierung codiert. Für viele der berücksichtigtenAntwortbögen standen daher zwei unabhängige Co-dierungen zur Verfügung. Reliabilitätsmaße für die-se Art von Codierung stehen bisher nicht zur Ver-fügung. Jedoch wurden für berechnete Maße wiebeispielsweise der Anzahl von Argumenten die Mit-telwerte unterschiedlicher Codierungen eines Ant-wortbogens herangezogen, um mögliche Interpreta-tionsunterschiede in gleicher Weise zu berücksichti-gen. Die Codierenden hatten keine vorherige Erfah-rung in der Argumentkartencodierung und wurdenim Rahmen einer Pretestphase anhand vorhande-ner Beispielantwortbögen geschult. Antwortbögenvon Teilnehmenden einer bestimmten Runde wur-den nur berücksichtigt, wenn es Antwortbögen die-ser Teilnehmenden aus allen davor stattgefundenenRunden gab. Insgesamt konnten damit für die erstenbeiden Befragungswellen neunzehn und für die drit-te Befragungswelle neun Befragte berücksichtigtwerden.

Die abgebildeten Tabellen geben einen Überblicküber die Anzahl derjenigen Befragten, die über dieBefragungsrunden hinweg ihre Position zur Erfor-

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

●●●●●●

●●

●●

●●

●●

●●●

●●

●●●●●●

Kontra

Neutral

Bedingt Pro

Pro

1 2 3

Befragungsrunde

Pos

ition ●

DG

TG

ABBILDUNG 3.50Positionen zur Erforschung von Keimbahntherapien (KBF).

●●

●●●●

●●

● ●

●●

●●

●●

●●

●●

Kontra

Neutral

Bedingt Pro

Pro

1 2 3

Befragungsrunde

Pos

ition ●

DG

TG

ABBILDUNG 3.51Positionen zum Einsatz von Keimbahntherapien (KBT).

schung von Keimbahntherapien (KBF) und zumEinsatz von Keimbahntherapien (KBT) veränderthaben. Den Abbildungen 3.50 und 3.51 kann mandarüber hinaus individuelle Positionsveränderun-gen ablesen. Die durch eine Linie verbundenenPunkte stellen die Positionen einer Person in denunterschiedlichen Befragungsrunden dar.

Auffällig ist, dass sich die individuellen Positionenzwischen der ersten und zweiten Befragungsrundein ihrer Mehrheit verändert haben, während der re-lative Unterschied zwischen der zweiten und drittenBefragungsrunde weit geringer ausfällt. Beim Über-gang von der ersten zur zweiten Befragung habennoch 13 von 19 der Befragten ihre Meinung zurErforschung von Keimbahntherapien geändert und15 zum Einsatz von Keimbahntherapien. Danachbeschränkt sich die Veränderung der Positionen auf1 von 5 für die Erforschung von Keimbahntherapienund 3 von 9 für den Einsatz. Da der eigentliche Be-teiligungsprozess kurz vor der zweiten Befragungs-runde endete, kann das bereits als Hinweis gedeutetwerden, dass die intensive Beschäftigung mit demThema im Rahmen des Beteiligungsprozesses eine

Gruppen Positionsver-änderungenKBF (Runde 1zu 2)

Positionsver-änderungenKBF (Runde 2zu 3)

Alle 13 von 19 (68%) 1 von 9 (11%)Digital-gruppe

6 von 8 (75%) 1 von 5 (20%)

Telefon-gruppen

7 von 11 (64%) 0 von 4 (0%)

TABELLE 3.1Anzahl der Positionsveränderungen zur Erforschung von Keim-

bahntherapien (KBF).

Gruppen Positionsver-änderungenKBT (Runde 1zu 2)

Positionsver-änderungenKBT (Runde 2zu 3)

Alle 15 von 19 (79%) 3 von 9 (33%)Digital-gruppe

8 von 8 (100%) 3 von 5 (60%)

Telefon-gruppen

7 von 11 (64%) 0 von 4 (0%)

TABELLE 3.2Anzahl der Positionsveränderungen zum Einsatz von Keim-

bahntherapien (KBT).

Erklärung für die beobachtete Meinungsverände-rung ist.

