FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER - … · auf Lehramt für Haupt- und Realschulen an der...

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LAGERGEMEINSCHAFT AUSCHWITZ - FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER Mitteilungsblatt, September 2017 37. Jahrgang MB-2017-1-internet.qxd 04.12.2017 23:18 Uhr Seite 1

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LAGERGEMEINSCHAFT AUSCHWITZ -

FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER

Mitteilungsblatt, September 201737. Jahrgang

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Für mich persönlich war es der ers-te Besuch eines Konzentrationslagersüberhaupt. Daher hatte ich gemischteGefühle gegenüber der Reise: Einer-seits ist mein Interesse für dieses The-ma so groß, dass ein Besuch eigentlichgar nicht vermieden werden konnte.Andererseits hatte ich Angst vor derBegegnung mit diesem Ort, an denendie Menschen des Landes, in dem ichlebe, die grausamsten Verbrechen ver-übt haben, die man sich vorstellenkann (eigentlich ist es unvorstellbar).Doch ich habe die Reise angetretenund der Vergangenheit der Deutschenins Gesicht geblickt.

Auschwitz – der deutsche Nameder polnischen Stadt Oswiecim wirdfür alle Zeit im Gedächtnis der Weltbleiben. Auschwitz ist das Symbol fürdie Shoa, für Völkermord und Terror

und für das unvorstellbare Grauen.Doch entstand das Konzentrations-und Vernichtungslager nicht einfachaus reinem Sadismus heraus – in Aus-chwitz waren die Täter ‚ganz normale‘Menschen. Jeder konnte zum Täterwerden. „Es ist geschehen, folglichkann es wieder geschehen“ (PrimoLevi).1 Daher ist es umso wichtiger,den Ort der Gedenkstätte zu besuchenund als Möglichkeit zum Lernen zunutzen. Wir sollten lernen, was dortpassierte, wer handelte und aus wel-chen Gründen, um ein zweites Ausch-witz zu verhindern.

„Millionen Menschen auf der Weltwissen,was Auschwitz war.Aber weiter-hin muss im Bewusstsein und in der Er-innerung der Menschen bleiben, dass esnur von ihrer Entscheidung abhängt,obsich so eine Tragödie wiederholt. Nur

Von Auschwitz lernenund Verantwortung übernehmen

Bericht über eine Studienfahrt

Ich bin 23 Jahre alt und studiere im sechsten Semester Deutsch und Geschichteauf Lehramt für Haupt- und Realschulen an der Goethe-Universität in Frank-furt am Main. Bei den Nachforschungen zum Thema Auschwitz, die ich für mei-ne Examensarbeit getätigt habe, bin ich auf die Internetseite der Lagergemein-schaft und das Angebot der Studienfahrt gestoßen. Da ich im Rahmen derExamensarbeit eine Exkursion für Schülerinnen und Schüler nach Auschwitzplane, war eine Fahrt dorthin unabdingbar.

1 Primo Levi war ein italienischer Chemiker (1919-1987), der in Auschwitz-Monowitzals Zwangsarbeiter der BunaWerke des IG-Farben-Konzerns inhaftiert war. Er hieltseine Erfahrungen als Überlebender des KZ in verschiedenen Werken fest, unter an-derem „Ist das ein Mensch?“ oder „Die Untergegangenen und die Geretteten“.

Von Esther Nauth

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Menschen konnten sie hervorrufen undnur Menschen können sie verhindern“(Prof.Wladyslaw Bartoszewski).2

Neben dem Besuch des Stammla-gers Auschwitz I war auch der Besuchdes Vernichtungslagers Birkenau(Auschwitz II) sowie der Besuch derStadt Oswiecim geplant. Der Tag imStammlager hat mir gezeigt, wie vieleMenschen sich für dieses Thema inter-essieren – der Besucherandrang beliefsich im Jahr 2015 auf über 1,5 Millio-nen Menschen, für das Jahr 2016 wirder sogar auf ca. 2 Millionen geschätzt.

Ich finde es besonders wichtig,wenn in der Schule das Thema Natio-

nalsozialismus behandelt wird, diesesmit einem Besuch einer Gedenkstättezu verbinden. Nur so haben die Schü-lerinnen und Schüler die Möglichkeit,ein KZ – als Ausformung des unbe-grenzten Terrors – selbst zu sehen.Auschwitz als das größte in allen dreiBereichen (Konzentrationslager, Ver-nichtungslager und Arbeitslager) istinsofern gut geeignet, als dass sich ei-ne große Bandbreite an Lerngelegen-heiten bietet.

Der Tag im Stammlager begannmit einer Führung durch das ehema-lige KZ-Gelände.Doch schon auf demFußweg dorthin waren die Spuren der

2 Wladyslaw Bartoszewski war ein polnischer Historiker (1922 - 2015), der sich demWiderstand gegen die Deutschen angeschlossen hatte. Er wurde 1940 in Auschwitzinhaftiert, 1941 schwer krank entlassen. Seine historischen Werke beschäftigen sichvor allem mit der Auseinandersetzung mit der Shoa aus polnischer Sicht, aber auchdie Beziehungen zwischen Polen, Juden und Deutschen. Er veröffentlichte mehr als40 Bücher und 1200 Artikel in unterschiedlichen Sprachen.

Die zynische Redewendung ,,Arbeit macht frei” stand über den Tor zum Stammlager Auschwitz.

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Vergangenheit zu sehen: UnsereBetreuerin von der Jugendbegeg-nungsstätte zeigte uns das ehemaligeWohnhaus von Gerhard Palitzsch3,aber auch ein Massengrab mit denletzten Opfern der Nazis vor der Be-freiung des Lagers.

Die Führung im Stammlager warnicht nur sehr informativ, sondern un-ser Guide war sehr kompetent undfreundlich und ist auf die individuellenFragen ausdrücklich eingegangen. Erhat uns geschickt durch die Blocks ge-leitet und uns so vom großen Touris-tenandrang verschont.Nach einer kur-zen Mittagspause hat sich die Gruppedie verschiedenen Nationalausstellun-gen angeschaut. In Block13 ist die Ausstellungüber das Schicksal derSinti und Roma zu sehen– eine Opfergruppe desNS, die lange Zeit leiderkaum Beachtung erfah-ren hat.

In Block 14 wird dieGeschichte der UdSSRdargestellt, die sich in ins-gesamt vier Ausstellun-gen aufgliedert. Hier hatmich vor allem der Teilder Befreiung beeindruckt, da hier un-ter anderem die Kameras zu sehensind, welche die uns heute so bekann-

ten Bilder aufgezeichnet haben. Dochdie Ausstellung der UdSSR hat in derGruppe kontroverse Gefühle aus-gelöst, vor allem die heroische Selbst-darstellung wurde kritisiert.

In Block 15 steht Polen im Vorder-grund. Im Erdgeschoss von Block 16ist das Schicksal der Slowaken, imObergeschoss das der Böhmen undMähren dargestellt.Vor allem die Aus-stellung über die letzte große Opfer-gruppe des NS, die ungarischen Juden,fand ich sehr gelungen und beein-druckend inszeniert.Block 20 ist eben-falls aufgeteilt: Im Erdgeschoss ist dieGeschichte Frankreichs, im Oberge-schoss die Belgiens nachzuverfolgen.

Das Schicksal der Holländer ist inBlock 21 zu sehen.

Ich habe alle Nationalausstellun-

3 Gerhard Arno Max Palitzsch (1913 - 1944) war ein deutscher SS-Hauptscharfüh-rer, der als Rapport- und Lagerführer im KZ Auschwitz eingesetzt war. Palitzschgehörte zu den SS-Leuten, die auch aus eigenem Antrieb heraus und ohne höherenBefehl Häftlingen erschossen. Er wurde zum Hauptexekutor von Todesurteilen. InGegenwart eines Häftlings soll er behauptet haben, persönlich 25.000 Menschen er-schossen zu haben. Palitzsch starb bei Kampfhandlungen in Budapest.

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gen besucht, aber vor allem die neueDauerausstellung in Block 27 hat micham meisten berührt. Hier hat die Ge-denkstätte Yad Vashem die Geschich-te der Shoa dargestellt, auf eine Weise,die den Betrachter tief berührt.Nebendem „Book of Names“, das bisherüber vier Millionen Namen beinhal-tet, ist vor allem der Raum mit Kin-derzeichnungen prägend. Diese Aus-stellung hat die Gruppe zusammen mitunserem Guide besucht – was ich per-sönlich sehr begrüße. Mir hat in denanderen Nationalausstellungen dasein oder andere Mal eine Ansprech-person gefehlt, die mir meine Fragenhätte beantworten können.

Sehr beeindruckt hat mich die Aus-stellung über Kunst im Lager, die die

Gruppen der Lagergemeinschaftexklusiv besuchen dürfen. DieseThematik ist wenig bekannt und da-durch umso interessanter. Zu sehen,wie Häftlinge ihre Erlebnisse währendder Lagerzeit verarbeitet haben, aberauch nach der „Befreiung“, die zwareine physische, aber keine psychischegewesen zu sein scheint, hat mich ge-troffen. Vor allem dieser Teil ist auchpädagogisch gesehen von Interesse,dadas Unvorstellbare bildlich wird.Schülerinnen und Schüler können soeinen ganz anderen, eventuell sogarintensiveren Zugang zur Geschichtedes Lagers bekommen, der bei derAusbildung des historischen Bewusst-seins wichtig ist.

Was mir persönlich gefehlt hat, ist

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Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der LGA-Studienreise vom Frühjahr 2017 mit dem90-jährigen Waclaw Dlugoborski - in Auschwitz war er politischer Häftling Nr. 138817.

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das Unglück weiterer Opfergruppendes NS, die nicht unbedingt etwas miteiner Nationalität zu tun haben: DasSchicksal der Homosexuellen, aberauch das der Zeugen Jehovas („Bibel-forscher“) bleibt in der ganzen Aus-stellung des Stammlagers leider außenvor. Wenig Informationen haben wirauch über die Opfer der “medizi-nischen Experimente” der NS-Ärzteerhalten oder den Zusammenhang desVernichtungsprogramms mit derEuthanasie (T4) im „Reich“.

Besonders bedeutsam finde ich dieMöglichkeit des Gesprächs,welche dieGruppe am Abend nach dem Besuchhatte.Der Austausch über das Erlebte,das Erfahrene ist insofern relevant, alsdass dies dadurch erst wirklich verar-beitet werden kann.Schülerinnen undSchüler sollten die-se Möglichkeit beieinem Besuch vonAuschwitz unbe-dingt haben! Wich-tig sind auch Rück-zugsmöglichkeiten,um für sich zu sein.Jedem sollte dieEntscheidung, wiemit der Erfahrungumgegangen wird,überlassen bleiben.

An einem Abend stellte uns Alex-ander Wolf vom LGA-Vorstand denVizepräsidenten des InternationalenAuschwitz Komitees (IAK) ChristophHeubner4 vor und bat ihn, von seinerArbeit sowie über die bevorstehendenund bereits beendeten Prozesse(Demjanjuk/Gröning) der Täter, dieihren „Dienst“ in den Vernichtungsla-gern geleistet hatten, zu berichten.

Auch zum Projekt des Volkswa-genkonzerns und zu den Auszubilden-den des VW-Werkes,die gerade in Bir-kenau Sanierungsarbeiten unddergleichen durchführten, sollte er be-richten. Die Erfahrungsberichte vonHeubner waren für mich sehr interes-sant, insbesondere sein Ansatz der„Zeugen der Zeitzeugen“, der in

4 Christoph Heubner wurde 1949 geboren und ist neben seiner Funktion als Vizeprä-sident des IAK ein deutscher Schriftsteller. Er leistete selbst Friedensdienst im Rah-men der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und engagiert sich seither für die Auf-arbeitung und Erinnerung an Auschwitz. Darüber hinaus betreut er seit 1990 die Aus-zubildenden der Volkswagen AG während eines 14-tägigen Arbeits- und Seminarauf-enthaltes in der IJBS und praktischer Arbeit in der Gedenkstätte Auschwitz.

Gedenkplatte am Memorial in Birkenau.

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der ganzen Führung durch Birkenau.Zu sehen, unter welchen Verhältnis-sen die Häftlinge beispielsweise aufdie Toilette gehen mussten, oder wosie schlafen mussten, war er-schreckend – und das obwohl ich michzuvor intensiv mit dem Thema ausein-andergesetzt hatte, viele Bücher undBerichte gelesen,viele Dokumentatio-nen gesehen hatte. Sich auf diese Er-fahrungen wirklich vorzubereiten,hal-te ich jetzt, nachdem ich selbst dortwar, für unmöglich. Dies ist vor allemzu beachten, wenn die Reise mit Schü-lerinnen und Schülern angetretenwird! Umso wichtiger ist hier dann dieNachbereitung.

naher Zukunft immer bedeutungsvol-ler werden wird.

