Francois Jullien - Die Affenbrücke

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DIE AFFENBRÜCKE PASSAGEN FORUM

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Der Philosoph und Ostasienwissenschaftler François Jullien verknüpft den Bericht seiner Vietnamreise mit philosophischpolitischen Reflexionen und einem Plädoyer für den Dialog der Kulturen.

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Die Affenbrücke

Über die Flussarme des Mekong spannen sich, wo diese nicht zu breit sind, aus drei Bambusrohren gefertigte Brücken: Jeweils eines ist an beiden Ufern schräg in den Boden gesteckt, das dritte verbindet die beiden oberen Enden in der Horizontalen. Es sind grazile Brücken, gerade so breit wie ein ein-zelnes Bambusrohr; man kann die Uferbewohner ständig dabei beobachten, wie sie mit Leichtig-keit hinauf- und hinuntersteigen, manchmal mit ihrem Fahrrad auf der Schulter. Die Brücken heben sich kaum vom dicht wachsenden Bambus der Uferböschungen ab, hier und dort zeichnen sie ihre feinen Silhouetten über die willkürlich mäandernden Flussarme und durchbrechen die Monotonie. Man nennt sie die „Affenbrücken“, denn man benötigt die Geschicklichkeit und den Gleichgewichtssinn eines Affen, um auf ihnen über das Wasser zu kommen. Wer sie näher betrachtet, denkt unwillkürlich an all das angehäufte technische Wissen, das zwar abgestimmt, aber weder berech-

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net noch im Modell erprobt wurde und trotzdem Widerstand und Biegsamkeit derart vereint, dass diese zarten Konstruktionen dem ständigen Ge-brauch standhalten und auch Unwettern trotzen. Man denkt auch an all die Behändigkeit, die der Körper erlangen muss (doch geht es hier nur um den „Körper“?), an das Können, das hier in den Fußsohlen und als Wachsamkeit, als Beherrschung der Reflexe am Werke ist, und das über so viele Generationen weitergegeben wurde, damit man sich über diese dünnen Stäbe fortbewegen kann; jeden Tag, in jedem Alter, leicht balancierend und wie spielerisch: mit der Kunst eines Seiltänzers, aber ohne ein Spektakel daraus zu machen. Man sieht heute aber auch hie und da Zement-brücken, die sich mit den anderen abwechseln und sie ersetzen sollen. Kaum fertiggestellt oder noch im Entstehen: Sie sind alle nach demselben Modell gebaut, mehr als einen Meter breit, alle gleich hoch und mit symmetrischer Basis auf bei-den Seiten. Standardbrücken, stereotyp, bequem oder eher „praktisch“. Sie lassen mit ihrer Steifheit die ganze Landschaft erstarren. Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass sie ausreichen, um diese Kunst des Gleichgewichtssinns und der klugen Nutzung der Haftreibung zu verdrängen, die sich in jahrhun-dertelangem Training entwickelt hat. Der Bruch, den sie herbeiführen, ist unauffällig, aber immens: Er stößt unsanft in eine andere Welt, er importiert

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einen anderen Modus von Leistung und Rationa-lität – er zwingt ihn auf. Eindeutiger letztendlich als so mancher angekündigte ideologische Bruch. Damit wird auf einen Schlag nicht nur eine Kunst aufgegeben, sondern noch viel mehr: die Art, wie man sich fortbewegt und auf etwas zugeht, an etwas festhält, sich im Raum bewegt und Fuß fasst, sich sichert, seine Gedanken ordnet. Seien Sie versichert: Meine Absichten sind nicht nostalgisch. Sicher, man hat in dieser Veränderung nur Gewinn gesehen (Sicherheit, Bequemlichkeit: modernes Management), und dennoch gibt es ei-nen Verlust. Aber das hat meinerseits, das möchte ich feststellen, keinerlei Ästhetizismus zur Folge. Tatsächlich wäre es höchst lächerlich oder verab-scheuenswert, wenn der Tourist, der sich durch den Raum bewegt, auf einmal durch die Zeit reisen wollte und sich wünschte, die Welt täte ihm an diesem Abend, als er dort auf einem Seitenarm des Mekong in einem Kahn schaukelte, plötzlich einen Gefallen und brächte ihn zurück in das Zeitalter „unserer ersten Vorfahren...“, das Goldene Zeitalter der einfachen Sitten und der Genügsamkeit; und dass ihn das mit der (anderswo bekanntermaßen so malträtierten) Natur versöhnen und ihn schließlich in eine heilsame Harmonie hüllen würde. Denn dieser Tourist weiß, dass er in Kürze wieder mit dem Auto fahren und mit dem Flugzeug fliegen wird: Er nimmt sich die Bequemlichkeit einer

