Frankfurt in Takt 19/1 – Feedback und Kritik und Eike ... · Feedback gibt oder erhält, als auch...
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Wahrnehmungen zu erweitern und Wertvorstellungen zu hinterfragen, sind stets die Ziele von Kommunikations- und Mediationsprozessen. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reflexion sind Vertrauen und der richtige Zeitpunkt.
FEEDBACK UND KOMMUNIKATION ZUR STÄRKUNG DER SELBSTKOMPETENZVon Ingo Diehl
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Moderiertes Feedback und Reflexion sind seit
einigen Jahren Teil von choreographischen
Arbeitsprozessen und zeitgenössischer Tanz-
ausbildung. Im Master of Contemporary
Dance Education (MA CoDE) arbeiten wir
seit 2013 mit Adaptionen von gängigen und
eigenen, für die jeweilige Situation ange-
passten bzw. entwickelten Feedback-Ver-
fahren, um Lernprozesse produktiv und
motivierend zu begleiten. Die Komplexität
aktueller ästhetischer Handschriften und
Arbeitsweisen sowie die Individualisierung
innerhalb der künstlerischen Ausbildung
verlangen nach einem geschützten Raum,
um Vertrauen und Distanz in sensiblen
Situationen zu stärken. Die Vorlagen von
DASArts1 und der Critical Response Process
der kanadischen Choreografin Liz Lerman2
sind in unserem Masterprogramm dafür
wichtige und hilfreiche Referenzen. Neben
einer Reihe von Publikationen wurde das
Thema im Rahmen von Tagungen und Stu-
diengängen in den Darstellenden Künsten
reflektiert und beständig weiterentwickelt3,
was einen produktiven Kontext für die An-
wendung und Fortentwicklung in der Lehr-
praxis bietet.
Insbesondere im Anschluss an Lehrproben
oder Präsentationen der Studierenden zeigt
sich im MA CoDE ein hohes Maß an Verletz-
lichkeit. Klare Verabredungen in der Kommu-
nikation sind notwendig, um den verschie-
denen Sichtweisen einen produktiven Raum
zu bieten. Für persönliche und unter Um-
ständen harsche Kritik eines fachlichen Aus-
Probe für das szenische
Vordiplom „Hysterikon“ mit
Simon Schwan, Annedore Antrie
und Eike Hackmann.
Frankfurt in Takt 19/1 – Feedback und Kritik
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Feedback und Kommunikation zur Stärkung der Selbstkompetenz
diese Verfahren thematisiert und begleitet
werden. Zwei wesentliche Aspekte aus der
Erfahrung im Studiengang scheinen dabei
Fragen von Zeitlichkeit – wann ein Reflexions-
prozess im Verhältnis zu einem Event statt-
findet – und das Vertrauen zu sein, dass das
jeweilige Feedback bzw. der Austausch von
allen Beteiligten im Sinne einer unterstützen-
den Begleitung durchgeführt wird.
Ein weiteres Verfahren, das im MA CoDE
zur Anwendung kommt, das jedoch weniger
auf den Austausch zwischen Peers5 und eine
Kommunikation in der Gruppe zielt, ist die
Videoanalyse der eigenen Unterrichtslehr-
probe in Form von Annotationen als digitale
Reflexions- bzw. Lernprozesse. Dabei folgen
Studierende klar definierten Beobachtungs-
kriterien, um die aufgezeichneten Unterrichte
hinsichtlich persönlicher Interessen über
einen längeren Zeitraum zu analysieren. Im
Rahmen des Motion Bank6-Projekts entwickelt
ein Team an der Hochschule for Applied
Science in Mainz – seit Projektbeginn in Ko-
operation mit MA CoDE – ein Softwarepro-
gramm namens Piecemaker7. Dieses Pro-
gramm ermöglicht das Markieren und Über-
schreiben einer Videoaufzeichnung unab-
hängig davon, ob live oder im Nachhinein.
