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2019. 120 S., mit 3 Abbildungen und 3 Karten ISBN 978-3-406-72928-7 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/27078836 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Eberhard Kolb Der Frieden von Versailles

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2019. 120 S., mit 3 Abbildungen und 3 Karten ISBN 978-3-406-72928-7 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/27078836

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Eberhard Kolb Der Frieden von Versailles

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Nach seiner totalen militärischen Niederlage mußte das Deut-sche Reich 1919 den Vertrag von Versailles unterzeichnen, derfür die Deutschen in der Zwischenkriegszeit zum großen Trau-ma wurde und bis heute als eine der Ursachen für den späterenAufstieg des Nationalsozialismus bezeichnet wird. Wie es zurKriegsniederlage kam, wie aus den Verhandlungen zwischenden Siegermächten die drakonischen Vertragsbedingungen her-vorgingen und wie Deutschland zur Annahme des Friedensver-trags veranlaßt wurde, schildert und analysiert Eberhard Kolbin seiner ebenso konzisen wie kenntnisreichen Darstellung.

Eberhard Kolb war bis zu seiner Emeritierung Professor für Ge-schichte an der Universität zu Köln. Bei C.H.Beck sind von ihmerschienen: Gustav Stresemann (2003) und Bismarck (22014).

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Eberhard Kolb

DER FRIEDENVON VERSAILLES

C.H.Beck

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Mit 3 Abbildungen und 3 Karten (© Angelika Solibieda/cartomedia-Karlsruhe)

1.Auflage. 20052. Auflage. 2011

3., durchgesehene und ergänzte Auflage. 2019

Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2005

Satz: C.H.Beck.Media.Solutions, NördlingenDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

Reihengestaltung Umschlag: Uwe Göbel (Original 1995, mit Logo),Marion Blomeyer (Überarbeitung 2018)

Printed in Germanyisbn 978 3 406 72928 7

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Inhalt

Kapitel IEin deutsches Trauma: Die Unterzeichnung des «Versailler Vertrags» 7

Kapitel IIDie militärische Niederlage der Mittelmächte 11

Kapitel IIIVom deutschen Waffenstillstandsersuchen zum Waffenstillstandsabkommen 23

Kapitel IVFriedenschließen nach einem Weltkrieg: Arbeit und Ergebnisse der Pariser Friedenskonferenz 41

Kapitel VAnnehmen oder Ablehnen? Die deutsche Friedensstrategie und der Kampf um die Unterzeichnung des «Versailler Vertrags» 71

Kapitel VI«Versailles» und die Deutschen 91

Abkürzungsverzeichnis 111Zeittafel 112Literaturverzeichnis 115Register 119

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Unterzeichnung des Versailler Vertrags 28.6.1919Foto: © Corbis via Getty Images/Foto: VCG Wilson

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Kapitel I

Ein deutsches Trauma: Die Unterzeichnung des «Versailler Vertrags»

Am 28. Juni 1919 besiegelten die Siegermächte des Ersten Welt-kriegs ihren vollständigen Triumph über das niedergeworfeneDeutsche Reich: Im Spiegelsaal des Schlosses von Versaillessetzten die deutschen Bevollmächtigten und die zweiunddreißigDelegationen der «alliierten und assoziierten Mächte» ihreUnterschriften unter den Friedensvertrag, der als «VersaillerVertrag» in die Geschichte eingegangen ist. Der Schauplatz fürden Unterzeichnungsakt war mit Bedacht gewählt; symbolischeBezüge waren unübersehbar. Da sich im Krieg von 1870/71während der Belagerung von Paris das deutsche Hauptquartierin Versailles befand, hatte hier am 18. Januar 1871 die Prokla-mation des preußischen Königs Wil helm I. zum deutschen Kai-ser stattgefunden. Zwar war für diese Zeremonie der Spiegel-saal des Schlosses aus pragmatischen Gründen gewählt worden(er war der größte in Versailles verfügbare Raum, der sonst indiesen Monaten als Lazarett diente), aber die Franzosen emp-fanden es doch als eine Schmach, daß die Proklamation desdeutschen Kaisers ausgerechnet in dem «à toutes gloires de laFrance» gewidmeten Schloß des Sonnenkönigs Lud wig XIV. er-folgte – und diese Schmach wurde nun getilgt, indem das be-siegte Deutsche Reich an eben diesem Ort einen drakonischenFriedensvertrag unterzeichnen mußte. Aus französischer Sichtbedeutete dieser «zweite» Versailler Frieden zudem die Aus -löschung des «ersten» Versailler Friedens, nämlich des Prä -liminar frie dens zwischen Preußen/Deutschland und dem be-siegten Frankreich, der in Versailles (in der rue de Provence 14)ausgehandelt und am 26. Februar 1871 unterzeichnet wordenwar.