Nach der Reflexion am Abend ha-be ich dem Besuch in Birkenau offenerentgegengeblickt,als noch dem Besuchdes Stammlagers zuvor. In Birkenauwar neben der unendlich erscheinen-den Weite der Lagerfläche auch dasWetter für das Empfinden ausschlag-gebend: Es wehte an diesem Tag eineisiger Wind. Ich habe mich stets ge-fragt, wie es wohl den Häftlingen ge-hen musste, wenn ich schon mit einerdicken Jacke friere? Gerade in diesemMoment wurde mir erneut das Aus-maß der Unmenschlichkeit bewusst.…

Dieses Gefühl hielt sich während

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Blick von den Bahngleisen zum Tor des Eingangsgebäude des Vernichtungslagers Birkenau.

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Angefangen hat die Führung obenim Turm, der zum Symbol der Shoawurde. Gerade aus dieser Perspektivewar die Größe des Lagers gut zu se-hen. Auch konnte ich mir so einenÜberblick darüber verschaffen, wowelcher Lagerabschnitt gelegen hat.Anschließend sind wir in die Barackendes Quarantänelagers gegangen – die-se sowie die Baracken im Frauenlagersind die einzigen, die übriggebliebensind. Dass das Frauenlager tatsächlichdas schlimmste war, wie es selbst La-gerkommandant Höß in seinen Me-moiren beschreibt, ließ sich beim Be-treten der Baracken sehen. Sehrbeeindruckend war das Mahnmal, daszwischen den gesprengten Krematori-en Nr.2 und 3 errichtet wurde.Die Ge-denktafel ist in 24 Sprachen zu sehen –alle Sprachen, die im Lager gespro-chen wurden.

Die Geschichte des Aufstandes desSonderkommandos am Ort des Ge-schehens noch einmal zu hören, hatmir gezeigt,dass selbst unter den grau-samsten Zuständen die Menschlich-keit bewahrt werden konnte. Zusam-menhalt, Loyalität und Nächstenliebe– all das, was die Nazis zerstören woll-ten, und was ihnen nicht gelungen ist.

Was mich von allen Punkten derStudienreise sehr stark und auch emo-tional bewegt hat, waren die Ge-spräche mit Emanuel Elbinger undWaclaw Dloguborski, die beide dieVerfolgung der deutschen Besatzerüberlebt haben.Den Menschen,denendas Unvorstellbare widerfahren ist,zuzuhören und zu sehen, dass sie kei-nen Hass oder Groll gegenüber den

Deutschen heute verspüren, war wieeine Art Vergebung dessen, was ichmir selbst zugeschrieben habe,obwohlich eigentlich gar nichts dafür kann.

Dennoch will ich die Verantwor-tung, die ich alleine deswegen trage,weil ich Deutsche bin, nie abgebenund versuchen, dazu beizutragen, dass„Auschwitz“ und damit alle Verbre-chen gegen die Menschheit niemalsvergessen werden. Der Zeitpunktrückt näher, an dem keine Zeitzeugenmehr leben werdne.Deshalb ist es um-so wichtiger, dass sich Menschen fin-den, die ihre Botschaft weitertragen.Wie das geschehen kann, lässt sich dis-kutieren und es bieten sich verschie-dene Möglichkeiten. Eine davon kanneine Studienreise nach Auschwitz mitder Lagergemeinschaft sein. Für michdiese Studenfahr sicher nicht die letz-te gewesen sein. •

Waclaw Dlugoborski und Esther Nauth

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Zunächst wohnten wir in der Inter-nationalen Jugendbegegnungsstätte(IJBS) in Oswiecim. Sie entstand inden 1980er Jahren. Hier sollen sichMenschen aus der ganzen Welt ken-nenlernen, Ängste und Vorurteile ab-bauen, die sich insbesondere aus dergeschichtlichen Vergangenheit undGegenwart ergaben und noch ergebenkönnten. Ein Postulat der Begeg-nungsstätte ist, Gedanken offen aus-zusprechen. Sie sind dass prägendeElement der pädagogischen Arbeit indiesem Haus.

Auch unserer kleinen gemischtenGruppe bot die IJBS die Möglichkeit,nach dem Besuch der unterschiedli-chen Abteilungen der Gedenkstätteunsere Wahrnehmungen und Empfin-dungen intensiv und zeitnah zu reflek-tieren.Dann stand die Fahrt nach Kra-kau an.

In KrakauIm ehemaligen jüdischen Viertel Kazi-mierz befindet sich unser Hotel. Nachdem Einchecken bleibt noch Zeit fürLatte Macciato und Kuchen am Ryn-ek, Krakaus großem Platz mit seinenTuchhallen, Cafes, Restaurants, Knei-pen und Geschäften. Pferdekutschenund Elektroautos drehen hier ihre

Runden.Prachtvoll zeigen sich die Ge-bäude,und der Trompeter im Turm derMarienbasilika lässt sein Warnsignalerklingen, mit dem er vor Jahrhunder-ten vor dem Ansturm feindlicher Hee-re warnte. Hier auf diesem Platzschlägt das Herz von Krakau, dasoftmals heimliche Hautpstadt Polensgenannt wird. Abends trifft sich dannunsere Gruppe zu einem gemein-samen Abendesssen im RestaurantGalicia.

Eine VerwechslungNach dem weltweiten Erfolg desFilmes Schindlers Liste hat Krakau ei-nen gewaltigen Tourismusboom er-lebt.Regisseur Steven Spielberg hat inseinem Film das Ghetto in das jüdi-sche Kazimierz verlegt, so dass man-che Touristen es gar nicht wahrhabenwollen, dass dieses sich nicht hier, son-dern auf der anderen Seite der Weich-sel in Podgorze befand.

Allerdings wird auch in den Stadt-führern für Krakau der tatsächliche Ortdes Ghettos kaum erwähnt.Dafür aberumso mehr Schindlers Fabrik. Dorthinzieht es die Touristenströme, das Ghet-to wird einfach links liegengelassen.

Es ist auch erstaunlich,dass es überOskar Schindler mehrere Bücher gibt,

Ein fast vergessenes GhettoZur Geschichte des Krakauer Stadtteils Podgorze

Von Alexander Wolf

An der Studienreise der Lagergemeinschaft im Frühjahr dieses Jahres nahmenelf Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und 70 Jahren teil.Wie immer standneben dem Aufenthalt in Oswiecim und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenauauch ein zweitägiger Abstecher nach Krakau auf dem Programm.

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von Kazimierz einzogen. Offene Last-wagen und überladene Möbelwagenzogen in die eine Richtung, und in derGegenrichtung waren nichtjüdischePolen unterwegs. Man kann sich leichtvorstellen, welche Szenen und Dra-men sich in einer solchen Situation ab-gespielt haben müssen.

Vor dem Krieg lebten im StadtteilPodgorze um die 3000 Menschen, nunsollten dort 15.000 untergebracht wer-den. Bis zu 14 Menschen lebten in ei-nem Raum, die sich oft nicht kanntenund auch zum Teil nicht dieselbe Spa-che sprachen. Etwas über 300 Häuserbefanden sich innerhalb der Ghettos.Zuerst war es mit Stacheldraht um-zäunt, danach wurde es ummauert.Vier Tore führten ins Ghetto.Auf demGelände befanden sich auch Werk-stätten/Fabriken, in denen die Insas-

über das Ghetto dagegen kaum Lite-ratur vorhanden ist. Ich frage michmanchmal, was gewesen wäre, wennman nicht auf die Zeugenberichte vonTadeusz Pankiewicz, dem Apothekerim Ghetto, hätte zurückgreifen kön-nen. Ich werde daher meinen Blick aufdas Ghetto richten und nicht aufOskar Schindler eingehen.

Das Ghetto PodgorzeDas Ghetto wurde auf der gegenüber-liegenden Seite der Weichsel im Orts-teil Podgorze, bei dem es sich um einbesonders ärmliches Wohngebiet han-delte, von den deutschen Besatzerneingerichtet. Am 20. März 1941 kames zu der zwangsweisen großen Um-siedlungsaktion. Die jüdische Bevöl-kerung Krakaus musste das Ghetto-gebiet beziehen, während die Arier(Nichtjuden) in das bessere Viertel

Einige Überreste der einstigen Ummauerung des Ghettos Podgorze sind noch erhalten.

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men, in denen Juden beschäftigt wa-ren.

Die Not und der Hunger im Ghet-to waren groß. Wer keinen Passier-schein oder eine Arbeit hatte, konnteim Ghetto nicht überleben. DieSchwachen und Kranken hatte keine

sen Arbeiten für die Wehrmacht undsonstige Produkte fürs DeutscheReich fertigen mussten. Es gab einjüdisches Krankenhaus und einWaisenhaus. Außerhalb des Ghettosgab es dann noch die Emaillefabrikvon Oskar Schindler und andere Fir-

* Der Judenrat war verantwortlich für die Verwaltung des Ghettos und stand zwischender nationalsozialistischen Besatzungsmacht und der Bevölkerung des Ghettos. Ihmunterstand die jüdische Ordnungspolizei. Zahlreiche Judenräte standen während undnach der Besatzungszeit im Zentrum der Kritik. Über ihr Verhalten wurde äußerst kon-trovers gestritten. So hatte Hannah Arendt (“Banalität des Bösen”) diese beschuldigtbei der Planung und Durchführung der Endlösung mitgewirkt zu haben. Die Juden-räte mussten die von den Deutschen angeforderte Anzahl von Sklavenarbeitern aus-wählen und abstellen und auch bei den Deportationen in die Vernichtungslager helfen.** Der jüdische Ordnungsdienst (Judenpolizei) wurde vom Judenrat gebildet und die

jeweilige Person auch von diesem ernannt. Sie hatten die "Aufgabe", die Mauern undTore zum Ghetto zu bewachen sowie für die möglichst reibungslose Vorbereitungund Durchführung der Deportationen in die Zwangsarbeits- und Vernichtungslagerzu sorgen. Wer im Polizeidienst tätig war, hatte öfter Gelegenheit, Nahrungsmittel zubekommen und blieb von der Zwangsarbeit verschont.

In Krakau traf die Gruppe mit Emanuel Elbinger (5. von links) zusamaen. Herr Elbingerist im Juni leider verstorben (siehe Nachruf S. 29)

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Überlebenschance. EinJudenrat* sowie einOrdnungsdienst** wur-den auf Anordnung derDeutschen gegründet.

Unsere BesichtigungEs ist ein regnerischerkalter Frühlingstag inKrakau. Alle ziehen ir-gendwie die Köpfe un-ter den aufgespanntenSchirmen ein, soferndiese dem Wind stand-halten. Die Jacken sindbis obenhin geschlos-sen.

Teresa Ostrowska,fachkundige KennerinKrakaus und seit JahrenGuide der LGA-Besu-cher, holt uns um 9 Uhrab. Wie gewohnt ge-winnt sie schnell das Vertrauen unse-rer Gruppe. Auf dem Weg nach Pod-gorze zeigt sie uns die Brücke, auf derdamals die “Umsiedlungsaktion”stattfand. Es regnet in Strömen. Wirhalten durch.

Ausgangspunkt unserer Besichti-gung ist der Podgorski Platz. Hier warauch ein Zugang zum Ghetto. Auf derrechten Seite befand sich das Gebäu-de des ehemaligen Judenrates. Inter-essant und fast schon zynisch war undist der Verlauf der Straßenbahntrasse- damals fuhr sie ohne Halt durch dasGhetto. Mir läuft es kalt den Rückenrunter, wenn ich mir vorstelle, wie ma-kaber es für die Ghettoinsassen gewe-sen sein muss, so ständig an die Frei-heit erinnert zu werden.

Heute gibt es keinerlei Hinweise,Schautafeln oder sonstige Wegweiser.Auch an dem Haus, in dem der heuteberühmte Regisseur Roman Polanskiim Ghetto wohnte, weist nichts auf ihnhin.

Ich verteile an die Teilnehmer un-serer Gruppe Kopien eines Planes, aufdem die Umrisse, Straßen und dieGhettomauer eingezeichnet sind. Imweiteren Verlauf zeigt uns Teresa dasjüdische Krankenhaus in der ul. Jose-finska sowie die Fabriken des J. Mad-ritsch und Optima.

Die Fragmente der ehemaligenGhettomauer sehen wir uns ebenfallsan. Es ist schon bezeichnend, welchenzynischen Einfallsreichtum die Deut-schen bei der Gestaltung entwickel-

Emanuel Elbinger zeigte Teresa Ostrowska und der LGA-Gruppe ein Foto aus seiner Jugendzeit mit ihm und seinenGeschwistern.

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ten. Die bogenförmigeGestaltung derMauer hat natürlich einen verachten-den Hintergrund. Sie sollte wahr-scheinlich an jüdische Grabsteine er-innern, also an den bevorstehendenTod. Es gibt laut Teresa allerdingsnoch eine andere Version, dass näm-lich eine Ehefrau eines Nazi-Oberendiese Bauweise gewünscht habe, weiles ihr so gut gefiel und der Herr SS-Oberführer, ihr Ehemann, dies dannso anordnete.

