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96 KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. (2005) Nr. 2 FORTBILDUNG Darüber hinaus zeigen neuere neurobiologische Untersuchun- gen auch in Abwesenheit von ZNS-Verletzungen messbare strukturelle und funktionelle Ver- änderungen des Gehirns bei chro- nisch misshandelten Kindern. Ne- ben persistierenden EEG-Verän- derungen zeigten sich signifikan- te Verringerungen des Gehirn- volumens. Daneben führt man- gelnde Stimulation durch eine oft parallel bestehende Vernachlässi- gung zusätzlich zu Störungen der Hirnentwicklung (Glaser 2000). Da somatische Befunde oft der Ausgangspunkt des Verdachtes auf eine körperliche Kindesmiss- handlung sind, sieht die WHO Professionelle des Gesundheits- systems in einer Schlüsselrolle in der Erkennung, Behandlung, In- tervention und Weitervermittlung von Misshandlungsfällen an die zuständigen Institutionen. Neben spezifischen medizinischen Kenntnissen erfordert dies Rechtssicherheit, Kenntnis der lokalen psychosozialen Kinder- schutz-Infrastruktur und die Be- reitschaft sich für die jungen Ge- waltopfer einzusetzen. Der Um- gang mit Kindesmisshandlungen erfordert meist einen hohen zeit- lichen und emotionalen Aufwand. Entscheidend ist dabei, dass der ärztliche Beitrag zum Kinder- schutz nur multiprofessionell ge- lingen kann. Dies trägt dann wie- derum entscheidend zur Entla- stung des Arztes bei, der die „Last“ eines Misshandlungsfalles alleine weder schultern kann noch sollte (Herrmann 2000). Der oft geäußerten Sorge einer falsch positiven Diagnose sind die vermutlich weitaus häufigeren Fehler im Sinne übersehener Diagnosen gegenüberzustellen. Da körperliche Misshandlungen meist chronisch-rezidivierend und eskalierend verlaufen, führen sie zu schwereren Verletzungen, Behinderungen oder gar Todes- fällen bei den tatsächlich miss- handelten Kindern. Somit ist eine intensivere und fachlich fundierte medizinische Auseinanderset- zung mit der Thematik Kindes- misshandlungen zu fordern. Ver- lässliche epidemiologische Daten sind aus Gründen divergierender Definitionen, Methodik und Pro- blemen der Erfassung kaum er- hältlich, es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Die Rechtslage ist hingegen eindeu- tig: die ärztliche Schweigepflicht ist kein Hindernis für Kinder- schutz. Pauschal gesprochen gilt „Kinderschutz vor Elternrecht“. Dem Rechtsgebot der ärztlichen Schweigepflicht nach § 203 StGB ist im Sinne einer sorgfältigen Gü- terabwägung das gefährdete Kin- deswohl gegenüberzustellen. Der § 34 StGB erlaubt diese Abwä- gung im Sinne eines rechtferti- genden Notstandes. Eine Ver- pflichtung zur Anzeige entspre- chend dem § 138 StGB besteht je- doch nicht, der Arzt hat ein Zeug- nisverweigerungsrecht. Dies er- möglicht überhaupt erst das in Deutschland weitgehend akzep- tierte Konzept „Hilfe statt Stra- fe“ zu praktizieren, wenn dies nach einer gründlichen Bewer- tung der Misshandlungssituation für sinnvoll und Erfolg verspre- chend erachtet wird (Kinder- schutz-Zentrum Berlin 2000, Herrmann 2000). Terminologisch sollte der in Deutschland verbreitete Begriff „Battered child“ (Kempe et al. 1962) zugunsten von „Nicht-ak- zidentelle Verletzung“ („Non ac- cidental injury, NAI“) verlassen Medizinische Diagnostik bei körperlicher Kindesmisshandlung Bernd Herrmann Körperliche Misshandlungen führen zu erheblichen kurz- und langfristigen Störun- gen der physischen und seelischen Gesundheit von Kindern. Die WHO konstatiert in ihrem 2002 erschienenen Weltbericht zu Gewalt und Gesundheit einen starken Zu- sammenhang zwischen Gewalterfahrung in Kindheit und Jugend und einer Vielzahl chronischer Erkrankungen und Störungen im Erwachsenenalter. Kindesmisshand- lung wird als „Global health burden“ bezeichnet und das Thema an herausragender Stelle der gesundheitspolitischen Agenda der WHO platziert (WHO 2002). KINDER- UND JUGENDARZT FORTBILDUNGSSCHWERPUNKT: GEWALT GEGEN KINDER

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96 KINDER- UND JUGENDARZT 36. Jg. (2005) Nr. 2

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BIL

DUNG

Darüber hinaus zeigen neuereneurobiologische Untersuchun-gen auch in Abwesenheit vonZNS-Verletzungen messbarestrukturelle und funktionelle Ver-änderungen des Gehirns bei chro-nisch misshandelten Kindern. Ne-ben persistierenden EEG-Verän-derungen zeigten sich signifikan-te Verringerungen des Gehirn-volumens. Daneben führt man-gelnde Stimulation durch eine oftparallel bestehende Vernachlässi-gung zusätzlich zu Störungen derHirnentwicklung (Glaser 2000).

Da somatische Befunde oft derAusgangspunkt des Verdachtesauf eine körperliche Kindesmiss-handlung sind, sieht die WHOProfessionelle des Gesundheits-systems in einer Schlüsselrolle inder Erkennung, Behandlung, In-tervention und Weitervermittlungvon Misshandlungsfällen an diezuständigen Institutionen. Nebenspezifischen medizinischenKenntnissen erfordert diesRechtssicherheit, Kenntnis derlokalen psychosozialen Kinder-schutz-Infrastruktur und die Be-reitschaft sich für die jungen Ge-waltopfer einzusetzen. Der Um-gang mit Kindesmisshandlungen

erfordert meist einen hohen zeit-lichen und emotionalen Aufwand.Entscheidend ist dabei, dass derärztliche Beitrag zum Kinder-schutz nur multiprofessionell ge-lingen kann. Dies trägt dann wie-derum entscheidend zur Entla-stung des Arztes bei, der die„Last“ eines Misshandlungsfallesalleine weder schultern kannnoch sollte (Herrmann 2000).

