FrankfurterRundschau H NACH dem KRIEG - WZB · Recht im Krieg). Dennoch...

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offnungen stiegen hoch nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit dem Kollaps der Sowjetunion und der Demokratisierung der Staaten des Warschauer Pakts schien die Bipolarisierung der Welt der Vergangenheit anzuge- hören. Von einer friedlichen multipolaren Weltordnung war die Rede. Idealisten, Neokantia- ner und Konstruktivisten träum- ten von der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Sie vertrauten auf die Kraft des vernünftigen Arguments und hofften auf eine ökonomische Friedensdividende. Noch bevor allerdings die Dividende auch nur auf dem Papier der macht- vergessenen Idealisten verteilt war, brach Jugoslawien ausei- nander. Archaisch anmutende ethno-nationalistische Motive hatten sich mit dem Machtkalkül politisch-militärischer Führer ge- mischt und zu einem blutigen Bürgerkrieg in Europa geführt. Die Nato intervenierte, um wei- tere ethnische Säuberungen, Massaker oder gar einen Geno- zid zu verhindern. Die Interven- tion, die sich den Namen „huma- nitär“ zulegte, war zwar nicht vom Völkerrecht gedeckt, ver- letzte das ius ad bellum (das Recht zum Krieg) und missachte- te bisweilen bei seinen Luftschlä- gen auch das ius in bello (das Recht im Krieg). Dennoch küm- merte sich die internationale Ge- meinschaft nach Kriegsende mit einem gewaltigen Ressourcen- einsatz um den Aufbau einer friedlichen rechtsstaatlichen Ordnung in dem multi-ethni- schen Staat Bosnien-Herzegowi- na. Das könnte man die Gerech- tigkeit, wenn nicht gar das Recht nach dem Kriege nennen (ius post bellum ). Dies war nicht immer der Fall. Im Oktober 2001 starteten die USA und Großbritannien in Af- ghanistan die Operation Endu- ring Freedom. Die Nato sekun- dierte, ein Mandat des UN-Si- cherheitsrats lag vor. 2003 belog die US-Regierung unter George W. Bush die Weltöffentlichkeit, als sie gefälschte „Beweise“ für die Existenz von Massenvernich- tungswaffen im Irak des Saddam Hussein vorlegte. Die USA, das Vereinigte Königreich, Australien und Polen griffen den Irak ohne ein Mandat des Sicherheitsrats an. Im Frühjahr 2011 ermächtig- te die Resolution 1973 des Si- cherheitsrats die Intervention in Libyen, um das Gaddafi-Regime daran zu hindern, sich mit Mas- sakern an der Macht zu halten. Zum ersten Mal wurde in einer UN-Resolution die entstehende völkerrechtliche Norm „Respon- sibility to Protect“ (R2P) ge- nannt. R2P schränkt die staatli- che Souveränität dann ein, wenn eine Regierung nicht in der Lage ist, ihre Bevölkerung gegen Ge- nozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, massive Kriegs- verbrechen oder ethnische Säu- berungen zu schützen oder diese gar selbst begeht. Was haben diese Interventio- nen gemeinsam? Sicherlich, dass bestimmte westliche Staaten, mit oder ohne UN-Mandat, bereit sind, gegen verbrecherische Re- gime militärisch zu intervenie- ren. Auch, dass sie Diktaturen stürzten, wofür es kein Mandat, wohl aber moralische Gründe gab. Gemeinsam haben diese In- terventionen aber noch ein Drit- tes: Die Interventionsmächte „enthaupteten“ nicht nur Re- gime, sondern zerstörten die in- nere Staatlichkeit dieser Länder und damit den Staat selbst. Sie hinterließen schwarze Löcher. Eine Hobbes’sche Welt, in der mörderische Milizen untereinan- der und mit den Resten des Staa- tes regellose Kriege führen. Kann dies rechtens oder gar gerecht sein? Obliegt den Interventions- staaten nicht eine moralische Pflicht, den Staat wiederaufzu- bauen, den sie zerstörten? Spätestens seit dem Kosovo- Konflikt im Jahr 1999 werden bewaffnete Interventionen zum Schutze der Zi- vilbevölkerung vor ihren mörde- rischen Potenta- ten humanitäre Interventionen genannt. Huma- nitäre Interven- tionen verlangen aber nach einem anderen Ende als Verteidi- gungskriege. Das ius ad bellum muss von Beginn an enger an das ius post bellum gebunden wer- den. Das hat Folgen. Folgen ins- besondere für die Pflichten de- rer, die intervenieren, aber auch für die internationale Gemein- schaft insgesamt. Denn das Recht zum Krieg, nämlich die Unterbindung schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bedarf zu seiner vollen Rechtfertigung der Ergän- zung des Rechts nach dem Krieg. Es ist vor allem die Verpflichtung der Interventionsmächte, die Menschenrechtsverletzungen nachhaltig zu verhindern. Dies geschieht am besten, wenn zu- mindest ein Staat, am besten gar ein Rechtsstaat und eine Demo- kratie etabliert