Es ist sicher schwer, sich die ehe-maligen Abschnitte des damaligenGhettogebietes vorzustellen, wenn bisauf diese Fragmente die das Ghettoumgebende Mauer und Zäune abge-rissen wurden. Dennoch sind die mei-sten Häuser auf dem einstigen Ghet-togelände,anders als in Warschau oder

Lodz, wo fast alle historischen Stättenvöllig verschwunden sind, noch vor-handen. Eine Spurensuche ist dahersehr gut möglich. Leider wurde diesebis heute nicht ausreichend betriebenund dokumentiert.

Ich finde es deshalb auch äußerstwichtig, dass wir als Lagergemein-schaft diese Besichtigung immer wie-der in unserem Programm anbieten.Damit tragen wir dazu bei, dass diesesgrauenhafte Ghetto nicht in Verges-senheit gerät.

Die Liquidierung Im März 1943 erfolgte die Liquidie-rung des Lagers. Den Befehl dazu hat-te kein geringerer als der Massenmör-der Amon Göth,der Kommandant desKonzentrationslagers Plaszow, be-kommen. Auch hier hat Steven Spiel-

Die Stühle auf dem Krakauer Zgody-Platz erinnern an die von den deutschen Besatzernerzwungene “Umsiedlung “ der Juden ins Ghetto von Podgorze.

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Richtung. Manchmal versteckte erauch Juden in seiner Apotheke, ver-sorgte sie mit Lebensmitteln und Me-dikamenten. Es wurde geholfen, undzwar unabhängig davon, wie gut oderschlecht er die Jeweiligen kannte.

Über Tadeusz Pankiewicz gibt eskeinen Film. Dafür aber eine Ausstel-lung in der noch heute am selben Platzvorhandenen Apotheke.

Hier führt uns Teresa dann nochhin und erklärt uns die Bedeutungdieses Platzes. Hier fanden schon seitJuni 1942 Selektionen für die Depor-tationen in das Vernichtungslagernach Belzec statt.

Auf dem pl. Zgody stehen heutemehrere Stühle aus Eisen als symboli-sche Erinnerung für die Plünderungenund Mordtaten an der jüdischen Be-völkerung. Manch einer setzt sich dar-auf und sonnt sich. Ein anderer machtKunsttücke auf den Stühlen und findetes lustig. Ein Dritter verzehrt seinenImbiß. Offenbar auch ein “Erlebnis-und Abenteuerplatz”.

Von den insgesamt 60.000 Krakau-er Juden haben nur 4000 überlebt.Heute sollen wieder 150 bis 200 Judenin der Stadt leben.

Es gibt ein Zitat, dessen Verfasserich nicht kenne, das mich aber sehr be-eindruckt hat:”Die Vergangenheit be-wahren, sie mit sich zu führen, um sieschließlich an andere weiterzugeben, istdie einzige Fähigkeit, die den Men-schen zum Menschen macht”. Deshalbmüssen wir das Gehörte, Erlebte undVergangene weitertragen, um damitjegliche Art von Antisemitismus undRassismus zu bekämpfen. •

berg in “Schindlers Liste” die tatsäch-lichen Orte verlegt.

An diesem Tag rückten schwer be-waffnete SS und Polizei in das Ghettoein. Es kam zu einer Orgie der Ge-walt. Die Deutschen und ihre Helfers-helfer mordeten, wo sie nur konnten.Darunter kranke Menschen noch inihren Betten. Säuglinge und Kleinkin-der wurden aus den Fenstern auf dieStraße geworfen oder es wurde ihnendirekt die Köpfe an den Maueren ein-geschlagen. Die Mörder machten sicheinen Spaß daraus, ältere Menschenzum schnellen Laufen aufzufordernund ihnen an dann anerkennend aufdie Schulter zu klopfen, bevor sie sieerschossen. Tausende von Menschenwurden dabei ermordet und wieder-um Tausende in die Vernichtungslagerdeporitert.

Die Apotheke “Zum Adler”Das alles konnte der Besitzer derApotheke Tadeusz Pankiewicz beob-achten und in seinen Berichten fest-halten. Er und seine Mitarbeiterinnensind die einzigen, die über die Verfol-gung und Vernichtung der KrakauerJuden Zeugnis ablegten.

Die Apotheke Zum Adler befandsich am pl. Zgody 18 und damit ge-genüber dem Tor, durch das die Arbei-ter das Ghetto verlassen haben. Vondort aus konnte man das Geschehenim Ghetto sehr gut beobachten. Ta-deusz Pankiewicz und seine Mitarbei-terinnen halfen vielen Ghettoinsassenunter Einsatz ihres Lebens. Pankie-wicz war Kontaktperson und übermit-telte Nachrichten von außerhalb desGhettos und auch in die umgekehrte

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Die Eröffnung übernahmen alsGastgeber Christoph Heubner, Vor-standsvorsitzender der Stiftung fürdie Internationale Jugendbegeg-nungsstätte und GeschäftsführenderVizepräsident des InternationalenAuschwitz-Komitees, sowie LeszekSzuster, langjähriger Direktor derIJBS. Die Auschwitz-ÜberlebendenAnna Szalasna und Prof. WaclawDlugoborski wurden vonChristophHeubner als Vertreter der Zeitzeu-gen-Generation gewürdigt:

„(…) ganz besonders begrüßenund gedenken wir der Überlebendenvon Auschwitz. Sie haben diesemHaus die Legitimität gegeben und dieGlaubwürdigkeit, die Freude, die Tiefeund den Schmerz. Die Gedanken indieser Stunde (…) gehen zu so vielenMenschen, die dieses Lager überlebthaben, als junge Menschen, dass wirsie gar nicht alle aufzählen können.Aber: Jeder, jede von ihnen ist in die-sem Haus gerne Gast gewesen.“

Anschließend ergriffen die Stifterdes Hauses, als Vertreter der StadtOswiecim der Präsident Janusz

Chwierut und seitens Aktion Sühne-zeichen Friedensdienste (ASF) Dr.Stephan Reimers, das Wort. Reimerszitierte zwei der wichtigsten Wegbe-reiter der IJBS, den im Jahre 2002verstorbenen Auschwitz-Überleben-den Tadeusz Szymanski und den ehe-maligen Geschäftsführer der ASF,Volker von Törne, mit prägnantenAussagen über Wirkung und Chancender Auseinandersetzung mit Ausch-witz. Szymanski beobachtete einsttreffend: „Am Anfang eines Aufent-halts in Auschwitz stehen für Jugend-liche viele Fragen im Raum. Am Ende

Jubiläumsveranstaltung in Oswiecim

30 Jahre Internationale Jugendbegegnungsstätte

Am 10. Dezember 2016 fanden in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte(IJBS) Jubiläums-Feierlichkeiten mit einem umfangreichen Programm-Angebot undmehr als 350 Gästen statt.Gefeiert wurden drei Jahrzehnte erfolgreiche Bildungs- unddeutsch-polnische Versöhnungsarbeit einer Einrichtung, die als Treffpunkt derGenerationen und Nationen sowie als Raum des Dialogs zwischen Auschwitz-Über-lebenden und Nachgeborenen sowie zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ver-schiedener Nationalitäten, Religionszugehörigkeiten und Herkunft gilt.

Christoph Heubner und Leszek Szustereröffneten die Feier, © A. Kilian 2016

Von Andreas Kilian

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sind einige bearbeitet. Noch mehr Fra-gen entstehen während des Aufenthaltsund bestimmen die folgende Zeit.“

Der mit nur 46 Jahren 1980 frühverstorbene von Törne proklamierteseinerzeit: „Aufgabe wird es sein, jun-ge Menschen aus aller Welt, die Ausch-witz besuchen, aufzunehmen undihnen die Gelegenheit zu geben, aufdem Hintergrund von Geschichte diebrennenden Fragen nach Verständi-gung und Versöhnung zwischen denVölkern zu diskutieren. Denn ohneGeschichtsbewusstsein, das auch dasWissen um Auschwitz einschließt, istDienst am Frieden nicht möglich.“Reimers beendete sein Grußwortschließlich mit einer Mahnung: „DieRaumqualität, die Bildungsziele undder uns verbindende Geist sind dieGrundlagen einer erfolgreichen Ar-beit. Die IJBS ist ein Ort, an dem man

einander zuhört. Solches Zuhörenaufeinander ist heute wichtiger als je.Wie notwendig das ist, zeigt die politi-sche Lage in Europa. (…)Wer die Er-innerung zurückdrängt, der setzt dieVersöhnung aufs Spiel und auf langeSicht den Frieden in Europa.“

Wertschätzende Worte für die bis-herige Arbeit und Wirkung der IJBSfanden nach einfühlsamen Überleitun-gen durch Christoph Heubner auchder stellvertretende Direktor desStaatlichen Museums Auschwitz-Bir-kenau, Andrzej Kacorzyk, der Staats-sekretär im Bundesministerium fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend,Dr. Ralf Kleindiek, der deutsche Gene-ralkonsul in Krakau, Dr. MichaelGroß, sowie als Vertreterin eines dertreuesten Partner der IJBS, der Volks-wagen AG, Ines Doberanzke. Die Red-ner stellten ausgewählte Aktivitäten

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der IJBS, vor allem die engen Bezie-hungen zu ehemaligen Auschwitz-Häftlingen, heraus und hoben diegroßen und kontinuierlichen Erfolge inVergangenheitsbewältigung, Ge-schichtsaufarbeitung und Erinnerungs-sowie Friedensarbeit, insbesondere imRahmen deutsch-polnischer Versöh-nung hervor. Der Überlebende Wil-helm Brasse (1917 - 2012) wurde mitden Worten zitiert, die IJBS repräsen-tiere „ein Europa ohne Grenzen, ohneVorurteile“.

Nach den Grußworten fand dieEröffnung von zwei Ausstellungenstatt, die eigens zum 30. Jahrestag vonMitarbeitern der Jugendbegegnungs-stätte in langer Vorbereitung konzi-piert wurden: die erste aus neun ein-seitigen Aufstellern bestehende zwei-sprachige Ausstellung „Ich kam, sahund machte Erfahrungen. Freiwilligein der IJBS“ wurde von der HeinrichBöll Stiftung Warschau finanziert undporträtiert die Tätigkeit der rund 100Friedens- oder Gedenkdienstleisten-den in der IJBS in den Jahren 1986 bis2017 (bzw. bereits seit 1985 in Oswie-cim), die zwischen 12 und 24 Monatelang Studiengruppen und ZeitzeugIn-nen betreuten sowie Stadtführungenund Workshops durchführten.

56 Freiwillige leisteten ihrenDienst über Aktion Sühnezeichen Frie-densdienste, 29 über den österreichi-schen Verein Gedenkdienst, 10 überden Internationalen Bund und zweiüber den European Voluntary Servicesowie einer über die dänische DiakoniAaret. 62 Freiwillige kamen ausDeutschland, 29 aus Österreich, fünf

aus der Ukraine sowie jeweils eineraus Frankreich und Dänemark.Grundlage der Freiwilligen-Ausstel-lung waren Interviews, die die Freiwil-ligen des Jahrgangs 2015/2016 mit eini-gen ihrer VorgängerInnen führten, so-wie bislang unveröffentlichte Erinne-rungsfotos ehemaliger Freiwilliger undStudienfahrten-TeilnehmerInnen.

Die zweite aus vier einseitigenAufstellern bestehende und von Les-zek Szuster konzipierte zweisprachi-ge Foto-Ausstellung „Von der Ideezur Realisierung“ besticht durch ihrehistorischen Aufnahmen aus derFrüh- und Gründungszeit der IJBS,u.a. von Alwin Meyer, Gerhart Kin-dermann und Helmut Morlok, undprofitierte nicht zuletzt von der Mit-arbeit von Christoph Heubner, einemder Gründerväter der IJBS. Die ver-wendeten architektonischen Plänestammen von Helmut Morlok (1929 -2017), Mitgestalter der IJBS undebenfalls einer ihrer Gründerväter.