Der oft geäußerten Sorge einerfalsch positiven Diagnose sind dievermutlich weitaus häufigerenFehler im Sinne übersehenerDiagnosen gegenüberzustellen.Da körperliche Misshandlungenmeist chronisch-rezidivierendund eskalierend verlaufen, führensie zu schwereren Verletzungen,Behinderungen oder gar Todes-fällen bei den tatsächlich miss-handelten Kindern. Somit ist eineintensivere und fachlich fundiertemedizinische Auseinanderset-zung mit der Thematik Kindes-misshandlungen zu fordern. Ver-lässliche epidemiologische Datensind aus Gründen divergierenderDefinitionen, Methodik und Pro-blemen der Erfassung kaum er-hältlich, es wird von einer hohenDunkelziffer ausgegangen. Die

Rechtslage ist hingegen eindeu-tig: die ärztliche Schweigepflichtist kein Hindernis für Kinder-schutz. Pauschal gesprochen gilt„Kinderschutz vor Elternrecht“.Dem Rechtsgebot der ärztlichenSchweigepflicht nach § 203 StGBist im Sinne einer sorgfältigen Gü-terabwägung das gefährdete Kin-deswohl gegenüberzustellen. Der§ 34 StGB erlaubt diese Abwä-gung im Sinne eines rechtferti-genden Notstandes. Eine Ver-pflichtung zur Anzeige entspre-chend dem § 138 StGB besteht je-doch nicht, der Arzt hat ein Zeug-nisverweigerungsrecht. Dies er-möglicht überhaupt erst das inDeutschland weitgehend akzep-tierte Konzept „Hilfe statt Stra-fe“ zu praktizieren, wenn diesnach einer gründlichen Bewer-tung der Misshandlungssituationfür sinnvoll und Erfolg verspre-chend erachtet wird (Kinder-schutz-Zentrum Berlin 2000,Herrmann 2000).

Terminologisch sollte der inDeutschland verbreitete Begriff„Battered child“ (Kempe et al.1962) zugunsten von „Nicht-ak-zidentelle Verletzung“ („Non ac-cidental injury, NAI“) verlassen

Medizinische Diagnostikbei körperlicher Kindesmisshandlung Bernd Herrmann

Körperliche Misshandlungen führen zu erheblichen kurz- und langfristigen Störun-gen der physischen und seelischen Gesundheit von Kindern. Die WHO konstatiert inihrem 2002 erschienenen Weltbericht zu Gewalt und Gesundheit einen starken Zu-sammenhang zwischen Gewalterfahrung in Kindheit und Jugend und einer Vielzahlchronischer Erkrankungen und Störungen im Erwachsenenalter. Kindesmisshand-lung wird als „Global health burden“ bezeichnet und das Thema an herausragenderStelle der gesundheitspolitischen Agenda der WHO platziert (WHO 2002).

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werden. Ersterer umschreibt einebeschränkte Befundkonstellation,die dem heute anerkannten brei-ten Spektrum misshandlungsbe-dingter Befunde nicht gerechtwird (Herrmann 2002).

Allgemeine Hinweiseund AnamneseBei der Bewertung der Umständeeiner möglichen Nicht-akzidentel-len Verletzung ist es von entschei-dender Bedeutung die Plausibi-lität zu prüfen, mit der ein ange-gebener Mechanismus eine vor-liegende Verletzung verursachthaben könnte. Die Diskrepanzzwischen der angegebenen Vor-geschichte und dem klinischenBefund ist der wichtigste Bau-stein der Diagnose Kindesmis-shandlung. Bei Unfällen gibt esnahezu immer eine Erklärung desUnfallgeschehens, bei Misshand-lungen fehlt sie in etwa 40% (Alex-ander et al. 2001, Herrmann2002).

Anamnestische und allgemei-ne Hinweise auf Nicht-akziden-telle Verletzungen sind:� Fehlende, vage, unklare oderwechselnde Erklärungsmuster.

� Für das Alter bzw. den indivi-duellen Entwicklungsstand in-adäquater Unfallmechanismus.

� Verzögertes Aufsuchen medizi-nischer Hilfe bei schweren Verlet-zungen.

� Schwere Verletzungen angeb-lich durch das Kind selbst oderGeschwister zugefügt.

� Entdecken zusätzlicher, zuvornicht angegebener Verletzungenbei der Untersuchung.

� Rezidivierende unklare Verlet-zungen mit gehäuftem Wechselder medizinischen Betreuung.

� Hinweise von Dritten oder demKind selbst.

Der erste Schritt der Diagnose,die gründliche Anamnese,umfasst:� Detaillierte Erhebung der aktu-ellen Verletzungen, Umstände,Zeugen, vorangegangene Stress-situationen, potenzielle Auslöser.

AnamneseAktueller Anlass, medizinische, familiäre, soziale Vorgeschichte, familiäreStressoren (schwieriges Kind?)