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homogenen, abgesteckten Zeit heraus, einer teuer erkauften Sicherheit, während er gleichzeitig wünscht, dass anderswo die wundersame Geschicklichkeit der Vorfahren und ihr ländliches Flair erhalten bleiben sollen – diese Rolle haben die Europäer auf ganz besonders gemeine Weise gespielt. Wie könnte man auch übersehen, dass dieser Bruch zwischen zwei Zeitaltern, jenem vor und jenem nach der Industrialisierung, überall auf der Welt stattgefunden hat, oder vielmehr genau heute dabei ist, endgültig zu werden? Was diesen Ort und diesen Zeitpunkt vielleicht trotzdem besonders hervorhebt, ist die Brutalität des Bruchs (tatsächlich ist er umso brutaler, je später er erfolgt). Es hat vielleicht sechs Monate gedauert, und schon ist ein ganzer Zivilisationsmodus auf einem ganzen Gebiet gekippt, und das allein deshalb, weil man die Art des Brückenbaus verändert hat. Achtlos und ohne auch nur die Konsequenzen zu bedenken. Denn ich möchte hervorheben, was hier auf dem Spiel steht, das man analysieren kann und das nichts Anekdotenhaftes hat. Man ist auf einen Schlag von der Logik einer vollkommen ökologischen Einbin-dung zu einer Logik des Einbruchs übergegangen: normativ, ein Modell aufzwingend, dem Standard vertrauend, berechnend und von vornherein die Lösung bestimmend. Dadurch wird etwas begraben und wahrscheinlich für immer vergessen – „ver-loren“ –, was ich eher Einverständnis (connivence)

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als Erkenntnis (connaissance) nennen möchte – ich komme darauf zurück. Denn der Bruch, den die Zementbrücken herbeiführen, ist natürlich nicht isoliert. Am Horizont sieht man in Bau befindliche Straßen. Dabei hat man sich bis jetzt, das heißt, seit dieses Delta bewohnt ist, seit sich das Leben hier entwickelt hat, nur auf dem Wasser fortbewegt. Und dieses Jahrtausendealte kippt nun plötzlich? Dieser weder langsame noch schnelle Rhythmus dicht über dem Wasser, das Navigieren durch das Netz der unmarkierten Nebenflüsse, ohne sich zu verirren; oder auch die Nachbarschaftsverhältnisse und die Gastfreundschaft, die allein dadurch ent-stehen, dass man irgendwo anlegt. Die Straße teilt die Landschaft durch ihre Querverbindungen in Rechtecke ein; sie verhandelt mehr mit der Natur als sich in sie einzufügen und begradigt sie nach Möglichkeit, indem sie ihr ihre Geradlinigkeit aufzwingt: Sie schneidet ab, überquert, führt so weit als möglich zur Geometrie hin (ich kenne in der Bretagne Strecken, die Buchten überqueren, zu denen man nicht mehr hinkommt). Indem dieses übergeordnete (Straßen- oder Schienen-) Netzwerk die Landschaft erschließt, zieht es uns von ihr ab – oder noch besser: abstrahiert uns von ihr. Durch diese Überlagerung und diese Unifor-mität wird die Landschaft entflochten, entrollt und entfaltet: Sie wird aus ihrer inneren Struktur herausgeholt und geschwächt.