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Der majestätische Spiegelsaal, die «galerie des glaces», ist derprunkvollste Raum des Schlosses, 73 Meter lang, 10,5 Meterbreit, 12,3 Meter hoch, erhellt von siebzehn Fenstern, denen aufder Gegenseite siebzehn verspiegelte Arkaden zwischen Mar-morpfeilern entsprechen, so daß die Spiegelflächen die Raum-tiefe in illusionärer Weise steigern. Das gewaltige Deckenfreskoist ausgemalt mit Szenen aus den Kriegen Lud wigs XIV. gegenHolland, Spanien und das Reich. An diesem geschichtsträchti-gen Orte also fand die Unterzeichnung des Friedensvertragesstatt.

Am 28. Juni 1919, einem Samstag, waren an die tausend Per-sonen im Spiegelsaal versammelt. Am einen Ende des Saalesdrängten sich die Presseleute, an der gegenüberliegenden Seitehatten geladene Gäste Platz genommen, Abgeordnete, Senato-ren, Militärs, Mitglieder der Delegationen. In der Mitte des Saa-les (dort, wo 1871 die Kaiserproklamation stattgefunden hatte)stand die große hufeisenförmige Tafel für die Bevollmächtigten,davor ein kleines Tischchen, auf dem das Vertragsdokumentlag, ein dickes Buch mit dem in französischer und englischerSprache abgefaßten Vertragstext. Der französische Ministerprä-sident Georges Clemenceau, der der Friedenskonferenz präsi-dierte, erhob sich Punkt drei Uhr von seinem Platz in der Mittedes Delegiertentisches, gebot Schweigen und befahl barsch:«Bringen Sie die Deutschen herein!» Die Tür am Ende des Saa-les öffnete sich. Zwei mit Silberketten geschmückte Saaldienererschienen, hinter ihnen vier Offiziere, je ein französischer, eng-lischer, amerikanischer und italienischer, dann die beiden deut-schen Bevollmächtigten, Hermann Müller, seit wenigen TagenReichsaußenminister, ein führender Sozialdemokrat, und Mini-ster Dr. Johannes Bell, ein Zentrumspolitiker. Als sich die bei-den auf die ihnen zugewiesenen Stühle – zwischen den Delegier-ten Uruguays und Japans – niedergesetzt hatten, erklärte Cle-menceau in einer kurzen Ansprache die Sitzung für eröffnet. ImSchlußsatz betonte er die unwiderrufliche Verpflichtung, allefestgesetzten Bedingungen zu erfüllen. «Unter diesen Umstän-den habe ich die Ehre, die deutschen Bevollmächtigten ein zu la -den, ihre Unterschriften auf dem mir vorliegenden Vertrage ge-

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ben zu wollen.» Hermann Müller und Bell standen auf undschritten durch den Saal. «In diesem Augenblick», so der Be-richt Hermann Müllers, «herrschte eine feierliche Stille und wirfühlten, daß tausend Blicke auf uns gerichtet waren. Am Tischangelangt, zog ich meinen Füllfederhalter und unterschrieb …,nach mir Dr. Bell. Zurück zu unseren Plätzen. Es war vorüber.»

Danach wurden in rascher Reihenfolge die Delegationen derSiegermächte aufgerufen, beginnend mit den fünf Delegiertender USA, an der Spitze Präsident Wilson. In sich allmählich stei-gernder Unruhe unterzeichneten dann die Delegierten der weite-ren vier Hauptmächte, der fünf britischen Dominions und vonzweiundzwanzig Staaten. Als auch der letzte Delegierte seineUnterschrift geleistet hatte, war der Unterzeichnungsakt kurzvor vier Uhr beendet – er hatte kaum eine volle Stunde gedauert.Clemenceau erklärte die Sitzung für geschlossen und ersuchtedie beiden Deutschen, den Saal zu verlassen. Der britische Diplo-mat Harold Nicolson, dem wir eine ausführliche Schilderung derUnterzeichnungszeremonie verdanken, bemerkt: Sie wurden ab-geführt «wie Sträflinge von der Anklagebank, die Augen nochimmer auf irgendeinen fernen Punkt am Horizont gerichtet».Hermann Müller und Johannes Bell, die die Tortur dieses Tagesin vorbildlicher Beherrschtheit durchgestanden hatten, reistennoch am Abend des 28. Juni nach Deutschland zurück.

Clemenceau hatte sich für die Deutschen noch eine besondereDemütigung beim Unterzeichnungsakt ausgedacht. In einer Fen-sternische hinter dem Tisch, an dem der Vertrag unterzeichnetwurde, ließ er fünf französische Soldaten plazieren, die durchschwerste Gesichtsverletzungen entstellt waren, ohne Münderoder Augen, ein lebender Vorwurf an die Adresse Deutschlands.Es scheint allerdings, daß die beiden deutschen Bevollmächtigtendiese Gruppe der Gesichtsverletzten gar nicht wahrgenommenhaben und ihnen dadurch der visuelle Schock erspart blieb. Her-mann Müller erwähnt in seinem ausführlichen Bericht das Sze-nario ebenso wenig wie Harold Nicolson, der den Einzug derbeiden deutschen Bevollmächtigten ausdrücklich so beschreibt:«Sie halten die Blicke von diesen zweitausend sie anstarrendenAugen hinweggerichtet, zum Deckenfries empor.»

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Oberst House, der engste Berater Präsident Wilsons, hat zur Durchführung des Unterzeichnungsaktes angemerkt: «Ichwünschte, es wäre einfacher gewesen und ein Element der Ritter-lichkeit hätte nicht gefehlt, das völlig mangelte. Die Affäre warsorgfältig inszeniert und war so gestaltet, daß sie für den Gegnerso demütigend wie möglich wäre.» Damit ist ein wesentlichesMerkmal dieses Friedensschlusses treffend bezeichnet: die Sicht-barmachung der Demütigung Deutschlands. Wenn dem Deut-schen Reich ungeheure materielle Belastungen auferlegt wurden,so bewegte sich dies noch sozusagen im Rahmen der Normalitätdes Friedenschließens, denn Gebietsabtretungen und Kriegs -kosten ent schä di gun gen wurden den Besiegten auch in früherenFriedensverträgen zudiktiert. Worin sich von diesen der Versail-ler Vertrag jedoch deutlich unterschied, das waren bis dahin un-gekannte Formen des Vorgehens in den Verhandlungen undbeim Vertragsabschluß. Sie zielten darauf, den besiegten Gegnermit äußerster Rigorosität moralisch abzustrafen und zum Ertra-gen demütigender Prozeduren zu zwingen. Es war nicht zuletztdieses Moment, durch das «Versailles» seine vergiftende Wir-kung entfaltete.

Daß Deutschland «Versailles» hinnehmen mußte, hatte eineneinfachen Grund: Nach dem in rasantem Tempo sich vollzie-henden Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 ver-fügte das Deutsche Reich über kein militärisches Macht poten -tial mehr und war den Siegermächten auf Gedeih und Verderbausgeliefert. Wie kam es zu dieser – bis weit ins Jahr 1918 hin-ein unvorstellbaren – vollständigen militärischen Niederlage?

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Kapitel II

Die militärische Niederlage der Mittelmächte

Wann war die militärische Niederlage des Deutschen Reichesund seiner Verbündeten klar absehbar? Oder etwas anders ge-fragt: Wann war klar, daß das militärische Potential der «Mittel-mächte» (Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei, Bulgarien)nicht ausreichen würde, um der gegnerischen Allianz wenn nichtden Sieg, so doch einen Verhandlungsfrieden abzuringen? Aufdiese Frage sind mehrere und durchaus unterschiedliche Ant-worten möglich und gegeben worden.

Nimmt man zunächst die wirtschaftlichen und demographi-schen Potentiale beider Seiten in den Blick, dann ist unbestreit-bar, daß sich die Ententemächte schon bei Kriegsbeginn ein -deutig im Vorteil befanden (und im Lauf des Krieges verschobensich dann die Gewichte noch weiter zuungunsten der Mittel-mächte). Im letzten Friedensjahr verfügten die Mächte der En-tente über 28 Prozent aller Industriekapazitäten weltweit, dieMittelmächte nur über 19 Prozent. Die GesamtbevölkerungRußlands, Frankreichs, Großbritanniens, Belgiens, Serbiens undMonte negros belief sich auf 258 Millionen, während Deutsch-land und Österreich-Ungarn 118 Millionen Einwohner zählten.Infolgedessen standen 1914 den 6,323 Millionen Soldaten desDeutschen Reichs und Österreich-Ungarns rund 9,292 Millio-nen der Ententemächte gegenüber. Angesichts dieser Kräftever-hältnisse hätte die Entente den Krieg rasch für sich entscheidenmüssen – wenn Heeresstärken und wirtschaftliche Ressourcenallein ausschlaggebend wären für die militärischen Möglichkei-ten. Da dies aber nicht der Fall ist, war – trotz des ungleichen Poten tials beider Seiten – Sieg oder Niederlage in diesem Kriegnicht von vornherein unzweideutig vorgezeichnet.

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Unter diesen Umständen wurde der Ausgang der Marne-schlacht Anfang September 1914 zu einem folgenschweren Er-eignis: Weil ein schneller, kriegsentscheidender Sieg der deut-schen Armeen verhindert wurde und seit Oktober 1914 dieWestfront im Stellungskrieg erstarrte, gewannen die AlliiertenZeit, um ihre überlegenen Ressourcen für einen mit langemAtem zu führenden Zermürbungskrieg zu organisieren. EndeNovember 1914 sah sich der deutsche Generalstabschef vonFalkenhayn veranlaßt, dem Reichskanzler einzugestehen, ersehe keine Möglichkeit, die Feindmächte derart zu besiegen,daß das Reich die Friedensbedingungen diktieren könne.

Ein Überblick über Kriegsverlauf und Wendepunkte imKriegs gesche hen kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Essei lediglich hervorgehoben, daß das Jahr 1917 weitreichendeVeränderungen der politischen und militärischen Kräftekonstel-lation brachte. Zum einen: Durch den Kriegseintritt der USA er-fuhr das Potential der Alliierten eine massive Steigerung – damitschrumpften die ohnehin zweifelhaften Siegeschancen der Mit-telmächte noch mehr. Aber zum anderen: Im Gefolge der Okto-berrevolution schied Rußland aus dem Krieg aus – das bedeuteteWegfall der zweiten Front und eröffnete die Möglichkeit, nunmit Aufgebot aller Kräfte im Westen die Entscheidung zu suchen,noch ehe amerikanische Truppen maßgeblich auf diesem Kriegs-schauplatz agieren konnten. Die politische und militärische Situ-ation um die Jahreswende 1917/18 war daher durch eine ge wisseAmbivalenz gekennzeichnet: Bei der Führung der Mittelmächte,insbesondere Deutschlands, die Entschlossenheit, dem Siegfrie-den im Osten jetzt die Kriegsentscheidung im Westen folgen zulassen; auf Seiten der Alliierten die unbedingte Zuversicht, trotzdes Verlusts des russischen Bundesgenossen vermöge amerikani-scher Unterstützung und eigener Ressourcenmobilisierung frü-her oder später den kriegsentscheidenden Sieg davonzutragen.Soviel ist sicher: Seit dem Kriegseintritt der USA arbeitete dieZeit gegen Deutschland und seine Verbündeten.

Gleichwohl sah es zu Beginn des Jahres 1918 für die Alliier-ten nicht allzu günstig aus. Nicht nur Rußland war aus demKrieg ausgeschieden (am 22. Dezember 1917 begannen in Brest-

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Litowsk die Verhandlungen über einen Separatfrieden Rußlandsmit den Mittelmächten), besiegt war auch Rumänien (das imAugust 1916 den Mittelmächten den Krieg erklärt hatte), undEnde Oktober 1917 war österreichischen und deutschen Trup-pen bei Caporetto an der Isonzofront ein großer Sieg über dieItaliener gelungen. Es war einer der spektakulärsten operativenErfolge in diesem Krieg: Die gesamte italienische Front brach einund konnte erst zwei Wochen später und 110 Kilometer weiterzurück entlang der Piave mühsam wieder stabilisiert werden.

Auf der Habenseite der Alliierten stand der – vor allem durchdie Einführung des Geleitzugsystems – gewonnene U-Boot-Krieg, so daß der amerikanische Nachschub nahezu unbehin-dert über den Atlantik gebracht werden konnte; amerikanischeTruppen trafen allerdings erst nach und nach in Frankreich einund mußten zunächst ausgebildet werden. Frankreich hatte1917 krisenhafte Monate durchlebt: Streiks, Meutereien, In -stabi li tät der Regierung, pazifistische Strömungen in der öffent-lichen Meinung. Beendet wurde diese Krisensituation im No-vember 1917 mit der Ernennung des 76jährigen Georges Cle-menceau zum Ministerpräsidenten, der sofort seine äußersteEntschlossenheit demonstrierte, den Krieg unerbittlich weiter-zuführen: «Keine pazifistischen Kampagnen, keine deutschenIntrigen mehr. Weder Verrat noch Halb-Verrat: Krieg, nur nochKrieg.» Und die große Mehrheit der Franzosen folgte ihm indieser Haltung.

Die militärischen Aussichten der Alliierten waren jedoch umdie Jahreswende 1917/18 eher düster. Der amerikanische Mili-tärvertreter im Obersten Kriegsrat der Alliierten schrieb im Februar nach Washington: «Ich bezweifle, daß ich jemandem,der nicht bei der letzten Konferenz anwesend war … klar -machen kann, wie stark das Denken der politischen und mili -täri schen Persönlichkeiten hier von Angst und Furcht durch-drungen ist.» Denn man erwartete jetzt eine große deutsche Offen sive, weil nach Waffenstillstand und Beginn der Friedens-verhandlungen mit Rußland die deutsche Führung starke Trup-penverbände von der Ostfront abziehen und nach Westen ver-legen konnte.

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Tatsächlich begann die Oberste Heeresleitung Hindenburg-Ludendorff schon Ende 1917 mit der operativen Planung einergroßangelegten Frühjahrsoffensive. Sie wurde als unbedingtemilitärische Notwendigkeit verstanden: Franzosen und Englän-der sollten eine vernichtende Niederlage erleiden, ehe die ameri-kanischen Truppen voll einsatzfähig waren. Bei dieser Entschei-dung durften sich Hindenburg und Ludendorff schon im Vor-feld der Offensive von einer hoffnungs- und erwartungsvollenStimmung in Heer und Heimat getragen wähnen. Die Vorstel-lung, durch eine letzte große Kraftanstrengung dem Krieg miteinem deutschen Sieg ein Ende bereiten zu können, hatte offen-bar im Feldheer und in der Heimat die bis dahin vorherrschendeResignation momentan überwunden. Die kommende Offensiveim Westen wurde allgemein – wie auch die Auswertung von Sol-datenbriefen ergibt – als «Königsweg zum baldigen Kriegs-ende» angesehen. In diesen Wochen wurde ein Höhepunkt desdeutschen Machtgefühls erreicht, der fast dem hohen Stand derHoffnungen vom August 1914 entsprach (was allerdings nichtmehr für alle Bevölkerungsschichten zutraf).

Vor dem Hintergrund eines solchen – in rückschauender Be-trachtung schwer zu begreifenden – Stimmungshochs voller Sie-geserwartungen zu Beginn des Jahres 1918 ist zu prüfen, ob derEntschluß zu einer Offensive, die sich zum «größten militäri-schen Einzelunternehmen der bisherigen Geschichte» (DieterStorz) entwickeln sollte, militärisch und politisch sinnvoll undverantwortbar gewesen ist und ob es zu diesem Zeitpunkt reali-stische Alternativen zur offensiven Kriegführung gegeben hat.Es wird immer wieder die Ansicht vertreten, man hätte Anfang1918 aus der Position einer gewissen Stärke heraus Frie dens -diplo ma tie betreiben müssen; der militärischen Offensive hätteeine auf einen Verständigungsfrieden abzielende politische Of-fensive vorausgehen sollen. Derartige Überlegungen sind inner-halb der militärischen Führung nicht angestellt worden, undman darf beim heutigen Kenntnisstand bezweifeln, ob eine poli-tische Offensive mit dem Ziel eines Kompromißfriedens eine rea li sti sche Alternative zur geplanten Frühjahrsoffensive dar -gestellt hätte. Die Chancen, den Krieg durch einen Verständi-

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gungsfrieden beenden zu können, waren nämlich während derKriegsjahre und erst recht im Jahr 1918 sehr viel geringer, alsdessen Befürworter glaubten, wenn solche Chancen denn über-haupt existierten.

Diese Behauptung bedarf einer kurzen Begründung. In derForschung dominierte seit der Fischer-Kontroverse der 1960erJahre die Auffassung, die exorbitanten deutschen Kriegszieleseien das entscheidende Hindernis gewesen auf dem Weg zueinem «Verständigungsfrieden», was immer man unter dem et-was unscharfen Begriff verstehen mag (Status-quo-Frieden oder«Kompromißfrieden» dieser oder jener Art?). Es besteht keinZweifel, daß die Kriegszielforderungen, vertreten von der Mili-tärführung, der Reichsleitung und weiten Teilen der Öffentlich-keit, die deutsche Position in der öffentlichen Meinung der Weltstark beeinträchtigt und die gegnerische Allianz zusammenge-schweißt haben. Doch zweierlei ist zu bedenken. Zum einen istnie die Probe aufs Exempel gemacht worden, wieviel von denKriegszielforderungen man in Verhandlungen mit den Alliiertenwirklich durchzusetzen versuchen würde, denn es ist nicht zusolchen Verhandlungen gekommen. Somit ist ein eindeutigesUrteil über die deutschen Kriegsziele als fundamentales Hinder-nis für einen Verständigungsfrieden nicht möglich. Eine Anmer-kung zum Frieden von Brest-Litowsk (3. März 1918): Dies wargewiß ein drakonischer Siegfrieden, bei dem die Mittelmächte –angesichts der Schwäche des Gegners – noch weit mehr durch-setzten, als bis zum Waffenstillstand möglich erschienen warund gefordert wurde. Aber was die Möglichkeit eines Kompro-mißfriedens mit den Westmächten angeht, gilt Winfried Baum-garts Feststellung, daß durch diesen Friedensschluß eine Ver-ständigungsbereitschaft der Alliierten nicht zerstört worden ist,«weil es sie gar nicht gegeben hat. Die Kriegsziele der Alliiertenstanden in ihren Grundzügen lange vor Brest-Litowsk fest.»

Und damit sind wir beim zweiten Gesichtspunkt. Lange Zeitist viel zu wenig berücksichtigt worden, daß im Lager der En-tente Kriegszielforderungen bestanden, die nur bei einer völli-gen Niederlage der Mittelmächte, insbesondere des DeutschenReiches, realisiert werden konnten. In Großbritannien war man

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seit Kriegsbeginn entschlossen, die militärische und wirtschaft-liche Machtstellung des Reiches zu zerstören. Man verlangtedaher – so Henry A. Kissinger – «Garantien», die auf ein dauer-haft geschwächtes Deutschland und vor allem auf eine drasti-sche Reduzierung der deutschen Hochseeflotte hinausliefen,«Bedingungen, die Deutschland niemals hinnehmen konnte, essei denn im Falle einer totalen militärischen Niederlage». Wasdie französischen Führungskreise angeht, hat der französischeHistoriker Georges-Henri Soutou überzeugend nachgewiesen,daß schon sehr früh, bereits im September 1914, der Perspek-tive eines «Verhandlungsfriedens» eine schroffe Absage erteiltwurde und rasch ein Konsens zustande kam, sich nicht auf die Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen zu beschränken,sondern darüber hinaus die Abtrennung der linksrheinischen Gebiete vom Deutschen Reich zu verlangen (Neutralisierungmit langdauernder französischer Besetzung als Minimallösung,volle Annexion als Maximallösung). Auch in den schwärzestenStunden des Jahres 1917 hat die französische Führung an diesenZielen festgehalten. Soutou geht soweit, Ludendorff zu attestie-ren, er habe eines richtiger gesehen als viele deutsche Politiker:«die Entschlossenheit der Alliierten, das Reich als Großmachtzu zerstören».

Angesichts derartiger Befunde besteht in der jüngsten For-schung weitgehende Übereinstimmung darüber, «daß die Be -endi gung des Krieges auf dem Verständigungswege in keinemder kriegführenden Lager ernstlich angestrebt wurde» (Wolf-gang J. Mommsen). Das heißt aber auch: Da die Alliierten Zieleverfolgten, die sie ohne Sieg nicht erreichen konnten, waren siegewillt, bis zum vollen militärischen Sieg zu kämpfen, und zu-mal seit dem Kriegseintritt der USA hatten sie an ihrem schließ-lichen Sieg keine ernsthaften Zweifel mehr. Daher gab es imWinter 1917/18 keine Chance, zu einer politischen Lösung beider Beendigung des Krieges zu gelangen – es sei denn, das Deut-sche Reich und seine Verbündeten hätten in Bedingungen einge-willigt, die nur ein besiegtes Volk auf sich nimmt. Doch zu Be-ginn des Jahres 1918 fühlten sich die Mittelmächte – nach denErfolgen im letzten Jahr – alles andere als besiegt. So erhielt die

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Frühjahrsoffensive einen «Zug von bitterer Unausweichlich-keit» (Peter Graf Kielmansegg). So, wie die Dinge lagen, führtekein Weg an der Notwendigkeit vorbei, für das Jahr 1918 diemilitärische Fortsetzung des Krieges zu planen, wobei man sichim deutschen Generalstab allerdings bewußt war, die «letzteKarte» zu spielen.

Im Lauf des Winters waren 33 deutsche Divisionen aus demOsten und Südosten an die Westfront verlegt worden, so daßdort mit 192 deutschen Divisionen zum ersten Mal seit Herbst1914 eine leichte zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen be-stand. Der Aufmarsch der deutschen Angriffsarmeen für dasUnternehmen «Michael», so der Deckname der Operation, voll-zog sich ohne Störungen, auch die Geheimhaltung des Bereichsder Truppenkonzentration gelang. Etwa 90 Divisionen warenals sogenannte Mobildivisionen bestens ausgerüstet und intensivtrainiert worden. Artillerie in gewaltiger Konzentration sollteder Infanterie den Weg bahnen. Für den geplanten Durchbruchhatte die OHL nach längeren Erwägungen den von den Englän-dern gehaltenen Frontabschnitt Cambrai-St. Quentin bestimmt,die Nahtstelle zwischen den englischen und französischen Trup-pen. Das operative Ziel mußte sein, die britischen Stellungen zuüberrennen, die Engländer nach Norden zur Kanalküste abzu-drängen und ihre Verbindung mit den Franzosen zu unterbre-chen.

In den frühen Morgenstunden des 21. März eröffneten aufeiner Frontbreite von 70 Kilometern 6600 Geschütze – imSchnitt hundert pro Kilometer – ein fünfstündiges, bestens vor-bereitetes mörderisches Trommelfeuer. Die drei hochmotivier-ten deutschen Armeen in einer Stärke von rund 800 000 Mannüberwanden nicht nur die tiefgestaffelten Stellungssysteme desGegners, sondern drangen innerhalb weniger Tage weit, bis zu60 Kilometer, in das gegnerische Hinterland vor. Aber der spek-takuläre Anfangserfolg war trügerisch, der ungeheure Jubel inDeutschland verfrüht. Den Nachschub und die Artillerie überdie Trichterfelder der Somme-Schlacht von 1916 hinwegzubrin-gen, erwies sich als äußerst schwierig. Ferner schwankte dieOHL in der operativen Zielsetzung von Tag zu Tag, es fehlte

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ihr an einer durchdachten strategischen Zielbezogenheit ihrerMaßnahmen. Die Angriffskraft der deutschen Armeen begannzu erlahmen. Amiens, der wichtige Eisenbahnknotenpunkt,wurde nicht erreicht. Am 5. April befahl Ludendorff die Einstel-lung der Offensive.

Der strategische Durchbruch war nicht gelungen – auchwenn die 5. englische Armee kurz vor dem Zusammenbruchstand und der britische Oberbefehlshaber General Haig dasSchlimmste befürchtete, auch wenn die Deutschen große Gelän-degewinne erzielten, allerdings um einen hohen Preis: Die deut-schen Verluste beliefen sich in zwei Wochen auf 230 000 Mann,Verluste in dieser Höhe hatte es selbst in diesem Krieg in einemvergleichbaren Zeitraum noch nie gegeben.

Als die «Michael»-Offensive eingestellt wurde, stand fest:Die «letzte Karte» hatte nicht gestochen. Schon am 27. Märzurteilte der bayerische Kronprinz Rupprecht, Oberbefehlshaberseiner Heeresgruppe: «Der Krieg ist verloren.» Zu dieser objek-tiv absolut zutreffenden Feststellung konnten sich Ludendorffund Hindenburg nicht durchringen. Der Krieg ging weiter.

Hätte ein voller strategischer Erfolg der Frühjahrsoffensive,nämlich die Engländer an die Kanalküste zurückzuwerfen,«kriegsentscheidend» sein können? Bei einem durchschlagen-den Erfolg, der nicht völlig unmöglich war, wären die Deut-schen gewiß in eine vorteilhafte Lage gekommen, zumal auchdie Truppen der Alliierten erschöpft waren. Aber was mit einervorteilhaften Lage anfangen? Die militärische und politischeFührung des Reichs hätte die Position der Stärke schwerlich ge-nutzt, den Alliierten ein so moderates Friedensangebot zu ma-chen, daß deren Entschlossenheit zu einem Siegfrieden ins Wan-ken gekommen wäre. Zwar wird man der Auffassung des briti-schen Militärhistorikers Michael Howard zustimmen können,der Krieg wäre auch weitergegangen, wenn die Deutschen dieKanalhäfen erobert, ja selbst Paris eingenommen hätten. Aberimmerhin: Waffenstillstandsbedingungen wie die, die Deutsch-land im November akzeptieren mußte, hätten wohl vermiedenwerden können, wäre nach einem deutschen Erfolg an derWestfront eine große Friedensaktion eingeleitet worden, die die

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Alliierten in Zugzwang gesetzt hätte. Bei der realitätsfernenMentalität der deutschen militärischen und politischen Füh-rungskreise muß die Möglichkeit einer solchen Vorgehensweiseindessen als höchst unwahrscheinlich gelten. Doch dies allessind Spekulationen. Halten wir uns an die harten Fakten.

Nach dem Scheitern der «Michael»-Offensive begann sich dasZeitfenster unerbittlich zu schließen. Denn die zah len mäßigeÜberlegenheit der Alliierten wuchs seit Anfang 1918 von Wochezu Woche durch den Zustrom der Amerikaner. Hatten sich imOktober 1917 erst 80 000 amerikanische Soldaten in Frankreichbefunden, alle noch in Ausbildung, so trafen seit Ende 1917 mo-natlich bis zu 250 000 Amerikaner in Frankreich ein. AnfangNovember 1918 betrug ihre Stärke 1,87 Millionen Mann (undübertraf damit die Stärke der britischen Expeditionsarmee).

Bedeutung und Folgen des Scheiterns der Frühjahrsoffensivehat die OHL gegenüber der politischen Reichsleitung und derdeutschen Öffentlichkeit nicht offen eingestanden. Stattdessenwurde weiterhin ein rosiges Bild der Gesamtlage gezeichnet, in-dem man die Geländegewinne bei der «Michael»-Offensive undbei den in den folgenden drei Monaten durchgeführten Offen-sivstößen in den Vordergrund rückte. Diese – für den Kriegsaus-gang unerheblichen – Geländegewinne wurden mit hohen Ver-lusten erkauft und gestalteten überdies den Frontverlauf ungün-stig: Die Frontlänge zwischen der Maas bei Verdun und derflandrischen Küste verlängerte sich von Ende März bis EndeJuni um 120 Kilometer (von 390 auf 510 Kilometer), und diedeutschen Soldaten verfügten in dem gewonnenen Terrain überkeine ausgebauten Verteidigungsstellungen. Mit den ohne einklares strategisches Konzept durchgeführten, in einen bloßenmilitärischen Aktionismus ausufernden «Hammerschlägen»zwischen April und Juni 1918 zerschlug die OHL das noch zurVerfügung stehende eigene militärische Potential – hier liegt dasschuldhafte Verhalten und Versagen Ludendorffs und Hinden-burgs, der seinen Ersten Generalquartiermeister wie stets deck -te. Ludendorffs «mangelnde Bereitschaft zu nüchtern-realisti-scher Lagebeurteilung» (Peter Graf Kielmansegg) hatte jetztverheerende Auswirkungen; wie General Wilhelm Groener be-

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merkte, baute er seine Operationsplanung tatsächlich «auf demWunder auf».

Zunehmend wurde nun auch der nachlassende Kampfwilleder deutschen Soldaten deutlich. Waren sie mit großer Einsatz-bereitschaft in die «Michael»-Offensive gegangen, weil sie sichvon ihr die baldige Kriegsbeendigung erhofften, so griffen seitApril Depression und Enttäuschung um sich. An der Front zeig-ten sich Auflösungserscheinungen bedenklicher Art – in zweier-lei Form: Immer mehr deutsche Soldaten gingen in die Kriegs -gefan gen schaft, und eine wachsende Zahl entfernte sich «uner-laubt von der Truppe». Begründete Schätzungen rechnen für dieletzten Monate des Krieges mit 750 000 bis eine Million Mann,die sich auf diese Weise dem Kriegsdienst entzogen. Die OHLwurde dieser «Drückebergerei» nicht Herr, für die WilhelmDeist den Ausdruck «verdeckter Militärstreik» geprägt hat. Diegeschwächte Kampfkraft der deutschen Armeen wurde offen-bar, als General Foch, seit Anfang April Oberkommandierenderder alliierten Armeen, Mitte Juli zur Offensive überging. Vonnun an wichen die deutschen Truppen an allen Frontabschnit-ten der Westfront zurück (siehe Karte S. 24). Doch Ludendorffweigerte sich bis Ende September, die militärischen und politi-schen Konsequenzen aus der von ihm zu verantwortenden voll-kommenen Überspannung der Kräfte zu ziehen.