UntersuchungGanzkörperuntersuchung (völlig entkleidet), Prädilektionsstellen1, Anogeni-talbereich, Vigilanz, ggf. Glasgow Coma Scale, Wachstumsparameter, Ent-wicklungsstand, evtl. Geschwister untersuchen

DokumentationFotos mit Maßband und evtl. Farbtafel, Skizze mit Größen- und Farbanga-ben aller Verletzungen

ForensikHautabstriche für DNA-Analyse bei V.a. frische Bissmarken, Anogenital-abstriche bei V.a. akuten koexistierenden sexuellen Missbrauch (< 24–48Stunden)

BildgebungRöntgen-Skelettscreening2, Skelettszintigrafie3 (nur komplementär!), akutCCT, im Verlauf MRT, Sonografie

KonsiliarischFundoskopie4, Rechtsmediziner/-in – falls verfügbar, Kinderradiologe/-in

LaborBB, Quick, PTT, GOT, GPT, AP, �-GT, Amylase, Lipase, AP, Calzium, Phos-phor, Blutungszeit (nach Ivy oder subaqual)

FakultativCoeruloplasmin, Kupfer, Vitamin A, Lues-, Mycoplasmen-, HSV-Serologie,Toxikologie, organische Säuren im Urin (vergleiche unter Differenzialdiago-sen bei Befunden der Haut, Frakturen, ZNS)

1 Retroaurikulär, Lippen-/Zungenbändchen, Gaumen, Lippen innen, behaarte Kopf-haut, siehe auch Abb. 2

2 Lange Röhrenknochen, Thorax, Becken in 1 Ebene, Schädel, Wirbelsäule sowie allegefundenen Frakturen in 2 Ebenen. KEIN „Babygramm“!

3 Nicht als alleiniges Screening! Primär bei V.a. röntgenologisch nicht darstellbareRippenfrakturen

4 Möglichst durch Ophthalmologen in Mydriasis; Anzahl, Ausdehnung und Charakterretinaler Blutungen.

Tab. 1: Diagnostik bei Verdacht auf Nicht-akzidentelle Verletzun-gen (je nach klinischer Konstellation zu modifizieren)

� Medizinische Vorgeschichtefrüherer Erkrankungen und Ver-letzungen, Gedeihstörungen,chronischen Erkrankungen oderBehinderungen, Wahrnehmenvon Impfungen und Vorsorgeun-tersuchungen.

� Familienanamnese, insbeson-dere bezüglich Blutgerinnungs-störungen oder Knochenerkran-kungen.

� Ethnische Zugehörigkeit bezüg-lich unklarer Hautbefunde (Mon-golenfleck) oder bestimmtervolksheilkundlicher Praktiken.

� Sozial-, Verhaltens- und Ent-wicklungsanamnese: „Schwieri-ges Kind“? Belastete Eltern-Kind-

Beziehung? Familie in chroni-scher Stress- oder Krisensituati-on?

� Vorausgegangene, unter Um-ständen fehlbewertete Warnhin-weise, die eine Überforderungoder Erschöpfung der Eltern sig-nalisieren.

Diagnostik (Tab. 1)

Prinzip ist eine schonende, abergründliche und vollständige kör-perliche Untersuchung (immerkomplett ausgezogener Ganzkör-perstatus), mit sorgfältiger, mög-lichst fotografischer, Dokumen-tation mit Maßband (evtl. unterVerwendung einer Farbtafel). Zu-

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sätzlich ist eine Skizze mit ausge-messenen Befunden und Farban-gaben in einem skizzierten Kör-perschema (Online unterdggkv.de/Body-Schema-KKM.pdf) wichtig für eine umfassendeund unter Umständen gerichts-verwertbare Dokumentation.

Pathologische Wachstumspara-meter sind wichtig als möglicherprimärer Hinweis auf Misshand-lungen und zur Verlaufskontrolle.Labor- und apparative Untersu-chungen hängen von den Umstän-den der Verletzungen ab und die-nen eher der Beurteilung desSchweregrades und der forensi-schen Abgrenzung von Differenzi-aldiagnosen. Das so genannteRöntgen-Skelett-Screening (sie-he Tab. 1) hat mittlerweile auch inDeutschland die Skelettszintigra-fie bei allen Kindern unter 2–3Jahren als Methode der erstenWahl verdrängt (Leitlinien Kin-derradiologie 2001, Sorantin etal. 2002, AAP 2000). Dabei sollteein Babygramm wegen Verzer-rungsartefakten und Unschärfeder Metaphysen strikt vermiedenwerden. Vorteile der Skelettszinti-grafie ergeben sich dagegen fürnicht dislozierte, subtile oder ok-kulte Rippenfrakturen, die in denkonventionellen Aufnahmen inbis zu 50% übersehen werden.Die bei Kopfverletzungen aus logi-stischen Gründen akut meist be-vorzugte cerebrale Computerto-mografie (CCT) sollte in den er-

Abb. 1: Frozen watchfulness –eisige Wachsamkeit

sten Tagen nach Stabilisierungund nach 2–3 Monaten immerdurch eine Kernspintomografie(MRT) ergänzt werden. Grund istdie Verlaufskontrolle, und die ge-nauere Festlegung des Verlet-zungsausmaßes – das MRT istsensitiver, entdeckt mehr Paren-chymläsionen und etwa 50%mehr subdurale Hämatome alsdas CCT (Kleinman 1998). EineFundoskopie ist essenzieller Be-standteil der Diagnostik und ge-nießt aufgrund der hohen Korre-lation retinaler Blutungen mitNicht-akzidentellen ZNS-Verlet-zungen einen herausragendenStellenwert. Sie sollte bei Säuglin-gen mit unklarer neurologischerSymptomatik in die Routinedia-gnostik mit aufgenommen wer-den. Das Basislabor BB, GOT,GPT, �-GT, Amylase, Lipase, AP,Calzium, Phosphor, Quick undPTT dient der Abschätzung desSchweregrades von Verletzungenund aus forensischen Gründender Beurteilung des Knochenstoff-wechsels und des Gerinnungssys-tems (ergänzt durch eine Blu-tungszeit nach Ivy oder subaqual).Weitergehende Untersuchungenergeben sich nach klinischer Indi-kation bzw. nach in Frage kom-mender Differenzialdiagnose(AAP 2000, Bays 2001a).