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Dicht über dem Wasser ist es heiß (mitten im Januar...), man beschließt, eine Pause zu machen. Bambus, ein Obstgarten mit Obstbäumen aller Art, schattige Pavillons, Hängematten... Ein freundlicher Empfang. Ja, freundlich, aber man spürt trotzdem genau, dass sich alles im Umbruch befindet: Man ist nicht weit von der Rentabilität entfernt. Nächstes Jahr, erklärt man uns, werden die Anlegestellen und die Pavillons sich vervielfacht haben. Hier entsteht ein offizieller Haltepunkt für Touristen, sobald alles ordnungsgemäß markiert und abge-sichert ist (die Durchfahrt ist noch schmal). Die Straße wird sie im Reisebus herbringen, dann geht es wie früher per Boot weiter; dann der Halt unter den Kokospalmen. Fruchtsaft und Fotografieren. „Souvenirs aus...“ Das Trugbild des Fremdartigen wird aufgebaut. Der Exotismus ist angekommen.

Tourismusschäden

„Minderheit“ ist keineswegs gleichbedeutend mit Armut. Das beweisen die Chinesen am Mekong, starke Gemeinschaften, die sich in den Städten angesiedelt haben und den Handel beherrschen: In den Städten fließt, hier wie anderswo, der Reichtum zusammen. Trotzdem besteht – häufig – ein enger Zusammenhang zwischen „ethnischen Minderheiten“ und Unterentwicklung. Diese leben

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oft, in Vietnam wie anderswo, in dezentraleren und darum weniger eingebundenen Regionen; sie profitieren nicht oder nur mit Verzögerung vom Aufschwung der Städte und der modernen Bildung, werden weiterhin von der dominierenden Ethnie bevormundet und können sich nur selten Eigenverantwortlichkeit erarbeiten. Da wirkt der Tourismusboom wie ausgleichende Gerechtigkeit: Provinzen wie Lào Cai oder Mekong üben umso mehr Anziehungskraft aus, je abgeschiedener sie sind. Die Berg- oder Flussregionen (im Norden und Süden), die noch nicht industrialisiert, weniger verschmutzt und besser erhalten sind, bieten sich als Zufluchtsorte der Natur an. Dazu kommt noch das Pittoreske der Minderheiten mit ihren urigen Sitten und Bräuchen: eine (kurze) Rückkehr in das raue Leben der Vorfahren, bei der man den sozialen Druck und die Strapazen der Gegenwart vergessen kann, die Weisheit der Vorzeit und den Mythos des einfachen Lebens wiederentdeckt (das auch noch billiger kommt). Man reist nicht nur in die Landschaft, sondern auch in die „Mentali-tät“. Eine treffliche Wendung: Der Tourismus der Städter, und noch mehr jener der Ausländer, kehrt die unerbittliche Landflucht um und stellt genau zur rechten Zeit das Gleichgewicht wieder her. Der Tourismus kann tatsächlich eine Bereicherung darstellen, allerdings nur unter zwei Voraussetzun gen. Erstens muss er als eine Begegnung von Ebenbür-

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tigen entstehen, mit anderen Worten so, dass nicht die eine Bevölkerung von der anderen entfremdet wird. Und das ist heute deutlich bemerkbar der Fall. Tatsache ist – wie könnte es übrigens auch anders sein? –, dass die indigenen Bevölkerungen, in diesem Fall die Minderheiten, danach streben, Teil der Konsumgesellschaft zu werden, von der sie bis jetzt nur Bruchstücke kennen: Sie erahnen sie anhand der wenigen Fertigprodukte, die bis in die Dorfläden gelangen, oder anhand der ersten modernen technologischen Geräte, die unter ihnen von Hand zu Hand gehen, oder durch die Information, die sie – immer häufiger – erreicht (mancherorts tauchen Fernseher auf ); zuallererst jedoch und aus nächster Nähe durch Bekleidung und Verhalten der Touristen, die in Scharen mit Autos und Reisebussen kommen. Sie wissen jeden-falls genug, um sich ihrer eigenen Mittellosigkeit bewusst zu werden. Was früher nicht der Fall war, als der Kontakt mit der Außenwelt noch nicht so eindeutig festgelegt war und der Entwicklungsun-terschied noch nicht so zur Schau getragen wurde. Ich kann mich nicht in ihre Lage versetzen, aber ich stelle mir etwas vor oder schlussfolgere viel-mehr: Das Leben ist auf einmal nicht mehr nur hart und unbequem (fast genauso wie zuvor), es erscheint nun elend. Erst im Vergleich mit Anderen empfindet man sich selbst als arm (entsprechend den Kriterien für Lebensstandard, mittleres Ein-