Die Unterschiede zwischen der Digitalgruppe (DG)und den Telefongruppen (TG) sind nicht signifikantbei einem Signifikanzniveau von 0, 05. Berechnetwurden die p-Werte über Kontingenztabellen miteinem exakten Fisher-Test und ergaben 1 für KBFund 0, 1 für KBT beim Übergang von Runde einszu zwei sowie 1 für KBF und 0, 17 für KBT fürden Übergang von Runde zwei zu drei. Somit kannnichts darüber ausgesagt werden, ob die Telefonge-spräche einen wesentlichen erklärenden Beitrag zurMeinungsveränderung liefern.

Betrachtet man die Verteilung der unterschiedlichenPositionen über die Runden insgesamt, fällt auf,dass die Meinungen zur Keimbahntherapie gleich-bleibend über die Runden hinweg sehr heterogenverteilt sind. Hier gibt es über die Runden hinwegauch keine signifikanten Veränderungen dieser An-

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

3

3

10

3

10

31

5

7

2

0

5

10

15

1 2 3

Runde

n

Position

Kontra

Neutral

Bedingt pro

Pro

ABBILDUNG 3.52Verteilung der Positionen zur Erforschung von Keimbahnthera-

pien (KBF).

2

4

10

3

3

5

5

6

1

2

51

0

5

10

15

1 2 3

Runde

n

Position

Kontra

Neutral

Bedingt pro

Pro

ABBILDUNG 3.53Verteilung der Positionen zum Einsatz von Keimbahntherapien

(KBT).

teile (p = 0, 7 mit einem exakten Fisher-Test). DiePositionen zur Keimbahnerforschung entwickelnsich jedoch von einer heterogenen Verteilung hin zueiner eher pro-orientierten Haltung. Die Unterschie-de zwischen den Runden sind hier sogar signifikant(p = 0, 001 mit einem exakten Fisher-Test). Da-bei sollte allerdings beachtet werden, dass alle alssignifikant identifizierten Unterschiede explorati-ve Ergebnisse sind und damit insbesondere nichtverallgemeinerbar sind. Sowohl die ursprünglicheAuswahl der Teilnehmenden als auch die Einteilungder Teilnehmenden in Digital- und Telefongruppenerfolgte in keiner randomisierten Weise. Signifikan-te Resultate sollten daher höchstens als interessanteAusgangshypothesen für eine weitere Erforschunginterpretiert werden.

Betrachtet man lediglich die durchschnittliche An-zahl der formulierten Argumente der Befragten inden einzelnen Befragungsrunden ergibt sich ein re-lativ konstantes Bild: Die Anzahl der durchschnittli-chen Argumente unterscheidet sich aufgrund der ho-hen Streuung in keiner signifikanten Weise (8, 4±

0

5

10

15

1 2 3

Runde

Anz

ahl A

rgum

ente

ABBILDUNG 3.54Durchschnittliche Anzahl der Argumente in den Befragungsrun-

den (pro Teilnehmende/r).

5, 6 Argumente in der ersten Runde, 8, 5± 5, 8 inder zweiten Runde und 7, 2 ± 3, 3 in der drittenRunde). Durch die Identifizierung der Argumenteuntereinander konnte allerdings festgestellt werden,dass die Befragten fast keine ihrer formulierten Ar-gumente wiederholt haben und zwar unabhängigdavon, ob sie ihre Position zwischen den Befra-gungsrunden verändert haben oder nicht. Über mög-liche Erklärungen kann nur spekuliert werden: DieBefragten haben ihre bereits formulierten Argumen-te nicht unbedingt vergessen. Man kann vielleichtvermuten, dass sie sich im Rahmen der vorgenom-menen Befragung nicht veranlasst fühlten, die ih-nen bekannten Argumente in ihrer Vollständigkeitschriftlich zu reproduzieren. Vielleicht formulie-ren sie nur solche Argumente explizit, die sie imMoment der Befragung als besonders wichtig, re-levant oder interessant erachten, weil es ihnen bei-spielsweise als zu müßig erscheint, schon einmalFormuliertes erneut aufzuschreiben.

0

5

10

1 2 3

Runde

Anz

ahl n

euer

Arg

umen

te

ABBILDUNG 3.55Durchschnittliche Anzahl neuer Argumente in den Befragungs-

runden (pro Teilnehmende/r).