Abb. 2: Typische Verteilungsmuster von Hämatomen und Verbren-nungen bei Misshandlung und Unfällen

Verhaltensauffälligkeiten derKinder während des stationärenAufenthaltes finden sich in Formängstlicher Gehemmtheit, Passi-vität, Überanpassung aber auchals hyperaktives, aggressives,asoziales oder destruktives Ver-halten. Bei etlichen Betroffenenlässt sich ein unsicher gespanntund traurig wirkender Gesichts-ausdruck, die sogenannte „eisigeWachsamkeit“ („Frozen watch-fulness“) beobachten (Abb. 1).Verbale Hinweise von Kindernselbst sind immer Ernst zu neh-men.

Hautbefunde

Hämatome

Die Haut als größtes Organ desKörpers ist auch am häufigsten, innahezu 90 % misshandelter Kin-der, betroffen. Für die Beurtei-lung von Hautbefunden als Indi-katoren einer Misshandlung spie-len Ort, Art und mit Einschrän-kungen die Mehrzeitigkeit vonVerletzungen eine wichtige Rolle.Die zeitlich exakte und forensischbedeutsame Zuordnung „multipleHämatome unterschiedlichen Al-ters“ ist nach neueren Daten nichtmehr zulässig allein aufgrund un-terschiedlicher Hämatomfarben.

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Je nach betroffenem Areal, Alterund ethnischer Herkunft des Kin-des und etwaig vorausgehendenchronischen Verletzungen (Miss-handlungen) ergeben sich unter-schiedliche Resorptionsraten undFarbverläufe. Unterschiedlich ge-färbte Hämatome können alsodurchaus gleichzeitig entstandensein. Gesichert ist, dass rote,blaue und violette Hämatome zujedem Zeitpunkt bestehen kön-nen, rot in der Regel eher in derersten Woche und dass gelbe Hä-matome sicher älter als 18-24Stunden sind (Schwartz et al.1996).

Der Ort, also Lokalisation undVerteilung der Hämatome, spieltdagegen eine weitaus bedeuten-

Abb. 4: Bissmarke

Abb. 3: Handabdruck

dere Rolle. Im Gegensatz zu ty-pisch akzidentellen Verletzungen(vergleiche Abb. 2) sind unfallun-typische Lokalisationen verdäch-tig: Thorax, Rücken, Nates, Geni-tale, dorsale Oberschenkel, Oh-ren, Kieferwinkel, Mastoid, Wan-gen, Oberlippe, Frenulum der Lip-pe (Zwangsfüttern), Hals (Würge-male, Ligaturen), Nacken, ventra-le Unterarme (Schutz vor Schlä-gen), Schulter, Oberarme symme-trisch, Handrücken und Anogeni-talbereich (Abb. 2). AkzidentelleHämatome bei kleinen, nichtmobilen Säuglingen sind selten(„Those who don’t cruise rarelybruise“ – Sugar et al. 1999). Ge-formte Hämatome durch denAbdruck von Gegenständen(Stöcken, Seilen, Schlingen, etc.),Händen (Abb. 3) oder Würgemalefinden sich nahezu ausschließ-lich bei Misshandlungen. Darun-ter sind insbesondere Bissmarken(Abb. 4) eine typische Blick-diagnose und anhand ihresovalären und gequetschten Cha-rakters gut von Tierbissen diffe-renzierbar. Erwachsenenbissehaben zudem regelhaft einenInterkaninen-Durchmesser vonmehr als 3 cm (Jenny 2001, Herr-mann 2002).

Verbrennungen

Misshandlungsbedingte Verbren-nungen sind schwerwiegender,haben eine deutlich höhere Mor-talität (ca. 30%) als akzidentelleVerbrennungen (2%) und ein sig-nifikant erhöhtes Risiko schwer-wiegender posttraumatischeremotionaler Störungen. Haupt-sächlich werden Verbrühungen(80%) und Kontaktverbrennun-gen gefunden. Wie bei den Häma-tomen sind Verbrennungsmusterund Lokalisation von größter Be-deutung (Abb. 2). Während beiUnfallverbrennungen meist einsehr inhomogenes Spritz- undTropfmuster, mit multiformenund irregulär begrenzten Efflor-eszenzen entsteht („Splash anddrop pattern“), zeigen misshand-lungsbedingte Verbrühungen, oftdurch Eintauchen in heiße Flüs-sigkeiten (Immersionsverbren-

Abb. 5: Zigarettenverbrennun-gen

nungen), dagegen ein gleichmäßi-ges, scharf begrenztes, Hand-schuh- oder StrumpfartigesMuster an Händen oder Füßenmit uniformer Verbrennungstiefe.Im Anogenitalbereich findet sichals Folge von Disziplinierungenbei pathologischer Sauberkeits-„erziehung“ durch forciertenKontakt mit dem kühleren Wan-nenboden eine „Doughnut“-artigeAussparung der Verbrühung.Aussparungen in Hautfalten(Kniekehlen, Ellenbeugen) deutenauf gewaltsames Eintauchen mitFesthalten hin. Geformte, ins-besondere spezifische geome-trische Muster durch trockeneKontaktverbrennungen sindhochverdächtig auf eine zugrundeliegende Misshandlung. Bei akzi-dentellen Verbrennungen sindzumeist die tastenden Finger oderPalmarflächen der Hände betrof-fen, alternativ weitere Körperpar-tien mit inhomogenen, verwisch-ten, streifigen Verbrennungen.Misshandlungsverbrennungen(Haartrockner, Heizungsroste,Herdplatten, Bügeleisen, u.a.)sind geformt und bilden den be-treffenden Gegenstand ab. Ziga-rettenverbrennungen haben etwa8–10 mm Durchmesser, imponie-ren tief ausgestanzt und sind oftan Hand- oder Fußrücken gele-gen, gelegentlich anogenital(Abb. 5). (Purdue et al. 1988,Jenny 2001, Bays 2001a).