werden. Es gibt bei humanitären Interventionen eine normativ wie logisch enge Kopplung des ius ad an das ius post bellum . Humanitäre Inter- ventionen müssen durch demo- kratische Interventionen ergänzt und damit zu ihrem Ende ge- bracht werden. Hybride Regime, irgendwo zwischen Demokratie und Diktatur angesiedelt, erfül- len diesen Zweck nicht. Denn ge- rade bei ihnen ist, wie sich empi- risch zeigen lässt, die Gefahr ei- nes Bürgerkrieges am größten. Diese Maxime wird vom gel- tenden Völkerrecht nicht ge- deckt. Sie würde als ein zu tiefer Eingriff in die nationale Souve- ränität oder das Selbstbestim- mungsrecht der Völker gelten. Auch in der modernen Philoso- phie internationaler Beziehun- gen von Rawls bis Walzer gilt das Gebot: Siegermächte sollten so schnell wie möglich das Land verlassen. Das Recht auf politi- sche Selbstbestimmung der be- siegten Nation gebietet dies. Doch was ist, wenn es die Na- tion gar nicht gibt, sondern nur Völker, Ethnien, Religionsge- meinschaften, also nur Fragmen- te eines Staats- volkes, die un- tereinander zu- tiefst verfeindet sind und ohne die Besatzung durch fremde Truppen rasch einem Bürger- krieg anheimfie- len? Was ist, wenn die religi- ös imprägnierte Kultur eines Landes zur mas- siven Unterdrü- ckung von Min- derheitsethnien, Religionsgemeinschaften oder Frauen tendiert? Darf man die Gesellschaft dann auch nicht, wie Rawls sagt, „rekonstruie- ren“? Rechtsstaat und Demokratie lassen sich schwerlich von außen etablieren. Deutschland, Japan und Italien nach 1945 blieben die Ausnahme. Wenn auch das maximale Programm der rechts- staatlichen Demokratie meist nicht zu realisieren ist, gibt es doch die moralische Pflicht für die Interventionsmächte, das wiederherzustellen, was sie vor- her zerstört haben: den Staat mit seinem Kern des Gewaltmono- pols. Doch diesem moralischen Gebot der politischen Vernunft folgen die Interventionsmächte nur selten. Afghanistan, der Irak und Libyen sind heute nach den militärischen Interventionen Länder ohne funktionierende Staatlichkeit. Das vorherige Ge- waltregime wurde durch die Ge- walt marodierender Milizen in einem entstaatlichten Raum er- setzt. Obgleich uns profunde Ge- rechtigkeitskriterien zur Beurtei- lung fehlen, was nun schlechter sei, müssen die demokratischen Interventionsstaaten sich vor- werfen lassen, fahrlässig Hob- bes’sche Bürgerkriegswelten im Nahen Osten herbeigeführt zu haben, die zu mehr Opfern füh- ren, als sie das diktatorische Re- gime zu verantworten hatte. Humanitäre Interventionen können gewichtige moralische Gründe haben. Für diese besit- zen demokratische Staaten eine größere Sensibilität als Diktatu- ren. Allerdings haben Erstere ge- rade wegen ihrer inneren demo- kratischen Strukturen besondere Begrenzungen für Interventio- nen. Denn selbst wenn Bürger der militärischen Intervention ihrer Regierung anfangs zustim- men, werden sie nach einer ge- wissen Zeit unwillig, die Kriegs- kosten zu tragen: finanziell und humanitär. Dieser Unwille zwingt die demokratischen Re- gierungen, ihre Truppen abzu- ziehen, wollen sie nicht die nächsten Wahlen verlieren. Insofern haben Demokratien einen inneren Mechanismus ge- gen die Gerechtigkeit nach dem Krieg, also so lange im Lande zu bleiben, bis kein Bürgerkrieg mehr droht. Dieses mitzuden- ken, sollte zu der moralischen Pflicht und politischen Klugheit demokratisch gewählter Regie- rungen gehören, wenn sie sich für bewaffnete „humanitäre In- terventionen“ entscheiden. Dem Interventionsdilemma wollen die westlichen Staaten entgehen, indem sie die ver- meintlich gute Seite der Bürger- kriegsparteien aufrüsten. In der Gemengelage des Nahen Ostens sind aber solche guten „Partner“ nur schwer auszumachen. Mit der Norm „Responsibility to Pro- tect“ hat das nichts zu tun. Mit humanitären Interventionen auch nicht. Schon eher mit Karl Deutschs warnender Definition: „Macht ist das Privileg, nicht ler- nen zu müssen.“ Wolfgang Merkel ist Professor für Politische Wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein wissenschaftliches Interesse gilt ganz besonders den Transformations- KRIEG NACH H „Siegermächte ziehen sich zu schnell zurück, weil sie innen- politisch dazu gezwungen werden.“ …kommt die Moral: Wer zerstört, muss wieder aufbauen, statt Chaos zu hinterlassen. Von Wolfgang Merkel dem Samstag / Sonntag, 20. / 21. September 2014 70. Jahrgang Nr. 219 Frankfurter Rundschau G11 G10 Was ist gerecht? Das ist unser Thema. Macht ist das Privileg, nicht lernen zu müssen.“ Karl Deutsch