Unter dieser Erklärungshypothese ist die durch-schnittliche Anzahl von Argumenten in den Run-

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den nicht mehr als zuverlässiger Indikator für dieInformiertheit von Meinungen zu betrachten. DieAnalyse der Anzahl wiederholter Argumente ergaballerdings, dass ihr Anteil sehr gering ist. Die durch-schnittliche Anzahl vorher nicht formulierter Grün-de in den einzelnen Runden ist nur wenig geringerals die Anzahl der insgesamt formulierten Argu-mente (8, 4± 5, 6 Argumente in der ersten Runde,8, 1± 5, 3 in der zweiten Runde und 6, 6± 3, 6 inder dritten Runde). Die einzelnen Teilnehmendenhaben also in den unterschiedlichen Befragungs-runden unterschiedliche Gründe formuliert und dasunabhängig davon, ob sie ihre Position veränderthaben oder nicht. Wie diese Ergebnisse zu inter-pretieren sind, hängt von weiteren Hypothesen ab,die über die erhobenen Daten hinausgehen. Gehtman von der plausiblen Annahme aus, dass die Be-fragten auf die von ihnen neu formulierten Gründeaufgrund des Beteiligungsprozesses aufmerksamwurden, kann das als starker Indikator für eine Stei-gerung in der Informiertheit gedeutet werden. Unddas unabhängig davon, ob sich eine Position verän-dert hat oder nicht. Für erstere kann man vermuten,dass die neu formulierten Argumente eine Erklä-rung für die Meinungsveränderung darstellen undfür letztere, dass die neuen Argumente vorherigePositionen verfestigten.

0

2

4

6

1 2 3

Runde

Anz

ahl A

rgum

ente Stufe

1

2

3

4

ABBILDUNG 3.56Durchschnittliche Anzahl der Argumente in den Befragungsrun-

den und Begründungsstufen.

Betrachtet man die Verteilung der durchschnittli-chen Anzahl von Argumenten in den unterschied-lichen Begründungsstufen, muss man feststellen,dass es hier keine großen Unterschiede in den ein-zelnen Befragungsrunden gibt. Die Befragten wa-ren durchweg in der Lage, mögliche Einwände ge-gen ihre Position zu antizipieren (Argumente derBegründungsstufe 2) und diese zu entkräften (Ar-gumente der Begründungsstufe 3). Wie viele Ar-

gumente auf der zweiten und dritten Stufe formu-liert worden sind, unterscheidet sich aber in deneinzelnen Befragungsrunden nicht signifikant. Be-trachtet man die absoluten Zahlen fällt auf, dassnicht alle der aufgegriffenen Einwände entkräftetwerden. Die Konfidenzintervalle überlappen sich al-lerdings zu stark, um daraus irgendwelche Schlüsseziehen zu können. Insgesamt lässt sich also über dieBetrachtung der Anzahl von Argumenten auf denunterschiedlichen Begründungsstufen keine Steige-rung der Informiertheit der Meinungen ablesen.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass sichbezüglich der beiden Indikatoren Anzahl formulier-ter Argumente auf unterschiedlichen Begründungs-stufen und Anzahl vorgebrachter Argumente in denRunden keine Kompetenzsteigerung feststellen ließ.Durch die gemeinsame Betrachtung der IndikatorenMeinungsveränderung und Anzahl neu formulierterArgumente lässt sich allerdings vorsichtig auf eineKompetenzsteigerung über die Befragungsrundenhinweg schließen. Es ist naheliegend, dass die ge-stiegene Informiertheit der Meinungen durch dieTeilnahme der Befragten am Bürgerdelphi zu erklä-ren ist. Ob hingegen die intensiven Telefongesprä-che einen wesentlichen Anteil an diesen Kompe-tenzsteigerungen hatten, konnte im Rahmen der Be-gleitforschung nicht nachgewiesen werden. Einensignifikanten Unterschied zwischen der Digitalgrup-pe und den Telefongruppen gab es bezüglich deruntersuchten Indikatoren nicht.