Höhepunkt der Veranstaltung warschließlich das Konzert „Haus der Wer-te – Unsere Wegweiser”, das durch denbewegenden Gesang von Agata Sie-maszko und durch die Cymbalom- Be-gleitung von Miroslav Rajt nachhaltigbeeindruckte. Der Titel des Konzertsbezieht sich auf zwölf Werte, die alsWegweiser für die Arbeit der Jugend-begegnungsstätte ausgewählt, musika-lisch thematisiert und durch Videoclipsmit treffenden Aussagen von jungenTeilnehmerInnen, Zeitzeugen oderProminenten eingeleitet wurden:

FREIHEIT: „Freiheit ist die Akzep-tanz des allumfassenden Bewusstseins,

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dass wir unterschiedlich sind und jedervon uns unterschiedlich sein kann.“(Dariusz Maciborek, Journalist)

HOFFNUNG: „Meine Hoffnungist natürlich, dass meine Arbeit inSchulen und Jugendverbänden ebenFrüchte trägt.“ (Esther Bejerano, Mu-sikerin, Überlebende von Auschwitz)

BARRIEREN ÜBERWINDEN:„Überwindung von Barrieren bedeutetfür mich, aus unserer Sphäre des Kom-forts rauszugehen, etwas Neues waswir vorher noch nicht kannten, an sichranzulassen.“ (Malgorzata Gwinner,Schauspielerin)

GERECHTIGKEIT: „Sie ist ei-gentlich immer dieselbe, sie war, ist undwird dieselbe sein. Wirmüssen das Recht von derGerechtigkeit unterschei-den, denn sie verändert sichnicht.Was sich verändert istdas Recht.“ (Roman Kent,Präsident des IAK, Über-lebender von Auschwitz)

GLEICHHEIT: „DieGleichheit aller Menschen,sie resultiert direkt aus ei-ner angeborenen, unver-äußerlichen Würde jedesMenschen. Der Menschkommt als eine mit Würdebeschenkte Person auf dieWelt und jeder Menschkommt mit dieser Eigen-schaft auf die Welt.“ (Prof.Andrzej Zoll, Jurist)

VERANTWORTUNG:„Verantwortung ist fürmich, nach ImmanuelKants kategorischem Im-

perativ, das eigene Handeln jederzeit soeinzurichten, dass es auch als Maßstabfür eine allgemeine Gesetzgebung die-nen könnte.“ (Prof. Klaus Staeck, Eh-renpräsident der Akademie der Kün-ste in Berlin)

TOLERANZ: „Toleranz solltedurch den Begriff Respekt ersetzt wer-den, weil im Dialog kommt es daraufan, dass wir uns auf Augenhöhe befin-den und nicht, dass die eine Seite dieandere Seite toleriert.“ (Romani Ro-se, Vorsitzender des ZentralratesDeutscher Sinti und Roma)

VERSTÄNDIGUNG: „Verständi-gung ist die Fähigkeit in einer Welt an-derer Menschen zu leben. Die Verstän-

Stanislaw Ciencala (1919-1997) führt 1994 Freiwillige derIJBS durch das Dorf Monowice. 3. v. rechts: AndreasKilian. © Thomas Hebler 1994

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digung verlangt zunächstsich selbst zu verstehenund dann erst die Anders-artigkeit der Menschen,im Kreis derer wir leben,zu begreifen.“ (Dr. AnnaMaria Potocka, Mu-seumsleiterin MOCAKin Krakau)

DIALOG: „Ein Hausdes Dialoges ist ein Ort, andem wir einander zuhören.Wir öffnen unser Herz undlassen den oder die anderehinein. Dann wird seineoder ihre Welt ein Teil un-serer eigenen Welt.“ (Dr.Manfred Deselaers, Zen-trum für Dialog und Ge-bet in Oswiecim)

BEGEGNUNG: „Ei-ne Begegnung mit einerPerson, die man langenicht gesehen hat, nachder man sich sehnt ist et-was anderes als eine Be-gegnung mit einer schwierigen Aufga-be, mit der man sich auseinanderset-zen muss.“ (Zofia Posmysz, Schrift-stellerin, Überlebende von Ausch-witz)

RESPEKT: „Es erfordert Demutund Bescheidenheit, es erfordert Refle-xion, es erfordert eine intellektuelle undgeistige Anstrengung, um den Gegen-stand meines Respekts zu finden undanzuerkennen.“ (Andrzej Seweryn,Leiter Polnisches Theater in Warschau)

SOLIDARITÄT: „Du bist nicht al-lein, jemand unterstützt Dich, jemandwill so denken wie Du, jemand empfin-

det Empathie für Dich und darum ver-bindet er sich mit Deinen Zielen – dasist Solidarität.“ (Marian Turski, Vize-präsident des IAK, Überlebender vonAuschwitz)

Krönender und zugleich symboli-scher Abschluss des Abends warschließlich die als „Generationsstaffel“konzipierte Zeremonie „Der Auftragder Erinnerung”. Zbigniew Herbertsvorgetragenes und von Überlebendenhäufig zitiertes Gedicht „Herr CogitosVermächtnis” („gehe aufrecht wo ande-re knien“; „bleibe tapfer wenn der Ver-stand versagt“) wurde als zweisprachi-

Das Konzert zum Jubiläum mit Agata Siemaszko standunter dem Motto: „Haus der Werte – Unsere Wegwei-ser”. Die IJBS selbst steht unter dem Slogan “A House toLive - A Place to Learn”. © A. Kilian 2016

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ge Erklärung mit den Unterschriftender beiden Ehrengäste Anna Szalas-na und Waclaw Dlugoborski sowievon zwei Freiwilligen als Stellvertre-terInnen der Jugend unterzeichnet.

Die Videoclips waren zuschauer-freundlich auf zwei Videoleinwändensowie mit Live-Übertragung im In-ternet (YouTube Livestream) zu se-hen. Ein über dreieinhalbstündigerZusammenschnitt der Veranstaltungist weiterhin auf YouTube abrufbar(https://www.youtube.com/watch?v=7esnps3XnWY). Darin wird abschlie-ßend in einer leider unvollständigenFotostrecke die langjährige Zusam-menarbeit mit folgenden ehemaligenAuschwitz-Häftlingen gewürdigt:Wil-helm Brasse, Jozef Paczynski, Stanis-law Gladyszek, Kazimierz Smolen,Alex Deutsch, Hans Frankenthal,Maria Srpek, Paul Halter, Jerzy Hro-nowski, Maria und Adam König, Sta-nislaw Hantz, Noach und DorothaFlug, Jozef Szajna, Raphael Esrail,Kurt-Julius Goldstein, Esther Bejera-no, Halina Birenbaum, Jacob Rothen-bach, Magdalena Nattan, Erszi Sze-mes, Stanislaw Ciencala, Janina Jan-czyk, Robert Kent, Henryk Mandel-baum, Jozef Stos, Jerzy Bielecki,Tadeusz Szymanski, Henri Kichka,Wladyslaw Bartoszewski, TadeuszSobolewicz, Kazimierz Albin, ZofiaPosmysz, August Kowalczyk undMarian Turski.

Ohne deren vertrauensvolle Un-terstützung und freundliche Beglei-tung wäre die verbindende Arbeit derInternationalen Jugendbegegnungs-stätte in Auschwitz in den letzten

dreißig Jahren unvollständig gewe-sen. Die Zukunft wird zeigen, wie ver-antwortungsvoll zukünftige Genera-tionen mit den Erinnerungen ehema-liger Auschwitz-Häftlinge umgehenwerden und welche Wirkung eine reinvirtuelle und/oder literarische Aus-einandersetzung mit den Überleben-denberichten hinterlässt. •

Fünf von vielen Zeit-zeugen, die mit derIJBS zusammenar-beiteten. Im Uhrzei-gersinn: Adam Jur-kiewicz (1920 - 1997),Hans Frankenthal(1926 - 1999), Eugeni-usz Motz (1924 -1997), Alex Deutsch(1913 - 2011), Kazi-mierz Smolen (1920 -2012). © Andreas Ki-lian 1994/1995

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In der Geschichte der Verfolgungjüdischer Menschen während desDritten Reiches nahm Theresienstadteine einzigartige Position ein. Einmalwurde es als Durchgangslager fürböhmische Juden bezeichnet, dann alsSiedlungsgebiet und schließlich alsInternierungsort für „privilegierte“Juden aus dem Deutschen Reich, denNiederlanden und Dänemark. Offen-bar haben die Nazis es bis in die heu-tige Zeit geschafft, diesen Mythosund die damit verbundenen Legen-den aufrechtzuerhalten.

Dies hat meines Erachtens dafürgesorgt, dass Theresienstadt vor allemin Deutschland auch heute noch alsein bevorzugter Ort für inhaftierteJuden, Prominente, Künstler usw.

wahrgenommen wird, und dass dieLebensbedingungen dort doch garnicht so schlecht waren, zumindest imVergleich zu den anderen Lagern.

Tatsächlich kamen in diesemGhetto die Existenzbedingungen unddie hohe Mortalität einem Konzen-trationslager gleich. Es herrschtenfurchtbarer Hunger, unbeschreibli-ches Elend, eine hohe Sterblichkeits-rate, und viele Häftlinge wurden ge-foltert und ermordet. Die aus demKonzentrationslager Theresienstadtbekannten kulturellen Leistungenund Ereignisse auf den Gebieten derMusik, des Theaters und Kabaretts,der Kunst (Kinderzeichnungen) undder Erziehung zeugen vom Überle-benswillen und der Selbstbehauptung

Das Ghetto (Sammellager) Theresienstadt wurde im sogenannten ProtektoriatBöhmen und Mähren Ende 1941 eingerichtet. Für das NS-Regime diente es alsVorzeige- und Altersghetto. Deshalb galt die Behandlung der Häftlinge im Ver-gleich zu anderen Lagern als vergleichsweise „milde”.Diese NS-Propaganda än-dert jedoch nichts an der Tatsache, dass das Ghetto Teil des Systems der Kon-zentrationslager und Teil des Vernichtungsfeldzuges gegen die jüdischeBevölkerung Europas war. Die Bezeichnung Ghetto oder „jüdischer Wohnbe-zirk” sollte dies verschleiern - einseits gegenüber Organisationen wie dem In-ternationalen Roten Kreuz und andererseits gegenüber den Häftlingen, denenein dauerhafter Aufenthalt suggeriert werden sollte. Unter den Häftlingen be-fanden sich um die 15.000 Kinder. Für diese organiserte die Häftlingsselbstver-waltung geheimen Unterricht. Es sind Gedichte und Bilder erhalten1.

Das Bildungsprojekt „Room 28”Zur Erforschung der Geschichte der „Mädchen von Zimmer 28”

Das Ghetto Theresienstadt

Von Alexander Wolf

1 Siehe z.B. Helga Weissova: Zeichne, was du siehst - Zeichnungen eines Kindes aus Theresienstadt/Terezin: 1998,Wallstein-Verlag

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der Häftlinge. Es handel-te sich hierbei auch um ei-nen Widerstand gegen dieSS-Bewacher.

Seit Janusz Korczak2

ist wohl bekannt, dassKinder von Beginn ihresLebens an Menschensind. Sie haben wie dieErwachsenen oder sogarnoch mehr gelitten. Mitihren Überlebenszeugnis-sen zählen sie für mich zuden glaubwürdigstenZeugengruppen.

Zwischen 1942 und 1944 lebte indem rund dreißig Quadratmetergroßen Zimmer 28 des Mädchenhei-mes L 410 im Ghetto Theresienstadteine Gruppe von zumeist 30 jüdi-schen Mädchen. Sie wurde von er-wachsenen Häftlingen betreut. Im-mer wieder wurden einige aus ihrenReihen gerissen zum Transport nachAuschwitz-Birkenau und in andereVernichtungslager. Neue Mädchenkamen, neue Freundschaften wurdengeschlossen, bis der nächste Transportdiese Gemeinschaft wieder beendete.

Im Herbst 1944 wurden mehr als

14.000 Kinder von Theresienstadtnach Auschwitz deportiert, darunterauch viele von Zimmer 28. Die mei-sten wurden an der Rampe von Bir-kenau selektiert und sofort in denGaskammern ermordet. Von etwafünfzig bis sechzig Mädchen, die füreine Weile im Zimmer 28 lebten, ha-ben fünfzehn die Befreiung erlebt.

Die Anfängedes “Room 28”-Projekts

1996 lernte die Journalistin und Auto-rin Hannelore Brenner einige Über-lebende von Auschwitz und The-

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2 Janusz Korczak (1878 - 1942) war ein jüdisch-polnischer Arzt, Pädagoge und Kinder-buchautor. Er begleitete die Kinder seines Waisenhauses beim Abtransport in die Ver-nichtungslager und wurde dabei selbst vermutlich in Treblinka ermordet.3 Die Kinderoper wurde 1938 von Hans Krása und Adolf Hoffmeister in Prag ge-schaffen. Brundibar bedeutet im übertragenen Sinne Miesepeter. 1942 wurde HansKrása nach Theresienstadt deportiert. Dort beschloss man, die Oper neu einzustu-dieren und im Lager auf dem Dachboden der Magdeburger Kaserne aufzuführen.Am 23. September 1943 war es dann so weit, Kinder spielten für Kinder. Dies ver-schaffte vielen im Ghetto einen kurzen Moment von Freiheit und Normalität. DieRollen mussten häufig neu besetzt werden, da viele der kleinen Darsteller in dasVernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet wurden.

Aus der Präambel des Vereins “Room 28”:

„Wesentliches Anliegen des Vereins ist es, deut-lich zu machen, welche existentielle Bedeutungkulturellen Leistungen und die Orientierungan elementaren humanistischen Idealen geradein Zeiten extremster Inhumanität zukommen,den interkulturellen Dialog über Kunst, Kulturund Erziehung zur Menschlichkeit zubefruchten, Zivilcourage zu stärken und imBewusstsein der individuellen Verantwortungdes Menschen, handelnd und gestaltend an ge-sellschaftlichen Prozessen mitzuwirken.”