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offnungenstiegen hochnach dem

Ende des Kalten Krieges. Mitdem Kollaps der Sowjetunionund der Demokratisierung derStaaten des Warschauer Paktsschien die Bipolarisierung derWelt der Vergangenheit anzuge-hören. Von einer friedlichenmultipolaren Weltordnung wardie Rede. Idealisten, Neokantia-ner und Konstruktivisten träum-ten von der Verrechtlichung derinternationalen Beziehungen.Sie vertrauten auf die Kraft desvernünftigen Arguments undhofften auf eine ökonomischeFriedensdividende. Noch bevorallerdings die Dividende auchnur auf dem Papier der macht-vergessenen Idealisten verteiltwar, brach Jugoslawien ausei-nander. Archaisch anmutendeethno-nationalistische Motivehatten sich mit dem Machtkalkülpolitisch-militärischer Führer ge-mischt und zu einem blutigenBürgerkrieg in Europa geführt.Die Nato intervenierte, um wei-tere ethnische Säuberungen,Massaker oder gar einen Geno-zid zu verhindern. Die Interven-tion, die sich den Namen „huma-nitär“ zulegte, war zwar nichtvom Völkerrecht gedeckt, ver-letzte das ius ad bellum (dasRecht zum Krieg) und missachte-te bisweilen bei seinen Luftschlä-gen auch das ius in bello (dasRecht im Krieg). Dennoch küm-merte sich die internationale Ge-meinschaft nach Kriegsende miteinem gewaltigen Ressourcen-einsatz um den Aufbau einerfriedlichen rechtsstaatlichenOrdnung in dem multi-ethni-schen Staat Bosnien-Herzegowi-na. Das könnte man die Gerech-tigkeit, wenn nicht gar das Rechtnach dem Kriege nennen (iuspost bellum).