3.7.3.3 MEINUNGSBILDUNG UNDINFORMIERTHEIT – REFLEKTIONDER FORSCHUNGSMETHODEN &AUSBLICK

Mit dem vom BMBF geförderten Projekt Bürger-delphi Keimbahntherapie wurde nicht nur ein neuesBeteiligungsformat erstmalig durchgeführt. Auchdie Begleitforschung hat zum Teil Methoden ver-wendet, die in dieser Form im Kontext der Partizipa-tionsforschung bisher nicht angewendet wurden. Sowerden zwar im Rahmen der Diskursanalyse Texteargumentativ analysiert und auch in der Politikwis-senschaft Debatten mit Hilfe des discourse quali-ty index (DQI) inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl.Steenbergen et al. 2003), um die formulierten Argu-mente zu evaluieren; aber keine dieser Methoden

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DIE BEGLEITFORSCHUNG IM BÜRGERDELPHI KEIMBAHNTHERAPIE

analysiert die intendierten argumentativen Bezügezwischen formulierten Argumenten. Diesen Me-thoden bleibt damit die inter-argumentative Struk-tur komplexer Positionen weitgehend verschlossen.Mit einer Argumentkartierung analysiert man hin-gegen diese Zusammenhänge. Sie wurde im De-tail als argumentations-theoretische Methode ent-wickelt (vgl. Betz 2010) und bereits angewendet,um komplexe gesellschaftsrelevante Debatten zuanalysieren (vgl. Betz, Brachatzek et al. 2011; Betzund Cacean 2012; Cacean 2012). In diesem Projektwurde diese Methode erstmalig in einem sozial-empirischen Kontext verwendet, um Rückschlüsseauf die Informiertheit der Meinungen von Befragtenzu ermöglichen. Die Auswertung beschränkte sichdabei auf quantitative Aspekte der analysierten Ant-wortbögen. So wurden im Wesentlichen Argumenteauf den unterschiedlichen Begründungsstufen undArgumentwiederholungen gezählt (vgl. S. 46), ohneden Inhalt der formulierten Gründe zu bewerten.

Der einzige Indikator, der in der Auswertung vor-sichtig auf eine Kompetenzsteigerung schließenließ (Anzahl neu formulierter Argumente), ist un-abhängig davon, wie die intendierten argumentati-ven Bezüge zwischen den formulierten Argumentensind. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dassdie Methode der Argumentkartierung keinen Mehr-wert besitzt. Unabhängig davon können allerdingsaufgrund der gemachten Beobachtungen Hypothe-sen formuliert werden, auf deren Grundlage sichVerbesserungsvorschläge der Untersuchungsmetho-de ableiten lassen.

Besonders auffallend war die Beobachtung, dassdie Befragten in jeder Befragungsrunde fast keineihrer bereits formulierten Gründe wiederholt haben,selbst wenn sich ihre Position nicht verändert hat.Wie weiter oben beschrieben, lässt sich vermuten,dass die Wahl auf eine schriftliche Befragung da-für verantwortlich ist. Weniger plausibel wäre dieAnnahme, dass die Befragten alle bereits zuvor ge-nannten Argumente vergessen haben. Damit lässtsich vermuten, dass die Befragten auf Nachfrageihre in den vorherigen Befragungsrunden bereitsformulierten Argumente aufgegriffen hätten undrelativ zu ihren neu formulierten Argumenten hät-ten einordnen können. Dieses Verhältnis der “neu-en” zu den “alten” Argumenten würde sich danndementsprechend in der die Position abbildene Ar-

gumentkarte widerspiegeln und quantitativ erfassenkönnen (sowohl in der Anzahl der Argumente aufden unterschiedlichen Stufen als auch in der ar-gumentativen Dichte der Argumente zueinander).Dies kann an dieser Stelle nur eine Hypothese blei-ben, der mit Hilfe weiterer Forschung nachgegan-gen werden kann.

Unabhängig davon, ob diese Hypothese zutrifftoder nicht, lässt sich die folgende Empfehlung for-mulieren: Will man die Ansichten und Meinungeneiner Person bezüglich ihrer argumentativen Struk-tur analysieren, sollte man nach Möglichkeit aufleitfadengesteuerte Interviews zurückgreifen undsich nicht auf schriftliche Befragungen beschrän-ken. Damit kann man durch Rückfragen ein mög-lichst vollständiges Begründungsbild erfassen undsomit die oben formulierten Hypothesen bestätigenoder auch die entsprechenden Erklärungshypothe-sen für negative Ergebnisse ausschließen.

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KIT – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft

Page 58: Forschungsbericht: Bürgerdelphi Keimbahntherapie · 2020. 6. 24. · Empfohlene Zitierweise: Cacean, Sebastian: Forschungsbericht Bürgerdelphi Keimbahntherapie. Hrsg . von Annette

KIT – Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft