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Ist größer besser? Technologische Großprojekte zeigen, wie wichtig Vorstellungen von Größe für unser Weltverständnis sind. Die chinesische Geschichte führt uns vor Augen, wie Großprojekte von vielen kleinen Entscheidungen abhängen. Sie wirft neues Licht auf die Rolle von Planung für Wissenswelten – und welche dramatischen Auswirkungen solche Aktivitäten haben können. Was haben ein Beschleunigerkomplex am CERN, eine Fabrik in Philadelphia im 19. Jahr- hundert und der Anbau von Lotus in der Qing- Dynastie miteinander gemein? Alle diese Akti- vitäten erzeugen Wissen und Know-how, und alle benötigen Planung. Ziele müssen gesetzt, Fähigkeiten und Materialien identiziert und entwickelt werden: Richtlinien, Modelle, Rezep- te und Blaupausen werden für die Koordination und Organisation erstellt. Historiker des Max- Planck-Instituts für Wissenschasgeschichte in Berlin (MPIWG) haben begonnen, die Rolle von Management und Organisation für wissen- schaliche und technische Entwicklung zu hin- terfragen: Sie argumentieren, dass dieser Blick- winkel nicht nur unser Verständnis der histori- schen Entwicklung von Technologie und Wissenscha verändert, sondern auch neue Ein- blicke in aktuelle Debatten über großangelegte Forschungs- und Technologieprojekte bieten kann. „Wie zentral sich verschiedene Arten der Pla- nung auf die Wissensproduktion auswirken, lässt sich besonders gut an der chinesischen Ge- schichte ablesen“, sagt Dagmar Schäfer, die eine neue Abteilung am MPIWG leitet. „Wir nden hier eine außerordentlich kontinuierliche Do- kumentation der vielen Arten, wie Leute „ge- plant“ haben. Bebauungspläne mit überra- schend modernem Design nden sich in dieser Region bereits aus frühster Zeit. In den 1970er Jahren entdeckten Archäologen in der Provinz Hebei in der Grabstätte des Königs von Zhongs- han aus dem vierten Jahrhundert vor Christus eine Bronzeplatte, auf welcher die Umrisse eben jener Grabstätte mit Gold- und Silberintarsien dargestellt sind. Ein Vergleich der eingravierten Abmessungen mit der entstandenen Anlage lässt darauf schließen, dass dieser Entwurf beim Bau Pate stand. Eine ebenfalls eingravierte be- hördliche Anordnung identiziert das Doku- ment als Teil eines komplexen kaiserlichen Ver- OKTOBER 2014 Forschungsthemen MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

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Ist größer besser?Technologische Großprojekte zeigen, wie wichtig Vorstellungen von Größe für unser Weltverständnis sind. Die chinesische Geschichte führt uns vor Augen, wie Großprojekte von vielen kleinen Entscheidungen abhängen. Sie wirft neues Licht auf die Rolle von Planung für Wissenswelten – und welche dramatischen Auswirkungen solche Aktivitäten haben können.Was haben ein Beschleunigerkomplex am CERN, eine Fabrik in Philadelphia im 19. Jahr-hundert und der Anbau von Lotus in der Qing-Dynastie miteinander gemein? Alle diese Akti-vitäten erzeugen Wissen und Know-how, und alle benötigen Planung. Ziele müssen gesetzt, Fähigkeiten und Materialien identi!ziert und entwickelt werden: Richtlinien, Modelle, Rezep-te und Blaupausen werden für die Koordination und Organisation erstellt. Historiker des Max-Planck-Instituts für Wissenscha"sgeschichte in Berlin (MPIWG) haben begonnen, die Rolle von Management und Organisation für wissen-scha"liche und technische Entwicklung zu hin-terfragen: Sie argumentieren, dass dieser Blick-winkel nicht nur unser Verständnis der histori-schen Entwicklung von Technologie und Wissenscha" verändert, sondern auch neue Ein-blicke in aktuelle Debatten über großangelegte Forschungs- und Technologieprojekte bieten kann.

„Wie zentral sich verschiedene Arten der Pla-nung auf die Wissensproduktion auswirken, lässt sich besonders gut an der chinesischen Ge-schichte ablesen“, sagt Dagmar Schäfer, die eine neue Abteilung am MPIWG leitet. „Wir !nden hier eine außerordentlich kontinuierliche Do-kumentation der vielen Arten, wie Leute „ge-plant“ haben. Bebauungspläne mit überra-schend modernem Design !nden sich in dieser Region bereits aus frühster Zeit. In den 1970er Jahren entdeckten Archäologen in der Provinz Hebei in der Grabstätte des Königs von Zhongs-han aus dem vierten Jahrhundert vor Christus eine Bronzeplatte, auf welcher die Umrisse eben jener Grabstätte mit Gold- und Silberintarsien dargestellt sind. Ein Vergleich der eingravierten Abmessungen mit der entstandenen Anlage lässt darauf schließen, dass dieser Entwurf beim Bau Pate stand. Eine ebenfalls eingravierte be-hördliche Anordnung identi!ziert das Doku-ment als Teil eines komplexen kaiserlichen Ver-

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waltungsvorgangs. Bürokratismus war eines der Mittel der damaligen Elite, ihre große Visionen mit der chaotischen Wirklichkeit von Leben und Tod in Einklang zu bringen.„Großprojekte erhöhen den Bedarf an Logistik und Organisation”, erklärt Schäfer. „In großen Maßstäben zu denken, zwingt über Expertise und Fähigkeiten nachzudenken. Signi!kant für die chinesische Entwicklung ist, dass Eliten sich in der Verantwortung sahen, Staat, Gesellscha" und das Selbst zu ordnen. Diese Verp#ichtung fand ihren Niederschlag im praktischen Han-deln, aber auch in intellektuellen Diskursen zur Natur und zum Menschen. In naturphilosophi-schen Überlegungen zeigt sich ein außerordent-lich hohes Interesse an Systemen, Strukturen und Prozessen.“ Die Frage wie man plant, oder welches Wissen oder welche Informationen do-kumentiert, vermittelt oder systematisiert wer-den müssen, rückte in den Fokus politischer und intellektueller Debatten. War es besser, in großem Maßstab zu denken oder sollte man sich eher um Details kümmern? Wie verstetigte man, was funktionierte? Wie blieb man #exibel für das Unerwartete, förderte Neues und behielt doch stets die Kontrolle? Im China der Song-Dynastie (960–1279) propa-gierte der renommierte Philosoph Zhu Xi (1130–1200) beispielsweise, dass der Schlüssel zum Erfolg großer Pläne darin liege, Ordnung in die kleinen Dinge zu bringen: nämlich in die alltäglichen Bedürfnisse. Für ihn war die kor-rekte Platzierung des Ahnenschreins im Haus eines jeden Einzelnen der erste Schritt zur Orga-nisierung von Gesellscha" und Staat. Das Prin-zip des Planens im Großen bestand darin die Bedeutung kleiner Details für das große Ganze zu verstehen. Andere Zeitgenossen von Zhu Xi dagegen wa-

ren der Meinung, man kümmere sich besser um jedes einzelne Detail. Als der Staat der Song all-mählich die politische Kontrolle über den Nor-den verlor – wo traditionell die Ochsen und Pferde gezüchtet wurden, die im zivilen und mi-litärischen Transport eingesetzt wurden –, ent-schieden sich eben diese Männer für eine Insti-tutionalisierung der Ausbildung von Experten und der Staat begann systematisch die Verbrei-tung pharmazeutischer Literatur zu lancieren, um staatliche Massentierhaltung zu fördern. Dieser spezielle chinesische Fall zeigt auch, dass jede Planungsweise verschiedene Formate, Wis-sensgebiete und Sachkenntnisse hervorbringt. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Ge-genwart bedeutet Planen mit komplexen Situati-onen umzugehen, und dabei zu entscheiden, ob langfristige Visionen den langfristigen Blick zu-rück oder Voraussicht und Risikofreude erfor-dern. Dementsprechend sammelten Leute em-pirische Daten, machten Weissagungen oder führten Berechnungen durch. „O" können wir sehen, wie die Schatten vergangener Pläne zu ikonischen Vorlagen für die Zukun" werden“. Das moderne China rühmt sich einer langen Tradition der Wasserbewirtscha"ung, und ver-sieht die historischen Traditionen mit moderner Technik und deren Idealen: schneller, höher, größer. Während Wissenscha"ler und Ingenieu-re noch abwägen, ob der äußerste Eingri$ auch zwangsläu!g zu den besten Resultaten führt, bringt die Umsetzung solcher Projekte – die Dinge zum Laufen zu bringen – neue Einblicke und Ideen hervor. Projekte im heutigen China zeigen jedoch auch, dass starre Planung durch-aus Raum für Kreativität und Spontanität bieten kann. Kurz bevor sich der weltweit höchste Damm an der Grenze zwischen Sichuan und Ti-bet – ursprünglich eine Vision der 1960er Jah-

ren – nach einer Baudauer von nur sieben Jah-ren seiner Vollendung zuwendet, entsteht hier im Jahr 2014 fast beiläu!g, als spontan ergri$e-ne Chance, ein unterirdisches Labor für Teil-chenphysiker, weil sich herausstellte, dass die Bedingungen in diesem abgelegenen Gebirge für die Forschung geradezu ideal sind. Hier wird die wissenscha"liche Forschung sicherlich von anderen Planungsansätzen und -vorgaben ge-prägt als in CERN, wo eine breit gefächerte Ge-meinscha" von europäischen Forschern, Physi-kern und Ingenieuren seit 1954 die Grundstruk-tur des Universums untersucht. Bei der Analyse unterschiedlichster Herange-hensweisen an wissenscha"liche und technische Planung beleuchten die Historikerinnen und Historiker des MPIWG auch kritisch den histo-rischen Ein#uss von Schwarz-Weiß-Paradig-men wie dem Haldane-Prinzip, das besagt, dass „Politiker nicht in die wissenscha"liche Ent-