Dies war nicht immer der Fall.Im Oktober 2001 starteten dieUSA und Großbritannien in Af-ghanistan die Operation Endu-ring Freedom. Die Nato sekun-dierte, ein Mandat des UN-Si-cherheitsrats lag vor. 2003 belogdie US-Regierung unter GeorgeW. Bush die Weltöffentlichkeit,als sie gefälschte „Beweise“ fürdie Existenz von Massenvernich-tungswaffen im Irak des SaddamHussein vorlegte. Die USA, dasVereinigte Königreich, Australienund Polen griffen den Irak ohneein Mandat des Sicherheitsratsan. Im Frühjahr 2011 ermächtig-te die Resolution 1973 des Si-cherheitsrats die Intervention inLibyen, um das Gaddafi-Regimedaran zu hindern, sich mit Mas-sakern an der Macht zu halten.Zum ersten Mal wurde in einerUN-Resolution die entstehendevölkerrechtliche Norm „Respon-sibility to Protect“ (R2P) ge-nannt. R2P schränkt die staatli-che Souveränität dann ein, wenneine Regierung nicht in der Lageist, ihre Bevölkerung gegen Ge-nozid, Verbrechen gegen dieMenschlichkeit, massive Kriegs-verbrechen oder ethnische Säu-berungen zu schützen oder diesegar selbst begeht.

Was haben diese Interventio-nen gemeinsam? Sicherlich, dass

bestimmte westliche Staaten, mitoder ohne UN-Mandat, bereitsind, gegen verbrecherische Re-gime militärisch zu intervenie-ren. Auch, dass sie Diktaturenstürzten, wofür es kein Mandat,wohl aber moralische Gründegab. Gemeinsam haben diese In-terventionen aber noch ein Drit-tes: Die Interventionsmächte„enthaupteten“ nicht nur Re-gime, sondern zerstörten die in-nere Staatlichkeit dieser Länderund damit den Staat selbst. Siehinterließen schwarze Löcher.Eine Hobbes’sche Welt, in dermörderische Milizen untereinan-der und mit den Resten des Staa-tes regellose Kriege führen. Kanndies rechtens oder gar gerechtsein? Obliegt den Interventions-staaten nicht eine moralischePflicht, den Staat wiederaufzu-bauen, den sie zerstörten?

Spätestens seit dem Kosovo-Konflikt im Jahr 1999 werdenbewaffnete Interventionen zumSchutze der Zi-vilbevölkerungvor ihren mörde-rischen Potenta-ten humanitäreInterventionengenannt. Huma-nitäre Interven-tionen verlangenaber nach einemanderen Endeals Verteidi-gungskriege. Dasius ad bellummuss von Beginnan enger an dasius post bellumgebunden wer-den. Das hat Folgen. Folgen ins-besondere für die Pflichten de-rer, die intervenieren, aber auchfür die internationale Gemein-schaft insgesamt.

Denn das Recht zum Krieg,nämlich die Unterbindungschwerster Verbrechen gegen dieMenschlichkeit, bedarf zu seinervollen Rechtfertigung der Ergän-zung des Rechts nach dem Krieg.Es ist vor allem die Verpflichtungder Interventionsmächte, dieMenschenrechtsverletzungennachhaltig zu verhindern. Diesgeschieht am besten, wenn zu-mindest ein Staat, am besten garein Rechtsstaat und eine Demo-kratie etabliert werden. Es gibtbei humanitären Interventioneneine normativ wie logisch engeKopplung des ius ad an das iuspost bellum . Humanitäre Inter-ventionen müssen durch demo-

kratische Interventionen ergänztund damit zu ihrem Ende ge-bracht werden. Hybride Regime,irgendwo zwischen Demokratieund Diktatur angesiedelt, erfül-len diesen Zweck nicht. Denn ge-rade bei ihnen ist, wie sich empi-risch zeigen lässt, die Gefahr ei-nes Bürgerkrieges am größten.

Diese Maxime wird vom gel-tenden Völkerrecht nicht ge-deckt. Sie würde als ein zu tieferEingriff in die nationale Souve-ränität oder das Selbstbestim-mungsrecht der Völker gelten.Auch in der modernen Philoso-phie internationaler Beziehun-gen von Rawls bis Walzer gilt dasGebot: Siegermächte sollten soschnell wie möglich das Landverlassen. Das Recht auf politi-sche Selbstbestimmung der be-siegten Nation gebietet dies.

Doch was ist, wenn es die Na-tion gar nicht gibt, sondern nurVölker, Ethnien, Religionsge-meinschaften, also nur Fragmen-

te eines Staats-volkes, die un-tereinander zu-tiefst verfeindetsind und ohnedie Besatzungdurch fremdeTruppen rascheinem Bürger-krieg anheimfie-len? Was ist,wenn die religi-ös imprägnierteKultur einesLandes zur mas-siven Unterdrü-ckung von Min-derheitsethnien,

Religionsgemeinschaften oderFrauen tendiert? Darf man dieGesellschaft dann auch nicht,wie Rawls sagt, „rekonstruie-ren“?

Rechtsstaat und Demokratielassen sich schwerlich von außenetablieren. Deutschland, Japanund Italien nach 1945 bliebendie Ausnahme. Wenn auch dasmaximale Programm der rechts-staatlichen Demokratie meistnicht zu realisieren ist, gibt esdoch die moralische Pflicht fürdie Interventionsmächte, daswiederherzustellen, was sie vor-her zerstört haben: den Staat mitseinem Kern des Gewaltmono-pols. Doch diesem moralischenGebot der politischen Vernunftfolgen die Interventionsmächtenur selten. Afghanistan, der Irakund Libyen sind heute nach denmilitärischen Interventionen

Länder ohne funktionierendeStaatlichkeit. Das vorherige Ge-waltregime wurde durch die Ge-walt marodierender Milizen ineinem entstaatlichten Raum er-setzt. Obgleich uns profunde Ge-rechtigkeitskriterien zur Beurtei-lung fehlen, was nun schlechtersei, müssen die demokratischenInterventionsstaaten sich vor-werfen lassen, fahrlässig Hob-bes’sche Bürgerkriegswelten imNahen Osten herbeigeführt zuhaben, die zu mehr Opfern füh-ren, als sie das diktatorische Re-gime zu verantworten hatte.

Humanitäre Interventionenkönnen gewichtige moralischeGründe haben. Für diese besit-zen demokratische Staaten einegrößere Sensibilität als Diktatu-ren. Allerdings haben Erstere ge-rade wegen ihrer inneren demo-kratischen Strukturen besondereBegrenzungen für Interventio-nen. Denn selbst wenn Bürgerder militärischen Interventionihrer Regierung anfangs zustim-men, werden sie nach einer ge-wissen Zeit unwillig, die Kriegs-kosten zu tragen: finanziell undhumanitär. Dieser Unwillezwingt die demokratischen Re-gierungen, ihre Truppen abzu-ziehen, wollen sie nicht dienächsten Wahlen verlieren.

Insofern haben Demokratieneinen inneren Mechanismus ge-gen die Gerechtigkeit nach demKrieg, also so lange im Lande zubleiben, bis kein Bürgerkriegmehr droht. Dieses mitzuden-ken, sollte zu der moralischenPflicht und politischen Klugheitdemokratisch gewählter Regie-rungen gehören, wenn sie sichfür bewaffnete „humanitäre In-terventionen“ entscheiden.

Dem Interventionsdilemmawollen die westlichen Staatenentgehen, indem sie die ver-meintlich gute Seite der Bürger-kriegsparteien aufrüsten. In derGemengelage des Nahen Ostenssind aber solche guten „Partner“nur schwer auszumachen. Mitder Norm „Responsibility to Pro-tect“ hat das nichts zu tun. Mithumanitären Interventionenauch nicht. Schon eher mit KarlDeutschs warnender Definition:„Macht ist das Privileg, nicht ler-nen zu müssen.“

Wolfgang Merkel ist Professor fürPolitische Wissenschaft an derHumboldt-Universität zu Berlin. Seinwissenschaftliches Interesse gilt ganzbesonders den Transformations-

KRIEGNACHH

„Siegermächteziehen sich zuschnell zurück,weil sie innen-politisch dazugezwungenwerden.“

derem, weil der Westen selbst, der vor al-lem im Nahen Osten stark mitmischt, keinwirkliches Interesse daran hat. Man hofiertdespotische Regime wie in Saudi-Arabienoder Katar. Saddam Hussein oder Muam-mar al-Gaddafi waren viele Jahre Hät-schelkinder des Westens.