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kommen und so weiter). Und wenn die Touristen von erhaltenen Traditionen und der Rückkehr zur Natur träumen und bei diesem Kontakt bezaubert sind vom Eindruck, der Urzeit zu begegnen, will die Bevölkerung, die aus ihrer Isolation geholt wird und sich nun als benachteiligt begreift, nichts anderes als ihnen zu ähneln. Sie träumt von dieser Modernität, deren erster und wahrscheinlich bisher sogar einziger Name „Konsumgesellschaft“ lautet. Die Einen träumen vom Bambus (bis hin zu den Tragekörben und fein geflochtenen Matten, die sie dann in ihrem Handgepäck mitnehmen); die Anderen streben nach der Herrschaft des Kunst-stoffs. Und je mehr die Letzteren mit den Touristen zu tun haben, desto mehr projizieren sie sich in sie hinein, möchten sich mit ihnen identifizieren, diese Anderen werden, die aus dem Zeitalter der Subsistenz in jenes des Verbrauchs übergegangen sind: wodurch tatsächlich eine „Entfremdung“ – im engeren und schmerzhaften Sinne des Wortes – stattfindet. Die zweite Voraussetzung ist – ich habe es schon angesprochen –, dass kein Trugbild der Fremdar-tigkeit aufgebaut wird. Denn weil sie wegen der Kontamination durch die Modernität und der Marktlogik der Entwicklung im Grunde nichts anderes wollen als diesen von anderswo gekommenen Anderen zu ähneln, den Weg dorthin aber nicht anders beginnen können als damit, sich eben als

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verschieden von diesen zu zeigen, sehen sich die indigenen Minderheiten gegen ihren Willen – und immer häufiger – dazu gezwungen, eine gekünstelte Fremdartigkeit zu produzieren: eine fassadenhafte, gespielte Fremdartigkeit, die mehr und mehr fol-kloristisch wird. Theater des „Indigenen“. Weil von ihnen erwartet wird, die Tradition und die Sitten der Vorfahren zu verkörpern, bieten sie nun ein Schauspiel der Pseudo-Fremdartigkeit dar. Nun, dieses zweite Merkmal ist natürlich nur die Folge des ersten: Eben weil sie zuerst dazu gebracht werden, sich zu entfremden, sind sie in weiterer Folge dazu bereit, so etwas wie eine grundlegende „Identität“ zu simulieren und – das ist das Schlimmste – eine Pseudoidentität hervorzubringen (da sie, gemäß dem alten und unerschöpflichen Motto des „edlen Wilden“, dazu angehalten werden, naturnah zu bleiben). Ein kostspieliges Paradox zeichnet sich ab: Weil seine Anziehungskraft nur auf einer betonten Andersartigkeit beruht, lässt dieser Tourismus diese scheinbare Andersartigkeit genau bei jenen erstarren, die sie überwinden wollen, aber trotz-dem soweit gebracht werden, sie vorzutäuschen, um auch nur zu beginnen, ihr zu entkommen. So kommt es zu einem gefährlichen Spiel zwischen zwei Parteien: Ich tue so, als wäre ich anders als du, um es nicht mehr zu sein (was einen Eintritt in eine Tauschlogik mit der Außenwelt bedeutet) und dir zu ähneln; ich erhalte jedoch, damit das