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resienstadt kennen, als sie einRadio-Feature über die Kinde-roper Brundibár3 vorbereitete.Es wurde die Idee geboren, dieErlebnisse und das Schicksalder „Kinder von Theresien-stadt“, von denen nur wenigedie Vernichtungslager überleb-ten, weiterzuerzählen und fürdie Nachwelt zu erhalten. Esfolgten danach Treffen mit denÜberlebenden, woraus sich einumfassendes interaktives undinternationales Projekt, Bücher,Theaterstücke, Vorträge und ei-ne (Wander)-Ausstellung ent-wickelten.

2004 erschien das Buch „DieMädchen von Zimmer 28.Freundschaft, Hoffnung undÜberleben in Theresienstadt“(Neuauflage Aufbau-Verlag2008). Dieses Buch ist eine ge-lungene Synthese aus Doku-mentenreportage und Erzäh-lungen vom Alltag der Kinderim Lager, zugleich ein zutiefstberührendes Zeugnis derMenschlichkeit in einer un-menschlichen Zeit.

2007 kam es zur Gründung desVereins Room 28 e. V. in Berlin. Erunterstützt das Anliegen, das Ver-mächtnis von Zimmer 28 lebendig zuerhalten.

2014 erschien in der von Hannelo-re Brenner herausgegebenen „Editi-on Room 28“ Helga Pollak-KinskysBuch „Mein Theresienstädter Tage-buch 1943-1944 und die Aufzeichnun-gen meines Vaters Otto Pollak“ (eben-

falls Häftling im Lager). Es ist bei-spielhaft, wie das Schicksal der jüdi-schen Kinder in Erinnerung gehaltenwird.

2013 lernte ich Evelina Merová,eine Überlebende von Zimmer 28,anlässlich eines Vortrages im AktivenMuseum Spiegelgasse in Wiesbadenkennen und lud sie zu einer Veran-staltung der LagergemeinschaftAuschwitz - Freundeskreis der Ausch-witzer ein. Evelina Morevá war 11

Seite aus dem Poesialbum von Anna Flachová. IhreFreundin Fiska schrieb ihr zu dem Bild: So wie die-ser große Pilz den kleinen Pilz schützt, so schütztdich das Heim. Nach einiger Zeit wirst Du die an-deren schützen müssen. (...) erinnere dich auch spä-ter an die, die Du gerne gehabt hast. (Auszug aus“Kompendium 2016 Room 28 Bildungsprojekt”).

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Jahre alt, als sie 1942 in das GhettoTheresienstadt deportiert wurde, wosie bis zu ihrem Transport am 15. De-zember 1943 nach Auschwitz-Bir-kenau im Mädchenheim lebte.

Im Februar 2014 berichtete sie beiVorträgen über ihre Schicksalsjahrein den Konzentrationslagern im Kul-turzentrum Bad Vilbel und in mehre-ren Schulen. 2016 erschien ihr Buch„Lebenslauf auf einer Seite“ (EditonRoom 28/Herausgeberin HanneloreBrenner-Wonschick). In diesem Buchhat Evelina Moreva alle Erinnerun-gen und ihre Erfahrungen als Kindwährend der nationalsozialistischenDiktatur in erschütternder Art undWeise niedergeschrieben.

Kompendium 2016 Room 28Im Dezember 2016 veröffentlichteHannelore Brenner das Kompendium„Theresienstadt. Die Mädchen vonZimmer 28“4. Es basiert auf den vorge-nannten Büchern und der gleichnami-gen Ausstellung. Diese und weitere Pu-blikationen sind Elemente des Room28 Bildungsprojektes.

Die 113-seitige Broschüre umfassteinen allgemeinen Teil, einen Erinne-rungsteil, einen Teil mit Lehrmateria-lien, einen aktuellen Teil sowie eineCD mit einem vom Südwestrundfunkproduzierten Hörfunkfeature. DieseBroschüre ist reichhaltig an Informa-tionen, umfangreich bebildert und lie-fert einen hohen Erkenntnisgewinn.Sehr gut ist der Autorin auch die me-

thodische Aufarbeitung gelungen(Vermittlung historischen Wissens,Geschichtsreflexionen, Erinnern,Brundibar, Vergegenwärtigung desdamaligen Unrechts, aktueller Be-zug). Außer den ehemaligen Häftlin-gen lässt Hannelore Brenner auchviele Persönlichkeiten aus Politk undKultur zu Wort kommen. Ich habe sel-ten eine solch überzeugende, in der

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Das Kompendium mit der ISBN 978-3-00-055265-6) kann direkt beim Verlag überdie Internetseite www.verein-room28.debestellt werden.

4 Die Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer hat die Ver-öffentlichung finanziell bezuschusst und auch anderweitig unterstützt.

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Argumentation kompetent geschrie-bene Arbeit zu dieser Thematik desErinnerns an Theresienstadt gelesen.

Dieses Kompendium gehört nichtnur in jede Schule, sondern auch indie Hände von interessierten Zeitge-nossen. Das Kompendium kommt zurrechten Zeit, denn nach einer empiri-schen Studie der Freien Universität(FU) in Berlin von 2016 wird nur anwenigen Hochschulen regelmäßigWissen über den Holocaust vermit-telt.

* Die Malerin Friedl Dicker-Brandeis (geb. 1898 in Wien) war Absolventin der Bauhaus-Schule in Weimar. Sie wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie Zeichenkurse gab.1944 wurde sie in einer Gaskammer in Auschwitz ermordet.

In der Hoffnung, dass die Erinne-rungsarbeit der Autorin gegen denAntisemitismus in allen seinen For-men und gegen das Vergessen die ent-sprechende Anerkennung und Unter-stützung findet, möchte ich amSchluss noch auf die Worte desAuschwitzüberlebenden Primo Levihinweisen: “Es ist geschehen und folg-lich kann es wieder geschehen. Darinliegt der Kern dessen, was wir zu sagenhaben.” (Primo Levi: Ist das einMensch?)

Kunst, Kultur und MenschlichkeitZur Bedeutung des geheimen Unterrichts in Theresienstadt

Über 4000 Kinderzeichnungen sind inden Malstunden mit Friedl Dicker-Brandeis* zwischen 1943 und 1944 inTheresienstadt entstanden. Es sindZeugnisse des Lebens und desLebenswillens aus Kinderhand, Zeug-nisse der Gegenwart und des Einflusseseiner außergewöhnlichen und begnade-ten Künstlerin und Kunstpädagogin.

Malen und Zeichnen im Alter bis et-wa zehn Jahren fasste Friedl Dicker-Brandeis primär als ein Ausdrucksmit-tel der individuellen Erlebniswelten derKinder auf. Ihre Aufgabe sah sie darin,das schöpferische Potential ihrer Schü-lerinnen zu erkennen und zu fördern.

Für viele Kinder waren die Mal-stunden mit Friedl Dicker-Brandeisein leuchtender Stern im Dunkel des Zeichnung von Evelina Merová.

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Ghettos. Auch für dieMädchen von Zimmer28. Hunderte von Kin-derzeichnungen sind imZimmer 28 entstanden.

Friedl Dicker-Bran-deis’ Credo: Wo eineKraft sich auf sich be-sinnt und versucht,durchsich zu bestehen, ohneAngst vor Lächerlich-keit, da springt auch eineneue Quelle des Schöpferischen auf,und dieses Ziel hat auch der Versuchunseres Zeichenunterrichts.

(zitiert aus: Hannelore Brenner:Theresienstadt - Die Mädchen vonZimmer 28 - Kompendium 2016)

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Es gibt hier tiefe Verzweiflung, denVerlust der Kindheit, aber auch dasWiedergewinnen der Kindheit und derJugend durch die Freundschaft dieserGruppe von Jugendlichen,die Liebe derBetreuerinnen, die Hoffnung auf einebessere Zukunft, das Wissen um denfürchterlichen Ausklang für die meistender Kinder, von denen die fünfzehnÜberlebenden vom Zimmer 28 ja nurdie Übriggebliebenen sind.

Es ist eine sehr jüdische Geschichte- und gleichzeitig eine sehr universelle.Sie fordert auf, auf Unrecht zu reagie-ren, ohne dass die Aufforderung plaka-tiv wird. Sie fordert auf, nicht die Hoff-nung zu verlieren, ohne dass dieHoffnung dabei zu einer platten Naivität wird. Sie zeigt auf, was Freundschaft,wenn sie wahr ist, für jeden einzelnen von uns und für die Gemeinschaft erreichenkann, ohne zu einer Banalität zu werden. Man müsste etwas daraus lernen, nicht?

Yehuda Bauer, Historiker, Jerusalem(Aus dem Geleitwort zur Ausstellung des Bildungsprojektes “Room 28”)

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Mit überaus großer Besorgnis neh-men wir, die Vertreter der von den ehe-maligen Häftlingen der Konzentrati-onslager gegründeten Interessenver-bände, den weltweiten Rechtsruck unddie Erfolge der Rechtspopulisten inEuropa und Deutschland zur Kenntnis.

Vor dem Hintergrund des unge-bremsten globalen Kapitalismus ha-ben sich Armut und soziale Ungerech-tigkeit sowie die damit einhergehen-den gesellschaftlichen Konflikte in denletzten Jahren erheblich verschärft.Armut, anhaltende Kriege und religiösbegründete Radikalisierung führenweltweit zu instabilen Verhältnissenund großen Flüchtlingsbewegungen.

Eine allgemeine Verunsicherungäußert sich momentan europaweit indem Wiederaufleben nationalistischerund völkischer Ideologien, die sichnicht nur gegen alles vermeintlichFremde und Andersartige und ein ge-eintes Europa richten, sondern auchgegen die über Jahrzehnte erkämpf-ten Errungenschaften der demokrati-schen Zivilgesellschaft. Diese Werteund Errungenschaften, Offenheit undAkzeptanz, Solidarität und Mitbe-stimmung, Emanzipation und Schutzvon Minderheiten, nicht zuletzt dieFreiheit der Presse und von Wissen-schaft, Kunst und Kultur, gilt es mitallen Kräften zu verteidigen und denreaktionären Tendenzen entgegenzu-treten.

In einigen Ländern Europas sindRechtspopulisten schon an der Regie-rung, in anderen konnte dies nurdurch den Zusammenschluss aller de-mokratischen, antifaschistischen Kräf-te verhindert werden. Besonders un-erträglich für uns ist der Erfolg derAfD in Deutschland, die mit Islam-und Fremdenfeindlichkeit sowie wei-teren rechten Positionen ein bedroh-lich großes Wählerpotential erreichenkann. Ihre Vertreter bezeichnen dieGedenkkultur an die nationalsoziali-stischen Verbrechen als Zeichen derSchande und fordern ein Ende der„politischen Korrektheit“.

Dies geschieht in einer Zeit, in dernur noch wenige Überlebende derKonzentrationslager aus eigener An-schauung Auskunft über die Verbre-chen des Nationalsozialismus gebenkönnen.

Im „Vermächtnis der Überleben-den“ erklärten 2009 die Vertreter vonzehn internationalen Häftlingsver-bänden:

„ (…) Aber auch Europa hat seineAufgabe: Anstatt unsere Ideale für De-mokratie, Frieden, Toleranz, Selbstbe-stimmung und Menschenrechte durch-zusetzen, wird Geschichte nicht seltenbenutzt, um zwischen Menschen, Grup-pen und Völkern Zwietracht zu säen.(…) Die letzten Augenzeugen wendensich an Deutschland, an alle europäi-

Dem Rechtsruck entgegentretenErklärung des Netzwerks der Lagergemeinschaften aus Anlass

der Bundestagswahl am 24. September 2017

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schen Staaten und die internationale Ge-meinschaft, die menschliche Gabe derErinnerung und des Gedenkens auch inder Zukunft zu bewahren und zu würdi-gen.Wir bitten die jungen Menschen, un-seren Kampf gegen die Nazi-Ideologieund für eine gerechte, friedliche und to-lerante Welt fortzuführen, eine Welt, inder Antisemitismus, Rassismus, Frem-denfeindlichkeit und Rechtsextremis-mus keinen Platz haben sollen.“

Wir, die wir dieses Vermächtnisfortführen, wenden uns deutlich ge-gen jegliche Form rechter, menschen-und demokratiefeindlicher Ideologi-en und Tendenzen und stellen unsdieser wachsenden Bedrohung, ge-meinsam mit allen demokratisch Ge-sinnten, nach Kräften entgegen.

Nach dem sich abzeichnenden En-de der Zeitzeugenschaft kommt denKZ-Gedenkstätten und den Gedenk-stätten und Museen zum NS-Terror ei-ne noch größere Bedeutung in der Ver-

mittlung der Geschichte zu. Daher for-dern wir von der Bundesregierung undden Landesregierungen eine intensi-vere Förderung dieser Gedenkstättenund Museen. Ebenso fordern wir alleVertreter der demokratischen Parteienauf, dies zu unterstützen und sich für ei-ne bessere Ausstattung der Gedenk-stätten einzusetzen, insbesondere imBereich der pädagogischen Arbeit.Junge Menschen müssen die Möglich-keit erhalten, sich qualifiziert und diffe-renziert mit diesem Teil der Geschichtezu beschäftigen, um sich kritisch mitden Inhalten des Rechtspopulismusauseinandersetzen zu können.

Unterzeichnende Verbände:Lagergemeinschaft Auschwitz –

Freundeskreis der AuschwitzerAuschwitz-Komitee in der Bundes-

republik Deutschland Lagerarbeitsgemeinschaft Buchen-

wald-Dora Lagergemeinschaft Dachau der

Bundesrepublik Deutschland Deutsches Mauthausenkomitee OstLagergemeinschaft und Gedenk-

stätte KZ Moringen e.V.Arbeitsgemeinschaft Neuengamme Lagergemeinschaft Ravensbrück

/FreundeskreisLagerarbeitsgemeinschaft KZ

SachsenburgSachsenhausen-Komitee in der

Bundesrepublik Deutschland

Unterstützer: Vereinigung der Ver-folgten des Naziregimes – Bund derAntifaschistinnen und Antifaschistene.V. (VVN-BdA)

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ihren Beherbergern auf den Markt-platz des Ortes gebracht, weil die SSdie Polen mit dem Tod bedrohte, wennsie Juden versteckten. So allein gelas-sen, bettelte sie an Haustüren um U-nterschlupf. Überall wurde sie wegge-schickt – bis die SS sie ermordete.

Die Mutter wurde beim Versuch,Geld für die Familie zu beschaffen,von Partisanen verschleppt und er-mordet. Bevor die Familie untertauch-te, hatte die Mutter die Stoffe undKurzwaren ihres Geschäftes bei ver-schiedenen Kunden und Freunden un-tergestellt. Jetzt versuchte sie, diese de-ponierten Waren gegen Geld oder Le-bensmittel zu tauschen. Nicht alle gin-gen dabei redlich mit ihr um, mancheleugneten sogar den Besitz der Waren.

Emanuel Elbinger schilderte wäh-rend unserer Treffen stets mit ruhiger

Die E-Mail aus Kra-kau war kurz und stimm-te traurig. „Herr Elbin-ger ist gestern im Kran-kenhaus gestorben“,schrieb am 10. Juni 2017Theresa Ostrowska. Siehat unseren Gruppenfast alle Gespräche mitEmanuel Elbinger sehreinfühlsam übersetzt.Stets hat sie Kontakt zuHerrn Elbinger gehaltenbei der Vorbereitung un-serer Studienfahrten.

Getroffen hatten wirihn beim traditionellen Sabbath-Mahlim Jüdischen Gemeindezentrum inKrakau. Ein freundlicher alter Herrsprach die Teilnehmer unserer Grup-pe deutsch an und war neugierig aufWoher und Warum. Danach gefragtsagte er zu, in Zukunft mit unserenStudiengruppen immer ein Gesprächzu führen. Im Laufe des Sabbath-Abends sang er zwei jiddische Lieder,die wir später bei allen Treffen zumAbschied hören konnten.

Emanuel Elbinger durchlebte diedeutsche Besatzung Polens als Kindjiddisch sprechender Eltern zusam-men mit seinen zwei Schwestern inVerstecken bei Bauern der Umge-bung. Zeitweise lebten die Familien-mitglieder einzeln in verschiedenenVerstecken. In der Situation wurdeseine kleine Schwester eines Tages von

Gern sang er jiddische LiederWir trauen um Emanuel Elbinger

Im April dieses Jahres traf sich Emanuel Elbinger (hier mitÜbersetzerin Theresa Ostrowska) noch in Krakau mit ei-ner Studienreisegruppe der LGA.

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Stimme – scheinbar ohne Emotionen –was er erlebt hatte. Er hatte Helfer ge-funden, mutige und ängstliche. Er hatteZurückweisung erfahren, Bedrohungund Antisemitismus.

Nach dem Krieg studierte er inKrakau und arbeitete als Ingenieur beieinem Energieversorgungsbetrieb. Inden an den Vortrag anschließendenGesprächen erfuhr man, dass er Ver-wandte in Rotterdam hatte. Auf dieFrage, warum er in Polen geblieben sei,erzählte er, dass er seinen Vater undseine ältere Schwester nicht allein las-sen wollte. Beide waren von denSchrecken während der Okkupationschwer traumatisiert und verbrachtenviele Jahre in Kliniken und Heimen.

Für Mundek – wie ihn die polni-schen Freunde liebevoll nannten -

waren die letzten Lebensjahre sehranstrengend. Seine Lunge konntenicht mehr ausreichend leisten, wassein zarter Körper brauchte. Dennochwar er immer bereit, unsere Gruppenzu treffen. Man merkte ihm die Mühean, die die Treffen im Museum Galiciaihm bereiteten. Die Fröhlichkeit, mitder er uns begrüßte und verabschiede-te und immer geduldig fürs Gruppen-foto posierte, unterdrückte die Sorgeund das schlechte Gewissen über dieAnstrengung, die wir ihm zumuteten.

Emanuel Elbinger wird den Studi-engruppen in Zukunft fehlen. SeinGrab auf dem großen jüdischenFriedhof in Krakau wird ein Grundmehr sein, diesen Friedhof als Doku-ment jüdischer Kultur und Traditionzu besuchen. Uwe Hartwig

30 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Er baute ein „heilsames Haus”Helmut Morlok, Architekt der IJBS, starb im Alter von 87 Jahren

Am 10. März 2017 ist Helmut Mor-lok gestorben. Er hat die Internatio-nale Jugendbegegnungsstätte (IJBS)in Oswiecim als Architekt geplant undihren Bau organisiert und geleitet.Dabei hatte er engen Kontakt zu pol-nischen Freunden und Kollegen. Erarbeitete seit 1987 im Kuratorium undStiftungsrat der IJBS mit und wurde2007 zum Ehrenvorsitzenden ernannt.Von 1994 bis 2006 war er Beauftragterder deutschen Bundesländer für de-ren Beitrag zur Erhaltung der Ge-denkstätte in Auschwitz-Birkenau.

Als es Pläne gab, die geplante Ju-gendbegegnungsstätte in einer ehe-

maligen Lagerbaracke unterzubrin-gen, intervenierte Helmut Morlok, derdurch seine Mitgliedschaft bei AktionSühnezeichen - Friedensdienste mitder Gedenkstätte Auschwitz vertrautwar. In einer Lagerbaracke, so Mor-lok, “da verschlägt es jedem die Spra-che”. Schließlich wurde sein Gegen-entwurf realisiert. Als Helmut Morlok2013 von der Aktion Sühnezeichenden Lothar-Kreyssig-Friedenspreisverliehen wurde, beschrieb der Lau-dator Martin Kreyssig das Gebäudetreffend: “Die offene Gestaltung derBegegnungsstätte bildet das ästhetischeGegengewicht zur Lagerarchitektur.

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Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 31

In einem Kondolenzschreiben der Lagergemeinschaft Auschwitz an dieWitwe Helmut Morloks schrieb Vorsitzender Uwe Hartwig:

Für die Studiengruppen, die Auschwitz besuchen, ist die Jugendbegeg-nungsstätte ein wunderbarer Aufenthaltsort. Immer wieder beschreiben dieTeilnehmerinnen und Teilnehmer, wie sehr ihnen der Ort gefällt und wie geeig-net er ist für den Aufenthalt während des Besuchs der Gedenkstätte.

Während der vielen Aufenthalte in der Internationalen Jugendbegeg-nungsstätte in Oswiecim mit Studiengruppen habe ich immer von Neuemdie Anlage der Jugendbegegnungsstätte bewundert und den Aufenthalt dar-in genossen. Dafür bin ich Herrn Morlok sehr dankbar.

Am Beginn eines jeden dieser Aufenthalte stand immer ein Vortrag überdie Jugendbegegnungsstätte und die Ideen, die hinter ihren Bauten stecken.Dabei wurden unseren Studiengruppen auch Helmut Morloks Person undseine Beweggründe nahegebracht. Sein Einsatz für die Errichtung der Ju-gendbegegnungsstätte und ihre Gestaltung zusammen mit seinen polnischenFreunden ist ein großer Verdienst für die Aussöhnung zwischen Polen undDeutschen und für die aktive Erinnerung an den Holocaust.

Helmut Morlok und sein Wirken müssen in Erinnerung bleiben!

Die Begeg-nungsstätte er-füllt in ihrerfunktionalenEinfachheitden sinnlichfühlbarenZweck, Men-schen zusam-menzuführen,Aussprache zuermöglichenund Erinne-rung zu be-

wahren.” Helmut Morlok habe mitder IJBS ein mit Leben erfülltes “heil-sames Haus” konzipiert und gebaut.

Als Zwölfjähriger wurde HelmutMorlok als Adolf-Hitler-Schüler einge-

bläut: “Der Einzelne ist nichts, deinVolk ist alles”, und er wurde zu “Zuchtund Ordnung”, “Härte und Opferbe-reitschaft” gedrillt, wie er bei Besuchenvor Schulklassen erzählte. Zurück ausder Kriegsgefangenschaft überzeugteihn Albert Schweitzers Credo “Ehr-furcht vor dem Leben” - und zwar einesjeden Lebens unabhängig von Her-kunft und Volkszugehörigkeit, Krank-oder Gesundheit - vom Gegenteil derNS-Propaganda. Helmut Morlok wur-de zu einem “starken Motor deutsch-polnischer und deutsch-jüdischer Ver-söhnung”, wie der Kölner Stadt-Anzei-ger 2010 nach einem Gespräch vonHelmut Morlok mit Jugendlichen for-mulierte.

Hans Hirschmann

Helmut Morlok (1929 - 2017)

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Die Aufdeckung der MordeIm Grunde ist es völlig unbegreiflich undunfassbar,wie es möglich war,dass jahre-lang eine solche rassistische rechtsextre-me Terrorbande in Deutschland so vieleMorde und Anschläge verüben, Bombenbauen und werfen konnte. Die einzeige

Schlussfolgerung, die man daraus ziehenkann, ist, dass Polizei, Staatsschutz unddie Staatsanwaltschaft wieder einmal ver-sagt haben, wenn es sich um die Ein-schätzung von rechtsextremen Straftatenhandelt, die politisch motiviert sind.

Typische Beispiele dafür aus der Ver-gangenheit sind derMord an einem jüdischenVerleger und seiner Le-bensgefährtin 1981, dasBombenattentat desRechtsextremisten Gun-dolf Köhler 1980 auf demOktoberfest, die Bran-danschläge in Mölln mitdrei Toten und die fünfTodesopfer in Solingen.Jedes Mal hieß es, daswären Einzeltäter, dieohne politische Motivati-on gehandelt hätten.

Ich frage mich, waswäre eigentlich noch pas-siert,wenn sich die NSU-

32 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)Der Prozess, der Judenhass und unser aller Verantwortung

Rückblick:Mehrere Neonazis gehen in den Untergrund und bleiben fast 14 Jahre langunentdeckt. Der sogenannte harte Kern besteht aus drei Personen: Uwe Mundlos(geb. 1973), Uwe Böhnhardt (geb. 1977) und Beate Zschäpe (geb. 1975). Die Anzahlder Unterstützer ist unklar, wird aber auf bis zu 200 Personen geschätzt.Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nannte sich diese rechtsextremistische,ter-roristische und mörderische Vereinigung in Deutschland. Diese Terrorgruppe begingseit dem Jahr 2000 deutschlandweit kaltblütig zehn Morde und mindestens 15 Bank-überfälle, die bis ins Jahr 2007 reichen. Mordopfer sind acht türkischstämmige Män-ner,ein griechischer Kleinunternehmer und eine Polizistin.Auf einem Bekennervideoverhöhnen diese Neonazis die Opfer, indem sie Bilder der Leichen zeigen, die sieoffenbar direkt nach den Morden aufgenommen haben. Mit Trickfilmversen undMusik unterlegt, werden die Toten in zynischer Comic-Form dargestellt.

In Nürnberg wird gegenüber dem Kartäusertor mit einerGedenktafel der Opfer der NSU-Gewalttaten gedacht. Fo-to aus wikipedia, Autor: Aarp65, April 2013

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Verbrecher Mohnhaupt undMundlos nicht selbst am 4. No-vember 2011 in Eisenach in ei-nem geparkten Wohnmobil er-schossen hätten. Kurz davorhatte die Dritte des Mördertrios,Beate Zschäpe,das Haus im 180Kilometer von Eisenach ent-fernten Zwickau verlassen undwar untergetaucht, so wie sie es14 Jahre lang hatte machen kön-nen. Ihre Katze gab sie nochvorher bei den Nachbarn ab.