Weil der Westen nicht will, dass die Men-schen in den arabischen Ländern frei unddemokratisch über ihre Ressourcen verfü-gen?KHORCHIDE: Der Westen will selbst dieVerfügungsgewalt behalten. Dafür hat erseine Mechanismen. Eine Ölkrise, wie inden 1970er Jahren, darf sich nie mehr wie-derholen. Gerade die arabischen Ländermüssen unter Kontrolle gehalten werden.Schauen Sie: Sowohl die Taliban in Afgha-nistan als auch Al-Kaida und heute IS imIrak sind auch ein Produkt westlicher Poli-tik. Die Taliban wurden instrumentalisiertals Gegner der Sowjetunion in den 1980erJahren. Osama bin Laden war ursprünglichder Freund der Amerikaner. IS hat man ge-stärkt im Kampf gegen das Assad-Regimein Syrien. Nur sind alle diese vermeintli-chen Verbündeten total aus dem Ruder ge-laufen.

Fatale Fehleinschätzungen des Westens.KHORCHIDE: Deshalb reagieren die Men-schen im Nahen und Mittleren Osten heuteauch so allergisch, wenn ihnen Vertreterdes Westens etwas von ihren Werten, vonDemokratie und Menschenrechten erzäh-len: „Welche Werte? Welche Rechte?Schaut doch her, was hier gerade mit unspassiert – dank eurer Politik!“ Ich will nichtalle Probleme der islamischen Welt auf denWesten schieben, ich will nur auf diesemeist verdrängte Seite aufmerksam ma-chen.

Trotzdem kann die Konsequenz dochnicht sein, zerknirscht dreinzuschauenund den IS weitermorden zu lassen. Wasalso konkret tun – als Mensch mit einemausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl, daswomöglich religiös motiviert ist? Was tutman, wenn man gegen Gewalt ist, sieaber täglich brutal vorgeführt bekommt?KÄSSMANN: Mit Gewalt zu antworten istauf jeden Fall nicht die einzige Antwort.Sie, Herr Khorchide, haben vorhin gesagt,der Pazifismus verurteile die Opfer von Ge-walt zur Passivität. Das ist nicht mein Ver-ständnis von Gewaltlosigkeit. Es gibt zahl-lose Möglichkeiten, Aggressionen entge-genzutreten. Denken Sie an Sitzblockaden.Denken Sie an friedliche Demonstrationen.

Frau Käßmann! Sie werden IS-Terroris-ten doch nicht mit Sitzblockaden stop-pen.

KHORCHIDE: Das Problem ist doch, dasswir immer vom Ende her denken. Wir fra-gen nach dem Feuerlöscher erst, wenn dieScheune schon brennt.

Mag sein. Aber während Sie das bekla-gen, brennt die Scheune weiter.KÄSSMANN: Jeder, der auch nur einenFunken Empathie hat, ist bestürzt über dasLeid der Menschen im Nordirak und fühltmit ihnen. Jeder denkt: Wie wäre das fürmich, wenn ich in Syrien oder im Irak leb-te, meine Heimat verlassen müsste, ständigTodesangst hätte? Und jeder fragt: Wiekönnen wir helfen?

Genau das.KÄSSMANN: Ich habe darauf nicht die ei-ne, klare Antwort. Aber ich finde es zu ein-fach, bloß zu sagen: Waffen liefern! Ich binkeine Militärexpertin. Aber als Theologingebe ich zu bedenken: Vielleicht müssenwir es aushalten, dass wir alle miteinanderhilflos und ohnmächtig sind angesichtsdieser Gewalt. Wer das zugibt, kann dochnicht länger so tun, als wären Bombarde-ments und Waffenlieferungen die einzigeAntwort auf solch schreckliche Ereignissewie im Irak. Es muss auch ein Nein zu Waf-fenlieferungen erlaubt sein. Dass dieseAntwort heute lächerlich gemacht wird, istein Problem.