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möglich wird, diesen Anschein der Andersartigkeit aufrecht, ja ich betone ihn sogar, ich erweitere das Schauspiel um geschmückte Kostüme, anerkannte Bräuche, grelle Festlichkeiten, Lokalkolorit. Ich erhalte nicht, sondern simuliere und täusche vor (aber du hast dafür umso mehr zum Fotografieren). Statt eine befreiende Dialektik in Gang zu setzen, hat sich das System der Entfremdung also selbst blockiert. Dieses Phänomen ist natürlich ein allgemeines, es tritt überall auf. Es stellt sich systematisch dort ein, wo über den Tourismus zwei dermaßen kontrast-reiche oder eher entgegengesetzte Lebensweisen in Kontakt treten: Die eine ist bis dahin geschlossen gewesen, eine eng verbundene Gemeinschaft mit lokaler Wirtschaft, im Wesentlichen rural; die andere offen und leistungs- und entwicklungsorientiert, bedacht auf unbegrenzten Verkehr und unbegrenzte Kommerzialisierung, wofür der Kapitalismus das extremste Beispiel ist – er hat sich heute bis in sogenannte kommunistische Regime hinein durchgesetzt. Und es gibt eben eine gegenseitige Anziehungskraft, die der Tourismus verknüpft, doch wie man sieht, recht bald pervertiert. Denn die Entfremdung selbst wird dazu gebracht, sich zu verbergen, ein Umstand, der sie noch verdoppelt: Um dem Trugbild des Fremden zu entsprechen, müssen die Indigenen, dazu gezwungen, ihre Le-bensweise aufzugeben, vortäuschen, sie weiterhin

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zu praktizieren, so als würden sie sie zu „Werten“ erheben. Unter diesen Bedingungen ist Einer der Komplize des Anderen. Denn niemand macht sich etwas vor – weder der „Indigene“ über seine Rolle, noch der Tourist über deren Künstlichkeit; es weiß sogar jeder vom Anderen, dass dieser sich nichts vormacht, baut aber trotzdem darauf, dass er aus diesem Kuhhandel Gewinn zieht: Der Eine will um jeden Preis sein Verlangen nach Exotismus befriedigen, der Andere will mehr schlecht als recht überleben und, indem er seine vorgebliche Anders-artigkeit ausschlachtet, sich besser assimilieren. Vor der Begegnung hatte die Welt der Indigenen kein anderes Maß als sich selbst: Selbst angesichts der Bedrohung des Aussterbens, selbst angesichts der Gewissheit des Aussterbens behielt sie trotzdem ihre Würde. Wenn der Kontakt einmal hergestellt ist, wird sie entwürdigt. Genau diese Erfahrung habe ich bereits vor einigen Jahren bei den Dogon in Mali gemacht. Das, was ich in den Bergen von Sapa gesehen habe, hat mich kaum weniger beunruhigt. Zuerst einmal finde ich diese Maut oder Eintrittskarte, die man – wenn auch diskret – bezahlen muss, um in die „indigenen Zonen“ zu gelangen, schändlich. Sie allein teilt bereits Rollen zu, verspricht den Anderen als Spektakel und macht den Reisenden zum Voyeur, wie andernorts schon oft kritisiert wurde. Sie etabliert mich als Touristen, der die