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Differenzialdiagnosen beiHautbefunden

� Akzidentelle Hämatome� Gerinnungstörungen� Kongenitale Hautveränderun-

genMongolenfleck, besonders bei un-gewöhnlicher Lokalisation, Eh-lers-Danlos-Syndrom

� Erythema multiformeHerpes oder Mycoplasmen-Infektion

� PetechienPertussis, Erbrechen, Gerin-nungsstörungen, Vaskulititiden

� Kontaktdermatitisu.a. Phytophotodermatitis durchLimonen, Zitronen, Fenchel, Ka-rotten, Sellerie, Dill

� Haar-Tourniquet-Syndrom� Bullöse Medikamenten-

exantheme� Dermatitis herpetiformis� Impetigo contagiosa

DD zu Zigarettenverbrennungen

� Windeldermatitis� Volksheilverfahren

Moxibustion, Schröpfen, asiati-sches Münzen- oder Löffelrollen

FrakturenBis zu 50% misshandelter Kinderweisen eine oder mehrere Fraktu-ren auf (im Schnitt 3.6 pro Kind).Misshandlungsbedingte Fraktu-ren betreffen 8–12% aller Fraktu-ren bei Kindern, darunter nahezujede 2. Fraktur im ersten Le-bensjahr. Frakturen reflektierenbesonders gewalttätige Miss-handlungen, da sie erheblicheKräfte erfordern. Sie werdenüberwiegend unter 3 Jahren ge-funden (55–70% unter 1 Jahr,80% unter 18 Monaten), wohinge-gen akzidentelle Frakturen häufi-ger ältere Kinder betreffen (in 2%unter 18 Monaten, in 85% bei denüber 5-Jährigen). Grundsätzlichkorreliert abnehmendes Alter undabnehmende Mobilität mit zuneh-mender Wahrscheinlichkeit einerNicht-akzidentellen Verletzung.Etwa 40% der Frakturen sind kli-nisch unerwartet und somit hoch-verdächtig. Es wird eine hohe Ko-inzidenz mit anderen Misshand-

Abb. 6: Metaphysäre Fraktur

lungsformen gefunden, so weisen70% aller Opfer nicht-akzidentel-ler ZNS-Verletzungen zusätzlichFrakturen auf.

Als klassische Misshandlungs-konstellation gelten multipleFrakturen in verschiedenenHeilungsstadien, wiederum oh-ne adäquate akzidentelle Er-klärungen. Radiologisch findensich zwischen 0–10 Tagen Weich-teilschwellungen, Ödeme, Blutun-gen, sichtbare Frakturlinien und -fragmente; nach 24–48 Stundenwird die Skelettszintigrafie posi-tiv; früheste Kallusbildung nach 7Tagen (Säuglinge) bis 10 Tagen;nach 10–14 Tagen deutliche Kal-lusbildung; bis 8 Wochen pe-riostale Knochenneubildung; da-nach allmähliche Resorption;Schädelknochen bilden keinenKallus.

Metaphysäre und epiphysäreFrakturen sind nach Ausschlusseines schweren Unfalls nahezupathognomonisch für eine Miss-handlung. Sie werden bei Unfäl-len im Kleinkindesalter nur in sel-tenen Ausnahmefällen gefundenund erfordern massive Schleuder-und Scherkräfte. Sie unterschei-den sich auch morphologisch vonden bei älteren Kindern gefunde-nen akzidentellen epi- und meta-physären Frakturen. Typisch sindEckfrakturen, Korbhenkelfraktu-ren und lineare, nicht-disloziertemetaphysäre Frakturen und Epi-physeolysen (Abb. 6). Dabei han-

delt es sich nicht um periostaleoder knöcherne Ausrisse wie oftfälschlich angenommen wird.Histologisch wurden vielmehrmultiple subphyseale Mikrofrak-turen an der Verbindung zwi-schen Metaphyse und eigentlicherPhysis nachgewiesen, die auf diegenannten Schleuder- und Rotati-onskräfte zurückgeführt werden.Hierzu sind erhebliche Kräfte er-forderlich. Vornehmlich bei Säug-lingen finden sich nach Misshand-lungen so genannte periostaleReaktionen, bei denen es durchRotations- und Verbiegekräfte zueiner Ablösung des diaphysär loseanliegenden, metaphysär aberfest fixierten Periostes kommt.

Eine sehr hohe Spezifität habenRippenfrakturen, insbesondereRippenserienfrakturen, die auchbei schweren Verkehrsunfällenund bei kardiopulmonaler Reani-mation selten akzidentell nachge-wiesen werden. Sie werden in90% bei Kindern unter 2 Jahrengefunden und sind in etwa 80%posterior gelegen. Trotz geringe-rer Spezifität als die klassischenmetaphysären, werden diaphy-säre Frakturen der langenRöhrenknochen häufiger beimisshandelten Kindern gefunden.Humerusfrakturen sind vor al-lem unter 15 Lebensmonatenhochverdächtig (in 66–100%nicht akzidentell). Unterarm-frakturen in Schaftmitte könnenals „Parierfraktur“ auf den Ver-such der Abwehr eines Schlageshinweisen. Die Benutzung der Un-terarme oder der Oberarme alsHebel zum Schütteln oder Schleu-dern eines Kindes, deuten weitereNicht-akzidentelle Frakturme-chanismen an. Femurfrakturenunter einem Jahr sind ebenfallshochverdächtig. Sternum-, Ska-pula- und Beckenfrakturen wer-den selten bei Misshandlungengefunden, haben jedoch aufgrundder dafür benötigten erheblichenKräfte eine hohe Spezifität (Coo-permann et al. 2001, Kleinmann1998). Schädelfrakturen werdenbei 8–10% der Misshandlungsop-fer gefunden. Bei den so genann-ten banalen Stürzen vom Wickel-tisch, Bett, Sofa u.a. bis etwa

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1.2–1.5 m Sturzhöhe kommt es in3–5% zu einfachen, linearen, pa-rietalen Frakturen. Verdächtigsind dagegen multiple, komplexeFrakturen, also lange Frakturen(> 5 cm), Nähte kreuzende, ver-zweigte, sternförmige Frakturenmit weitem Frakturspalt (> 3-5mm), diastatische Frakturen,Nahtsprengungen („Eierschalen-frakturen“), okzipitale Impressi-onsfrakturen und die Assoziationmit schweren intrakraniellen Lä-sionen bei angeblich banalenStürzen (Alexander et al. 2001,Bays 2001a).

Differenzialdiagnosen beiFrakturen

� Akzidentelle Frakturen„Toddler´s fracture“ der Tibiaund akzidentelle Femurfrakturenbei Kindern im Lauflernalter

� Geburtstraumatische Fraktu-renKlavikula, Humerus, sehr seltenRippen – Geburtsanamnese!

� FrühgeborenenosteopeniePhysiotherapie kann zu Fraktu-ren führen!

� Metabolische ErkrankungenRachitis, Skorbut, Menkes Syn-drom, Mukolipidose II

� MedikamenteMTX, Prostaglandin E, iatrogeneHypervitaminose A

� InfektionenOsteomyelitis, kongenitale Syphi-lis

� Neuromuskuläre Erkrankun-genSpina bifida, infantile Zerebral-parese

� NeoplasienLeukosen, Neuroblastom- u.a.Metastasen, Histiozytosis X

� Infantile kortikale Hyperostose

� Osteogenesis imperfectaGeschätzte Verwechlungswahr-scheinlichkeit statistisch1:300000; Einzelfälle beschrie-ben, vornehmlich milde Verläufeder Typen IV und seltener I. Kli-nische und anamnestischen Kri-terien: blaue Skleren, Schwer-hörigkeit, Dentinogenesis imper-

fecta, „Wormian bones“ (Schalt-knochen), positive Familien-anamnese (CAVE Spontanmuta-tionen). Selten Kollagen- oderMutationsanalyse zur Differen-zierung erforderlich. Die zuletztspekulativ als spontanheilende,passagere Variante der Osteoge-nesis mit Defekt im Kupfermeta-bolismus postulierte „TemporaryBrittle Bone Disease“, entbehrtreproduzierbarer klinischer undlaborchemischer Daten und istsomit keine gesicherte Differen-zialdiagnose von Misshandlungs-frakturen (Steiner 1996, Block1999).

ZNS-Verletzungen – ShakenBaby Syndrom (SBS)

Misshandlungsbedingte Verlet-zungen des Zentralnervensy-stems haben die höchste Morbi-dität und Mortalität bei misshan-delten Kindern. Die größte klini-sche Bedeutung hat das Schüttel-trauma des Säuglings oder Sha-ken Baby Syndrom (SBS). Dar-unter wird die Konstellation sub-duraler Hämatome und meistausgeprägter retinaler Blutungen,mit schweren und prognostischungünstigen, diffusen Hirnschä-den durch schweres Schütteln ei-nes Säuglings verstanden. EinSBS in seiner vollen Ausprägungerfordert massivstes, heftiges,gewaltsames Hin- und Her-schütteln eines Kindes, welcheszu unkontrolliertem Umherrotie-ren des kindlichen Kopfes führt.Um Gehirnschädigungen, wie siefür das SBS typisch sind, hervor-zurufen, sind erhebliche physika-lische Kräfte erforderlich. DasSpektrum klinischer Symptomeumfasst Irritabilität, Trinkschwie-rigkeiten, Somnolenz, Apathie,cerebrale Krampfanfälle, Ap-noen, Temperaturregulations-störung und Erbrechen durchHirndruck. Diagnostisch gesi-chert wird das SBS durch die typi-sche Symptomkonstellation, dieFundoskopie, das initiale CCT undim Verlauf durch ein MRT. DiePrognose ist schlecht: Über zweiDrittel der Überlebenden erleidenmehr oder weniger schwere neu-rologische Folgeschäden in Form

von Entwicklungsstörungen,schweren Seh-, Hör- und Sprach-ausfällen bis hin zu bleibendenBehinderungen oder Tod – dieMortalität beträgt 12–27% (Du-haime 1998, AAP 2001a, Ophtal-mology Child Abuse Working Par-ty 1999). Zu dieser Thematik isteine eigene Übersicht in dieserZeitschrift vorgesehen.

Thorakale und abdominaleBefunde Verletzungen des Bauchraumesund Brustkorbes als Folge vonSchlägen oder Tritten sind selten,stellen jedoch die zweithäufigsteTodesursache bei Misshandlun-gen dar. Während im Bauchraumbei Unfällen zumeist Milz, Nierenoder Leber betroffen sind, findensich bei Nicht-akzidentellen Ver-letzungen vor allem Hohlorgan-verletzungen, seltener Leber-,Pankreas- oder Nierentraumen,und kaum je Milzverletzungen.Bei fehlendem überzeugendemakzidentellem Mechanismus istein intramurales Duodenalhäma-tom pathognomonisch für eineMisshandlung. Nach Ausschlussinfektiöser und metabolischer Ur-sachen sollte auch bei einer Pan-kreatitis und unerklärten Pan-kreaspseudozysten eine traumati-sche Genese in Betracht gezogenwerden. Bei thorakalen Verlet-zungen finden sich neben den be-reits erwähnten Rippenfrakturen,Herz- und Lungenkontusionen,Pneumothoraces, Hämatothora-ces, selten auch Bronchial- oderGefäßabrisse (Ng et al. 1997).

Sonstige Manifestationenim Kopf- und HalsbereichGesicht, Nacken und HNO-Be-reich sind in 65–75% der miss-handelten Kinder betroffen. DerKopf ist in einfacher Reichweitefür Schläge und der Mund gerade-zu als Verkörperung des Schrei-ens oder von Fütterschwierigkei-ten „beliebte“ Zielscheibe von Ge-waltakten. Meist finden sich äuße-re Hämatome, die bei Handab-drücken oder Gegenständenleicht identifizierbar sind. Ebensosind Ekchymosen und Prellungen

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des Gesichtes und der Lippen guterkennbar. Strangulationsmar-ken, typisch angeordnete Finger-abdrücke oder Ligaturen sindHinweise am äußeren Hals oderNacken. Äußere Verletzungen derOhren sind starke Hinweise undentstehen durch direkte Schläge,Ziehen („Die Ohren lang ziehen“!),Kneifen oder Reißen. Verletzun-gen der Mundhöhle, typischer-weise nach Frustrationen beimFüttern, sind Kontusionen derLippen oder der Gingiva, Lazera-tionen der Mundschleimhaut odertraumatische Perforationen desGaumens, der Tonsillenloge unddes Pharynx durch Essbesteck.Zungenverletzungen durch dieZähne des Kindes sind Folgenäußerer Schläge. Verbrennungender Mundhöhle können durch for-ciertes Einführen heißer Flüssig-keiten oder Nahrung entstehen.Auch die Zähne können durch di-rekte Gewalteinwirkung, Gegen-stände oder Stürze betroffen seinund Frakturen, Dislokationenoder Ausrisse aufweisen. EineVielzahl von äußeren Augenver-letzungen kann Folge körperli-cher Misshandlung sein (AAP1999, Levin 2000, OphthalmologyChild Abuse Working Party 1999).

Intoxikationen

Absichtliche Intoxikationen sindeine unterdiagnostizierte Varian-te der Kindesmisshandlung undwerden als Disziplinierung oderaus sadistischen Motiven verübt.Dabei verwendete Substanzenumfassen Ipecac, Laxantien, Pfef-fer (gehäuft letaler Ausgang durchAspiration), Kochsalz, Trinkwas-ser (durch zwangsweise oraleoder rektale Applikation), Kohlen-monoxid, Medikamente, Haus-haltschemikalien, Alkohol undDrogen. Generell wird eine höhe-re Letalität als bei akzidentellenIntoxikationen angegeben, einungewöhnliches Alter (unter1 Jahr oder zwischen 5 und 10Jahren), eine fehlende oder un-passende Anamnese, multipleoder ungewöhnliche Toxine, ver-zögertes Aufsuchen medizini-scher Hilfe, und koexistierendeHinweise auf Misshandlung oder

Vernachlässigung (Bays et al.2001b).

Tödliche Misshandlungen

Während der Großteil der miss-handlungsbedingten Todesfälledurch ein SBS oder eine thorako-abdominale Verletzung verur-sacht wird, müssen auch seltene-re Ursachen in Betracht gezogenwerden. Neben den absichtlichenIntoxikationen und absichtlichemErtränken, wird in diesem Zu-sammenhang vor allem der plötz-liche Kindstod (SIDS) diskutiert.Schätzungen aus den USA gehenvon einem Anteil von 1–5% derSIDS-Opfer aus, die tatsächlich ei-nem Infantizid zum Opfer fallen(AAP 2001b). Eine alarmierendeArbeit aus Großbritannien unter-suchte das Misshandlungsrisikobei Kindern mit rezidivierendenApnoen bzw. ALTE (Apparent lifethreatening event) durch verdeck-te Videobeobachtung in einer Kli-nik. In 33 von 39 Fällen wurdenverschiedene Misshandlungenund in 30 Fällen eine versuchteErstickung dokumentiert. Unterden 41 Geschwisterkindern die-ser Patienten waren 12 zuvor un-erklärt verstorben und 11 alsSIDS deklariert worden. Bei 8 da-von gaben die Eltern später zu,ihre Kinder erstickt zu haben(Southhall et al. 1997). Die in denUSA verbreiteten multiprofessio-nellen „Death review teams“wären eine geeignete Herange-hensweise für diese Problematik.Bei allem zwingend notwendigenMitgefühl für betroffene Eltern istSIDS primär kein natürlicher Tod– die Diagnose kann erst nach ei-ner Obduktion und Analyse derVorgeschichte und Auffindesitua-tion gestellt werden (AAP 2001b).

Fazit

Die Diagnose einer Misshandlungerfordert die Kenntnis gängigerNicht-akzidenteller Verletzungenunterschiedlicher Spezifität (Tab.2). Davon sind akzidentelle Ver-letzungsmechanismen und weite-re Differenzialdiagnosen abzu-grenzen. Dies erfordert eine ratio-nale diagnostische Strategie zur

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Klärung eines entsprechendenVerdachtes. Auf der Basis gesi-cherter Fakten kann die klinischeMedizin dadurch einen wertvol-len Beitrag zum Schutz von Kin-dern leisten. Die weitere Betreu-ung liegt nicht mehr in erster Li-nie in ärztlicher Hand, sondernwird in der Regel durch das Ju-gendamt koordiniert. Dennochspielen gerade engmaschige ärzt-liche Kontrollen durch niederge-lassene Kinder- und Jugendärzteeine wichtige Rolle bei der Ver-laufskontrolle der ergriffenenMaßnahmen. Erneute Verletzun-gen oder Gedeihstörungen sindHinweise auf ein Scheitern des be-stehenden Konzeptes und weisenauf die Notwendigkeit einer Ände-rung oder erneuten Interventionhin. Ärztliche Intervention hat so-mit ihren Schwerpunkt bei derprimären Erkennung von Miss-handlung und steht dann am An-fang eines multidisziplinären,langfristigen Betreuungsprozes-ses einer Familie. Diesen qualifi-ziert einzuleiten und zu begleitenist die besondere ärztliche Ver-antwortung bei einer Kindesmiss-handlung.