Gleichzeitig bahnte sich in diesen Monaten der rasche Zu-sammenbruch der Verbündeten Deutschlands an. An der Salo-niki-Front, deren Verteidigung in der Hauptsache den Bulgarenoblag, bereitete der französische Befehlshaber seit Juli 1918eine Offensive vor, die am 14. September losbrach und nur nochauf geringen Widerstand stieß. Das bulgarische Heer löste sichauf seinem Rückzug nach Norden auf, am 29. September unter-zeichnete die bulgarische Regierung einen Waffenstillstand; fürdie Alliierten war der Weg zur Donau frei.

Die Türkei hatte seit 1917 schwere Niederlagen gegen diebritischen Armeen erlitten, in Mesopotamien und an der Palä-stinafront; seit Frühjahr 1918 wurde die türkische Front stetigweiter zurückgedrängt. Als die Engländer am 19. September zurletzten großen Offensive antraten, brach die türkische Armee

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zusammen. Am 30. Oktober wurde ein Waffenstillstand unter-zeichnet, der die Dardanellen den Alliierten auslieferte und dasgesamte türkische Staatsgebiet ihren Truppen öffnete.

Österreich-Ungarn befand sich an der Schwelle des militäri-schen und inneren Zusammenbruchs. Zwar blieb es an der ita-lienischen Front bis zum Frühsommer 1918 ruhig, weil die Ita-liener immer noch von ihrer Niederlage im vergangenen Okto-ber gelähmt waren. Aber als die österreichische Armee MitteJuni 1918 eine Offensive unternahm, endete diese mit einer Nie-derlage und schweren Verlusten der völlig unterernährten öster-reichischen Truppen. Der Zerfall der Widerstandskraft schrittnun schnell voran; die Zahl der Überläufer stieg rapide, derKrankenstand war hoch. Im Spätsommer erschien eine Katastro-phe unvermeidlich. Am 14. September publizierte Kaiser Karl –gegen den ausdrücklichen Willen der OHL – eine Note, die allekriegführenden Mächte zu Friedensgesprächen aufforderte. DieAlliierten gingen über dieses Angebot hinweg. Als die Italieneram 24. Oktober zur Offensive antraten, trieben sie die zerfallen-den Reste der österreichischen Armee vor sich her. Am 27. Okto-ber bat Kaiser Karl um Waffenstillstand und Sonderfrieden. DerWaffenstillstand wurde am 3. November unterzeichnet; er ver-pflichtete Österreich, alle von Italien beanspruchten Gebiete inTirol und an der Adria zu räumen und den alliierten Truppensein Territorium für den Durchmarsch nach Süddeutschland zuöffnen.

Trotz der dramatischen Entwicklungen bei den Verbündetenund der prekären Lage an der Westfront blieb die deutsche mili-tärische Führung in Illusionen befangen. Bei einem Kronrat am14. August verharmloste Ludendorff gegenüber der politischenReichsleitung weiterhin den Ernst der militärischen Lage. Erstim September übernahm es die nähere militärische UmgebungLudendorffs, der Regierung endgültig die Augen zu öffnen, undin den letzten Septembertagen fand sich auch Ludendorff zu demEingeständnis bereit, daß der Krieg verloren sei. Was er vor denOffizieren in der OHL sagte, hat Generalmajor Albrecht vonThaer in seinem Tagebuch festgehalten: «Die OHL und das deut-sche Heer seien am Ende; der Krieg sei nicht nur nicht mehr zu

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gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl un-mittelbar bevor.» Von eigenen Führungsfehlern und Fehlein-schätzungen sprach er nicht, sondern gab den deutschen Solda-ten die Schuld: «Auf die Truppen sei kein Verlaß mehr … So seivorauszusehen, daß dem Feinde schon in nächster Zeit mit Hilfeder kampffreudigen Amerikaner ein großer Sieg, ein Durch-bruch in ganz großem Stile gelingen werde, dann werde diesesWestheer den letzten Halt verlieren und in voller Auflösung zu-rückfluten über den Rhein und werde die Revolution nachDeutschland tragen.» Um diese Katastrophe zu verhindern, habeer den Reichskanzler aufgefordert, «daß ohne jeden Verzug derAntrag auf Herbeiführung eines Waffenstillstands gestellt würdebei dem Präsidenten Wilson von Amerika zwecks Herbeifüh-rung eines Friedens auf der Grundlage seiner Vierzehn Punkte».

Unzweideutiger konnte die militärische Kriegsniederlage desDeutschen Reiches nicht zu Protokoll gegeben werden. Wennder Vorsitzende des Rats der Volksbeauftragten Friedrich Ebertim Dezember 1918 den heimkehrenden Frontsoldaten beimEmpfang in der Reichshauptstadt zurief «Kein Feind hat Euchüberwunden», so leistete diese Aussage, rasch zur eingängigenFormel «im Felde unbesiegt» verdichtet, einer nicht nur schön-färberischen, sondern objektiv falschen Sicht des Welt kriegs -endes Vorschub. Die deutschen Armeen sind 1918 im Felde be-siegt worden. Und dieses Faktum steht am Anfang des Weges,der in Versailles endete.

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