Die Beobachtungen, die an den selbst ge-
wählten Stellen im Video möglich sind,
erlauben ein hohes Maß an Genauigkeit. Es
sind die eigene Analyse und Einschätzung
einer Situation, die den Lernprozess beför-
dern. Die Bewertung erfolgt also nicht durch
eine von außen gegebene Kritik.
tausches braucht es Regeln, egal ob in Form
von Spielen, Szenarien des Beschreibens und
des Wahrnehmens oder einfach in der Gestalt
von moderierten runden Tischen. Ziel ist es,
sich der eigenen Kommunikation bewusst zu
werden und damit die Selbstkompetenz zu
schulen – sowohl in der Rolle desjenigen, der
Feedback gibt oder erhält, als auch in der
Rolle des Moderators oder Vermittlers.
Den unterschiedlichen Verfahren liegt die
Überlegung zu Grunde, dass es mehr als
eine Wahrheit und vielfältige Erfahrungen
wie auch Blickwinkel in Bezug auf Abläufe,
Events oder fachliche Fragestellungen gibt,
was eben auch der Diversifizierung aktueller
zeitgenössischer Arbeitsweisen im Tanz und
den aktuell heterogenen Studierendengruppen
entspricht. Im Studiengang selbst können
durch die Strukturierung der Feedback-Pro-
zesse Hierarchien differenzierter thematisiert
und mögliche Konflikte zielgerichtet ange-
sprochen werden. Der fachliche Austausch
rückt in den Vordergrund, denn alle Teilneh-
merinnen sind in der Verantwortung, die
Kommunikation produktiv mitzugestalten.
Im bildungspolitischen Kanon wird Selbst-
kompetenz4 mit Eigenschaften wie Selbst-
ständigkeit, Kritikfähigkeit, Selbstvertrauen,
Zuverlässigkeit, Verantwortungs- und Pflicht-
bewusstsein umschrieben, die durch das
Einnehmen der verschiedenen Rollen im An-
schluss an eine Lehrproben-Situation durch-
aus geschult und praktisch erprobt werden.
Insbesondere Kritikfähigkeit und eine dis-
tanziertere Selbsteinschätzung können durch
Unabhängig davon, welche Verfahren zur
Anwendung kommen, um das eigene Han-
deln in konkreten Situationen zu reflektie-
ren: Es werden in der Lehre entsprechende
Zeiträume und Methoden benötigt, damit
diese auch sinnhaft umgesetzt werden kön-
nen. Dabei ist es notwendig festzuhalten,
dass Kommunikations- und Mediationspro-
zesse den Diskurs durch eine bestimmte
Struktur lediglich erleichtern, denn egal, ob
Kolloquien, die beschriebenen Peer-to-Peer-
Feedbacks oder die individuelle Videoanaly-
se mit Notationsverfahren: Es geht immer
um eine vertiefte Auseinandersetzung an der
konkreten künstlerisch-pädagogischen wie
auch fachlichen Praxis, die dabei unterstützt,
Wahrnehmungen zu erweitern und Wertvor-
stellungen zu hinterfragen. Damit stehen
nicht Produktivität und Optimierung, son-
dern Respekt und kritisch-inhaltlicher Aus-
tausch im Zentrum. Ziel ist es folglich, die
Selbstkompetenz dezidiert zu stärken. Diese
Kompetenzerweiterungen decken sich durch-
aus mit den aktuellen Schwerpunktprojekten
in den Bereichen Künstlerische Forschung
und Digitales Lernen.
Prof. Ingo Diehl ist Leiter des Studiengangs
MA CoDE.
1: www.atd.ahk.nl/opleidingen-theater/das-theatre/feedback-method/, www.karimbenammar.com/en/ 2: lizlerman.com/critical-response-process/
3: bspw. Tanzplattform Deutschland in 2014, Laboratory on Feedback HZT Berlin in 2014, der Deutsche Tanzkongress in 2016, Biennale Tanzausbildung 2018.
4: siehe Handreichung der Kultusministerkonferenz S.15: www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2011/2011_09_23_GEP-Handreichung.pdf
5: damit ist die Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Studierenden und oder Künstlerinnen und Künstlern gemeint. 6: motionbank.org/de/ Motion Bank
war ein auf vier Jahre angelegtes Projekt der Forsythe Company, in dem die choreographische Praxis in einem breiten Kontext erforscht wurde. Diese Arbeit
wird heute in Kooperation mit verschiedenen Partnern an der Uni Mainz fortgeführt. 7: motionbank.org/de/content/ausbildung-piecemaker.html