Zusammenfassung

Kinder- und Jugendärzte spielenbei der Diagnose einer körperli-chen Kindesmisshandlung eineherausragende Rolle. Gerade imSäuglings- und Kleinkindalter,der Hauptrisikogruppe für Miss-handlungen, sind sie oft die einzi-gen Fachleute, die Kinder zu Ge-sicht bekommen. Im ambulantenniedergelassenen Bereich liegtder Schwerpunkt oft noch vor dermanifesten Misshandlung in derErkennung und Intervention ge-störter Eltern-Kind-Beziehungen,dann in der genauen Verlaufsbe-obachtung unklarer oder ver-dächtiger Konstellationen undschließlich in der Überleitung inden klinischen Bereich. Dort müs-sen hinweisende Befunde durcheine gezielte und rationale Dia-gnostik geklärt und gegenüber ei-ner Reihe von Differenzialdiagno-sen abgegrenzt werden. Nebendem hohen Stellenwert der klini-schen Untersuchung und der

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Kenntnis typischer Misshand-lungsbefunde, stehen das Rönt-gen-Skelett-Screening und dieFundoskopie an oberster Stelleder klinischen Diagnostik. DerKern einer Verdachtsklärung istdie Überprüfung der Plausibilität,mit der vorliegende Verletzungentatsächlich wie angegeben ent-standen sind. Verdächtige Kon-stellationen umfassen alle unkla-ren schweren Verletzungen beiangeblich banalen Unfällen, feh-lende, vage oder wechselnde Er-klärungsmuster, altersinadäqua-te Unfallmechanismen, verzöger-tes Aufsuchen medizinischer Hilfe

sowie Hinweise von Dritten oderdem Kind selbst. In Abwesenheiteiner plausiblen akzidentellen Er-klärung zählen zu den stärkstensomatischen Hinweisen subdura-le Blutungen, insbesondere inKombination mit retinalen Blu-tungen, komplexe Schädelfraktu-ren, Rippenfrakturen, meta- undepiphysäre Frakturen, multipleFrakturen unterschiedlichen Al-ters, multiple Hämatome an unge-wöhnlichen Lokalisationen, ge-formte Hämatome oder Verbren-nungen, Immersionsverbrennun-gen und intramurale Duodenal-hämatome.

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Wenngleich im deutschen Kinder-schutz nach wie vor das Schlag-wort „Hilfe-Statt-Strafe“ Gültig-keit besitzt, müssen die immermultiprofessionell ausgerichteteIntervention und der weitere Ver-lauf strikt kontrolliert werden.Der Schutz des Kindes vor weite-rer körperlicher oder seelischerBeeinträchtigung steht im Zen-trum der Bemühungen.

Weitere Informationen, abruf-bare Originalarbeiten und me-dizinische Fortbildung unter:www.dggkv.de

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HochFrakturen: Meta- oder epiphysär, Rippen, Skapula, Sternum, Wirbelkörper,Processus spinosus

ZNS: Shaken Baby Syndrom, ausgeprägte retinale Blutungen, Retinoschi-sis, Glaskörperblutung

Haut: Bissmarken, geformte Hämatomabdrucke1, geformteVerbrennungen2, Immersionsverbrennungen3

Abdomen: Intramurale Duodenalhämatome

MittelFrakturen: Multiple Frakturen unterschiedlichen Alters, Epiphysiolysen,komplexe Schädelfrakturen, Frakturen der Finger, Hände, Füße, Mandibula,Frakturen im Säuglingsalter, periostale Reaktion

ZNS: Subdurale Hämatome4

Haut: Multiple Hämatome (ungewöhnliche Lokalisation), Hämatome imSäuglingsalter, retroaurikuläre Hämatome, Einrisse des labialen oder lin-gualen Frenulums, Verbrennungen an Händen, Füßen oder im Anogenital-bereich

HNO: Hypopharnxyperforationen

Abdomen: Hohlorganperforationen, linker Leberlappen, Nieren, Pancreas,Pancreaspseudozysten

Sonstige: Rezidivierende ALTE

NiedrigFrakturen: Clavikula, diaphysäre Frakturen, lineare, einfache Schädel-frakturen

ZNS: Epidurale Hämatome

Abdomen: Milzverletzungen

Haut: Multiple Hämatome im Lauflernalter an „führenden“ Körperpartien,verschiedenfarbige Hämatome, Verbrennungen mit inhomogenem „Spritz-und Tropf-Muster“

1 Hände, Griffmarken, Fingerabdrücke, Striemen, Gürtel, Riemen, Schlaufen, Schlin-gen, Stöcke

2 Zigarette, Herdplatte, Bügeleisen, Heizrost u.ä.3 „Handschuh- oder Strumpfmuster“4 Vor allem über der Konvexität, interhemisphärisch, bei fehlender Schädelfraktur

Tab. 2: Spezifität Nicht-akzidenteller Verletzungen(Immer in Abwesenheit plausibler akzidenteller Erklärungen undnach Ausschluss der Differenzialdiagnosen; Spezifität steigt mit be-gleitenden zusätzlichen Nicht-akzidentellen Verletzungen)

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Dr. med. Bernd HerrmannKlinik für Kinder- und Jugendmedizindes KlinikumsÄrztliche Kinderschutz- und Kinder-gynäkologieambulanzMönchebergstr. 4334125 KasselTel: +49-561-980 3389Fax: +49-561-980 6951E-Mail: [email protected]: www.kindesmisshandlung.de,www.dggkv.de

Red.: Christen

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