Das Haus, in dem die dreiwohnten, wurde zum großenTeil durch eine Brandbombezerstört, um Spuren bzw. Be-weise zu beseitigen. Dennoch gelang esnicht, alles zu zerstören. Neben einerWaffe,die bei den Morden benutzt wur-de, fanden die Ermittler noch Filme,DVDs und weiteres rechtsextremesMaterial.

Der ProzessSeit Mai 2013 müssen sich Beate Zschä-pe und vier mutmaßliche Terrorhelfer desrechtsextremen NationalsozialistischenUntergrundes vor dem Oberlandesge-richt München verantworten.Ihnen wirdzur Last gelegt,zehn Morde,zwei Spreng-stoffanschläge und mindestens 15 Bank-überfälle zwischen 2000 und 2007 began-gen zu haben. Zschäpe wird außerdemvorgeworfen, das Haus in Zwickau, indem sie zuletzt gewohnt hatte, angezün-det zu haben. Bisher gab es mehr als 350Verhandlungstage. Weitere zusätzlicheVerhandlungstermine sind bis 2018 ge-plant.Mehr als 500 Zeugen sind in diesemVerfahren vernommen worden.

Die Staatsanwaltschaft hat die An-

klage gegen Zschäpe auf Mittäterschaftgestützt, obwohl sie angeblich selbstnicht an den Tatorten gewesen sein soll.Käme es zu einer Verurteilung als Mit-täterin, droht Zschäpe eine lebenslangeHaft. Sie sei für die Beschaffung vonWaffen, Tatfahrzeugen, falschen Papie-ren sowie der Verwahrung der Beuteaus Raubüberfällen zuständig gewesen.

Mit angeklagt ist der Neonazi RalfWohleben (40).Ihm wird zur Last gelegt,die Mordwaffe für den NSU verschafftzu haben. Interessant ist,dass Wohllebenvon Rechtsanwältin Nicole Schneidersvertreten wird, die als bevorzugte An-wältin der rechtsextremen Szene gilt undals Studentin der NPD angehörte.

Die Strategie der Anwälte, ins-gesamt fünf, ist und war, dass sichZschäpe nicht äußern solle. Fragen andie Angeklagte werden notiert und dieAntworten später von den Anwältenim Saal verlesen. Ein Prozedere, dassich an der Grenze des Erträglichen be-wegt, weil es das Gericht, die Bundes-

Hier in Nürnberg in der Gyulaer Straße wurde Ab-durrahim Özüdogru erschossen. Foto aus wikipedia,Autor: Aarp65, März 2012

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anwaltschaft und die Nebenkläger wieBittsteller dastehen lässt.

Am 9. Dezember 2015 ließ die Ange-klagte durch ihren Rechtsanwalt MathiasGrasel dem Gericht gegenüber eineErklärung vortragen, in der sie sich alsemotionales, naives und unselbstständi-ges Mädchen vom Lande darstellte. Siehabe eine schwere Kindheit hinter sichund sei an die falschen Jungs geraten.MitPolitik habe sie nicht viel zu tun gehabt.Über die in den Schränken der gemein-samen Wohnung liegenden Pistolen seisie entsetzt gewesen. Von den Mordenhabe sie vorab nichts gewußt.

Ich frage mich, wie Juristen eine sol-che Erklärung für ihre Mandantin abge-geben, die eindeutig gegen die bereitsbekannten Sachverhalte und Aktenin-halte spricht. Dieses ganze Schmie-rentheater kommt einer Verhöhnungder Opfer gleich. Schon in den NS-Kriegsverbrecherprozessen mussten wirerleben, wie sich Verbrecher, vom SS-Rottenführer bis hin zum Obersturm-bannführer, als hilflose Personen undDurchschnittsmenschen präsentierten.

Der aktuelle Stand des Strafprozes-ses ist der,dass ein Sachverständiger dievolle Schuldfähigkeit von Zschäpe be-

scheinigte und, wen wundert es, sie un-ter bestimmten Voraussetzungen im-mer noch als gefährlich einstuft. Natür-lich wurde das Gutachten durch dieAnwälte von Zschäpe angefochten.Demzufolge sind weitere Verhand-lungstermine angesetzt worden.

Der NSU-Untersuchungsausschussdes Hessischen Landtages

2015 nahm dieser Ausschuss seine Arbeitauf. Geklärt werden sollten Ungereimt-heiten um den Mord an Halit Yozgat ineinem Internet-Cafe in Kassel. Ebensodie Rolle des Verfassungsschützers And-reas Temme sowie die des damaligenInnenministers und heutigen Minister-präsidenten Volker Bouffier (CDU).

Ich habe selbst dreimal die Gelegen-heit genutzt, an den Sitzungen des Aus-schusses (u.a. Vernehmungen von V-Leuten) teilzunehmen. Der Eindruck,den ich mitnehmen konnte, war enttäu-schend. Vieles verläuft im Sande undwird doppelt gefragt oder verhandelt.Hinzu kommt natürlich auch parteipoli-tisches Gezetere. Bei dem Vorsitzenden(Mitglied der CDU) hat man den Ein-druck, er wolle die Sache so schnell wiemöglich abwickeln. Die Grünen, mit

34 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Zentrale des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln. Hier wurden am 11. November2011 Akten zum NSU vernichtet. Foto aus wikipedia:Autor:Stefan Kühn,Fotograf A.Kirch

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Bouffiers CDU in der Regierungsver-antwortung, lassen es meines Erachtensebenfalls an dem notwendigen Nach-druck fehlen. Einzig die Opposition vonSPD und Linken legt eine gewisse Hart-näckigkeit bei den Fragen an den Tag.Viel Aufklärung verspreche ich mirdurch diesen Ausschuss nicht.

NSU und der JudenhassWas führte das Nazi-Verbrechertrio ge-gen die Juden im Schilde? Dass jüdi-sche Bürger Zielscheibe des NSU wa-ren, ist unstrittig. Bereits 1996 hatteBönhardt in der Nähe von Jenaam Geländer einer Brückeüber die Autobahn A 4 einePuppe mit einem Davidsternaufgehängt, die in einer Schlin-ge steckte und mit zwei Bom-benattrappen versehen war.

Das Trio hatte auch einBrettspiel entworfen, das sie“Pogromly” nannten, eine ArtMonopoly, bei dem das Ziellautete, “Städte judenfrei” zumachen. In der 2011 verbrann-ten Wohnung in Zwickau wur-den unter anderem Listen mit tausen-den von Adressen gefunden, darunterdie des jüdischen Friedhofes in Berlin.Bereits 1998 war dort das Grab vonHeinz Galinski, dem ehemaligen Vor-sitzenden des Zentralrates der Juden inDeutschland, durch zwei Sprengsätzezerstört worden. 2002 wurde eine Bom-be in den Eingangsbereich der Trauer-halle geworfen. Davor, am 7. Mai 2000,wurden Beate Zschäpe und UweMundlos vor der Synagoge in Berlin ge-sehen.Womöglich planten sie einen An-schlag.Auf die heutige Frage des vorsit-

zenden Richters Götzl, ob sich Zschäpedort aufgehalten habe, kam die bereitsbekannte Taktik, man äußere sich spä-ter zu diesem Sachverhalt. Ich bin ge-spannt, ob diese Sachverhalte im späte-ren Urteil ebenfalls Berücksichtigungfinden.

Unser aller Verantwortung Jahrzehntelang hat der deutsche Staatund dessen mehrheitliche Gesellschaftdie braune Gewalt nicht ernst genom-men. Linksextreme galten als hochge-fährlich,währenddessen man bei Rechts-

extremen einfach abgewunken und dieUmtriebe von rechts als Kindereien undBlödheit abgetan hat.

Es war August 1992, als in Rostock-Lichtenhagen vor einem Ausländerheimfünf Nächte lang Hunderte Neonazisund Gleichgesinnte randalierten, ohnedass die Polizei eingriff.Im Gegenteil,alsdas Haus angezündet wurde, zog diePolizei ab unter dem Beifall der begei-sterten Zuschauermenge. In einer Bun-destagsrede vom November 1992 stellteder damalige Bundeskanzler HelmutKohl (CDU) die Taten in eine Reihe mit

Titelseite der chinesischen Zeitung “Europe Times”mit einem Bild Beate Zschäpes im Gerichtssaal. Fotoaus wikipedia: Autor: Fuzre Fitrinete (Juni 2013)

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alltäglichem Raub und Diebstahl.Nach Rostock folgten Mölln (drei

tote Frauen) und Solingen (zwei toteFrauen und drei Mädchen). Der dama-lige Bundesinnenminister ManfredKanther (CDU) sagte 1994 anläßlicheiner Debatte zum Asylrecht “Wir ha-ben bislang richtig gehandelt. Natürlichhat die Auseinandersetzung auch Hitze-grade erzeugt”. Er sagte tatsächlichHitzegrade!! Der damalige Außen-minister und FDP-Vorsitzende KlausKinkel sagte nach Solingen, man müsse“alles vermeiden, was Wasser auf dieMühlen der Rechtsradikalen leitet”.

Wie müssen sich die Opfer bei sol-chen Aussagen unserer Politiker gefühlthaben? Solange es solche Politiker gibtund die Gesellschaft darüber weiterhinschweigt, werden wir den Rechtsextre-mismus nicht bekämpfen können. Wirbrauchen einfach mehr Zivilcourage,um dieser braunen Unkultur offensiv zubegegenen, so wie ich sie von HermannReineck, dem Gründer unserer Lager-gemeinschaft Auschwitz erleben durfte.

Ein Mittel dafür ist, Aufklärungsar-beit bereits in den Schulen zu betreiben,sind Projekte, Veranstaltungen und De-monstrationen. Man braucht viele Men-schen, die solidarisch gegen Fremden-hass und Antisemitismus aufstehen.Wirdürfen Neonazis und rechtsradikalenPolitikern so ohne Weiteres keinen öf-fentlichen Raum mehr bieten.*

Volkhard Knigge, seit Jahren Direk-tor der Gedenkstätte Buchenwald,erhältBriefe von einer Gruppe, die sich Natio-naler Widerstand nennt. In denen be-dankt sich die Gruppe für die jahrelange

umsichtige Führung des KZ.Dank Knig-ges Weitsicht wäre alles erhalten geblie-ben und in einem guten Zustand. Manbrauche dieses Lager wieder.Er solle dieKollegen in Auschwitz kontaktieren,auch dieses Lager biete sich an. Dies isteine neue Qualität, die auch damit zu-sammenängt, dass Pegida und AFD dasLand verändern.

Die Philosophin Hannah Arend hateinmal voller ironischem Pessimismusgesagt: “Vor dem Antisemitismus istman nur noch auf dem Monde sicher.”Das gilt für Rassismus und Ausländer-feindlichkeit genauso. Wer sagt eigent-lich, dass sich Geschichte nicht wieder-holt? Die Wahrheit ist, sie wiederholtsich unablässig, wir wollen es nur nichtimmer wahrhaben.

Alexander Wolf

36 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Gedenktafel in München an der Trappen-treustraße mit den Namen der Mordopferdes NSU und einer gemeinsamen Erklärungder Städte Nürnberg, Hamburg, München,Rostock, Dortmund, Kassel, Heilbronn. Fo-to aus wikipedia:Autor: Cholo 3 (Mai 2014)

* Siehe in diesem Zusammenhang: Harald Welzer: Wir sind die Mehrheit - Für eine offene Gesellschaft, Fischer-Taschenbuch, 2017

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Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 38

Die Entscheidung der General-direktion für das UNESCO-Pro-gramm „Memory of the World“ (MoW;„Gedächtnis der Welt“) über die Ein-tragung der Akten des ersten Frank-furter Auschwitz-Prozesses (Az. 4 Ks2/63), der am 20. Dezember 1963 be-gann, in das Verzeichnis des Weltdoku-mentenerbes wird im September 2017erwartet. Neben den 133 Hauptaktenund weiteren Verfahrensunterlagen,insgesamt 456 Aktenbänden,sind auchdie bereits vor über zehn Jahren veröf-fentlichten Tonbandmitschnitte, insge-samt 103 Bänder, nominiert worden.

Die 133 Hauptakten dokumentie-ren die Ermittlungen und Voruntersu-chungen in den Jahren 1958 bis 1963,dieAnklageerhebung im April 1963, denAblauf des Schwurgerichtsverfahrensin den Jahren 1963 bis 1965 sowie dieUrteilsverkündung im August 1965.

Die Verfahrensakten wurden imJahre 2001 von der Frankfurter Staats-anwaltschaft an das Hessische Haupt-staatsarchiv abgegeben, die 424 Stun-den umfassenden Tonmitschnitte derAussagen von 319 Zeugen (darunter181 Auschwitz-Überlebende) bereits1989 zwecks Digitalisierung in Zusam-menarbeit mit dem Deutsche Rund-funkarchiv in Frankfurt. Dies vor al-lem weil sich deren Qualität über dieJahre verschlechtert hatte. Die digita-le Nutzung der Tonmitschnitte ist überdas Digitale Archiv Hessen beim

Hauptstaatsarchiv oder als Streamingüber die Website www.auschwitz-pro-zess.de des Fritz Bauer Instituts mög-lich. Die Transkription der Tonmit-schnitte sowie 100 Stundenausgewähltes Audiomaterial wurdenbereits Ende 2004 vom Fritz Bauer In-stitut und dem Staatlichen MuseumAuschwitz-Birkenau als DVD-ROMin der Digitalen Bibliothek herausge-geben.