scheidungs!ndung eingreifen sollten“. Stattdes-sen betrachten sie die Akteure selbst: „Wenn wir versuchen herauszu!nden, wie Ingenieure, Geistliche, Handwerker, Hausfrauen, Wissen-scha"ler und andere versuchten, Dinge zum Funktionieren zu bringen, so tun wir dies, um den komplexen Ein#uss von äußeren Bedingun-gen zu enträtseln. Wir wollen verstehen, wie mit Komplexität umgegangen wird und wie Ent-scheidungen in Handlungslogik oder in Systeme des Denkens oder Glaubens übersetzt wurden“, sagt Schäfer, „ob es sich um einen chinesischen Haushalt im 11. Jahrhundert handelt, der einen Ahnenschrein benötigt, um Teilchenforschung der Neuzeit oder um amerikanische Kinder des 19. Jahrhunderts, die an sechs Tagen pro Woche eine Berufsausbildung machen, um am siebten Tag den Sabbat einzuhalten.“Im Fokus von Nina Lerman, einer Historikerin der Industrialisierung, stehen Heranwachsende

Der Zhao Yu Tu („Die Karte der Umgebung des Mausoleums“), ausgegraben in den späten 1970er-Jahren in Pingshan, der südlich-zentralen Provinz Hebei. Hebei Provincial Museum at Shijiazhuang, Hebei Province, China. © World Map Co. Ltd., Supervised by National Administ-ration of Surveying, Mapping and Geoinformation.

im Philadelphia des 19. Jahrhunderts. Sie unter-sucht welche Ideale und Inhalte die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen prägten, die zu funktionstüchtigen Fabrikarbeitern oder Haus-mädchen, Ingenieuren oder Textildesigner ge-macht werden sollten. Bei dieser Forschung zeigt sich, dass Bildungsplanung das Rückgrat sowohl für die Industrialisierung als auch für demokratische Überzeugungen war. Ihre Ge-schichte zu erforschen legt o!en, dass sich große Veränderungen wie der Industriekapitalismus aus einem Mosaik von vielen kleinen Entschei-dungen zusammensetzen – auch daraus festzu-legen, welche Kinder welches Wissen benötigen – wie man Brot backt, wie man eine Lokomotive baut, wie man sich an Sonntagen benimmt – um sie zu erwachsenen „nützlichen Bürgern“ zu machen. Der Forschungsansatz der Abteilung zieht auch in Betracht, dass es o" die scheinbare Rander-scheinungen sind, die wirklich zählen um ein System funktionstüchtig zu machen. Martina Siebert, Wissenscha"s- und Technikhistorike-rin, untersucht wie sich die Kultivierung von Lotus in China zwischen dem 17. und 19. Jahr-hundert zu einem komplexen, verzahnten Sys-tem entwickelte. Eine Karte von Peking um 1900 zeigt die Gewässer#ächen der sogenannten „In-neren Stadt“, auf denen, laut Archivdokumenten aus der Qing-Dynastie, sämtlich Lotus angebaut wurde. Neue Expertise und organisatorische Strukturen waren erforderlich um dieses Projekt zum Erfolg zu führen. Einer der Gründe für den

Lotusanbau, sagt Siebert, war das Streben des Qing-Hofs nach E$zienz und Pro%t. Leere Was-ser#ächen sahen wie Verschwendung aus. Beim Betrachten des Lotus kam es nicht nur auf die schönen Blüten an, sondern man sah auch den wirtscha"lichen Wert der im Schlamm verbor-genen Wurzeln. Eine Eigenheit des chinesischen Falls scheint die Kontinuität von großen Plänen zu sein, die von Dynastie zu Dynastie weiter gereicht wurden. Änderungen bei der wiederholten Implementie-rung werden o" verdeckt, selbst wenn sie dra-matische Folgen haben. Bei näherer Betrach-tung überwiegt wie bei vielen westlichen Pro-jekten die Anpassung an örtliche Eigenarten und zeitgenössische Umstände. Im Osten wie im Westen folgten Projekte wie der Au&au ei-nes Industriebetriebs, die Planung von Schulbil-dung oder der Bau eines Damms den lokalen Traditionen und Gep#ogenheiten. „Der Blick auf die Planungsgeschichten in China und der Vergleich dieser mit historischen und aktuellen Beispielen aus Europa, Südamerika oder den USA helfen uns zu verstehen, wie sehr großfor-matige Projekte von vielen kleinformatigen Ent-scheidungen und Interessen derjenigen abhin-gen und immer noch abhängen, die diese Pro-jekte verfolgen“, fasst Schäfer zusammen.

Dagmar Schäfer ist Direktorin am MPIWG und leitet die Abteilung III (Artefakte, Handeln und Wissen; [email protected]).

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