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Grenze überschreitet, neugierig die Armut der Welt begutachtet und sich daran ergötzt. Die lange Geschichte der Indianderreservate ist bekannt – wie kann man sie also noch einmal wiederholen? Denn es folgt unvermeidlich, oder sollte ich sagen logischerweise, die falsche Spontaneität des Will-kommens, die vorgetäuschte Gastfreundlichkeit, vorgetäuscht weil mit Hintergedanken. Dass alle Frauen des Dorfes, kaum dass das Auto angehalten hat, zusammenlaufen, ihr Haus zeigen wollen, miteinander wetteifern, wer erzählen darf, wie sie leben und so weiter, das alles ist abscheulich the-atralisch. Sie sind wahrscheinlich enttäuscht, dass ich nicht mitspiele, sie nicht fotografiere (Nein, ich will keinen Fotoapparat): Mögen Sie etwa keinen Exotismus? Sie bekommen davon soviel Sie wollen... Ich frage mich: Wie kann man ein solches Umkippen verhindern, verhindern, dass die Herzlichkeit in Unterwürfigkeit umschlägt, die Würde in Servilität und so weiter? Denn nach dem Rundgang beginnt der unumgängliche Verkauf pseudo-lokaler Produkte (auch wenn sie tatsäch-lich traditionell wären, würde das nichts daran ändern, dass ich mich nicht auf diesen Schacher einlassen und auch nichts mitnehmen will). Die Szene ist natürlich klassisch, und sogar gespielt, gut gespielt, aber dass sie sich auf diese quasi-rituelle Weise wiederholt, macht sie deswegen noch lange nicht akzeptabel; dass sich spöttische Blicke unter

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sie mischen, dass Gelächter zu hören ist, rettet sie keineswegs. Denn man weiß, wie ernst die Situa-tion ist: Ein Dollar mehr, der vom Himmel fällt, verändert den Tag – ich fliehe. Ich fliehe, weil die Entfremdung sich mit Sicher-heit umdreht und weil sie auf beiden Seiten am Werk ist. Darum weigere ich mich hartnäckig, diese Rolle des Fremden anzunehmen, der mit-spielt und schachert in dieser Pose von Manipu-lierer und Manipuliertem, in dieser beiderseitigen Täu schung. Die Entwürdigung ist letztendlich symmetrisch. Denn ich stelle mir vor, wie dieses nackte – so harte – Leben weitergeht, sobald ich ihm den Rücken kehre, und dass diese ständigen Besucher seine Nacktheit nur umso deutlicher machen. Was bringen sie denn tatsächlich? Ich bin noch nicht einmal sicher, ob der bescheidene Tribut, den man beim Eintritt entrichtet, bis zu den Bewohnern dieses Dorfes dringt und ihnen einen gewissen Komfort ermöglicht. Ich kann trotz der offenen Mienen, trotz meines guten Willens noch nicht einmal sagen, dass es mit besonders viel menschlicher Wärme zugegangen wäre. Die Gipfel erheben sich aus dem leichten Nebel oder tauchen in ihn ein, grazile Bambushaine und knotige Nadelbäume, ein Weg, der dahinter verschwindet, das alles erinnert mich an diesem Ort doch an die großartige Malerei der Weisen, aber ich verbiete mir, mich an dieser Landschaft zu erfreuen. Ein

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trauriger Moment, von Anfang an gefälscht. Es war eine Falle.

Gewinne und Verluste

Mittlerweile ist klar, worauf ich hinauswill: Dass jene „Indigenen“, die ersten Opfer der Uniformi-sierung der Welt durch unbeschränkten Handel und Verkehr, sich durch sie als arm zu begreifen beginnen, und dass trotzdem genau diesen die Auf-gabe zugeschoben wird, uns in der Auffassung zu bestärken, eine Welt der Diversität sei ungeachtet der laufenden Standardisierung immer noch möglich. Kurz gesagt: dass sie, gegenläufig zur – erst begin-nenden und herablassenden – Rücksichtnahme auf ihren Lebensstandard, die Mission haben, uns aus der Eintönigkeit herauszuholen, das ist der Deal. Diese Welt der Diversität, ja, die wollen wir, sagt die Tourismuswirtschaft, aber antiseptisch, nicht bedrohlich oder empört (wie zum Beispiel der Islam für den Westen): Sie soll uns nicht in Frage stellen, sondern uns unterhalten, ein Ventil sein in diesem System der Zwänge und der Angstmacherei, damit wir idyllischerweise noch an die Utopie glauben können; ihr Potenzial der Andersartigkeit soll von Anfang an entschärft werden. Ein „Außen“, aber ein entgegenkommendes, auf ewig abhängiges (bereits entfremdetes): Das ist der Wunsch des Exotismus.

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