Sie wollen mit Ihrem Pazifismus nicht fürdeppert erklärt werden?KÄSSMANN: Das Plädoyer zur Gewaltlo-sigkeit wird heute – anders als zur Zeit derFriedensbewegung – leichthin als naiv,traumtänzerisch oder hirnverbrannt abge-tan. Nach dem Motto: „Mit Gebeten kannman nichts verändern.“ Vor 25 Jahren ha-ben Gebete und Kerzen sehr wohl etwasverändert. Jemand, der sich daran offen-bar nicht erinnern will, hat übrigens denVorschlag gemacht, mich über IS-Gebietmit dem Hubschrauber abzuwerfen; dannwürde ich schon lernen, wie weit ich mitGewaltlosigkeit komme … So hält mansich doch nur die Zumutung vom Leib,über andere Wege nachzudenken.

Ist es nicht feige, sich vom Schreibtischaus gegen Waffenlieferungen zu entschei-den?KÄSSMANN: Ach ja? Ist es etwa mutig,vom Schreibtisch aus für den Einsatz vonWaffen zu votieren? Keiner von uns, wiewir hier sitzen, gefährdet sich durch das,was er zu diesen Fragen sagt.

Kennen Sie eigentlich nicht dieses Gefühlder Genugtuung, wenn Clint Eastwoodals rächender Westernheld zur Waffegreift und die Schurken über den Haufenschießt, die es mehr als verdient haben?KÄSSMANN: Niemand von uns weiß, wiewir handeln würden, wenn wir persönlich

ganz existenziell bedroht sind. Ob ich dannbereit wäre, Gewalt anzuwenden? Ich –weiß – es – nicht. Ich kann nur sagen, dassdie Menschen, die mich beeindruckt ha-ben, immer die anderen waren: ein Mahat-ma Gandhi, ein Martin Luther King.

KHORCHIDE: Ich gebe zu, ich habe diesesEastwood-Gefühl, wenn es den IS-Kämp-fern und anderen Terroristen an den Kra-gen geht, die andere auf bestialische Weiseumbringen. Vielleicht liegt es daran, dassich selbst von Fundamentalisten mehrfachmit dem Tod bedroht worden bin. Aber ichweiß auch, dass es falsch wäre, bei solchensubjektiven Empfindungen stehen zu blei-ben. Wir müssen nach den politischen Ur-sachen eines Konflikts wie jetzt im Irak fra-gen und nach dem Versagen der Weltpoli-tik.

KÄSSMANN: Als ob wir mit Waffenliefe-rungen unser Gewissen beruhigen könn-ten! Schuldig werden wir in solch einer La-ge alle. So oder so. Jeder, der für Gewalt-freiheit eintritt, kann sich schuldig machenmit Blick auf die Opfer. Das weiß ich. Ichnehme aber die Option in Anspruch, schul-dig zu werden, indem ich sage: keine Waf-fen liefern und nach anderen Wegen derHilfe suchen! Ich verurteile diejenigennicht, die zu anderen Ergebnissen kom-men. Aber sie sind nicht im alleinigenRecht.

Wer behauptet das denn?KÄSSMANN: Wenn ein General meint, ermüsse sich über gewaltfreie Wege amüsie-ren, dann muss er das wohl. Ein Militärdenkt nun mal in militärischen Kategorien.Umso wichtiger ist aber das Denken in Al-ternativen. Und woher sollten die Ansätzedafür kommen, wenn nicht aus dem Raumder Religion? Die Kirchen jedenfalls habenin den 1980er Jahren einen entscheiden-den Paradigmenwechsel vollzogen: wegvom Konzept des gerechten Kriegs und hinzum gerechten Frieden.