Das UNESCO-Weltregister wirdseit 1992 international mit ausgewähl-ten herausragenden Dokumenten (bis-lang 348, davon 22 aus Deutschland)ergänzt, darunter im Jahre 2013 durchdie Originaldokumente im seit Januar1946 bestehenden Archiv des Interna-tionalen Suchdienstes in Bad Arolsen(ITS), das primär Such- und Anlauf-stelle für Überlebende und Angehöri-ge von Opfern der NS-Verfolgung war,sowie dessen Zentrale Namenkarteimit Hinweisen zu 17,5 Millionen Per-sonen, die seit 1999 digitalisiert ist.

2011 wurde die etwa 14.500 Akten-ordner und Sammelmappen umfassendeDokumenten- Sammlung des Archivsdes Warschauer Wiederaufbaubüros(BOS) aufgenommen, die u.a. die Zer-störung der Stadt in den Jahren 1939-1945 und insbesondere die Folgen derbeiden Warschauer Aufstände in denJahren 1943 und 1944 dokumentiert.

1999 wurde das etwa 25.000 Seitenumfangreiche Untergrundarchiv des

Einzigartiges Mahnmal über die Verbrechen von Auschwitz

Digitale Verfahrensakten des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses

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Warschauer Ghettos („Oneg Schab-bat“- oder „Emanuel-Ringelblum-Ar-chiv“) in das MoW-Verzeichnis einge-tragen. Maßgeblich für oben genannteEntscheidungen war auch die Er-kenntnis, dass die Dokumente nachdem Ableben der letzten Zeitzeugenzukünftig von noch größerer Bedeu-tung sein könnten.

Auch die Archive der internationa-len Agentur für Kriegsgefangene desInternationalen Komitees vom RotenKreuz (ICRC) von 1914-1923 (2007),ein Film über die Schlacht an der Som-me von 1916 (2005), die Sammlung jü-discher Folkloremusik auf Edison-Wachszylindern von 1912-1947 (2005),die Radioübertragung Charles de Gaul-les zum französischen Widerstand ge-gen die deutsche Invasion von 1940(2005), das Tagebuch der Anne Frankvon 1942-1944 (2009), oder die 21 The-sen der Solidarnosc von 1980 (2003)sind Bestandteil des Weltdokumenten-erbes.

Insbesondere besteht nach derAufnahme in das Weltverzeichnis eineVerpflichtung, die in Archiven, Mu-seen und Bibliotheken aufbewahrtenbedeutenden Zeugnisse langfristig di-gital zu sichern und auf informations-technischen Wegen weltweit zugäng-lich zu machen. Im Jahre 2016 wurdendie ein Jahr zuvor sicherungsverfilm-ten Verfahrensakten des ersten Frank-furter Auschwitz-Prozesses digital re-produziert, bevor die Sicherungsfilmean den Bund zwecks Einlagerung ab-gegeben werden mussten. Seit März2017 werden die Digitalisate im hessi-schen Archivinformationssystem Ar-

cinsys in sehr guter Qualität bereitge-stellt (https://arcinsys.hessen.de) unddamit der Forschung ohne Wartezeitoder große Einschränkungen zugäng-lich gemacht.

Lediglich die den AngeklagtenKlaus Dylewski betreffenden Verfah-rensakten bleiben aufgrund der imBundesarchivgesetz (BArchG §11 Abs.2) geregelten Schutzfristen vorläufig ge-sperrt. Der ehemalige SS-Oberschar-führer verstarb im April 2012 als letzterAngeklagter des ersten FrankfurterAuschwitz-Prozesses im Alter von 96Jahren, die Sperrfrist des seine Personbetreffenden Archivguts endet nachdem am 16. März 2017 in Kraft getrete-nen neuen Bundesarchivgesetz frühe-stens zehn Jahre (davor: dreißig Jahre)nach seinem Tod.

38 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden(HHStAW, 461, 37638/1, Hauptakten Bd.1, Aktendeckel

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Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 39

Bei den erst kürzlich bereitgestell-ten Dokumenten handelt es sich umProzessunterlagen im Umfang von 103Hauptaktenbänden mit rund 21.000Blatt (entspricht über 23.500 digitali-sierten und abrufbaren Seiten),19 Bän-de Hauptverhandlungsprotokolle mitrund 1650 Blatt, 6 Urteilsbände mit1275 Blatt sowie 328 weitere Verfah-rensakten wie Vollstreckungs- undGnadenhefte,Kostenhefte,Hand- undBei-Akten sowie Akten der ZentralenStelle der LandesjustizverwaltungenLudwigsburg, die im HessischenHauptstaatsarchiv in Wiesbaden ver-wahrt werden (HHStAW Abt. 461, Nr.37638/1-456, Bestand Staatsanwalt-schaft bei dem Landgericht Frankfurtam Main).Arcinsys enthält derzeit ins-gesamt 6 Millionen Archivalien ausverschiedenen hessischen Archiven.

Laut Dr. Johann Zilien vom Hessi-schen Hauptstaatsarchiv in Wiesbadenwird derzeit an einer mehrsprachigeninnovativen Website zum Auschwitz-

Prozess als zentrale weltweite Zu-gangsmöglichkeit zur Thematik mitVerlinkung zu den Ton- und Bilddo-kumenten sowie Transkriptionen ge-arbeitet. Der Launch des internatio-nalen Informationswebportals war fürJuli 2017 geplant.

Andreas Kilian

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden(HHStAW, 461, 37638/121, Bl. 1088

Online-Datenbank zu den Tätern von AuschwitzPolnisches Institut veröffentliche Namen von mehr als 9600 Personen

Die im Januar 2017 online gestellteDatenbank “SS-Mannschaft KLAuschwitz” ist ein gemeinsames Pro-jekt von Professor Aleksander Lasik(Universität Bydgoszcz) und dem pol-nischen Institut für Nationales Geden-ken (IPN) in Krakow. Sie setzt sich ausvier Tabellen zusammen. Die erste ent-hält Personalangaben,die zweite Justiz-vollzug-Dokumente, die dritte Bilderder SS-Männer und über die vierte las-

sen sich Informationen über die “Dien-ste im KL Auschwitz” recherchieren.Dies geschieht auf Polnisch, Deutschund Englisch. IPN-Vorsitzender Jaros-law Szarek bezeichnet das Projekt alsAntwort auf die falsche Bezeichnung“polnische Todeslager”, die nahelegen,dass nicht Deutsche, sondern Polen dieGründer und Verwalter der Konzentra-tions- und Vernichtungslager waren.

Hans Hirschmann

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40 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

“Wohin bringt ihr uns?”Das reisende “Denkmal der Grauen Busse”

zum Gedenken an die Opfer der “Euthanasie”-Verbrechen macht Station in

Frankfurt am Main auf dem Rathenauplatzseit August 2017 und bis zum Mai 2018

Grau gestrichene ehemalige Postbusse beförderten 1941/42 im Zuge der“Euthanasie”-Aktion Patientinnen und Patienten mit psychischen Krankheitenund geistigen Behinderungen in Tötungsanstalten wie dem hessischen Hadamar.Mit einem in Originalgröße aus Beton gegossenen Bus erinnern die KünstlerHorst Hoheisel und Andreas Knitz nicht nur an die Opfer, sondern suchen mit derNachbildung des Tatwerkzeugs auch die Auseinandersetzung mit den Tätern.Weitere Informationen: www.die-grauen-busse-franfurt.de

“Ich küsse Ihre Hand Madame”Jüdische Künstler auf Schellack - Grammophon-Lesung mit Jo van Nelsen

Frankfurt am Main im Hochbunker, Friedberger Anlage 5-6Sonntag, 10. September 2017, 17 Uhr

Eine Veranstaltung der Initiative 9. November.Eintritt 12 Euro; Reservierung nur per E-Mail an [email protected]

Veranstaltungen des “Fritz Bauer Instituts”Mi., 13. Sept. 2017, 18.15 Uhr: Evangelische Akademie Frankfurt, Römerberg 9

Authentischer und lebendiger? Zeitgenössische Aufzeichnungen aus dem “Dritten Reich” - Grenzen und PotenzialeReferent: Markus Roth (Arbeitsstelle Holocaustliteratur, Uni Gießen)

Mo., 16. Okt. 2017, 18.15 Uhr: Goethe-Uni Frankfurt, Norbert-Wollheim-Platz 1Warum? Eine Geschichte des Holocaust

Referent: Prof. Peter Hayes (Northwestern University, Illinois)

Mi., 8. Nov. 2017, 18.15 Uhr: Goethe-Uni Frankfurt, Norbert-Wollheim-Platz 1Siegfried Kracauer, die Stadt Frankfurt und der Nationalsozialismus

Referent: Jörg Später(Universität Freiburg)

Mi., 22. Nov. 2017, 18.15 Uhr: Goethe-Uni Frankfurt, Norbert-Wollheim-Platz 1Die Rolle nichtdeutscher Länder bei der Judenvernichtung

Referent: Prof. Christian Gerlach (Universität Bern)

Weitere Veranstaltungshinweise und Infos unter www.fritz-bauer-institut.

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Inhaltsverzeichnis Seite

Von Auschwitz lernen - Bericht über eine Studienfahrt 1

Ein fast vergessenes Ghetto - Der Krakauer Stadtteil Podgorze 8

30 Jahre Internationale Jugendbegegnungsstätte 14Theresienstadt - Das Bildungsprojekt „Room 28” 21

Dem Rechtsruck entgegentreten - Erklärung der Lagergemeinschaften 27

Nachrufe - Emanuel Elbinger, Helmut Morlok 29Nationalsozialistischer Untergrund - Was uns der Prozess lehrt 32

Digitales Mahnmal über die Verbrechen von Auschwitz 37

Online-Datenbank zu den Tätern von Auschwitz 39

Das reisende Denkmal der Grauen Busse 40

Hinweise auf Veranstaltungen 40

Impressum:Herausgeber: Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

35516 Münzenberg, Freiherr-vom-Stein-Str. 27Vorsitzender: Uwe Hartwig, 61239 Ober-Mörlen, Usinger Str. 7 (Korrespondenz bitte an diese Adresse)Internet: www.lagergemeinschaft-auschwitz.de

Redaktion : Hans Hirschmann, Tel. (06101) 32010

Bankverbindung: Sparkasse OberhessenIBAN DE43 5185 0079 0020 0005 03; BIC HELADEF1FRI

Bei Spenden bitte Adresse deutlich schreiben, damit die Bescheinigung für die Steuererklärung zugeschickt werden kann.

Bitte bei Umzügen neue Adresse und Änderungen der Bankverbindung mit-teilen. Es erspart Ärger, Zeit und Geld bei Bankeinzügen.

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MitgliederversammlungLagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Samstag, 28. Oktober 2017, 15 Uhr61118 Bad Vilbel, AWO-Treff, Wiesengasse 2

Gespräch mit dem Holocaust-ÜberlebendenAndrei Dorobantu

Der 84-jährige jüdische NS-Verfolgte aus der Slowakei,ist im November zu Gast bei der Lagergemeinschaft Auschwitz.

Er wird in Friedberg (Wetteraukreis) mit Schülerinnen und Schülern sprechenund wahrscheinlich am Freitag, 9. November, bei einer öffentlichen Veranstal-tung im Museum der Stadt Butzbach auftreten. Da genauere Vereinbarungennoch nicht getroffen sind, bitten wir um Beachtung unserer Internetseite

www.lagergemeinschaft-auschwitz.de.Dort werden sobald als möglich genaue Angaben veröffentlicht.

S T U D I E N F A H R T E N 2 0 1 8

Termin I: 8. März - 14. März 2018

Termin II: 28. September - 4. Oktober 2018

- Rundgang im Stammlager Auschwitz - Rundgang im Vernichtungslager Birkenau - Gespräche mit Überlebenden - Besuch in Archiv und Kunstsammlung der Gedenkstätte Auschwitz - Besuch in Krakau (u.a. ehemalige Fabrik von Oskar Schindler)

Kosten: 750 Euro (Flug, Unterkunft, Verpflegung, Eintritte, Honorare)ermäßigt: 350 Euro (auf Antrag für Studierende, Schülerinnen und Schülersowie Menschen mit geringem Einkommen)

Auskünfte und Anmeldungen für alle Termine bei Uwe Hartwig, E-Mail [email protected], Tel. (06002) 938033

Die Studienfahrten sind als Lehrerfortbildung und als Bildungsurlaub anerkannt.

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