Es gibt keinen gerechten Krieg?KÄSSMANN: Das sagt die EKD, das sagtdie katholische Bischofskonferenz. Wie solles einen gerechten Krieg geben, wenn Ge-walt doch immer mit Unrecht verbundenist?

Die christliche Tradition hatte den Be-griff des gerechten Kriegs entwickelt. DerIslam sprach den Krieg sogar heilig.KHORCHIDE: Es gibt weder einen heiligennoch einen gerechten Krieg, weil Gott denKrieg an sich niemals gutheißen kann. Al-lerdings schildert der Koran die Erfahrun-gen, die Menschen zur Zeit Mohammedsgemacht haben – Krieg war für den damali-gen Kontext eine legitime Alternative, vorallem, um sich zu wehren.

KÄSSMANN: Unter sehr strengen Bedin-gungen – auch das ist EKD-Position – kannGewalt auch heute als rechtserhaltendesMittel geboten und theologisch legitimsein.

Sind Waffenlieferungen an die Kurdenim Irak denn ein Beitrag zu rechtserhal-tender Gewalt?KÄSSMANN: Ich bin Schirmherrin der„Kampagne gegen Rüstungsexporte“. MeinEindruck ist nicht, dass die Nahost-Regioneinen Mangel an Waffen hätte.

Die Region vielleicht nicht, aber die kur-dischen Kämpfer gegen die IS-Milizenschon.KÄSSMANN: Ich kann das ebenso wenigbeurteilen wie die Frage, ob deutsche Pan-zerabwehr-Raketen den Konflikt lösen.Was ich aber sehr wohl höre, ist den Schreinach humanitärer Hilfe, der mindestens solaut ist wie der Ruf nach Waffen. Die Men-schen brauchen Wasser, Medikamente, Un-terkünfte. Da könnten wir mindestensebenso viele Milliarden investieren wie inRüstungsgüter. Bildung ist vielleicht derwichtigste Schlüssel zur Veränderung.Auch religiöse Bildung. Gläubige Men-schen sollen kritisch sein, Fragen stellendürfen, weil sie dann weniger verführbarsind durch Fundamentalisten und religiöseFührer, die sie auf Irrwege locken wollen.

KHORCHIDE: Wenn ich mir MohammedsBiografie anschaue, weiß ich, wie ichmich zur Frage der Gewalt verhaltenkann: Als der Prophet kurz vor seinemTod siegreich vor Mekka stand und dieBewohner sich ihm ergaben, fürchtetensie, Mohammed werde grausam an ihnenRache nehmen und sie alle abschlachtenlassen. Doch der Prophet sprach die be-rühmten Worte: „Was denkt ihr wohl, wasich mit euch machen werde? Geht, ihrseid alle frei!“ Das heißt: Auf dem Höhe-punkt militärischer Stärke hat Moham-med auf Gewalt und Rache verzichtet. Ge-waltlosigkeit ist also nichts, was dem Is-lam fremd wäre, sondern ein Teil seinerGeschichte. Dieser Teil muss für uns heutedas Modell sein, wenn wir über Krieg undFrieden nachdenken.

KÄSSMANN: Nach all den Kriegen, dienicht zuletzt im Namen Gottes geführtwurden, setze ich auf einen Lernprozess,der ja längst begonnen hat. „Krieg sollnach Gottes Willen nicht sein“, haben dieKirchen aus aller Welt schon 1948 in Ams-terdam gesagt – als Konsequenz aus denGräueln zweier Weltkriege. Und wenn ichnicht glaubte, dass die Menschen auchheute lernfähig sind, ja, dann müsste ichverzagen und verzweifeln.

Interview: Bascha Mika und Joachim Frank

G10 Frankfurter Rundschau Samstag / Sonntag, 20. / 21. September 2014 70. Jahrgang Nr. 219Was ist gerecht? Das ist unser Thema.

…kommt die Moral: Wer zerstört, muss wieder

aufbauen, statt Chaos zu hinterlassen.

VonWolfgang Merkel

dem

Fortsetzung von Seite G9

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Was ist gerecht? Das ist unser Thema.

„Macht

ist das Privileg,

nicht lernen

zu müssen.“

Karl Deutsch